Lichtjahre

KURZGESCHICHTE | Schwer zu glauben, aber die Sommergerste ist eingefahren, das Korn in die Malzfabrik verbracht. Zwei Tage und zwei Nächte kaum oder auf dem Schleppersitz oder in der Mähdrescherkabine gedöst. Nicht mal geduscht habe ich, nur um schnell nach Pforzheim zu kommen und mich einfach ins Bett fallen zu lassen, wenngleich dieses Bett nicht meines ist, nur das eines Kumpels, der mir freundlicherweise die Nutzung der Wohnung für die nächsten drei Wochen angeboten hat, denn er ist samt Freundin und Hund Richtung Dänemark gefahren. Pflanzen gießen, saugen – wenn nötig – und die Post aus dem Briefkasten nehmen. Keine allzu schweren Aufgaben. Es ist Samstagnachmittag, Spätnachmittag Mitte Juli und wenn das Wetter hält, geht es im Lauf der nächsten Woche mit der Wintergerste weiter. Doch im Moment lenke ich die Yamaha über die Bundesstraße Richtung Zuhause, den zweiten Helm am Helmschloss, Sonnenschein von rechts, fahre ab und zu Schlangenlinien, streife mit beiden Sohlen über den Asphalt, überhole, wenn ich Lust habe und lasse zügig Bretten hinter mir, den langen Anstieg hinauf. An der Bushaltestelle beim Rotenbergerhof steht jemand mit hochgerecktem Daumen. Ich halte an, ziehe den Helm vom Kopf, der Motor läuft noch. Die kurzen Haare haben mich getäuscht. Kein Junge, es ist ein Mädchen, eine junge Frau. Vielleicht mein Alter, die rechte Augenbraue kritisch nach unten gezogen.
»Ich fahre nach Pforzheim. Zweiten Helm habe ich dabei, falls du mitfahren möchtest.« Sie überlegt. Würde ich auch an ihrer Stelle. Verdreckter Landwirt mit staubiger Enduro hält neben junger Frau auf einsamer Landstraße. Da kann man Zweifel bekommen. Ich zucke mit den Schultern. »Musst ja nicht. Nur ein Vorschlag.« Die Augen zum Helm, Haare aus der Stirn geschüttelt, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter.
»Wohin denn in Pforzheim?«
»Egal«, sage ich zum Helm. »Ich setze dich ab, wo du möchtest.«
»Wohin musst du?«
»Benckiserstraße, beim Messplatz.« Es ist für einen Augenblick still.
»Kannst du mich am Leopoldplatz absetzen?«
»Kein Problem«, versichere ich, klappe die hinteren Fußrasten nach unten und öffne das Helmschloss. Möglicherweise ist ihr Kopf zu klein, aber da ist nichts zu machen. »Wenn du den Helm aufgezogen hast, zieh den Gurt ganz eng. Ich glaube, er ist zu groß für deinen Kopf.«
»Mh.«
Viele Worte macht sie nicht, setzt ihn problemlos auf, zieht den Gurt zu und als sie den Kopf dreht, verharrt der Helm einen Moment an alter Position. Wirklich viel zu groß.
»Ich fahre immer langsam und vorsichtig. Halt dich nicht am Gepäckträger fest, schließ deine Hände um meine Brust. Okay?«
»Okay«, kommt es dumpf unter dem Visier hervor. Sie steigt auf, ruckelt ein paar Mal mit dem Hintern hin und her. »Kann losgehen«, sagt sie dann und klammert sich an meinem Oberkörper fest, schafft es gerade so, ihre Finger zu verschränken. Erster Gang und los geht es nach Pforzheim.


Leopoldplatz mitten in der Stadt. Es ist ziemlich voll. Warmes Wetter, Sonne, blauer Himmel und gefühlt hat jeder oder jede Zweite ein Eis in der Hand. Ich halte vor der Deutschen Bank. Meine Mitfahrerin bleibt noch einen Moment sitzen. Wenn man das Sozius-Fahren nicht gewohnt ist, müssen erst mal die Muskeln entspannen. Und dann noch auf einer so hochbeinigen Enduro, da braucht es eine Minute, bis man sich wieder bewegen kann. Doch sie lässt nicht los, klammert an meiner Jeansjacke.
»So, Leopoldplatz«, sage ich laut. »Alle aussteigen, die Linie endet hier.« Dann ziehe ich den Helm ab, schüttle die Haare aus, das linke Bein auf dem Asphalt, das rechte noch auf der Hinterradbremse. Ich muss mich wundern. »Soll ich dich noch woanders hin fahren?«
»Ja, vielleicht. Weiß noch nicht.«
»Aber du wolltest genau hier her. Und da sind wir.« Keine Reaktion. Die kleinen Hände am Saum der Jacke lassen nicht los. »Ich kann dich auch woanders hinfahren, falls du mir eine Adresse nennst. Ich muss auf jeden Fall schnell in die Dusche, denn die Gerste juckt überall.«
»Können wir nicht irgendwo ein Eis essen? Oder was trinken?« Alles ist besser, als auf dem überfüllten Leopoldplatz zu stehen, zwischen Stadtbussen und einkaufenden oder flanierenden Familien.
»Bitte klapp die rechte Fußraste ein und drück dein Bein nach hinten.«
»Okay.«
Zügig schwenke ich den Kickstarter aus, bewege ihn vorsichtig zum Totpunkt, dann starte ich die Maschine. Sie hat den Fuß wieder auf der Raste, ich den Helm auf. Weiter geht es. Ich denke an Brötzingen, beim Spanier gibt es dieses in ausgehöhlte Zitronen gefüllte Zitroneneis für recht wenig Geld.
»Wohin fahren wir?«
»Nach Brötzingen, zum Spanier!«
»Kenne ich nicht!«
»Lass dich überraschen!« Wieder die kleinen Hände am Saum der Jacke. Es juckt im Nacken und der herbe Geruch des Getreides hängt mir in der Nase. Als wir ankommen, ich die Maschine abgestellt habe, blickt sie zu mir auf, fast zwei Köpfe kleiner, den Helm in der Armbeuge.
»Komm, nur durch diesen Durchgang, dann sind wir da.«
»Ich hab aber nur zehn Mark. Reicht das?«
»Ja, natürlich.«
Sie nickt. Viel mehr werde ich in meiner Hosentasche auch nicht finden. Schließlich bin ich Lehrling auf einem Bauernhof. Reich an Arbeit, der Rest ist ein Meer aus Tränen.
