Paul und die Jungs | Kapitel 2

Um Gottes willen, Junge!

Perfekte Rauputzwände in einem perfekten Treppenhaus. Sauber. Es riecht nach Zitrone. Meister Propper vielleicht. Gelb lackiertes Vierkant-Stahlrohr als Geländer. An den Buchenholztüren hängen außen Kindergemälde, Kastanienfiguren, auf dem Boden sind Willkommen-Fußmatten oder geflochtene Abtreter. Wir wohnen im ersten Stock. Eigentumswohnung im Neubau, erst dieses Jahr fertig geworden. Aber ich will mich ablenken von einer ganz und gar unbequemen Sache, die ich mir selbst eingebrockt habe und von der ich noch nicht weiß, wie damit umgehen. Zuerst habe ich mich geschämt für meine Ignoranz, jetzt schäme ich mich, mein Eintreten für eine Sache wieder rückgängig machen zu wollen. Gott, ist das Leben verzwickt! Es ist kurz vor achtzehn Uhr, Zeit fürs Abendbrot. Ich schließe auf und trete in den hellen Flur, auf den dunkelgrünen Teppich, Fußbodenheizung. Moderner geht es nicht. Ziehe Turnschuhe und Jacke aus. Mutter hat mich gehört, sie pfeift unsere Erkennungsmelodie. Geschirrklappern in der Küche und der Duft nach Spiegelei überall. Sofort spüre ich meinen knurrenden Magen. Schnell Hände waschen, dann gehe ich ins Esszimmer an den reichlich gedeckten Tisch.
»Heinrich?«
»Mh?«
»Wir brauchen noch ein paar Scheiben Brot.«
»Mach ich.«
Nur zwei Gedecke, jeweils Teller und Brettchen. Vater kommt wohl nicht zum Abendbrot. Vom Schwarzbrot schneide ich sechs Scheiben ab und lege den Laib eingewickelt in den Brotkasten zurück. »Soll ich noch Gewürzgurken auf den Tisch stellen, Mama?« Sie kommt mit den Spiegeleiern aus der Küche, stellt sie auf den Tisch und berührt meine Wange mit ihrer sommersprossigen Hand.
»Gerne.«
Nickend hole ich das Glas aus dem Kühlschrank, öffne es und setze mich dann ihr gegenüber. Sie hat die Augen geschlossen, atmet langsam tief ein und aus.
»Wo ist Papa?«
»In Aachen. Eine Bauschlussreinigung in einem Metro-Neubau.«
So was dachte ich mir schon, nehme es still zur Kenntnis, überlege kurz, wie oft ich meinen Vater innerhalb einer Woche sehe und kann das an einer Hand abzählen, was mich aber nicht wirklich stört. Auf eine Scheibe vom Schwarzbrot lege ich ein Spiegelei und lasse beides dann auf dem Teller liegen. Mutter trinkt einen Schluck Schwarztee.
»Mama?«
»Ja?«
»Ich habe dir noch nie von Paul erzählt, oder?« Ihr Blick wandert nach innen, dann schüttelt sie bedächtig und ausgiebig den Kopf. »Er ist in meiner Klasse, seit der fünften. Paul wohnt drüben in Lindenthal, aber er ist, wie soll ich sagen, farblos, unscheinbar, na ja …« Ich suche nach dem richtigen Wort. »Ein Außenseiter. Niemand hat sich je mit ihm beschäftigt. Er ist zwar anwesend, ist nicht frech, ärgert uns nicht …« Mutter beißt nicht in ihr Brot, stoppt auf der Hälfte des Weges und legt die Scheibe wieder auf den Teller. Dabei verliert sie mich nicht aus den Augen. Ihr Blick geht in jeden meiner dunklen Winkel.
»Aber ihr ärgert ihn, weil er Außenseiter ist?«
»Ärgern ist vielleicht das falsche Wort. Er ist viel zu unscheinbar, um ihn zu ärgern. Er ist halt in unserer Klasse und ab und zu … na ja, lachen wir, weil er auf eine gewisse Weise lustig ist.«
»Auf eine gewisse Weise lustig?«
»Paul ist ein Spargel und hüpft die ganze Zeit wie ein Gummiball.«
Mutter nickt und beißt endlich in ihr Brot, kaut langsam, trinkt etwas Tee. Ich sehe, dass es in ihr arbeitet, sie zu entdecken versucht, wo ich in diesem Stück reinpasse.
