KURZGESCHICHTE | Ich blicke an die Hallendecke. Die Neonröhren sind grell und stülpen ihre Kälte über uns. Ich denke an Vater. Wie lange wird es noch dauern, bis der Tumor ihn mit auf die Reise in die Ewigkeit nimmt? Ich rechne täglich mit dieser Nachricht. Oder stündlich. Doch ich arbeite was das Zeug hält. Nicht denken. Nachtdienst. Paketeingang der Deutschen Bundespost am Gleis. Es ist so etwas wie Dezember, Weihnachten steht ein weiteres Mal vor den Türen. Um mich herum habe ich die Verteilbehälter aufgebaut. Versandhäuser, Stadt- und Landpost. Die noch zu verteilenden Paketbehälter nehmen kein Ende. Achtzehn Waggons sind am Abend gekommen. In jedem stecken vierundzwanzig Behälter. Tausende und Abertausende von Paketen. Mir ist nach einer Zigarette und einem großen Glas Asbach-Cola.
»He, Heinrich!«
Ich steige in den leeren Behälter und schaue hinüber.
»Ja?«
»Wie viele Behälter hast du schon?«
Ich zähle die Zettel. »Dreiundzwanzig!«
»Super! Jetzt ist Mitternacht. Machen wir noch zwei, dann schmeißen wir den Grill an. Die restlichen fünf Behälter verteilen wir morgen früh.«
»So machen wir’s!«
Ich sehe zur dritten Verteilstation. Sie ist leer. »Sag mal, Jochen, wo issen der Gernot?«
»Keine Ahnung. Vielleicht drüben, beim Kläuschen.«
»Ja, wahrscheinlich.«
Ich lege mich wieder ins Zeug. Weißblaues Paket ist Rückware Versandhaus, braunes Paket nach 7534 Birkenfeld, ein paar kleine, schwere Päckchen, dann ein großes, monströses Ding. Was da wohl drin ist? Ob die Leute auch manchmal an den Paketverteiler denken, wenn sie ihre Pakete so schwer machen? Unten im Behälter tauchen Zeitungen auf. Heute ist Donnerstag. Stern, Frankfurter Allgemeine, abgebunden und unmöglich schwer. Aus den Knien heben steht links auf einem Plakat. Scheiße! Nach dreiundzwanzig Behältern hebt man nicht mehr aus den Knien. Ich klappe ihn zu, nehme Jochens leere mit und schiebe sie durchs Hallentor auf die Rampe in einen Waggon. Futter für die Versandhäuser mit Gleisanschluss. Auf dass viele Pakete noch vor Weihnachten die Elfriedes und Ottos erreichen.
Wieder auf der Rampe, ruft mich das Kläuschen. Er steht mit zwei Aushilfen in der zweiten Halle und verteilt dort. Was er mir jedoch zuruft, geht im Lärm eines vorbeifahrenden Güterzuges unter. Schüttgut-Waggons. Dutzende. Dort, wo die Schienen noch nicht geschweißt sind, klackern die Achsen und das ‚Tackatack‘ macht mich fast taub. Kläuschen muss warten, erst die Arbeit zu Ende bringen. Es ist eiskalt auf der Rampe und ich verschwinde zügig in der großen Halle.
»Heinrich!«
»Ja!?«
»Ich mach deinen Behälter mit. Schmeiß den Grill an!«
»Ist gut!«
Erst einen ordentlichen Schluck Asbach-Cola, dazu eine Lucky Strike, dann ziehe ich die Jacke über und packe die Grillkohle. Den Grill haben wir an der Längsseite der Halle stehen, neben den Laderampen. Dort ist es einigermaßen windstill. Das Kläuschen kommt. »Was gibt’s heut?«
»Pute, Schweinenacken und Steaks.«
»Ah! Mh!«
»Hast du den Salat mitgebracht?«
»Klar.«
Ich schaue ihn an. »Ist Gernot bei dir?«
»Bei mir? Der verteilt doch bei euch?«
»Er ist weg.«
»Vielleicht nach Hause?«
»Quatsch! Er hat doch gar keinen Lappen mehr. Wie soll er jetzt nach Hause kommen? Das sind fünfzehn Kilometer.«
Kläuschen zuckt mit den Schultern. »Irgendwo wird er sein.« Der Satz macht mich stutzig. Sollten wir nicht nachsehen, wo er sich vergraben hat? Na ja, nachher … erst mal ums Feuer kümmern.
