Lyrik 1993-1

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1993. Und zwar im ersten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 1. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Hallo Süßer
sagt sie
Hautenges Kleid
Im Zimmer
dezentes Rot
Laken Bett Bidet
Du bist nicht
älter als sechzehn
errät sie und gießt
uns Whiskey ein
Sechzehn und einsam
fragt sie und lächelt
Einsamkeit
macht mir nichts
Mir schon
höre ich und ein
Streichle mich
Ich tue es
Sie tut es
Aber wir bleiben
einsam und
trinken Whiskey
Zu gehen
tut weh

Januar 1993
Kontext

Ätzen brennen
tief schneiden
Narben aufbrechen
alten Wunden
neues Blut geben
kalt werden lassen
Tränen herauspressen
schmerzen
Erinnerung konservieren
Traurigkeit gebären
Lyrik soll aus
unseren Resten
eine dampfend heiße
Suppe kochen
wohlschmeckend
aber Blähungen
verursachend
Lyrik soll leuchten
in der Nacht
für all die
Einsamen
da draußen

Januar 1993
Kontext

Ende Januar
Kalt
Und es schneit
zum ersten Mal
in diesem Winter
Der Wind treibt die Flocken
mit großer Geschwindigkeit
über den Güterbahnhof
Ich sitze am
offenen Fenster
und schreibe
Ein paar Flocken
landen auf dem Papier
Die Nacht klopft
an die Tore der Stadt
Verkehr zieht unten vorbei
Die Wolken sind voller Kraft
der Wind heult
vor Sehnsucht
und reißt
Lücken in dieses
tiefblaue Gewand
Und ich glaube
hinter den Hügeln ist
eine große Ebene
auf der unzählige
Sonnen leuchten

Januar 1993
Kontext

Kneipe ist voll
Kumpel kommt
Kaffee Southern Comfort
Scheiße sagt er
Trinken und
noch mal trinken
Scheiße sagt er
Hand heben
Neue Runde
Zwei Schluck Kaffee
Ich bin nichts sagt er
Wir sind nichts sage ich
Du tötest Tiere meint er
So ist das im Schlachthof
erwidere ich
Wir trinken alles leer
Hand heben
Neue Runde
Alles Fleischesser
hier drin meine ich
Ich töte für sie
Wir trinken
Ich sehe Tränen
in unseren Augen

Januar 1993
Kontext

Schlafsack stinkt
Mir ist warm
stehe auf und
blicke mich um
Sonne noch hinter
den Bergkuppen
Hügeliges Grasland
Tau auf den Halmen
kühle Frische einatmen
Hose und Stiefel anziehen
Der Boden zittert
Es rumpelt
Kleine Herde Mustangs
von links nach rechts
Ignorieren mich
Die Sonne bricht
über den Grat
Das Land glänzt
golden und atmet
Ich kann nicht vergessen
was war und ist
Kann nicht
mehr sein

Januar 1993
Kontext

Hallo Kneipe
Links drei Frauen
reden über das
neue indische Restaurant
Verteilen Noten
Eine zieht die Lippen
mit Schweinerosa nach
bestellt Moët Chandon
180 Mark die Flasche
Die Zweite malt
Zeigt das neueste Werk
Eine ekstatische Konvulsion
Dritte Person sagt nichts
Atmet vielleicht nicht mal
Ich muss blähen
Leider
Das Sauerkraut
Sie starren mich an
Der Moët kommt
Ich zahle
und gehe

Januar 1993
Kontext

Nur die Wirtin und ich
Auf der Theke
ein Werbeprospekt
mit der Überschrift
-Es ist unser Leben-
Ein Bekannter hat
sich aufgehängt
am Sonntag
neben dem Friedhof
Samstags sah ich ihn
auf meiner Party
Er lachte tanzte redete
blieb bis fünf Uhr morgens
dann erhängte er sich
-Es ist unser Leben-
Nein
Ist es nicht mehr
Es gehört irgendjemand
nicht mehr uns
Die Frage ist
wie gut wir damit
zurechtkommen

Januar 1993
Kontext

Ich vor dem Urinal
Entspannung pur
Starren auf die
ehemals weißen Fliesen
Sprüche Aufkleber
Ein Kratzen hinter mir
Eine Ratte
Sieh an
Sie blickt her
Fünf Sekunden
Dann putzt sie sich
kackt ein Häufchen
putzt sich wieder
Ich schüttle ab
Hände waschen
Ratte guckt mir zu
Tschüss sage ich
Ratten gehen auf Klos
Das finde ich
sehr zivilisiert