»Sag mal, Großer, wie heißt du eigentlich?«
»Heinrich. Und du?«
»Isabella.«
»Isabella? Wie die spanische Infantin zu Zeiten von Columbus?«
»Wer?« Ich sehe auf ihre Nasenspitze. Schmal und recht spitz, der Nasenrücken wie mit dem Lineal gezogen. Offenbar bemerkt sie meinen Blick und schaut hoch. »Meine Mama kommt aus Portugal«, erklärt Isabella. »Deshalb der Name. Meine Oma hieß wohl so. Aber eine Infandingens kenne ich nicht.«
»Macht nichts. Gehen wir erst mal das Eis essen.«
Ein Gast kommt aus der Tür, Isabella schlüpft unter seinem Arm durch hinein. Er staunt, ich grüße und folge. Durch den Vorhang und rechts im Nebenraum hat sie einen Tisch erobert mit zwei Stühlen, sitzt schon. Mein Helm auf dem Boden. Warm ist es hier drin und nun jucken noch mein halber Rücken und der Hintern. Spelz und Granen werden sich dort die Hand geben. Die Haut wird bald rot sein wie nach einer Sandstrahldusche.
»Toll hier. War ich noch nie. So schlicht.«
»Schlicht, aber gut.«
Ein Räuspern. Schon ist die Bedienung neben uns. Wir grüßen. »Zwei Zitroneneis, bitte«, sage ich und Isabella grinst. Niemand sonst ist mit uns in diesem abgeteilten Raum. Ich lege den Helm auf dem Fenstersims ab, ziehe die Jacke aus und starre auf den Ährenstaub, der an meinen Unterarmen klebt.
»Junge, du bist ganz schön dreckig«, stellt sie fest.
»So ist das, wenn Getreide geerntet wird. Eine ziemlich staubige Angelegenheit.«
»Und wo arbeitest du?«
»Bruchsal, Aussiedlerhöfe. Und du? Machst du eine Ausbildung? Oder gehste noch zur Schule?«
»Nix davon im Moment. Hab mal ne Ausbildung angefangen, aber die Chefin war scheiße. Hat dauernd an mir rumgemeckert. Dies und das hab ich wohl falsch gemacht. Hab ihr die Klamotten vor die Füße geworfen.«
»Wie alt bist du?«
Die Frage kommt unerwartet für sie. Ein kurzer Blick von unten heraus, kein Blinzeln, dann streicht ihr rechter Daumen über die Tischkante. Zwei Sekunden zu lang ist es still.
»Bin vor nem Monat achtzehn geworden. Und du?«
»Ich bin seit Januar achtzehn.«
Das Zitroneneis schwebt in unser Blickfeld. Für uns je eine noch fast grüne, große tiefgefrorene Frucht, ausgehöhlt, das Innere zu Eis verarbeitet und wieder hineingefüllt.
»Das sieht aber toll aus.« Isabella bekommt große Augen, nimmt die Schale entgegen und betrachtet sie ehrfürchtig für wenige Sekunden, dann fällt sie darüber her, drückt den Löffel ins Gefrorene, bekommt nur ein kleines Stück ausgebrochen, steckt es in den Mund und fast meine ich, ein Kleinkind zum ersten Mal beim Schokolade essen zu sehen. »Oh Gott«, sagt sie schmatzend. Ich lasse mir Zeit, wärme die Schale mit beiden Händen und beobachte Isabella. Sie wiegt nicht viel, ist nicht groß, hat kaum Busen, kleine Hände und wenn ich mich recht erinnere, auch kleine Füße. Das Gesicht ist schmal, überhaupt habe ich den Eindruck, dass sie recht wenig zu essen bekommt. Gut sichtbare Sehnen auf den Handrücken, am Hals, aber mehr ist nicht von ihr zu erkennen, denn trotz der beinahe dreißig Grad draußen, steckt sie in Pullover und langer Jeans.
Während ich endlich den Löffel zum ersten Mal in die Zitrone stecke, ist sie schon bis zur Hälfte vorgedrungen, kratzt, presst, hebt die Frucht fest und löffelt, was das Zeug hält. »Ich kann dir noch eine bestellen, wenn du magst.« Sie sieht kurz auf, schüttelt dann den Kopf.
»Nein, bitte nicht. Ich hab ja kein Geld. Will mir noch ein Deo kaufen später. Und wenn mich keiner mitnimmt, muss ich mit dem Postbus zurück. Das kostet ja alles.«
»Wann musst du denn zurück sein?«
»Spätestens um zehn Uhr.«
Löffel tief in die Frucht. Viel kann nicht mehr drin sein. Ich schiebe ihr meine über den Tisch. »Hier, ich bekomme von kaltem Eis manchmal Kopfweh. Wahrscheinlich war ich in den letzten Tagen zu viel an der Sonne. Du kannst meine Zitrone haben.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«


Draußen auf der grünen Stahlbank vor der Sparkasse, gegenüber dem Spanier, hält Isabella sich den Bauch. »Fühlt sich ganz schön kalt an jetzt. So gutes Eis habe ich noch nie gegessen.«
»Dann wurde es aber Zeit.« Sie reagiert nicht, grinst nicht, kein Lächeln, blickt die Westliche entlang, in beide Richtungen. Der Elfer kommt, rollt an uns vorbei, Menschen hinter den Busscheiben, die irgendwas anstarren, nur nicht uns. »Wohin soll ich dich denn nun fahren?«
Es dauert mit der Antwort.
»Weiß nicht. Wie weit ist es zu dir?«
»Fünf Minuten. Aber das ist die Wohnung von nem Kumpel, der für drei Wochen nach Dänemark gefahren ist. Ich kann dort schlafen, essen, duschen, was auch immer. Dafür gieße ich Pflanzen und schau in den Briefkasten.«
»Klingt nach einem guten Geschäft«, meint sie. »Und wo wohnst du sonst?«
»Auf dem Hof. Dort habe ich ein Zimmer«, erwidere ich und überlege, ob ich es Zimmer nennen kann. »Ist nichts besonderes. Bett, Tisch, Stuhl und alter Schrank, aber ein Dach überm Kopf.« Sie nickt langsam und lange.
»Ja, so ein Zimmer kenne ich. Habe ich auch.«
Ich traue mich nicht zu fragen, ob es das Zimmer bei ihren Eltern oder einem eventuellen Freund ist oder sie allein wohnt. Stattdessen gefällt mir die Idee, sie mitzunehmen. Ich könnte Spaghetti kochen, das kann ich inzwischen ganz gut. »Zu wem wolltest du denn eigentlich?«
Isabella schüttelt unmerklich den Kopf. »Zu niemand. Nur in die Stadt. Bisschen rumlaufen. Ein Eis essen, dann wieder nach Hause fahren.«
»Soll ich dich wieder zum Leopoldplatz bringen?«
»Nein«, sie schaut nach oben, zu einer der Wolken, die weiß und langsam ihre Bahn ziehen. Tiefes Einatmen folgt. So ganz werde ich nicht schlau aus ihr.
»Okay, ich mach dir einen Vorschlag, denn die Dusche ruft dringend. Du ahnst gar nicht, wie das Zeug juckt. Ich nehme dich mit und heute Abend um halb zehn fahre ich dich zurück. Ist das eine gute Idee?« Isabella sieht mich lange an, dann steht sie auf.
