Alles Gute

KURZGESCHICHTE | Ochsenschwanzsuppe vom Netto. Die Beste. Deckel abgezogen, ins Wasserbad und Platte an. Drei flache Kiesel unter die Blechdose, wegen der Hitze. Und die Banderole rausfischen, damit sie nicht am Topf klebt. Benedikt gibt einen Teelöffel Salz und einen mit weißem Pfeffer dazu, rührt langsam um, damit nichts rausschwappt. Zufrieden nimmt er Platz auf dem Plastikstuhl, greift den Kugelschreiber und zieht das Rätselheft zu sich. Ehefrau von Tristan mit sechs Buchstaben. »Wer ist Tristan?«, will er von der Küche wissen. Niemand da, der das beantworten kann. Auf dem Kalender findet er das Wort nicht. Benedikt sieht auf die Jahreszahl. 1998 steht in schwarzen Lettern oben drüber. Rein geistig vorhanden, auch mit sechs Buchstaben. »Rein geistig vorhanden … was soll denn das sein?«

Er steht auf und rührt einige Male vorsichtig um, schleckt den Holzlöffel ab und ist zufrieden. Schön salzig und angenehm scharf. Aus dem Kühlschrank holt er eine Flasche Öttinger, schlägt den Kronkorken an der Tischkante ab und setzt den Flaschenhals an. Beim zweiten Schluck klingelt das Telefon. Benedikt setzt ab, schaut auf den Apparat gleich neben dem Rätselheft. Abheben oder nicht? Er greift zum Hörer.
»Ja?«
»Ich bin’s!«
»Mama … ich will gleich essen. Was ist denn?«
»Hast du schon die Nachrichten gesehen?«
»Wo?«
»Na, im Fernsehen!«
»Ich guck keine Nachrichten, weißte doch.«
»Sollteste aber. Kann man was lernen.«
»Also die Suppe …«
»Da hat sich einer den Pimmel abgefroren! Stell dir vor!«
Benedikt schweigt und weiß nicht, ob seine Mutter gerade Pimmel gesagt hat.
»Bist du noch dran?«
»Ja, die Suppe fängt an zu dampfen …«
»Vergiss die Suppe! Hast du schon mal gehört, dass sich irgendwo irgendein Kerl den Pimmel abgefroren hat?!« Benedikt überlegt. Schaut auf die 1998. Das ist schon sehr lange her, fällt ihm auf. Außerdem dampft die Suppe immer heftiger. Er beugt sich zum Herd, streckt den freien Arm und rührt langsam um.
»Nee, hab ich noch nie gehört. Geht das?«
»Wenn es die in den Nachrichten sagen. In Schweden …« Sie schweigt für einen Moment. »Nee, in Finnland. Ein Schwede. So’n Skiläufer. Stellt sich neben die Piste, holt ihn raus, pinkelt ganz gemütlich, fährt weiter und zack! Der Pimmel läuft blau an und tut ihm weh. Jetzt muss er ab.«
»Das ham sie gesagt? Er muss ab?«
»Nee, aber is ja klar. Wenn was abstirbt, muss es weg. Sonst fault das ja.« Benedikt hält den Hörer ein paar Zentimeter weg. Das hat er nicht gehört. Ein blauer Pimmel, der fault. Und nun wegmuss. Mit einem Auge schielt er zur Suppe. Das Wasser beginnt zu sieden. Schnell schaltet er den Herd aus.
»Mama, was guckst du für Zeug? Du sollst nicht so viel vor der Glotze sitzen.« Ihr Schnaufen kann er deutlich hören.
»Ach nee! Was soll ich den ganzen Tag machen? Du kommst ja nicht vorbei und besuchst deine alte Mutter.« Benedikt dreht sich zum Küchenfenster. Regen. Er weiß gar nicht, wann der Regen begonnen hat? Vorgestern? Vor einer Woche?
»Mama?«
»Ja?«
»Wie heißt denn die Frau von einem Tristan?«
»Isolde, heißt die.«
»Danke!« Es ist still im Hörer. Benedikt traut sich nicht zu fragen, was das mit dem ‚Nur geistig vorhanden‘ bedeuten soll, auch wenn er der Überzeugung ist, dass seine Mutter es weiß. »Soll ich dir Rätselhefte zu Weihnachten schenken, Mama?«
Sie lacht. »Nee, danke. Hab doch zwei Abos. Genug Rätsel.«
»Du brauchst aber ein Hobby.«
»Jetzt nicht mehr. Nun weiß ich ja, dass Pimmel abfrieren können. Da hab ich genug zum nachdenken. Ich stelle mir vor, dass meinem Alten der Pimmel abgefroren wäre …«
»Mama!«
Sie lacht wieder. »Schon gut, schon gut. Nix mehr über deinen Erzeuger.«
»Nix mehr über Papa.«
»Er möge in Unfrieden ruhen …«
»Mama!«
»Weißte was? Du isst jetzt deine Suppe. Und morgen früh nur ein Brot! Hörst du?! Nur ein Brot! Schließlich habe ich einen dicken Karpfen gekauft für morgen Abend. Da will ich nicht, dass was überbleibt.« Benedikt zieht eine Grimasse. Karpfen! Vielleicht nimmt er sich besser eine Dose Ochsenschwanzsuppe mit. Oder Leipziger Allerlei. Zwei Dosen dann.
»Bis morgen, Mama!« Sie legt einfach auf und Benedikt den Hörer neben die Gabel. Leises Tuten ist zu hören. Ehefrau von diesem Tristan. I-S-O-L-D-E. Er schaut aufs Rätsel und findet das Kästchen nicht mehr, schiebt das Heft auf die Seite und steht auf. Im Topf sind viele Luftbläschen zu sehen. Die Banderole schwimmt umher, ein Ende haftet am Topfrand. Benedikt seufzt.