Das Kläuschen trottet weg und ich schütte die Kohle in den Grill, dann ordentlich Spiritus darüber und eine angezündete Paketfahne hinein. WUMM! macht es und mir wird sofort herrlich warm. Ich wedele mit einem Karton, die Luft bringt die schwarzen Brocken zum Glühen. Es ist sehr beruhigend hier draußen. Dunkelheit. Kälte. Eine sternenklare Nacht. Etwas klappert hinter mir. Jochen stellte die leeren Behälter in den Waggon. »Das Feuer schon am Brennen!?«, will er wissen.
»Zehn Minuten!«
»Sauber!«
»Jochen! Bring mal bitte den Bölkstoff mit raus!«
»Yo!«
Der nächste Zug rollt vorbei. Nachtexpress. Paris, Gare de L’Est – Wien, Westbahnhof. Licht hinter manchen Fenstern. Menschen, die nicht an uns denken, nicht mal wissen, dass wir existieren. Mir wird wieder kalt und Jochen kommt gerade rechtzeitig mit dem Getränk.
»Prost, Jochen.«
»Skôl, Heinrich.«
Jochen ist das, was man einen Pfundskerl nennt. Clever, gewitzt. Ein guter Kollege. Verlässlich und nicht angepasst. Er hat bei der Post gelernt. Posthauptschaffner ist er jetzt. Karriere wird er keine machen. Karriere macht man bei der Post nur, wenn man eine lange Zunge hat, die sich tief in die dunkelsten Ecken eines Vorgesetzten bohren kann.
»Ich decke schon mal den Tisch. Haste das Fleisch hier?«
»Hier unten«, ich kicke gegen eine Tüte an der Wand. »Was soll ich zuerst drauflegen?«
»Steaks. Für mich blutig.«
Von der anderen Seite nähert sich Kläuschen mit beiden Aushilfen. Studenten von der Fachhochschule für Wirtschaft. Einer schleppt den obligatorischen Kasten Bier. Der andere Salat und Baguettes. Kläuschen trägt die Verantwortung. Er ist der Bierbesorger. Eine nie versiegende Quelle, denn sein Schwager ist im Besitz eines Getränkehandels. Kläuschen macht ausschließlich Nachtdienst. Seine Frau hütet eine Menge Kinder und mit dem Eigenheimbau hat er sich verhoben. Mehrkosten ohne Ende. Dauernachtdienst bringt ordentlich Lohn in die Tüte. Und er ist eine Möglichkeit, diesem engen Familienband zu entkommen. Regulär folgen wir einem Acht-Schichten-Plan, zwei Schichten davon nachts. Als vor ein paar Monaten die Mauer fiel, und die Ostdeutschen dem Konsumrausch verfallen sind, explodiert auch das Versandgeschäft. Und damit zwangsweise die Anzahl der Rückwaren. Deswegen hat man die zusätzlichen Nachtschichten eingeführt. Kläuschens ganzer Rhythmus ist auf Nacht eingestellt. Die Ringe unter seinen Augen spiegeln den Stress, den er tagsüber mit seiner Familie erlebt.