»Ist bisschen komisch, oder? Kenne dich ja gar nicht.«
»Du hast recht«, kann ich nur erwidern. »Und ich dich auch nicht.«
Sie grinst. Zum ersten Mal ein breites, ehrliches Grinsen. »Na gut. Die Idee gefällt mir irgendwie. Ich hab eh keine Ahnung, was ich tun soll. Aber du fährst mich wieder nach Bretten, oder?«
»Das werde ich.«
»Also, komm. Dann zu dir … oder deinem Kumpel.«


Zwei Zimmer, Küche, Bad, kleiner Flur und Isabella sitzt oder fläzt schon auf der Zweiercouch. Ich komme aus der Dusche, Bermudas und weißes T-Shirt an, rasiert und fühle mich erheblich besser. Es hat gedauert, bis ich die Duschwanne sauber hatte. Die langen Granen einfach runterspülen, wäre dem Abfluss möglicherweise schlecht bekommen.
»Das hat aber gedauert«, merkt Isabella an. Ich setze mich auf den Sessel, strecke die Beine aus und atme tief durch.
»War ja auch eine intensive Ernte, trocken, mit viel Staub. Und wir sind ein paar Tage durchgefahren. Die einzige Erfrischung ist es, den Kopf in einen Eimer Wasser zu tauchen und andauernd trinken.«
Isabella schaut her, dann auf meine Beine, an mir entlang. »Also ist es anstrengend auf so einem Hof. Ich könnte das nicht. Komm ja so schon kaum aus dem Bett.«
»Anstrengend ist es, ja, mitunter. Nicht immer so wie jetzt gerade. Der Winter bringt wieder ruhige Tage.«
»Macht es dir Spaß?«
»Inzwischen ja. Die ersten zwei Monate hab ich schwer gehadert und mir jeden Abend vorgenommen, am nächsten Tag aufzuhören.«
»Aber du hast nicht aufgehört.«
»Nein. Und das ist gut so.«
Sie legt die Füße auf den Couchtisch, sieht meinen Blick und nimmt sie wieder runter. »Ja, ich weiß. Ist nicht deiner. Gehört deinem Kumpel. Aber ich bin geduscht und die Socken sind auch frisch.«
»Leg doch deine Beine auf die Couch. Ich ruhe mich noch ne halbe Stunde aus, dann mache ich Essen. Sind Spaghetti okay?«
»Mir ist alles recht. Solange es schmeckt.«
Die letzten Buchstaben verschwinden. Da kommt eine tiefe Erschöpfung, schleicht sich von hinten an. Das nächste, was ich mitbekomme, ist eine kleine Hand, die an mir rüttelt. »He! Ich hab deinen Namen vergessen. Wie heißt du noch mal?« Da steht ein Mädchen mit gespreizten Beinen über meinen, vorgebeugt. Also doch kein Traum.
»Heinrich.«
»Gut, Heinrich. Du wolltest was kochen. Ist schon ne Dreiviertelstunde rum. Soll ich lieber gehen?« Wie Puzzleteile fallen die Erinnerungsbrocken vom Himmel. Isabella heißt sie und Spaghetti will ich machen. Mühsam quäle ich mich hoch und gehe in die Küche.
»Kann ich dir was helfen?«
»Ja, im Kühlschrank sind frische Tomaten. Du kannst sie waschen und in kleine Würfel schneiden.«
Nichts passiert. Ich werfe ihr einen Blick zu und hole die Tomaten selbst aus dem Kühlschrank. »Ich möchte kein Messer in die Hand nehmen«, sagt sie.
»Macht nix. Setz dich an den Küchentisch. Dauert ja nicht lang.« Kein Messer in die Hand nehmen, wiederhole ich ihre Aussage im Stillen. Es muss ja keines der großen Supermesser von der Magnettafel sein. Ein kleines tut es ja auch. Ich wasche die roten Kugeln. Sie duften würzig.
»Du bist ziemlich braun«, sagt Isabella.
»Das ergibt sich so. Die meiste Zeit ist man draußen auf dem Feld.«
»Ich bin käseweiß.«
Ein kurzer Blick über die Schulter. Den Kopf hat sie auf die Hände gestützt. In der Tat, das ist sie: käseweiß. »Du hast bei dem Wetter einen Pullover und ne lange Jeans an. Das ist ja noch ein Rollkragenpullover. Wie sollte die Sonne an deine Haut kommen? Gehst du nicht ins Schwimmbad?«
»Nee, keine Lust.«
Ich bohre nicht weiter nach, schneide Würfel, schalte den Herd ein, Topf mit Wasser, Salz, Deckel drauf. Dann die Zwiebeln würfeln. Keine zehn Sekunden später weine ich und schniefe.
»Weinst du wegen mir?«
Ich lache. Pruste richtig los. Mit der Frage habe ich nicht gerechnet.
»Nein. Wegen der Zwiebeln.«
»Ach so, ja, kann ich verstehen. Hab auch schon mal Zwiebeln geschnitten und musste flennen. Heulsuse ham sie gesagt.«
»Sagt wer?«
»Ach, meine Schwestern.«
»Sag deinen Schwestern, es gibt noch eine Heulsuse«, erwidere ich und versuche, mich durch den vernebelten Blick nicht zu schneiden. Isabella lacht. Nicht lang, nicht laut. Hört abrupt auf, als würde es jemand verbieten. Vom guten Olivenöl in die Pfanne und mit dem nass gemachten Geschirrhandtuch durch die Augen streichen, das wird helfen.
»Wo hast du kochen gelernt?«
»Gelernt ist übertrieben. Kochen ist übertrieben. Im Laufe der Zeit guckt man sich die Dinge ab, probiert es selbst, versagt und probiert es wieder. Lernen halt.«
»Lernen ist nix für mich.«
Jetzt unterbreche ich alle Tätigkeiten und drehe mich um. Da sitzt sie, Kopf immer noch auf den Handflächen. Von unten herauf starrt sie mich an. Schwer zu sagen, ob sie schön ist oder etwas anderes. Etwas, für das ich keine Beschreibung habe. Wie ein verlorenes Rettungsboot im Pazifik. Das Öl flüstert, dass es die richtige Hitze hat. Zwiebeln hinein, gleich Salz, damit sie Wasser abgeben.
»Sie sollen nur glänzen, aber nicht braun werden«, erkläre ich und hoffe, sie hört zu. Bald glänzen die Zwiebeln, ich gebe alle Tomatenstücke dazu, noch mal etwas Salz und eine Menge Pfeffer, lege die Spaghetti ins kochende Wasser.
»Wie geht’s dem Essen?«
»Das wird. Möchtest du etwas trinken?«
»Ich trinke gerne Tee. Pfefferminztee«, schränkt sie ein.