In den Kleinanzeigen steht, dass bis 24 Uhr geöffnet ist. Eine Stunde vorher zieht Benedikt die Winterjacke über, verlässt das Haus und fährt mit der Tram in die Innenstadt, steigt eine Haltestelle vor dem Ziel aus und geht über Umwege dort hin. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stellt er sich in den Hauseingang und wartet. Niemand zu sehen. Ein Mann mit Hund, zwei Betrunkene. Benedikt überquert die Straße, den Bürgersteig, marschiert zielsicher und direkt ins Geschäft. Es bimmelt, ein Vorhang, dunkelgrün und schwer, durch dessen Hälften er sich drückt, dann ist er in einem großen Raum mit vielen Regalen. Ihm wird warm. Mehr als warm. Hastig öffnet er den Reißverschluss der Jacke. Keiner da. Wie soll er hier etwas finden? An der linken Wand stehen aufgeblasene Puppen mit offenen Mündern und mehr als großen … Benedikt dreht sich nach rechts und entdeckt eine Frau. Nicht so alt wie seine Mutter, aber nahe dran. Auf dem Kopf eine dunkelrote Perücke.
»Na, Schätzeken, haste dich verlaufen?«
Benedikts Finger hebt sich, zeigt auf seine Brust. Ganz wie von selbst. »Ich?«
»Ja, du. Sonst ist niemand hier.«
»Also …«
Die Alte hebt einen Unterarm, beugt den Mittelfinger mehrmals. »Komm mal her. Ich bin sicher, wir werden was finden.« Nur vier Meter oder vielleicht fünf bis zur Theke, denkt Benedikt und ihm ist immer noch heiß. Er fühlt sich wieder als Kind im zu heißen Badewasser.
»Wat suchste denn?« Schritt für Schritt, mit beiden Händen Figuren formend, geht er zur Theke. »Also, so‘n Ding. Ich meine, so …« Er misst mit den Handflächen einen Abstand. »So‘n Ding, so groß etwa.«
»Aha«, sagt die Alte, ohne eine Miene zu verziehen. »Für dich?«
»Für mich?«
Ihre Augenbrauen wandern in die Stirn. Mit der flachen Hand schlägt sie auf ihre rechte Pobacke. »Ja, für dich. Für hier!« Es klatscht laut. Ein paar Mal landen alle fünf Finger auf der engen Hose. Sie grinst. »Weißte schon, du hast ja nur einen Eingang da hinten. Ich empfehle am Anfang was kleines.«
Benedikt schluckt und spürt starke Schmerzen im Unterleib. Fäuste packen zu, ziehen und reißen. Nur raus!, denkt er, aber … »Für Mutti«, sagt er dann. Die Augenbrauen der Alten bleiben oben. Mit beiden Händen stützt sie sich auf die Theke. Links steht Gleitcreme im Blister und rechts Liebeskugeln im Angebot. Drei unterschiedliche Durchmesser an langem Gummiband für SIE und IHN.