»Hm, und jetzt bist du irgendwie näher mit ihm in Kontakt gekommen und merkst, dass alles anders ist als gedacht?« Sie kann Fluch und Segen zugleich sein. Etwas vor ihr zu verstecken, ist zwecklos, doch mich auf sie verlassen ist ein Pfeiler meines Lebens. Ausgiebig erzähle ich ihr von Paul, seiner strippenden Mutter, dem rausgeworfenen Vater und verwende viel Zeit für eine Beschreibung seines skurrilen Verhaltens. Der Sprungfedergang, wie der Wind durch ihn hindurch pfeift, seine Schweigsamkeit. Mutter trinkt langsam ihren Tee, gießt sich nach, tut einen Schluck Kondensmilch hinein und rührt um. Sie weiß, ich bin noch nicht beim eigentlichen Zweck meiner Erzählung, aber sie ahnt es schon und beugt sich vor. »Warum bringst du ihn nicht mal mit, den Paul?« Mein Stichwort.
»An so was habe ich auch schon gedacht. Ich meine, seine Mutter muss ja tagsüber schlafen. Er hat nie ein richtiges Mittagessen, stell dir das vor: nur kalte Küche. Wir könnten zusammen Hausaufgaben machen, dann zu Andi gehen …« Mutter hebt die Hand.
»Das klingt, als wäre es schon ausgemacht?«
Ich beiße auf die Unterlippe. Wie habe ich mich verraten? Egal. »Wenn er die Woche über bei uns zu Mittag isst, gebe ich auch von meinem sauer verdienten Geld ab und wir spülen jeden Tag das Geschirr.« Erwartungsvoll sehe ich sie an. Ein Nein kann ich mir nicht vorstellen. Ich müsste mich schon wieder in Grund und Boden schämen.
»Warum bist du plötzlich so Feuer und Flamme?«, bohrt Mutter. »Warum jetzt und nicht schon früher?«
»Das hat mich seine Mama auch gefragt. Aber ehrlich gesagt, weiß ich es nicht.« Sie zuckt mit den Schultern und schneidet eine Tomate in Scheiben.
»Dann freue ich mich auf Paul. Ab morgen also? Ich hoffe, er mag Spaghetti mit Hackfleischsoße.«
Ich will ihr um den Hals fallen, beiße stattdessen herzhaft ins Spiegelei-Brot. »Wer mag das nicht?«, murmle ich kauend.


»Spaghetti mit Hackfleischsoße?« Andis Augen stehen weit offen.
»Ja«, bestätige ich und klopfe ihm die Schulter.
»Dann bin ich jetzt abgeschrieben …«, deutet er unsicher an.
»Red kein Blech, Andi.«
»Ich habe bei euch noch nie Spaghetti mit Hackfleischsoße bekommen!«
»Doch. Bestimmt schon drei dutzend Mal. Neben Rindsrouladen, Putenbraten, Cordon bleu, Kassler mit Sauerkraut und all den anderen feinen Sachen seit fünf Jahren.« Er verdreht die Augen und seufzt.
»Du bist ja eifersüchtig«, stelle ich fest, lege beide Arme um seinen Brustkorb, drücke zu und kneife seine Brustwarzen. Er quiekt und lässt sich fallen. Paul kommt hüpfend aus dem Waschraum. Der Schulranzen auf seinem Rücken wird ordentlich geschüttelt. Aus dem oben halb offenen Parka lugt eine Penny-Tüte heraus.
»Oh, Mann«, sagt Andi und steht wieder auf.
»Hallo, ihr beiden«, begrüßt uns Paul. »Geht Andi auch mit?«
»Genau«, nickt der. »Gehe ich auch mit?«
»Wir gehen alle zusammen«, verkünde ich, »aber wir decken den Tisch, räumen ab und verlassen die Küche danach in astreinem Zustand. Meine Mutter soll keine Arbeit mit uns haben.«
»Außer kochen«, wirft Andi ein. So ziehen wir los zur Haltestelle, Paul in der Mitte. Seine Füße berühren kaum eine Sekunde den Boden. Andi sieht ihm eine Zeitlang zu.
»He, Paul, du läufst echt wie so ein Motorkolben. Oberer Totpunkt, unterer Totpunkt. Ein stetes Auf und Ab, oder?«
»Kann nix dafür. Seit ich denken kann, ist das so.«
»Wir könnten dich ‚Känguru‘ nennen«, schlägt Andi vor.