»Ist es nicht ein bisschen warm für Tee? Du bist ziemlich dick angezogen. Ich hoffe, du frierst nicht?«
»Nee, nee, mach mir nur einen Tee. Ich lauf immer so rum.«
»Also, dann einen Pfefferminztee.«


Isabella greift über den Tisch zur Pfeffermühle, ihr Pulloverärmel rutscht hoch, zwei oder drei Zentimeter. Nicht nur im Gesicht ist sie bleich, auch an den Armen. Und da ist noch etwas, dessen Anblick mich verwirrt, weil ich es nicht entziffern kann, nicht deuten. Eine Art Flussdelta liegt wie eine Zeichnung auf der Haut. Rundherum, vom Handgelenk an aufwärts. Kleine, mäandernde Bäche neben breiten Strömen, manchmal gezackt, breiter oder schmäler werdend. Sie bemerkt meinen Blick und zieht den Arm zurück.
»Gibst du mir bitte Pfeffer?«
»Klar.« Ich beuge mich vor, damit sie den Arm nicht mehr so strecken muss. Isabella greift zu, ein paar Drehungen an der Mühle, kaum der Rede wert, zumal ihr Teller fast leer ist. Ich bin seit ein paar Minuten fertig, hab den größten Hunger gestillt. Arbeiten auf dem Bauernhof macht enorm hungrig, doch im Kopf habe ich nur noch die Deltalandschaft und grüble, dann fällt es mir ein. Es sind Narben. Schnitte, aber so gezackt an manchen Stellen … Gänsehaut entsteht auf meinem Rückgrat. Sie stopft und drückt die restlichen Spaghetti in sich hinein, legt Löffel und Gabel in den Teller, faltet die Hände und wispert etwas, das ich nicht verstehe, dann steht sie auf und räumt ab. Das überrumpelt mich, denn ich dachte eher daran, noch ein Glas Milch zu trinken oder einen Tee und über dies oder jenes zu quatschen. Aber Isabella wäscht ihren Mund sauber mit einem Zewa und verschwindet aus der Küche.
»Hat toll geschmeckt! Danke!«, ruft sie vom Flur. Ich nicke. Immerhin, es hat toll geschmeckt. Also bleibt nur spülen, mit einem letzten Blick kontrollieren, ob der Zustand der Küche demjenigen vor dem Beginn des Kochens gleicht, dann schlendere ich ins Wohnzimmer. Isabella liegt auf der Couch und schläft. Zumindest sind beide Augen geschlossen. Ich setze mich leise in den Sessel, strecke die Beine aus und nehme den STERN aus dem Zeitschriftenhalter rechts von mir. Gleichmäßiges Atmen. Sie ist tatsächlich eingeschlafen. Beide Ärmelenden hat sie weit vorgezogen, über die halbe Hand. Ich werde nicht nachsehen, aber das Flussdelta zwingt meine Gedanken weg vom Editorial. Ich bin heilfroh, dass Isabella schläft, nicht sieht, wie ich um Atem ringe, die Augen schließe und an die Nadeln und Dinge denke, die ich in meinen Körper gedrückt habe, mal sanft, mal ruckartig. Wie lange ist es her? Ein paar Jahre. Nicht so viele. Ich bin ja erst achtzehn. Ewigkeiten scheinbar, und doch sind alle Bilder wie frisch gemalt. Isabella hat es ebenso getan. Auf eine andere Art. Und passiert das immer noch? Jetzt kann ich sie doch nicht halten, die Tränen und versuche, ruhig zu atmen. Langsam ein, noch langsamer aus. Nur nicht schniefen. Die Stille im Haus ist überwältigend und bald döse ich weg.


Gäbe es einen Preis für den schlimmsten Albtraum, täte ich mich doch glatt bewerben und hätte Chancen. Schritte im Zimmer. Ich weiß, wo ich bin. Diesen Traum genießen, das kann ich gut. Und die Schritte sind von Isabella. Es ist vielleicht schon spät und sie muss nach Hause. Ich werde sie fahren. Das habe ich versprochen. Also die Augen öffnen. Das fällt schwer, denn die Traumbilder werden sich im Nebel des Aufwachens verlieren. Das Schreckliche, in dessen dunkler Existenz ich mich im Traum so gerne aale, ist dann bedeutungslos. Etwas berührt mein Gesicht, meine Wange, streicht mit zwei Fingern darüber. Kleine Finger.
»Heinrich … du weinst ja im Schlaf.«
»Mh.«
»Schlecht geträumt?«
»Ziemlich.«
Isabellas Finger verschwinden und hätten doch bleiben dürfen. Ich öffne die Augen und sehe gerade noch die vorgestreckte Hand, bevor sie hastig den Pulloverärmel langzieht und sich wieder auf die Couch setzt. »Ich träume auch schlecht. Fast jede Nacht«, sagt sie, lehnt sich zurück und legt wieder die Füße auf den Tisch. Dieses Mal die nackten Füße. Mehr als Schuhgröße 38 kann es nicht sein, dafür eine makellose, unverletzte Haut, sehr blass, dünne, dunkelblaue Äderchen auf dem Spann, Sehnen, die bei jeder Bewegung rollen. Sie betrachtet ihre Füße.
»Das Schönste an mir. Meine Füße. Findest du nicht auch?«
»Ja. Du hast recht. Sie sind wirklich fein. Wie aus Marmor gemeißelt.«
»Aus Marmor gemeißelt? Was soll ich mir da drunter denn vorstellen?«
Blinzeln hilft kaum gegen die Müdigkeit. Augen reiben vielleicht? Auch nicht. Ich brauche kaltes Wasser. »Na ja, ein Bildhauer eben, der mit vielen verschiedenen Werkzeugen aus einem großen Marmorblock solch schöne Füße haut, kratzt, klopft, dann schmirgelt und schleift, wie auch immer. Du weißt schon, oder?«
Isabella sieht mich an. Offenbar weiß sie nicht. Ich stehe auf und gehe ins Bad. Sie folgt mir und bevor ich die Tür schließen kann, schlüpft sie mit durch den verbleibenden Spalt, zieht die Hose runter, die Unterhose und setzt sich auf die Klobrille. Schnell kaltes Wasser ins Gesicht, mehr als geplant, noch einmal. Jetzt sollte ich doch bald wach werden. Es plätschert abschnittsweise neben mir.