»Für Mutti, soso! Na, dann für Mutti. Mir soll’s recht sein. Und zeig mir noch mal die Größe, Schätzeken.« Benedikt hebt die Handflächen zueinander, vergrößert die Entfernung. Mit einem Griff fördert die Alte aus einer Schublade einen Zollstock ans Tageslicht, klappt zwei Glieder aus und misst. »Dat sind 30 Zentimeter, Junge. Biste sicher?«
»Ich denk schon.«
»Du musst dat wissen. Aus welchem Material soll der Schlong sein?«
»Wie?«
Sie seufzt. »Warte kurz!« Sie verschwindet durch einen Vorhang. Es raschelt, Kartons oder Papier, ein Fluch, dann Geräusche, die er nicht einordnen kann. Tief durchatmen, Benedikt! Niemand sonst im Laden. Dafür ist er mehr als dankbar. Sie kommt zurück, ein Holztablett voller … Dinger.
»So, Schätzeken! Dann pass mal auf.« Das Tablett landet unsanft auf der Theke. Sie beginnt links. »25 Zentimeter, Kautschuk, Vorsicht bei Kautschuk-Allergie. Sehr beweglich, aber für meinen Geschmack gibt er zu viel nach.«
»Aha«, sagt Benedikt und starrt auf das wackelnde Etwas. Die Alte schwenkt die Faust hin und her und die Spitze des Dings schlägt fast bis an ihre Handoberfläche. Sie legt ihn weg, packt den nächsten.
»Weißes Glas. Verschaffste dir ne weiße Weihnacht. Schneien tut et ja nich mehr. Auf dat Dingen stehen viele, aber für den Hintereingang zu hart.«
»Glas? Kann das nicht abbrechen?«
»Nee, dat is geprüft. Brief und Siegel, dat da nix abbricht.«
»Ich weiß nicht, ob Mama Glas gefällt …«

Sie grinst und rollt die Augen. »Dann nimmste den hier.« Glas weg und von den sieben weiteren wählt sie den größten. An seinem Ende ist er verdickt. »Mit Klöten. Ordentlich dick, so wie dat sein muss. Wenn’s für deine Mutti is, dann wird sie schon wat älter sein. Mein Niveau. Da braucht man wat Handfestes, oder?« Sie hält das Ding Benedikt vor die Nase. »Fass ihn mal an. Nicht zu weich, innen verstärktes Geflecht und ne Durchleitung. Der kann was.«
»Ach so? Was denn?«
»Schätzeken, du kannst aber auch Fragen stellen. Hier …« Sie holt aus einer Schachtel einen Schlauch mitsamt Kabel und einem Behältnis. »Tuste Milch rein, dann kann er auf Knopfdruck ejakulieren.«
»Was?«
Sie rüttelt an ihrer Perücke. Zum ersten mal ist ihr Blick wie der von Benedikts Mutter, wenn er was in den Sand setzt. Dann legt sie das Zubehör samt Schachtel auf die Seite. »Ohne Ejakulation nur 59 €. Weihnachtspreis für dich, Schätzeken. Schön eingepackt mit Schleife. Wär dat wat?«
»Ja, gut, kauf ich. Schön einpacken, bitte. Blaues Papier hat sie gerne.«
Die Alte starrt ihn einen langen Moment an. Benedikt schluckt. »Vielen Dank«, sagt er vorsichtshalber und versucht sich an einem freundlichen Lächeln. Aus der Hosentasche kramt er zwei Zwanziger, einen Zehner, zählt zusammen, kommt auf fünfzig und packt noch einen Zwanziger dazu. Die Alte summt ein Lied und schiebt alle anderen Dinger auf die Seite.