Ich nehme einen entsprechenden Schluck Asbach-Cola und wedele den Kohlen etwas Luft zu, damit sie sich leichter für mein Vorhaben erwärmen. Der Grill hat optimale Ausmaße. Eigenbau eines Postkollegen. Auf den Rost passen alle zwanzig Stück Fleisch. Das Rind lege ich in die Mitte. Kurz, heiß, knackig. Dann das Schwein und außen die Pute. Ich bestreiche alles mit meinem eigens hergestellten Würzöl. Nach vier Minuten drehe ich die Steaks und starre wieder in die Glut. Mir ist plötzlich, als würde ich auf einer Plattform mitten im Meer stehen. Umgeben von starker Dünung, die mir jegliche Sicht auf den Horizont versperrt. Das könnte Einsamkeit sein. In dieser Nacht, zwischen diesen Männern, in dieser Stadt. Das Neonlicht ist kalt und lässt nichts von den Schatten der Alltäglichkeit übrig, die das Tageslicht in unser Leben streut. Ich höre Jochen nicht kommen.
»Heinrich?«
»Hm?«
»Was los? Schläfste im Stehen?«
»Nee, nur kurz an was gedacht.«
»Wir sind bereit. Was macht die Speise?«
Ich drücke mit der Gabel auf die Steaks. Das Fleisch gibt leicht nach und dunkelroter Saft kommt raus. »Sind fertig.«
»Prima.« Jochen hält seinen Teller hin und ich lege ihm alle drauf. Dann wende ich das andere Fleisch und rücke es zusammen in die Mitte. Er geht zurück in die Halle. Wieder ein Güterzug. Mit Wucht drückt er die Luft beiseite, die alle Neonröhren auf der Rampe ins Schaukeln bringt. Das hier ist meine Welt, denke ich. Schon seit Jahren. Ich denke an meine Freundin. Schichtdienst im Altenheim. Meist geben wir uns nur die Türklinke in die Hand, ein flüchtiger Kuss auf warme Lippen. Das Gift der Alltäglichkeit setzt unserem Leben ganz sanft zu. Gegröle vor dem Posthof reißt mich aus den Gedanken. Ein paar Jugendliche auf dem Heimweg. Und ich? Erst mal etwas essen. Das Fleisch ist gut genug. Ich packe alles auf eine Edelstahlplatte und schlendere in die wärmende Halle.
»Kläuschen, gib mal den Salat, bitte.« Die Schüssel ist fast leer. »Sagt mal, wer hat denn den ganzen Salat gefuttert?« Ich schaute die beiden Studenten an.
»Wir müssen rausfinden, wo Gernot ist«, höre ich Jochen sagen und schaue ihn an. Er hat recht.
»Bei mir ist er jedenfalls nicht mehr«, wirft Kläuschen ein.
»Was heißt nicht mehr? Vorhin hast du nichts davon gesagt, dass er bei dir war!«
»Du hast mich nur gefragt, ob er bei mir ist, nicht, ob er bei mir war.«
»Trottel«, rutscht mir raus. Ich seufze.
»Jesus!«, sagt Jochen und lässt die Gabel in den Teller fallen. Er sieht mich an. Die beiden Aushilfen blicken sich unsicher um. Sie können nicht nachvollziehen, warum uns ein fehlender Kollege so reagieren lässt. Ich stehe auf und fixiere Kläuschen. Seine Nachlässigkeit ist unverzeihlich.