»Auf die Idee bin ich selbst schon gekommen.«
»Wundert mich nicht«, setzt Andi nach. Ich strecke die Hand aus und haue ihm eine auf den Hinterkopf, darauf bedacht, Pauls Bewegungsdrang nicht in die Quere zu kommen. Andi zuckt zusammen, flucht leise, dann starrt er auf Paul, die raschelnde Tüte in seinem Parka. »Sag mal, Paul, was ist in der Tüte?«
»Klamotten. Muss ich noch in die Reinigung bringen später.« Andi schweigt, ist wohl zufrieden mit der Antwort. Wir steigen in den Bus, steuern die hintere Bank an und setzen uns. Paul lässt einen fahren und wird rot. Die Mädchen vor uns drehen sich um. Durchgefallen, sagen ihre Blicke.
»Tschuldigung«, murmelt Paul. Andi dreht sich zur Scheibe und gackert. Es beginnt zu stinken. »Ihr Drecksäue«, kommt es von einem der Mädchen. Sie stehen auf und stellen sich in die Kinderwagenbucht.
Paul zupft in schneller Abfolge an seiner Nasenspitze. Ich vermute, wegen des Gestanks, bis ich begreife, dass es eine Art Nagelkauen ist. Ein Tic. »Du dummer, dummer Junge«, murmelt er. Die Türen schließen sich und wir fahren über den Gürtel nach Bayenthal. Bald darauf stehen wir in der Bernhardstraße vor den Neubauten. Andi bohrt im rechten Nasenloch und Paul zuckt unablässig mit den Schultern, als hielte er ein blankes Stromkabel in der Hand.
»Hier wohnst du?«, fragt er mit großen Augen.
»Ja, seit nem knappen Jahr.«
»Uiuiui …«
»Na kommt«, fordere ich beide auf. »Wir gehen rein. Ich habe Hunger.« Andi schiebt Paul Richtung Eingang. Acht Parteien leben im Haus. Meist Familien, der alte Pastor von Sankt Matthias und ein kinderloses Paar. Unser Fußabtreter ist der einzige im Haus, der einfach nur schwarz ist. Aus der Firma meines Vaters. »Schuhe abstreifen und ausziehen!«, ordne ich an. »Drinnen hat es Hausschuhe für jeden.« Ich schließe auf und der Duft von Mutters Hackfleischsoße drückt uns fast wieder auf den Hausgang. Andi jauchzt und Paul bleibt wie angewurzelt auf der Fußmatte stehen. Er sieht an sich runter. Eine weiße und eine grüne Socke, große Füße, mindestens Schuhgröße 46. Aber die Socken sind noch zwei Nummern größer. Erst will ich etwas sagen, dann lachen, aber Mutter fällt mir ein.
»Du bist, wie du bist, Paul. Komm rein, es wird dir schmecken.« Um nachzuhelfen, greife ich den rechten Parka-Ärmel und ziehe ihn hinein, schließe die Tür, zeige ihm die Hausschuhe. »Ich habe 47. Nimm meine, Paul.« Er nickt, zieht die Jacke aus, legt die Penny-Tüte vorsichtig auf den Stuhl neben der Garderobe und schlüpft in meine Latschen. Seltsamerweise hüpft er nicht mehr, nichts an ihm ist in Bewegung, lediglich die Augen suchen unentwegt den Flur ab.
»Komm, Hände waschen!«

Die Begegnung Pauls mit meiner Mutter ist denkwürdig. Ich habe vermutet, dass es so abläuft, weil ich ihre Wirkung auf Fremde zur Genüge kenne. Sie lächelt, wartet nicht, geht direkt auf ihn zu, ihre rechte Hand vorgestreckt, Handfläche nach oben. »Willkommen, Paul. Heinrich hat mir schon viel von dir erzählt. Schön, dass du da bist«, sagt sie, greift seine Hand und zieht ihn gleichzeitig an den Tisch. »Setz dich, Andi hat schon Spaghetti und Soße reingetragen.«
»Andi hat Hunger«, bestätigt der.
»Seine Mutter kann nicht kochen«, erkläre ich und Paul sieht mich entsetzt an.
»Stimmt«, bestätigt Andi. Mutter lacht und etwas in Paul weicht zurück, ein Schatten vielleicht. Ein Stück der Dunkelheit. Sie gibt etwas von seinem Leben frei. Dann lacht er ebenfalls und Andi schaufelt einen Berg Spaghetti auf seinen Teller. Gelben Sprudel gibt es keinen, dafür leckeren Apfelsaft mit etwas frisch gepresster Zitrone. Wir essen, leeren unsere Gläser, erzählen, lachen und lästern. Säße ich in der Klasse nicht hinter Paul und wüsste über all seine Tics Bescheid und brächte ich sie nicht mit diesem Gesicht in Verbindung, würde ich sagen, da sitzt ein mir unbekannter Mensch. Ein kleines Wunder, das mich an mein schlechtes Gewissen erinnert, mich Scham empfinden lässt. Und in Andis Gesicht entdecke ich dieselbe Regung. Als sich unsere Blicke für einen Moment treffen, kann ich es sehen.