»Hatte ne Blasenentzündung. Tut immer noch ein bisschen weh, deswegen läuft es so holprig. Stört dich das?«
»Nein. Stört mich nicht. Ist denn wieder alles in Ordnung? Ich meine, außer dem holprigen Pinkeln?«
»Das meinte ich nicht, du Dummerchen. Ich meinte, ob es dich stört, wenn ich neben dir pinkle, so ohne Hosen an.«
»Nein, stört mich auch nicht. Hauptsache, das Klo bleibt sauber.«
»Na, du hast Sorgen …«, meint sie und trocknet sich mit Klopapier ab. Da sind kleine Punkte, Kreise, unregelmäßig geformte Flecken auf Isabellas Oberschenkeln. Ein kleiner Bluterguss neben einem großen und so weiter. Ziemlich viele. »Fährst du mich jetzt wieder nach Bretten?«
»Okay. Ich trinke noch ein Glas Wasser, dann können wir fahren. Auch eins?«
»Nee, danke.«


Sie ist eine gute Beifahrerin. Von ihrem Gewicht spüre ich nichts. Weder in den Kurven, noch an der roten Ampel. Natürliches Ausbalancieren, das habe ich nicht oft hinter mir auf dem Sozius. In der Bauschlotter Senke schiebt sie beide Hände unter meine Jeansjacke. Vermutlich spürt sie, dass es kühler wird. Sie will an der Sprantaler Einmündung absteigen, ich kann aber schlecht anhalten und fahre die wenigen Meter bis zu den Stadtwerken, stelle beide Füße auf den Asphalt und ziehe den Helm ab. Isabella steht neben dem rechten Spiegel, Helm in der Hand und schaut mich an.
»Danke. Für das gute Eis und die Nudeln und dass ich schlafen durfte und du … na, dass du auch geschlafen hast. Hab dich beobachtet. Erzähl mir noch von dem Traum. Ist noch ein bisschen Zeit.«
»Vielleicht sehen wir uns noch mal. Dann erzähle ich dir vom Traum. Ich muss noch zurückfahren und bin hundemüde. Unterwegs einpennen wäre fatal.«
»Ja, du hast recht.«
Ich nehme ihr den Helm ab, schiebe ihn über die Armbeuge und starte die Maschine.
»Morgen will ich wieder in die Stadt. Holst du mich ab? Um neun? Morgen darf ich den ganzen Tag weg. Und ich bekomme Taschengeld.«
»Morgen um neun Uhr?« Isabella lächelt. Mir kommt es vor, als würde ich sie zwanzig Jahre kennen und sehe das heute zum ersten Mal. »Okay, Isabella. Ich hau mich gleich in die Falle, stelle den Wecker auf acht und bin um neun hier. Dann fahren wir zum Seewirt und essen ein paniertes Schnitzel.«
Sie legt die Hand auf meinen Unterarm. Nicht mal die Berührung spüre ich, so vorsichtig tut sie es. Dann dreht sie sich um und geht zügig Richtung Eisenbahnbrücke. Ich atme tief durch. Der Einzylinder tuckert friedlich.


»Das ist aber toll hier. War ich noch nie. Wusste gar nicht, dass es so was in Pforzheim gibt.« Isabella schaut sich vorsichtig um, lässt den Blick nie länger als einen Atemzug auf jedem Mensch um uns herum. Meist ältere Herren, Kniebundhosen aus Leder oder Cord, rot-weiß karierte Hemden, Hosenträger, Wanderstöcke mit Abzeichen beschlagen, Gamsbarthüte. Hätte ich das geahnt, wären wir woanders hin.
»Ja, bis auf die guten Deutschen ist es recht okay.«
»Ich weiß, was du meinst.« Sie nickt zur Bestätigung und der Kellner bringt unsere Wiener Schnitzel, platt gehauen, aber tellergroß, dazu eine Schüssel Pommes, Mayonnaise und Ketchup. Zitronenscheiben kennt man nicht hier oben im Kanzlerwald.
»Lass es dir schmecken«, sage ich, was aber völlig überflüssig ist. Isabella macht Kleinholz aus dem Schnitzel. Sägt es innerhalb kurzer Zeit in mundgerechte Stücke und formt eine Art Hügel. Dann verrührt sie Mayonnaise und Ketchup zu einer rosa Creme, hebt die Schüssel Pommes an und schüttet eine ordentliche Menge auf den Teller. Ich habe Zweifel, ob das alles in die zierliche Person mir gegenüber passt. Ich fange gesittet an. Das Anerzogene verliert man nicht. Nach wenigen Minuten werden die Menschen um uns herum auf Isabella aufmerksam. Die greift jedes Fleischstück mit Daumen und Zeigefinger, zieht es durch die rosa Creme, dann wandert die Mischung in den Mund. Heute ist ihr Pullover noch etwas dicker, die Ärmel länger. Hin und wieder streift er die Creme und Isabella schleckt ihn ab. Ich ziehe beide Augenbrauen hoch und gebe haltungstechnisch mein Bestes. Gabel links, Messer rechts, gerade sitzen, keine Ellenbogen auf den Tisch, nach beiden Seiten lächeln und nicken. Da haben die Gamsbartträger heute Abend was zu erzählen.
»Warum hast du eigentlich geweint im Schlaf? Das wolltest du noch erzählen«, kommt die Frage unvermittelt, mit halbvollem Mund, leicht schmatzend und nicht besonders leise. Die nächsten drei Tische haben es ebenfalls gehört. Verstummende Gespräche, leiser werdende Stimmen. Ich kaue nicht weiter, schau mich vorsichtig um und werde rot.
»Ich erzähle es dir, aber später. Okay? Ist mir zu voll hier.« Von unten herauf schaue ich Isabella an, die Augenbrauen hochgezogen. »Ist nicht für alle Ohren«, hänge ich leise an. Sie nickt und zieht weiter Fleischstücke durch die Creme. Die umliegenden Sonntagsgäste widmen sich erneut Themen wie dem FC Pforzheim, die Teuerungsrate und warum Kohl der bessere Kanzler ist. Isabella verputzt in aller Seelenruhe den ganzen Fleischberg samt Pommes, wischt mit dem Zeigefinger den Teller blitzblank, schleckt ihn genüsslich ab, wischt Mund und Finger mit der Serviette sauber und wirft sie zusammengeknüllt aufs Porzellan. Dann reibt sie über ihren Bauch.
»Puh! Das war gut! So viel habe ich schon lange nicht mehr gegessen.«
In einem großen Zug leert sie die Spezi und rülpst unterdrückt, was ihr nur bedingt gelingt, denn die Hand ist zu klein und das Aufstoßen zu kräftig. Man mustert uns mit zunehmendem Widerwillen. Doch die meisten Gäste verlassen nach und nach den Platz, wandern weiter oder fahren wieder nach Hause und bald bin ich ebenfalls fertig. Das obligatorische Salatblatt rolle ich zu einem Röhrchen, schaue hindurch, auf Isabella, und stecke es in den Mund.
»Und jetzt noch einen Espresso?« Die Frage überrascht mich.