»Auf, wir gehen ihn suchen! Ihr beiden Jungs«, ich nicke in Richtung der zwei Studenten, »könnt ruhig weiter essen. Ich gehe rüber in den Abgang und dann in den Keller. Ihr schaut die Waggons durch, die Rampen und ruft mal bei den Rangierern an, ob er bei denen hockt.«
Jochen haut Kläuschen auf die Schulter. »Du kommst mit.«
Ich ziehe die Jacke über und mache mich auf den Weg. Dass wir aber auch nicht gemerkt haben, wie er sich davon gemacht hat … aber wenn man im Gewühl steckt, die Behälter geleert werden, dann achtet man nicht immer auf seine Umgebung. Die Selbstvorwürfe sind trotzdem sehr massiv. Hastig zünde ich eine Zigarette an. Aus Osten rollt ein Zug auf den Bahnhof zu. Zwei Lokomotiven, Schüttgutwaggons, endlos lang. Ich passiere die Flügeltür der kleinen Halle und fahre mit dem Fahrstuhl hoch zum Päckchenabgang. Hier oben ist Zwielicht, Notbeleuchtung, aber alles ruhig, trotzdem erkunde ich jede Ecke, sehe in jeden Behälter, unter jeden Sack. Nichts. Keine Kleider oder Taschen von Gernot, der zu uns vor ein paar Wochen strafversetzt wurde. Bahnhofabgang ist die heimliche Strafkolonie der Post. Ich lösche das Licht und steige über die Treppe in den Keller hinab. Hier unten sind die Waschräume, Spinde, das Sacklager. Es ist stockdunkel und ich mache Licht.
Gernot war Landzusteller, weit draußen auf einem Dorf, das auch gleichzeitig sein Wohnort war. Ein einfacher, viel zu weicher, viel zu sensibler Mensch, völlig ohne Schutzhülle, ohne Erfahrungen, naiv wie ein junges Kalb, der noch mit dreißig bei seinen Eltern wohnte und mit dem Vater nach Feierabend im Nebenerwerb eine kleine Metzgerei am Leben hielt. Dann lernte er eine Frau kennen, zog in die Stadt, bat um Versetzung und wurde Briefzusteller in der Südstadt. Gernot hat mir diese Frau einmal vorgestellt, abends, als wir uns in einer Südstadtkneipe trafen. Sie ist ein furchtbarer Mensch. Ordinär, ständig alkoholisiert, laut und hysterisch, dumm und völlig das Gegenteil von ihm. Was er an ihr fand, wollte mir nicht einleuchten. Das ist Liebe, sagte er damals und war felsenfest davon überzeugt. Dann wurde sie schwanger. Gernot freute sich wie ein Kind auf das Kind. Im vierten Monat gab es dann eine Fehlgeburt, vorzeitiger Abgang. Völlig umnebelt vom Schnaps, verlor sie das Kleine in der Duschwanne, so erzählte er es jedenfalls. Mir nichts, dir nichts, setzte sie sich an den Küchentisch und trank weiter und Gernot rief den Arzt mit diesem kleinen Ding in der Hand. Die Frau kam ins Krankenhaus, dann in den Entzug, und er stand da, allein mit sich und einem Gewicht, das er nicht zu tragen oder zu verstehen vermochte. Sein persönlicher Knackpunkt. Und auch er begann zu trinken.
Ich öffne seinen Spind und entdecke eine ganze Batterie leerer Rotweinflaschen. Billiger Fusel. Dazwischen Piccolos. Und Bier. Das Bier kommt mir bekannt vor. Ich schließe den Spind und kontrolliere Waschräume, Toiletten, aber alles ist sauber und still. Gernot ist nicht hier, also wieder hoch auf die Rampe und Jochen suchen. Er steckt im hinteren Waggon. »Was gefunden?«, fragt er.
»Von Gernot keine Spur, aber dafür jede Menge Flaschen in seinem Spind. Unter anderem auch Bierflaschen von Kläuschen.«
»Der Idiot! Er weiß doch, dass er ihm nix geben darf.«
»Komm«, nicke ich mit dem Kopf zur Waggontür, »wir gehen rüber in die Toiletten. Er kann nur noch dort sein.«
Wir machen uns auf den Weg über die Rampe. Es ist noch kälter geworden. Die Uhr zeigt halb zwei. Aus dem Bürogebäude kommt Kläuschen. »Ich hab beim Rangierdienst angerufen. Sie haben ihn nicht gesehen.«
»Klaus, du bist ein Idiot!«, fährt Jochen ihn an.