Wir räumen ab und ich schicke Andi mit Paul in mein Zimmer. Französisch-Hausaufgaben erledigen. Andi ist ein Sprachtalent und kann besser erklären als unsere Lehrerin. Ich spüle und beobachte Mutter, die am Esstisch sitzt und einen Brief schreibt. Endlich fertig, kontrolliere ich mit einem letzten Blick Spüle und Arbeitsplatte, dann setze ich mich zu ihr, bewundere diese schöne Schrift. Gleichmäßig, bewusst, konzentriert. Schon fast eine A4-Seite, dann ein Gruß, die Unterschrift. Sie faltet ihn zusammen, steckt ihn in einen A6-Umschlag, klebt ihn zu und eine Briefmarke drauf, legt ihn vorsichtig auf die Seite.
»Für Opa?«, frage ich nach einem kurzen Moment. Sie nickt.
»Opa hat bald Geburtstag. Ich hätte gerne, dass er für ein paar Tage herkommt. Würdest du den Brief später zum Briefkasten bringen?«
»Klar. Kein Problem.«
Sie atmet tief ein, streicht mit dem Zeigefinger über die gestickte Decke. Also überlegt sie, was sie wie sagen soll. Ich warte geduldig. Andi kommt, grinst uns an, holt eine Flasche Saft aus der Küche. An meinem Gesicht sieht er, dass es sich nicht lohnt, stehenzubleiben, weil es hier offensichtlich etwas zu besprechen gibt. Pfeifend verschwindet er im Zimmer. Die Tür geht zu. Es ist wieder still. Nicht mal unser Atmen ist zu hören.
»Andi ist wie ein Bruder für dich, nicht wahr?«, beginnt Mutter. Ich nicke.
»Und ich wie ein Bruder für ihn.«
»Im Gang lag eine Papiertüte auf dem Stuhl«, beginnt sie unvermittelt mit dem, was sie wirklich beschäftigt. »Sie ist runtergefallen und der Inhalt lag teilweise davor.« Ich mache ein verwundertes Gesicht, ziehe die Augenbrauen hoch.
»Kleider, die Paul später in die Reinigung bringen muss, hat er gesagt.«
Mutter seufzt. »Es sind frisch gewaschene Kleider. Sauber zusammengelegt. Strapse, Tangas, ein ziemlich knapper BH, vorne offen …« Sie zögert. »Wenn du weißt, wo ich meine …«
»Kann’s mir vorstellen.«
»Ersatzkleider für seine Mutter, nehme ich an.« Mir ist nicht ganz klar, was sie mir damit sagen will. Paul lügt? Oder seine Mutter ist eine Stripperin? Wir wissen beides. Dass Paul lügt, ergibt sich wohl aus seiner Situation. Die mache ich ihm nicht zum Vorwurf. Wer weiß, was ich täte …
»Ich weiß, dass Paul lügt, Mama, aber ich denke, er schämt sich oft und viel …« Sie hebt die Hand und ich verstumme.
»Die meisten von uns würden an Pauls Stelle lügen. Ich bin froh, dass du das ebenso siehst, aber … es war noch etwas anderes drin …« Ihre Stimme zwingt mich in eine Starre. Absolute Gespanntheit. »Geld. In einem Umschlag. So viel, dass der Umschlag nicht zugeht. Ich schätze, über eintausend Mark.« Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht mit Geld. Mehr als eintausend Mark? Was will er mit so viel Geld? Oder seine Mutter?
»Das ist vielleicht sein Geld und er will es auf die Bank bringen.«
»Ein Zettel ist dabei mit einer Adresse und einer Uhrzeit. Um diese Uhrzeit hat keine Bank mehr geöffnet.« Adresse? Uhrzeit? Ich bin völlig ratlos.
»Was für eine Adresse?«
»Glasstraße 2e in Ehrenfeld um 20 Uhr.«
»Keine Ahnung, wo das ist.«
»An der S-Bahnstation Ehrenfeld. Ich hab schon nachgesehen im Stadtplan.«
»Aha.«
Sie bleibt still, schweigt sich aus, was noch in ihrem Kopf vorgeht. Mit Sicherheit bastelt sie in Gedanken an einem Topf voll Möglichkeiten. Ich finde nicht, dass mich oder uns das was angeht.