»Keine Ahnung, Isabella. Normal trinke ich keinen Kaffee, aber warum nicht?«
Sie lächelt, hebt den Arm zur Hälfte, gerade so weit, dass die Ärmel keine Haut zeigen und bestellt beim Kellner zwei Espresso. Dann bohrt sie in der Nase, findet nichts und legt den Kopf in den Nacken. Über uns ist blauer Himmel. Keine Wolke.
»Warum willst du wissen, weswegen ich manchmal weine?«
»Weiß nicht. Ich weine auch manchmal im Schlaf. Sagen die anderen jedenfalls. Kann schon sein. Ab und zu wache ich mit roten Augen auf, aber ich erinnere mich nie daran.« Sie hebt den Kopf, verzieht das Gesicht, als würde nun der Nacken schmerzen und sieht mich an. »Kannst du dich erinnern?«
»An was?«
»Na, weswegen du im Schlaf weinst.«
Sie ist direkt. Ich fühle mich überfahren. Und auch wieder nicht. Alle Worte liegen mir auf der Zunge. Die Antworten auf ihre Fragen. Warum habe ich Isabella getroffen? Hat da jemand was arrangiert? Zeit verstreicht, die Erde dreht sich ein Stück weiter und der Schatten vom Sonnenschirm am Nachbartisch wandert über den kleinen Kopf. Ihr Blick wird dunkler. Der Espresso kommt und ich atme auf. Zwei Löffel Zucker hinein. Trinkt man das so? Isabella schlürft ihn ohne, schmatzt nach. »Schmeckt gut«, stellt sie fest. Mit der Menge Zucker schmeckt er auf jeden Fall gut. Ich trinke die dunkle Brühe in einem Zug leer. Ein bitterer Nachgeschmack, meine Kehle zieht sich zusammen und Isabella wartet auf meine Antwort. Oder sie hat die Frage schon wieder vergessen.
»Also?« Nein, sie hat die Frage nicht vergessen. »Jetzt ist schön leer. Die guten Deutschen sind weg. Ich weiß, du erinnerst dich an das Weinen im Schlaf. Also auch, warum du das tust, nicht wahr?«
Ich nicke, schaue auf die Seite, dann ist die Espresso-Tasse in meinem Blick. Ein brauner Rand, Zucker glänzt auf der Innenseite. »Es sind die Bilder«, sage ich. »Die Bilder in meinem Kopf. Deswegen weine ich. Manchmal. Nicht immer.«
»Die Bilder«, wiederholt Isabella leise. »Du träumst und siehst Bilder.«
»Mh.«
Wir sehen uns an. Sie im Halbschatten des Sonnenschirms, ich die Sonne im Rücken, Wärme im Nacken, es kribbelt bis hinauf zum Scheitel. Langsam hebe ich den Arm, zeige mit dem Finger auf meinen Ärmel. »Du hast auf deinen Handgelenken Flusslandschaften. Gezackt, kleine Bäche, große Ströme. Du schneidest dich mit einem Messer?« Wieder ein Ozean aus Schweigen, obwohl nur kurz, ist er doch tief und dunkel. Darin kann ich mich verlieren und will es nicht.
»Die Bilder«, sagt sie und die beiden Worte sind ein Rettungsring. Der Kellner kommt, hat wohl das Heben meines Armes falsch gedeutet. Nein, nichts mehr bestellen, versichere ich, aber zahlen wäre okay. Er rechnet, schreibt die Summe auf den Block, reißt das Blatt ab und legt es auf den Tisch. Mit Trinkgeld lege ich 35 Mark aufs Papier.
»Stimmt so.«
Er bedankt sich, räumt zusammen und verabschiedet sich mit dem Wunsch für einen schönen Restsonntag.
»Komm, Isabella. Wir fahren ins Größeltal und sammeln Brunnenkresse.«
»Brunnenkresse?«
»Ja. Heute Abend machen wir einen schönen Salat.«


Die Strecke ins Größeltal hinab ist kurz, aber nicht ungefährlich. Kurz vor dem Talgrund stellt Isabella sich auf die Fußrasten, meine Schultern als Griffe, die Knie im Rücken, dann lässt sie vollends los, beide Arme ausgebreitet, als würden wir demnächst durchstarten. Ich kupple aus und wir rollen die unebene Landstraße entlang. Ein hupender Autofahrer, der uns entgegenkommt, den Kopf schüttelt. Isabella lacht und jauchzt. Im Rückspiegel sehe ich den Pullover flattern, wie er ein Stück Haut freigibt und da sind blaue Flecken, wahllos verteilt auf der blassen Haut. Ich begreife, dass Isabella Schmerz ist. Schmerz auf zwei Beinen. Langsam rolle ich aus, ziehe den Helm ab und atme tief die würzige Luft ein. Tannen um uns, ein Eichhörnchen klettert einen dicken Stamm empor und der Eichelhäher schlägt Alarm, ein VW-Bus fährt an uns vorbei. Isabella steht immer noch.
»Es ist so schön hier«, ruft sie in den Wald, gegen den Abhang. Der Bach plätschert. Ich sehe Brunnenkresse an den Ufern.
»Komm, steig ab, Isabella. Da unten wächst unser Essen.«
»Wo?«
Ich deute auf das schmale Gewässer. Sie springt aus dem Stand auf die Wiese, über die Hecke am Rain, stolpert und schreit. Ein Fuß bleibt an etwas hängen. Ein kleines Loch im Boden vielleicht. Wie ein Igel im Laub rollt sie durchs hohe Gras, jammert, wimmert, hebt den Fuß. Ich seufze und stelle die Maschine so ab, dass sie nicht umfällt, dann hüpfe ich über die Brombeeren, hebe Isabella auf und trage sie die wenigen Meter zum Bach, setze sie ans Ufer und ziehe ihr den Schuh aus. Keine Socken, geschwollener Knöchel. Sie flucht wie ein Bauarbeiter und kennt ziemlich heftige Ausdrücke.
»Komm, ab ins kalte Wasser damit! Das wird sicher ein wenig weh tun, aber muss sein. Sonst wird es noch dicker.«
»Schmerz ist mir egal«, erwidert sie und klammert sich an meinem Oberarm fest. Ich schiebe sie übers Gras und der Fuß verschwindet im kühlen Nass. Ein Zischlaut aus ihrem Mund, dann Stille. Kein Auto auf der Straße, die Yamaha steht wie eine Eins, der Eichelhäher schweigt und das dunkle Grün der Tannen ist steil vor und über uns. Im Bach gibt es kleine Forellen und ein Neunauge ist zu sehen. Kresse wächst zahlreich. Isabella lässt jedoch nicht los, legt den Kopf gegen meine Schulter und ich den rechten Arm um ihre Hüfte, langsam die Hand auf den Bauch. Nur ein Pullover zwischen den blauen Flecken und meiner Haut. Ich habe das Gefühl, sie wird nicht mehr loslassen und wir werden ewig an den Gestaden sitzen, Sonnenauf- und -untergänge betrachten. Sie mit ihren Bildern, ich mit meinen. Wir weinen nachts. Manchmal. Das weiß ich jetzt. Und dass ihr blasser Körper von Narben und Flecken zusammengehalten wird. So hat es den Eindruck. Isabella ist vielleicht nur noch eine Hülle.