»Warum? Was ist denn schon wieder?«
»Du hast ihm Bier verkauft!«
»Er hat gesagt, er trinkt immer nur eins in der Nacht. Da trinken wir mehr. Außerdem ist er doch schließlich erwachsen. Er wird doch wissen, was er tut.«
Jochen sieht ihn mitleidig an. »Mann, Mann … du weißt doch ganz genau, dass er das nicht mehr weiß.«
Als wir in die Halle kommen, nimmt jeder von uns einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Die beiden Aushilfen haben sich in je einen Behälter gelegt und mit Säcken zugedeckt. Sie schlafen tief und fest. Wir durchqueren die Halle und gehen die Treppe zu den Toiletten runter. Jochen öffnet die Tür zum Vorraum und sofort schlägt uns beißender Geruch von Erbrochenem entgegen. Ich verziehe das Gesicht. »Aha«, meint Jochen. »Klaus, geh hoch und hol Eimer, Lumpen und Putzmittel aus dem Putzraum.«
Kläuschen rennt wieder nach oben. Die hintere Toilettentür ist offen und wir entdecken Gernot. Es ist schwer, die Situation auf einen Blick zu erfassen. Wir stehen einen Moment schweigend an der Tür. Gernot kniet vor der Schüssel, den Kopf zur Seite geneigt, lehnt mit dem linken Ohr am vollgekotzten Porzellan. Hose und Unterhose unterhalb der Knie, streckt er uns den weißen Hintern entgegen. Unter sich eine gelbe Urinlache, gespickt mit erbrochenen Bestandteilen, die wie Inseln aus dem gelben Meer ragen. Sein linker Arm bis zum Ellbogen im Siphon der Schüssel. Die rechte Hand hat sich auf sonderbare Art im Klopapierhalter verfangen. Er scheint zu schlafen.
»Ich glaub, ich muss kotzen«, sagt Jochen. Kreidebleich im Gesicht, dreht er sich um und stolpert in die übernächste Toilette. Ich höre ihn einige Male würgen und husten, dann kommt er wieder raus, steckt zwei Kaugummis in den Mund. »Lebt er noch?«, fragt er mich unsicher.
»Davon gehe ich mal aus.«
»Was machen wir jetzt genau?»
»Hier gibt’s ja einen Reinigungsabfluss im Boden, und im Wartungsraum ist ein Schlauch. Wir lassen alles so, spülen die Scheiße in den Bodenabfluss, dann spritzen wir Gernot ab. Du holst aus deinem Spind Sachen zum Anziehen für ihn. Dann rufen wir ein Taxi. Du fährst mit und schleppst ihn in sein Bett. Ich mach die paar Behälter noch weg. Und Kläuschen macht hier unten sauber.«
»Ein guter Plan.«
Wir legen los.
Klugerweise hat Kläuschen einen Wasserschieber aus dem Duschraum mitgebracht. Ich spritze alles ab und schiebe den Mist nach und nach in den Abfluss. Die beiden kümmern sich um Gernot, bringen ihn irgendwie nach oben und verfrachten ihn ins Taxi. Der Boden und die Toilettenwände sind sauber und Kläuschen übernimmt die Endreinigung. Es ist halb vier als wir fertig sind, Jochen noch nicht zurück. Ich setze mich, lege die Füße auf den Tisch und rauche einige Zigaretten, spüle den Ekel mit Asbach-Cola runter. Das Neonlicht ist immer noch kalt und unwirklich. In mir suche ich nach etwas, an dem ich mich festhalten kann, aber da ist nichts. Meine Zukunft bei der Post steht unter einem seltsamen Stern. Ich wecke die beiden Aushilfen.
»Hört mal genau zu, ihr beiden Jungs. Unser Kollege Gernot ist gestern Abend gegen elf Uhr nach Hause gegangen, mit ganz starken Kopfschmerzen. Er hat noch zwei Tabletten genommen, aber hat sich nur gequält. Wir haben ihn dann heim geschickt. Das könnt ihr beiden doch bestätigen, oder?«
Sie nicken.