Februar 1993
Kontext

Fußgängerzone
Müde vom Einkauf
Neben mir ein
leerer Schuhkarton
Hat wohl jemand vergessen
Ich denke nicht viel
die Sonne tut ihr Übriges
Es klingelt im Karton
Ich schau hinein
Zwei Mark
die ältere Dame lächelt
Vielen Dank sage ich
Nach zwei Stunden
kann ich gehen
36 Mark und dreißig
Das hat sich gelohnt
Der arme Mann
hat ein kleines
Mädchen gesagt
und die Mutter nickte
Die hat es kapiert
Jetzt erst mal
einen Milchkaffee

Februar 1993
Kontext

Schmerz ist Element
des neugeborenen Glücks
Kann töten
Kommt zu völlig
unvermuteten Zeiten
Wenn untergehende Wintersonne
Horizonte orangen färbt
Regen Scheibenwischern
keinen Platz lässt
beim Brot schneiden
mitten im Kinofilm
oder einfach so
ohne eine Szenerie
Schmerz fällt vom Kopf in die Füße
kriecht wie Honig
aus den Füßen zum Kopf
verklebt dein Herz
versüßt deine Gedanken
legt sich wie Schleierkraut
vors Gesicht
Nichts hilft

Februar 1993
Kontext

Politiker
Was soll ich sagen
Der da hat nen
Meineid geleistet
Gelogen dass sich
die Balken biegen
Unsere Kohle im alten
Schiffskessel verheizt
Erzählt uns dass
ausländische Mitbürger
zu viel Geld kosten
Dann der mit dem
Flick-Skandal
windet sich durch
die Fluten der Empörung
und wird bockig
Politiker
Ein einziges
pubertäres Jammertal
Tun wir das
was sie tun warten
schwedische Gardinen
Politik
Konzessionierter
Kindergarten

Februar 1993
Kontext

Bert Brecht hatte recht
Der Spross ward immer grün
strebte fleißig nach dem Lichte
Treten Behinderte samt Rollstuhl
in den Straßengraben
Adolf hätte euch
ihr wisst schon
sagen sie zu den
Getretenen
Letztens haben sie
ein Haus angezündet
Drei Menschen starben
den Flammentod
Schlimmer noch ist
dass die Wurzel
am tiefsten in den
Leuten steckt die
dabeistehen
zuschauen
schweigen
Sich still freuen
Das ist wahrlich
widerlich

Februar 1993
Kontext

Nachtdienst
Der Grill glüht
Karten Rotwein
La dolce vita
Die Kollegen vom
Rangierdienst erzählen
Dann kommt der
Nachtzug
Alle an die Arbeit
Stunde später
ein Rangierer tot
Abgerutscht
Auf kalten Schienen
dreckigem Schotter
Verstummt
Wir schweigen
gehen hinaus
oder hinein
verziehen uns in
ein dunkles Eck
Sterben ist so
endlos einsam

Februar 1993
Kontext

Vier Wochen
bis Weihnachten
Hölle los bei uns
Paketabgang
Spätschicht
Ne Menge Aushilfen
Machen wir zehn Behälter
kommen zwanzig neue
Aber es klappt denn
wir sind ein Team
Verschweißt
Bis auf einen
Ex-Soldat
Ein ganzer Mann
Er redet und redet und
Um Mitternacht
reißt etwas in mir
Wenn du jetzt nicht
schneller wirst
krieg‘ ich ’nen Blutrausch
sage ich leise
Die anderen
wedeln mit der Hand
Er wird schneller

Februar 1993
Kontext

Arbeitsamt
Vermittler und ich
Entspannt
Der Nadeldrucker arbeitet
Stellenangebot #6
Zementsäcke schleppen
Deutsch lesen und schreiben
muss man nicht können
Probleme mit Alkohol fragt er
Nur ohne erwidere ich
Hören sie
Ist gleich Feierabend
Rufen sie an wenn Sie was finden
Ansonsten bis in sechs Wochen
Bedanken und schönes
Wochenende wünschen
Vor der Tür keine Idioten mehr
Ich war der letzte
Die Ausdrucke werfe ich
in den Mülleimer
Erst mal zu Otto
Frühstück

