Lyrik 1992-3

Willkommen im Lyrik-Archiv des Jahres 1992. Im dritten Teil. In diesem Jahr habe ich so viel geschrieben, dass es zu viel ist für eine Seite. Hier ist die Übersicht aller Lyrischen Kurzprosa im Teil 3. Alle Texte sind hinter den jeweiligen Ausklappboxen abgelegt. Lasst gerne einen Kommentar da. Solange Hass und Häme draußen bleiben, sind sie mir willkommen. Traut Euch. Danke!

Wohngeldamt
Sozialamt
Arbeitsamt
Stadtwerke
Rechnungen
Sohlen abgelaufen
Dezember und
Gas abgeklemmt
Strom weg
Kerzen Campingkocher
Bald Weihnachten
Wir sind nicht zuständig
Arbeiten sie ist die Frage
Seit ich siebzehn bin
meine Antwort
Sie müssen aber
jetzt arbeiten
Auf Wiedersehen
Nicht auf der Stelle
tot umzufallen
ist ein Verbrechen

Dezember 1992
Kontext

Starker Herbstwind
Große graue Wolken
über der Stadt
Ich im Stadtbus
Durch verregnete
Scheiben starren
Einsame Gesichter
in den Karren
um mich herum
Einer ist wütend
fast weißglühend
Keinen Kaffee gehabt
oder etwas ist in seinem
Leben zerbrochen
schiefgelaufen
Er frisst es
in sich hinein
schlägt das Lenkrad
Für mich heißt das
nichts denken
Alle fahren zur Arbeit
Ich nur in die
Stammkneipe

Dezember 1992
Kontext

Heute Morgen in der Stadt
Tintenpatronen kaufen
drei Rechnungen bezahlen
Dann in die Bar
Milchkaffee
Southern Comfort
Nur ich und die Zeitung
Gedichte schreiben
bezahlen und raus
Die Stadt ist leer
Niemand mehr da
Kein Mensch
keine Tauben
Das Leben hat
alle verschluckt
der Tod sie geholt
Es wird einsam
ab jetzt
Welch ein
Glück

Dezember 1992
Kontext

Zurück aus Südfrankreich
Vier Uhr in der Nacht
Klamotten ausziehen
Füße hochlegen
Kaffee trinken rauchen
Southern Comfort gurgeln
Fünfter Stock
Die Straße ist ruhig
Güterbahnhof schweigt
Nachbar verprügelt niemand
Unwirkliche Stille
Dann endlich
kann ich aufs Klo
Asterix Gaston
Clever & Smart
Ernüchterung
Klopapier ist alle
Vier Uhr dreißig
Immer noch
schläft die Stadt
Gibt es ein Leben
ohne Klopapier
Fünf Uhr
alles trocken
Kalte Dusche

Dezember 1992
Kontext

Noch ein paar Tage mehr
die zwischen uns stehen
Wie Zitadellen
Wie Strandgut
das man ins Meer zurückwirft
an entfernte Ufer getrieben
spurlos verschwunden
in der Wasserwüste
Keine Anhaltspunkte
Blick zum Horizont
verliert sich in
Erinnerungsnebeln
Schmerz hängt mit
dünnem Faden
am pumpenden Herz
Bis er reißt
Das ist es was bleibt
Zerrissene Fäden
Ein pumpendes
Herz

Dezember 1992
Kontext

New York
Einreisekontrolle
Hallen und Korridore
Ins Freie
Hitze Hitze Hitze
Bus nach Manhattan
Skyline ist Unterkiefer
eines Tyrannosaurus Rex
Schraubstockbeklemmung
Luft wie Zement
Menschen schieben
Ameisenautos hupen
Eiskalte U-Bahn
Taxifahrer ist irre
Homeless schwenken
McDonalds-Becher
Geld reinwerfen
Bin gleich pleite
so viele sind es
am Straßenrand
zwischen Mülltonnen
Wo bin ich

Dezember 1992
Kontext

91te West Klingel 9
4ter Stock wohnt sie
starrt mit Flammenaugen
Ab nach Lower Manhattan
Sie hopst federt läuft
steht springt jodelt jauchzt
hält meine Hand wie
ein Kind in den Bergen
Eine Knospe auf
dem Ast des Chaos
redet hoch drei
Unsere Blicke kleben
Stille Tränen im Schlaf
hat den Alp im Traum
Morgenkaffe gemacht
Danke sagt sie
Hast mich nicht
geschlagen
getreten
gedemütigt
Ich bin sprachlos
und weine