»Sehr schön. Vielen Dank. Jetzt geht ihr rüber in die kleine Halle und macht bitte die Behälter die Gernot noch fehlen, damit es morgen früh nicht auffällt. Nicht mehr lange und der Frühdienst kommt.« Ich stelle die Musik laut und leere die restlichen Behälter die Jochen und ich noch zu machen haben. Als ich fertig bin mit Aufräumen, kommt er endlich wieder, setzt sich an den Tisch, legt die Füße hoch, zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Schluck Asbach-Cola und folgt mit den Augen dem aufsteigenden Rauch.
»War es so schlimm?«, frage ich.
Er nickt. »Wohnung kann man das nicht nennen, wo er da haust. Ich hab ihn einfach im Flur abgelegt. Der Taxifahrer hat mir geholfen.«
Er bläst einen Rauchkringel, steckt den Finger durch und sieht mich fragend an.
»Was hat das Taxi gekostet?«
»35 Mark.«
Ich greife in meine Tasche, hole einen Zehner raus.
»Hier, du auch zehn, den Rest soll Kläuschen drauf legen.«
Jochen steckt das Geld ein. »Glaubst du das mit dem Kind?«, will er nach einer Weile wissen. Ich lege den Kopf auf die Seite und überlege.
»Gernot ist viel zu einfach, um sich solche Geschichten auszudenken. Immerhin hat er schon drei Mal einen Versetzungsantrag gestellt. Raus aufs Land, dahin wo er hergekommen ist. Das wäre die beste Lösung. Wieder zu den Eltern, in seine gewohnte Umgebung, als Briefträger in dem Dorf in dem er aufgewachsen ist, aber da passiert ja nix.«
»Das interessiert die einen Scheißdreck.«
»Prost, Jochen.«
»Prost, Heinrich.«
Unsere Gläser klacken und wir leeren die letzten Reste. »Kann uns auch mal passieren, hier unter dem Neonlicht«, murmele ich.
»Ach was, wir stehen da drüber«, erwidert Jochen. Wir verdrücken nach und nach die übrigen Schnitzel. Dann kippe ich die verglühten Kohlen aufs Gleisbett und räume den Grill weg.
Kurz vor sechs Uhr kommt der Frühdienst. Wir sitzen am Tisch, als das Telefon klingelt. Kontrollanruf der Aufsicht. Ich hebe ab, gebe die Zahlen der Nacht durch, noch sechzehn Waggons auf Abruf, nachher werden weitere vier reingeschoben. Ja, der Frühdienst könnte noch Hilfe brauchen. Ach ja, Kollege Gernot ist gestern Abend heim, starke Kopfschmerzen. Getrunken? Nee, er war ja kaum da. Wird sich im Laufe des Tages melden. Ja, danke und gute Nacht. Ich lege auf. Kläuschen kommt und gibt jedem von uns eine Flasche Bier. »Hier! Tut mir leid wegen heute Nacht. Das war keine gute Idee. Ich gebe einen aus.« Jochen öffnet die Flaschen mit seinem Feuerzeug und wir stoßen an. Das Bett hat noch eine halbe Stunde Zeit. Der Tag ist noch fern und das Neonlicht brennt in unseren Augen als wir die Flaschen ansetzen. Ich denke an Vater.
Diese Geschichte
Geschrieben im Jahr 1992. Erzählt wird beispielhaft von einem Nachtdienst im Dezember 1990 bei der – damals noch – Deutschen Bundespost. So oder ähnlich könnte es sich abgespielt haben. Ihr wisst ja: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Inzwischen habe ich den Text mehrfach überarbeitet. Vor allem in die Gegenwart geholt. Ich finde, der Kontakt zu den Leser:Innen ist auf diese Art intensiver.