Februar 1993
Kontext

Leises Schreiben
bedeutet leises Fühlen
Mit dem Boot
durchs Meer treiben
Bug teilt Wasser
Heck verbindet es
zur Ruhe
Leises Schreiben
Am Kai stehen
einen Becher Hoffnung
ins Meer gießen
Worte formen
den trüben Rausch
einer wehenden
Sonne vernehmen
Leises Schreiben
Leises Leben

Februar 1993
Kontext

Lautes Schreiben
bedeutet
Schmerz trinken
bedeutet
Feuer befreien
Am Kai stehen
der aufgewühlten See
Hoffnung entreißen
Kein SOS mehr
Lautes Schreiben
Worte in den
Schiffsrumpf meißeln
Lautes Schreiben
Tausend Jahre warten
Rost entziffern
spüren dass
laute Worte
nun auf stillem
Meeresgrund liegen
keinen Sinn
mehr haben

März 1993
Kontext

Sonne steht tief
am späten Nachmittag
Ende März
Noch ist es warm
hier unten am Fluss
auf eingefassten Granitsteinen
Forellen springen
nach ersten Fliegen
Ein Bussard kreist
Üppig wächst Moos in
winzig weißen Blüten
Frühjahr hüllt sich
in mattgoldene Kleidung
Menschen laufen
reden plaudern
Kinder spielen
Eden

März 1993
Kontext

Über den Hügel
Lander Wyoming
Drei Cheyenne
torkeln aus der Bar
ab in die nächste
Whiskeyflasche dabei
Einen Tag später
ab nach Thermopolis
Cheyenne auf einem Pick-up
Der Whiskey ihr
Blutsbruder
Feuerwasser
Am großen Staudamm
sitzen sie in Hütten
aus Wellblech
auf kaputten Stühlen
Flaschen nie leer
Im Westen schimmern
die Rocky Mountains
Knapp 40 Grad
und Custer defiliert
dort unten

März 1993
Kontext

Vater steif
Männer vom
Friedhofsamt
Beileid
Vater aus dem Bett
ausziehen umziehen
Weißes Hemd
klappt nicht
Entschuldigung
knackt durchdringend
Ärmel geht drüber
Arm gebrochen
Rituale eben
Hemd zuknöpfen
Verabschiedung
Einladen
wegfahren

März 1991
Kontext

Nächte und Tage
sterben wie sie
geboren wurden
Im exzessiven Trinken
Im Nichts dreckiger
Gläser Flaschen Kippen
und Nieren sind
auch nicht mehr
das was sie mal waren
Glühende Kochplatten
sind nichts dagegen
Knicke ich rechts ein
komme ich links
kaum noch hoch
Urin wie altes
Blumenwasser
Aber könnte
schlimmer sein
Der Mond
verschwinden
oder die Sonne
dunkel bleiben

März 1993
Kontext

Mietskaserne
dreißig Stockwerke
Hitze in New York
Zwei junge Verliebte
fliegen vom Dach
Aber keine Flügel
Kaum Himmel zu sehen
zwischen Wolken
kratzenden Blöcken
Junge und Mädchen
Nicht viel übrig
Krankenwagen Polizei
stecken im Verkehr
Hunde schnüffeln
Angewiderte Menschen
Ratten freuen sich
Sterben
Einsam wie das
Leben

März 1993
Kontext

Das Beste
war die Liebe
füreinander
Mächtig zart
intensiv und voller
Erwartungen
Ansprüche
Hoffnung
mehr zu finden
Mehr Zärtlichkeit
Mehr Heimat
Mehr Zuhause
Ein Hafen
Dabei waren wir
mitten auf dem Ozean
Ich auf meinem
Du auf deinem
Also schwammen wir
unsere eigenen Wege
Unsere Liebe war
ein Konjunktiv

März 1993
Kontext

Paradoxerweise
fühle ich mich
hauptsächlich gut
Platz für das Ich
Nur minuten- oder
stundenweise
vermisse ich dich
Aber die Melancholie
dich zu vermissen
mit Liebe gleichzusetzen
ist wohl unnötig
Deinen Platz nimmt
das Leben ein
Es bleibt Erinnerung
an großartige Sommer
an Wintertränen
an geduldige
Frühlingsfarben
und heftige
Herbststürme