»Wenn du ‚die anderen‘ sagst, meinst du nicht Geschwister oder Eltern oder so, nicht wahr? Du meinst es so, wie du es sagst. Es sind andere. Fremde?«
»Die zwei Mädchen, die mit mir im Zimmer sind.«
»Dann bist du in einem Heim?«
»Mh.« Isabella zieht den zweiten Schuh aus und hängt den Fuß ebenfalls ins Wasser.
»Warum?«
Die Füße im Wasser schillern, obwohl es nur das Sonnenlicht ist, das sich auf der Oberfläche bricht. Ich tue es ihr gleich. Schuhe und Socken aus, beide Füße hinein. Größe 47 gegen Größe 38. Einen Atemzug später streicht ihr gesunder Fuß über meinen rechten. Über den Spann, auf und ab. Sie ist geschickt mit den Zehen. Es kribbelt, geht durch und durch, mäandert hinauf in meine Hüften. Ich kann mich nur zurücklegen ins hohe Gras, einen roten Mohn über meiner Nase, dann ein Schatten, Isabella, die Hand auf meiner Brust, ihren kleinen Kopf auf der Schulter. Wir sind das Schweigen. Nur leichtes Kraulen ihrer Finger, kaum Berührung. Ich weiß nicht, was passiert, will einfach alles geschehen lassen. Etwas wächst in mir. Eine Kammer in meinem Herz öffnet sich und bittet Isabella herein. Dann ist leises, gleichmäßiges Atmen zu hören. Sie ist eingeschlafen. Langsam drehe ich mich ihr zu, bette den Kopf auf meinem Oberarm und schaue in das schmale Gesicht, schiebe einen Ärmel des Pullovers hoch. Nur fünf Zentimeter. Die Flusslandschaft. In ihr muss Krieg herrschen. Ein Schlepper fährt vorbei, Heu auf dem Hänger. Eine Hummel landet im roten Mohn, der sich biegt und fast Isabella berührt.


Tomaten, Mangostücke, Kartoffel, Ei und Kresse. Der Salat war toll, doch gegessen habe ich ihn allein, denn Isabella schlug im Gras die Augen auf, einen irritierten Blick in den Augen, suchend vielleicht, sah mich und war wie ausgewechselt. Den Schmerz im Knöchel ignorierend, zog sie den Schuh an und bat mich, nach Bretten zu fahren. Der Vorplatz bei den Stadtwerken, dort habe ich sie abgesetzt. Kein Abschied, wortloses Absteigen. Der Einzylinder tuckerte und ich sah sie im Rückspiegel verschwinden. Etwas war passiert. Vielleicht ich. Vielleicht bin ich passiert. Meine Fragen, die Tränen im Schlaf. Ich fuhr zurück nach Pforzheim, aß den Salat und ging in die Stadt in irgendeine Kneipe mit irgendwelchen Menschen bis es dunkel wurde und ich den Heimweg antrat. Pflanzen gießen war eine der Tätigkeiten an diesem Abend, die andere das Wiederherstellen der Wohnung in einen guten Zustand. Und am Montagmorgen fuhr ich zurück auf den Hof.


Wintergerste hat einen etwas längeren Halm als ihre sommerliche Schwester. Doch beide jucken wie verrückt. Die komplette Ernte lagerten wir in unseren Silos ein, um daraus Futter zu schroten für das Vieh. Am Freitagmorgen wurden wir fertig und nach dem üblichen Reinigen des Mähdreschers fuhr ich gegen frühen Nachmittag wieder nach Pforzheim. Zwei Tage durchschlafen hatte ich als Ziel im Kopf, stoppte jedoch in Bretten bei den Stadtwerken und sah mich um, suchte nach Isabella, aber nur ein paar Männer in Latzhosen, zwei Kleintransporter eines Heizungsinstallateurs, der Überlandbus nach Pforzheim, mehr gab es nicht zu sehen. Ich war enttäuscht, ohne zu wissen, warum eigentlich. Spürte ich ein Kribbeln im Unterleib? Ja, ein wenig schon. Aber ist es richtiges Verliebtsein? Isabella ist schließlich ein Rätsel. Ein vernarbtes Rätsel, das sich Schmerz zufügt. Mit dem Einlegen des ersten Gangs fuhr ich vom Vorplatz und drosch die Maschine den Anstieg hinauf, immer am Rande ihrer Leistungsfähigkeit, viel zu schnell, viel zu riskantes Überholen. Dass mir mein Leben so egal sein konnte, darüber wunderte ich mich nicht.


Langsam, auf den Fußrasten stehend, mit wenig Gas im ersten Gang, fahre ich auf den breiten Bürgersteig, stelle die Yamaha neben den Baum, steige ab, Lenkradschloss einrasten, Benzinhahn zu, drehe mich um und sehe die schmale Isabella im Hauseingang sitzen. Ein paar Atemzüge stehe ich still. Sie hat die Beine angewinkelt, den Kopf auf beiden Knien, schaut nach unten und döst oder will die Welt nicht sehen. Wie ist sie hierhergekommen? Dämliche Frage, die ich sogleich wieder vergesse. Ich ziehe den Rucksack vom Rücken und hole den Schlüssel aus der Tasche. Bei Isabella gehe ich in die Hocke und stupse sie an. Das Augenweiß ziemlich gerötet, erkennt sie mich erst nicht, schiebt die Brauen zusammen.
»Ja?«
»Ich bin’s, Isabella. Heinrich.«
»Ja, ich seh’s. Dachte schon, du kommst nicht mehr.«
»Komm, wir gehen hoch.«
Sie steht auf, aus dem Briefkasten fallen mir fünf Briefe und Werbung entgegen, stopfe alles in den Rucksack, dann machen wir uns auf den Weg. Zweiter Stock. Isabella ist kaum zu hören, als würde sie schweben. Oben angekommen, öffne ich und sie hastet an mir vorbei, direkt ins Badezimmer. Nach kurzer Zeit höre ich die Toilettenspülung. Die Tür geht auf.
»Darf ich duschen?«, ist aus dem Flur zu vernehmen.
»Klar. Handtücher sind in dem Schrank neben der Waschmaschine.« Keine Antwort, dafür das entfernte Rauschen der Dusche. Ich gieße die Pflanzen auf dem Fenstersims der Küche, will die kleine Gießkanne erneut füllen und bemerke Isabella im Türrahmen. Nichts an.
»Du musst doch bestimmt auch duschen, oder? Bist ja ganz dreckig. Wieder so Gerstenstaub, gell?« Ich schlucke trocken.