Dezember 1992
Kontext

Opa wurde 81
Herzinfarkt
Russland überlebt
Damals haben wir
Scheiße gebaut
So richtig Scheiße
sagte er und
weinte auf fast jedem
unserer vielen
Spaziergänge
Er so groß
ich so klein
Konzentration im Eimer
Schlafwandeln
Krieg Krieg Krieg
in seinem Kopf
Ich mochte ihn
Seine großen und
meine kleinen
Füße nebeneinander
Seine Verzweiflung
Seine Worte

Dezember 1992
Kontext

Mal wieder in die Stadt
Donnerstag oder so
Niemand da
Nirgendwo
Keine Autos
Keine Busse
Bahnhof leer
Rathaus verwaist
Totenstille
Geschäfte sind offen
Niemand drin
Alle Straßen
alle Plätze
niemand
Vor der Stadtkirche
liegt ein Schwert
Zweihand
Das ist es
Irgendein Vollstrecker
ist gekommen und
hat mich vergessen

Dezember 1992
Kontext

Heute Nacht fast
dem Wahnsinn verfallen
Stimmen hinter mir
oder im Kopf
Eine Haaresbreite noch nach
einem Tag Monat Jahr
voller Sinnlosigkeit
Ich am Tisch neben Kaffeemaschine
Handtuchhalter Rotwein Rotwein
Rotwein macht es erträglich aber
Ohnmacht manifestiert sich
Alle Zimmer leer bei Tag
bei Nacht mit Musik mit Stille
In Hirsau anrufen
Psychiatrische Landesklinik
Mist
hab ja kein Telefon mehr
Mal sehen was kommt

Dezember 1992
Kontext

Der Mann der Wahrheit kam
ging durch die Hallen
Foyers und Keller
unserer Herzen
Er war weder jung
noch alt
Er öffnete bis dato
verschlossene Türen
entdeckte Grausames
nutzlose Erinnerungen
erkaltete Gefühle
die wir nie auslebten
Da waren wir also
standen herum
und jeden den
der Mann der Wahrheit
wieder verließ
packte Sturm
im Herzen
Verwirrung
im Kopf
Er kam sah
und siegte
über uns

Dezember 1992
Kontext

Ich muss raus
Luft Licht Töne
Schädel dröhnt
Lymphknoten geschwollen
Rechte Niere läuft
auf einem Zylinder
Elmsfeuer im Schlafzimmer
Knie weich wie Gummi
Rotkraut im Glas
mehr ist nicht da
Heißes Bad gemacht
eingeschlafen und
beinahe ertrunken
Rosa Kacheln kreisen
Kaffeemaschine stirbt
Ich muss raus
Licht Luft Töne
Kneipe

Dezember 1992
Kontext

Ich in der Kneipe
Gäste kommen
Gäste gehen
hohe Fluktuation
Ich stehe auf
rufe einen Kumpel an
Komme
sagt er
Bin gleich da
Bisschen Kurzweil
kann nicht schaden
bestelle und bestelle
Niemand kommt
Stunden später
Ich bin der Letzte
Feierabend sagt der Wirt
und die Tür geht auf
Godot kommt herein
Hat er es also doch
noch geschafft

Dezember 1992
Kontext

Ihr müsst euch vorstellen
in meinem Herzen gibt es
eine kleine Kammer
In dieser Kammer
wohnt eine große Liebe
Sie wurde geläutert
und ist so weiß
wie neu gefallener Schnee
Und ich sage
Gebt mir nur eine Sekunde
und ich mache
aus dieser Liebe
eine Ewigkeit

Dezember 1992
Kontext

Öfter höre ich die Frage
ob ich keine Liebesgedichte schriebe
Manche verwechseln Liebesgedichte
mit schönen Worten
reiner Poesie

Liebe ist Hass
Wut Trauer
Verzweiflung
Schmerz Hunger Durst
Vergnügen Geduld
Aussöhnung Sanftheit
Deswegen würde ich sagen
ist fast jedes Gedicht
ein Liebesgedicht
Und jede Liebe ist
ein Gedicht

Dezember 1992
Kontext

Vor Jahren fragte ich mich
warum Arthur sagte
alles sei subjektiv
Und die Welt versank
in Trümmern
Friedrich schickte
den Mann vom Berg
neue Ideen für alte Idioten
im Gepäck obgleich die
Welt in Trümmern versank
Jean-Paul versuchte
die menschliche Art
schmiss die Liebenden
aus dem Himmel
Und die Welt versank
in Trümmern
Ich legte die Bücher weg
blickte aus dem Fenster
und sah den Grund
der sie alle scheitern ließ

Dezember 1992
Kontext

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