März 1993
Kontext

In der Küche
und du siehst
mich finster an
sagst dass ich in
der Badewanne
onaniert hätte
Stimmt antworte ich
Öfter mal
Dein Schrei kommt
eine Gabel neben
meinem Ohr
Dass ich onaniere
heißt nicht dass ich
dich nicht liebe
Es heißt nur
dass ich mich
ebenso liebe
Ich bin nicht weniger
zärtlich zu dir nur
weil ich zärtlich
zu mir bin
Du rennst raus
Liebe ist ziemlich
kompliziert

März 1993
Kontext

Du bist
eine Knospe
mit viel Angst vor
dem letzten Maifrost
in dieser kühlen
dunklen Nacht
Mit einer Feder
in der Hand
bin ich die Sonne
deren Licht dich
umkreist
bis die Angst
dich endlich
verlässt
und wir uns
in den Armen
liegen
die Augen
öffnen
und die
Welt
suchen

Mai 1993
Kontext

Du
Guck mich nicht so an
Lass mich stehen
denn links und rechts
ist nichts
Nur Tod
Ich warne Dich
Ich ziehe Dich mit
Was willst Du
Etwas
dass Du nicht
bekommen kannst
Etwas
dass Dir fremd ist
auf immer und ewig fremd
Wie Dein Schatten
Fremd wie ich
Du
Lass mich los
Sonst muss ich
dich vernichten
und das wäre
mein Tod
Denn ich
liebe Dich

Mai 1993
Kontext

Ich muss ihn abholen
Stadtpark
Bank unter der Akazie
Sein Wohnzimmer
Partykeller ist voll
Er im Eck spähend
scheu ängstlich
Hier iss und trink
Willkommen
Gegen halb fünf taut er auf
tanzt redet raucht trinkt
Lacht mit sich
Dann Alkoholstille
Morgengrauen
Alle weg alles leer
Kannst hier schlafen sage ich
Danke sagt er und Nein
Ich fahre ihn ins Wohnzimmer
Stadtpark
Bank unter der Akazie
Kann nur hier schlafen
Irgendwann
Irgendwie

Mai 1993
Kontext

Die Grenze zwischen
Lachen und Weinen
im Schlachthof
ist rasierklingenscharf
18 Mann 16 ohne Führerschein
12-Stunden-Schicht derber Späße
Bolzenschussgerät ansetzen Polenwitze
Körper in zwei Hälften sägen Kirchenwitze
Knochen ausbeinen Frauenwitze
Rumäne bringt Securitate-Witze
Dann zwei neue Themen
Fußball und Saufen
Nicht klar was besser ist
Ich trinke
und staune

Mai 1993
Kontext

Frühling hat sich
unbemerkt vor die
Tür geschlichen
Der Atem der Welt
haucht sanftes Grün
an Pflanzen Bäume
Leider werden sie
nicht mehr gerne grün
denn wir vermiesen ihnen
den ewigen Plan
Jedes Jahr ein wenig mehr
Wir rauben und
klauen einfach alles
Egal was es ist
Egal wo es ist
Egal wie viel es ist
Wir finden alles
Und daraus machen wir
die Trabantenstadt
Weiß im Frühling
Weiß im Sommer
Weiß im Herbst
Grau im Winter
In ihr finden wir
kleine Pflanzen in
kleinen Töpfen

Mai 1993
Kontext

Stammkneipe
Aber immer öfter
wird sie okkupiert von
der Intelligenzija
Eine laute Masse
durchbricht den Frieden
Dann geht es los
Gremienstruktur
Beziehung nach Sozialplan
bilaterale Gespräche
deformierende Demokratisierung
defätistische Gegenwartskultur
spontane Aktionen
Agonie des Rechtsstaats
Ich hebe die Hand
mache ein V
Zwei Southern Comfort
Eine Frau lächelt
mich an und ich
zwinkere aber mir
fehlen die Worte
um einzusteigen

Mai 1993
Kontext

Neben einem Haufen
Idioten sitzen die
über ihren Job reden
Wie gut sie darin sind
Und wie schlecht
die anderen
Zwischendurch das
Fernsehprogramm
gestern heute morgen
Politik im großen Stil
Die meisten sehen
noch nicht mal
interessant aus
Etwa wie eine
brennende Kerze
vor dem letzten
Aufflackern
Aber sie können
eindeutig reden
Ich sitze hier
und trinke

Mai 1993
Kontext

Unterstützung durch Crowdfunding

Unterstütze Heiko Tessmann auf Tipeee

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