»Ja, schon, aber du kannst ruhig zuerst. Ich gieße die Pflanzen und sortiere Post, nach wichtig und unwichtig und …« Schon ist sie vor mir, greift meine Hand, nimmt die Gießkanne und stellt sie auf die Spüle.
»Komm. Lass uns zusammen duschen.«
»Wirklich? Ich meine, bist du dir sicher?« Die kleine Hand packt nach, Isabella zieht, dreht sich halb und ich folge ihr. Offenbar ist sie sich sicher. Ich kicke die Turnschuhe von den Füßen. Im Badezimmer steigt Isabella in die Duschwanne. Einen Augenblick zögere ich, schäme mich, dann ich sehe alle Narben, Flecken und andere seltsame Merkmale auf Bauch, den Hüften, der linken Schulter. Ich ziehe mich aus und stelle mich neben sie, schließe die Plexiglastür und drehe die Brause. Wir stehen im Wasserstrahl. Isabella greift um meinen Oberkörper, lehnt den Kopf an meine Brust und ich drücke vorsichtig zu, halte sie fest. Auf dem Rücken sind kleine Furchen, raue und glatte Stellen wechseln sich schnell ab. Rot im Gesicht bin ich auf jeden Fall, aber das warme Wasser lässt es hoffentlich verschwinden. Mein Blick geht zum Shampoo. Ich drücke etwas aus der Flasche auf Isabellas Kopf, massiere es in die Haare, dann Duschgel auf den Rücken, die schmalen Pobacken, rutsche an hier runter und seife Brust und Becken ein, Oberschenkel bis zu den Füßen. Es geschieht einfach und ich bin erregt, doch um sie ist eine Art Schirm. Ein Schild. Ein Schild aus Verletzungen. Nichts darf geschehen. Nur Tränen kann ich in das Wasser aus der Brause weinen, in den Knien, ohne dass Isabella es bemerkt. Sie schweigt und lässt das Waschen über sich ergehen. Was tue ich hier? Ich verstehe nicht, wie all das auf einem so schmalen Körper Platz hat. Wer hat das getan und warum? Vorsichtig nehme ich Isabellas linke Hand, komme aus den Knien und lege sie auf ihre Scham.
»Dahin traue ich mich nicht.«
Sie nickt und wäscht sich zwischen den Beinen. Dann spüle ich die Seife ab, sie sieht an sich herunter und steigt aus der Wanne auf ein dunkelblaues Handtuch, trocknet die Haare und setzt sich auf den Rand der Badewanne, den Blick auf mich gerichtet. Es bleibt mir nichts übrig, als mich ebenfalls zu waschen. Unter ihren Augen. Bei all der Scham, dem Unwohlsein in meinem Magen, ist meine Erregung im Nu wieder verflogen. Ich steige ebenfalls aufs Handtuch, trockne mich ab, Isabella immer noch neben mir. Interessiert liest sie, was auf der Rasierschaumdose steht. Als ich trocken bin, steht sie auf, nimmt meine Hand.
»Komm, wir legen uns auf die Couch. Nebeneinander. Wir halten uns fest. Du bist mir noch eine Geschichte schuldig. Du weißt? Die Tränen im Schlaf.«
Ich nicke.


Zueinander gedreht, ihre kurzen Haare vor meiner Nase, ihr wandernder Blick, meinen Körper hinab und wieder hinauf. Ihre Brüste nicht mehr als eine halbe meiner Hände. Sie bohrt nicht weiter, schaut nur. Die Sonne bricht durchs westliche Fenster, sinkt bald hinter das Dach des gegenüberliegenden Hauses. Dann endlich hebe ich die Hand und lege sie auf ihre Hüfte und Isabella schließt die Augen.
»Ich glaube, ein bisschen habe ich das getan, was ich an dir sehe.«
Sie nickt mit geschlossenen Lidern. »Das hab ich mir schon gedacht. Mit was?«
»Nadeln. Große, kleine. Manchmal tief, ein anderes Mal flach hineingeschoben.«
»Nur Nadeln?«
»Nein.«
Isabella hält den linken Unterarm an meine Wange. Die Haut wie ein ruppiger Holzstamm, zerfurchte Rinde. »So wie auf dem Arm sieht es in mir aus. Und in dir?« Ich greife den Arm und küsse ihn, streife mit den Lippen über die raue Landschaft.
»Warum?«, will sie wissen.
»Wut. Groß wie der Everest.«
»Ich habe keine Wut. Ich bin leer wie eine ausgetrockneter See.«
»Wohin ist das Wasser verschwunden?«
Nun öffnet sie die Augen. In die Dunkelheit. Dorthin ist das Wasser verschwunden. Ich kann es sehen. Eine Antwort brauche ich nicht.
»Sagst du mir, wer dir die Wut gebracht hat?«, fragt sie stattdessen.
»Es waren ein paar.« Die kleine Hand führe ich an meinen Hintern, lege sie auf den Spalt. »Dort hinein haben sie die Wut gepflanzt.« Meine Hand wandert erneut auf Isabellas Hüfte, ihre bleibt liegen. Klein und warm, aber ohne die Kraft, an meiner Wut etwas ändern zu können.
»Ich weiß, was du meinst.« Es führt kein Weg an meinen Tränen vorbei und ich frage mich, wo ihre sind. Jetzt, in diesem Augenblick. Nackt und schutzlos liegen wir auf dem Cordstoff. »Mir ist kühl. Können wir uns zudecken?« Ich nicke.
»Moment, Isabella.« Mit dem Fuß balanciere ich eine rote Decke heran. Breite sie umständlich mit einer Hand über uns aus. Isabella legt den Kopf auf meinen Oberarm.
»Ich will nicht mit dir schlafen. Ist das okay? Nur liegen. Aber ich mag es, wenn du mich streichelst.« Das tue ich und es beruhigt mich. Die Flecken umrunden, einkreisen und mir vorstellen, ich könnte sie auf diese Weise ungeschehen machen.
»Ich bin abgehauen. Zurück gehe ich nicht mehr«, sagt sie nach einer Weile. »Ich kenne hier eine, mit der will ich heute noch weg. Weiß nicht genau, wohin. Hamburg oder so. Hauptsache weg. Vielleicht haben wir Glück und kommen nach West-Berlin.« Ich antworte nicht. Mein Magen wird zu einem Klumpen. »Macht dich das traurig, Heinrich?«
»Bisschen schon. Ich könnte mich an dich gewöhnen.«
»Ja, das hab ich mir gedacht. Aber das kann nicht gutgehen. Ich würde dir wehtun.«
»Und ich vielleicht dir.« Sie nickt und ich ziehe das kleine Kissen unter meinen Kopf. Langsam werde ich müde. Isabella gibt mir einen Kuss. Dann steht sie auf und zieht sich an. Ich sehe, dass Lichtjahre zwischen uns liegen.

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