»Bescherung oder Karpfen?«
»Lieber Karpfen, Mama.«
Sie nickt wohlwollend. Mit einem Auge auf dem mit hellblauem Papier umwickelten Geschenk. »Du hast deiner Mutti wirklich ein großes Geschenk mitgebracht, wat?«
»Klar, Mama. Wo du doch immer so gut kochst und mir beim Rätseln hilfst.«
»Dat is mein Junge«, sagt sie und geht in die Küche.
Benedikt sieht an die Wand überm Fernseher. Das Bild von Vater ist weg. Ein helles Rechteck ist alles, was von ihm geblieben ist. Darin sind die Blumen noch gelb. Auf dem Rest der Tapete kann man sie kaum noch als Blumen erkennen.
»Wo ist denn Papa?!«
»Unter der Erde«, kommt es aus der Küche. Die Backofentür quietscht. »Weißte doch, oder etwa nicht?«
»Doch, doch! Aber ich meine doch das Foto!«
»Hab ich in den Müll geworfen!«
Benedikt wiederholt die Worte im Stillen. Hab ich in den Müll geworfen. »Warum, Mama?!«
Sie kommt zurück, eine ovale Auflaufform in den Händen, darin etwas, das mal ein Karpfen gewesen ist. »Geht mir besser ohne das Foto«, sagt sie trocken und stellt die Form auf zwei Untersetzer.
»Aber, Mama …«
Die Topflappen lässt sie auf den Stuhl fallen, kommt um den Tisch und legt die vom Fisch warmen Hände auf Benedikts Hinterkopf, der fast keine Haare mehr hat. Ein Schauer rieselt seinen Rücken hinab. Die Schultern zucken, ohne dass er etwas dagegen tun kann. »Ich weiß, dass du ihn geliebt hast. Dass er der Größte für dich war. Hat allen Prügel angedroht, die dir blöd kamen. Und dass er viel zu früh gestorben ist. Naja, für dich viel zu früh.«
»Ja …«, sagt Benedikt und spürt seine Stimme schwinden.
»Aber für mich war es nicht wie für dich. Ich hatte den Rest von dir. Deine Hausaufgaben, deine Elternabende, dein Sitzenbleiben, meine Arbeit, unser Essen kochen. Und immer nur hinter ihm her telefonieren. Bring Geld, versauf es nicht, verzock es nicht. Weihnachten immer nur wir beide … stimmt et nich?«
Benedikt neigt den Kopf nach vorne. Ein schwerer Stein in der Brust macht ihm zu schaffen. Wie soll er ihn rauslassen?

»Für dich war er ein Held. Aber Kinder brauchen nicht nur Helden.« Sie tritt an Benedikts Seite und dreht mit zwei Fingern seinen Kopf hoch. Sieht ihn fest an. »Sie brauchen auch Väter, die da sind, wenn es mal scheiße läuft.«
Benedikt kann nicht nicken, so fest drückt Mutter unter sein Kinn. »Das tut weh, Mama.«
Sie lässt los und geht schweigend zu ihrem Stuhl, setzt sich, schöpft Kartoffeln auf ihren Teller, an einigen ist noch Schale dran. Dann sticht sie mit der Gabel in den Fisch, direkt in den Rücken des Karpfens, aber der gibt nach, fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Haut ist fast schwarz, das Fleisch darunter hat dunkle Flecken, ist ausgefranst, der Kopf einfach abgerissen. Aus dem Hals purzeln Zwiebelringe, ganze Petersiliestängel und große Karottenstücke. Mit zwei Fingern zieht sie Fleisch von einer Gräte. Vorsichtig beißt sie hinein, verzieht den Mund, kaut und schluckt. »Schmeckt wie Scheiße«, sagt sie und schaut auf die Kartoffeln.
»Ich hab noch zwei Dosen Leipziger Allerlei dabei, Mama. Mit Salz und weißem Pfeffer ist das ein tolles Essen. Habe ich heute Morgen noch bei Netto gekauft.« Ein paar Mal muss Benedikt atmen, dann sieht er sie nicken.
»Okay, mach du sie auf, kipp die Kartoffeln in die Spüle und in den Topf dein Leipziger. Ich mach mich mal frisch.«

»Junge, Junge, beim weißen Pfeffer haste dich aber vertan«, stellt Benedikts Mama fest. »Ich wette, morgen habe ich Durchfall.«
»Ach was, Mama«, sagt er stolz, denn der Topf ist leer. Zwei Teller für Mama und zwei für ihn. Mit frischer Petersilie. »Der Karpfen kann uns mal, was?«
»Ja, den kriegen die Katzen im Hof.«
»Genau, Mama. Und jetzt aber Bescherung.«
Ihre Augen werden groß. »Ja, an mein Geschenk habe ich gar nicht mehr gedacht.« Mit Schwung steht sie auf und stellt sich vor den Baum, der nur ein Bäumchen ist und aus Plastik. Mit einem Klick leuchten die LEDs in rot, grün, blau und gelb. Hinter ihr kratzt es aus Lautsprechern.
»Deine Lieblingsmusik«, sagt Benedikt. Heintje singt etwas über eine Mama. Vielleicht seine, denkt Benedikt und trägt das Geschenk mit beiden Händen zum Baum. »Mama?« Ihr Gesicht bleibt abgewendet. Sie hat es vielleicht nicht gehört, meint er, schweigt aber, steht einfach da und wartet. Dann aber dreht sie sich und hat ebenfalls ein Geschenk in der Hand. Braunes Packpapier. An den Ecken zerknittert.
»Du weißt ja, Geschenke einpacken ist nich mein Ding. Dat ist deins, Benedikt.«
Für eine Sekunde weiß er nicht, was er tun soll, legt aber Mutters Geschenk auf den Tisch und nimmt seines, schaut es an, wendet es. Kein Name. Nichts. Mit einem Ruck reißt er es auf. Das Foto! In einem neuen Rahmen! Ein blauer Rahmen. Papa lächelt irgendwohin, nicht in die Kamera. Er steht mit Benedikt auf einem Steg und Mama sitzt im Ruderboot. Es ist nicht auf dem Müll gelandet. Mama hat extra einen neuen Rahmen gekauft! Benedikt muss sich setzen, versucht das Bild so zu halten, dass Papa ihn anschaut, doch das klappt irgendwie nicht. Benedikt dreht das Foto um. Da steht etwas. 1998 an der Biggetalsperre. Wir rudern. An der Biggetalsperre, jeden Tag im Ruderboot, Benedikt hat die verbliebenen Bilder im Kopf. Es raschelt ordentlich, dann reißt etwas auf. Stille im Wohnzimmer und Papa schaut wieder irgendwohin.

»Was ist denn das?!«
Was ist was? Benedikt hört die Stimme weit entfernt.
»Benedikt? Hallo?« Er nimmt die Augen von Papas Gesicht. Direkt vor der Nase wackelt das Ding. Die ganzen 30 Zentimeter.
»Das ist ein Schlong«, sagt er und schaut daran vorbei in Mutters Augen. »Alles Gute zu Weihnachten, Mama!«
»Alles Gute sacht man zum Geburtstag. Frohe Weihnachten, mein Sohn.«
»Danke. Frohe Weihnachten, Mama.«
Sie mustert den Schlong von der Spitze bis zum dicken Ende. »Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich habe gedacht, weil du das mit dem Pimmel gesehen hast und doch immer so alleine bist, könnte …« Er schluckt zwei Mal trocken. »Also, könnte … hab ich also gedacht …«
»Ja, schon gut. Brich dir keinen ab dabei. Du dachtest, ich hätte es mal wieder nötig, wat?«
»Hast du nicht?«
Sie wartet mit der Antwort und atmet tief ein und aus. »Doch, irgendwie schon, wenn ich ehrlich bin.«
»Aber?«
»Nix aber, mein Junge.« Sie wackelt mit dem Schlong hin und her. »Ganz schön groß.«
Benedikt stockt der Atem. »Zu groß?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ach wat, ich bin 65. Da verträgt man schon einiges, weißte?«
»Ähm …«
Sie lacht. Benedikt stutzt, dann muss er ebenfalls lachen. Der Schlong rutscht aus Mutters Hand auf den Teppich, wackelt einige Sekunden und bleibt dann wie tot liegen.

Diese Geschichte

Entstanden 2023 für eine – mal wieder – Ausschreibung zu einer Weihnachtsgeschichte. Wie im Jahr zuvor. Kein seltenes Thema. In meiner Zeit bei der Bundespost Ende der 1980er habe ich einige seltsame Geschichten erlebt. Unter anderem auch so etwas wie diese hier. Das ist also nicht weltfremd, surreal oder irgendwie erfunden. Es passiert. Aber lest selbst …

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