»Mama …«
»Weißt du, was ich befürchte?«, würgt sie mich ab.
»Nein«, erwidere ich überrascht.
»Seine Mutter zieht sich jeden Tag für andere aus, hält mit dem Geld die Familie am Leben. Spart mühsam die paar Kröten zusammen. Dann schmeißt sie ihren Mann raus, wegen Unfähigkeit. Pauls Vater, jetzt ohne Geld und vielleicht der Meinung, das Geld gehöre ihm, beauftragt seinen Sohn, das Ersparte einzustecken und ihm zu bringen. Schließlich war Paul ziemlich am Boden zerstört, hast du gesagt und würde alles für seinen Vater tun. Und Treffpunkt ist wie gelesen.« Sie nickt zur Unterstreichung ihrer Worte, klopft mit dem Zeigefinger gleichmäßig auf den Tisch. Ein bisschen was kann an diesem Konstrukt dran sein, aber …
»Ich sehe nicht, was wir dagegen tun könnten, Mama, falls es tatsächlich so ist.«
»Wir müssen wissen, ob Paul mit dem Abgeben der Kleider bei seiner Mutter auch das Geld dort lässt.«
»Und dann?«
»Puh! Keine Ahnung.« Sie ist ratlos. Ebenso wie ich. Ich habe das Gefühl, blind über eine Wiese mit Bäumen voller Wespennester zu laufen. Mein Blick geht zur Zimmertür, dann suche ich Mutters Augen. Ihre roten Haare glänzen im Schein der Esszimmerlampe. Es bleibt nur eins.
»Wir müssen mit Paul reden«, sage ich. Sie nickt.

Die Tüte liegt auf dem Tisch, die Kleider davor. Mutters schmale Hände drehen den dicken Umschlag hin und her. Paul ist völlig zusammengesunken, ein Häufchen Elend, den Kopf gesenkt. Ab und zu kommt ein Fiepen aus seinem Mund.
»Die Tasche ist umgefallen, vom Stuhl runter. Kleider und Umschlag lagen auf dem Teppich«, beschreibt Mutter mit ruhiger Stimme. »Ich wollte alles wieder sauber hineinlegen und entdecke das viele Geld.« Sie macht eine Pause. »Und die Adresse. Ohne diese Adresse wäre ich weniger misstrauisch. Was machst du mit so viel Geld, Paul? Bist du in Schwierigkeiten?« Sie legt den Umschlag beiseite und eine Hand auf Pauls Unterarm. »Heinrich und ich versuchen das zu verstehen. Vielleicht können wir helfen. Bitte erklär mir das.«
Ich überlasse alles Reden meiner Mutter. Sitze nur still etwas abseits. Paul ist wie erstarrt, völlig ohne seine üblichen Tics. Dann sieht er auf. Er greift nach Mutters Hand und sie packt mit ihrer anderen ebenfalls zu, umgreift fest seine schmalen Finger. Aus heiterem Himmel fängt er an zu weinen, wie ein Dammbruch, den niemand vorhersehen konnte. Ich hole drei Packungen Tempos aus der Flurkommode, schaue kurz zu Andi ins Zimmer. Er liest und grinst mich an. Mutter hat Paul zu sich gezogen, hält seinen Kopf unter ihrem, krault durch den Wust schwarzer Haare. Ich bin kurz davor, selbst zu weinen, starre lieber aus dem Terrassenfenster. Hinter mir leise Worte, Mutters beruhigende Stimme. Sie flüstert und hält ihn fest umschlossen. Die Zeit vergeht. Zehn Minuten? Dann räuspert sich Paul.
»Ich habe Papa gestern Abend auf der Straße vor dem Haus gesehen und bin runter. Meine Mama hat ihm ja verboten ins Haus zu kommen. Und er braucht doch Geld. Was soll er denn essen?« Ich setze mich wieder. Es fällt mir schwer, diesen Paul zu kennen, der so einen klaren Blick hat und so ruhig vor mir sitzt. Woher kommt dieser Wandel?
»Und dann hat er dich gebeten, das Ersparte zu nehmen?«
»Einen Teil davon. In der Küche ham wir eine Sago-Dose, da ist alles drin«, erklärt er wie befreit.
»Ist es Geld, das deine Mutter verdient hat?«
Paul nickt. »Papa arbeitet schon seit Jahren nicht mehr. Er wäre krank, sagt er, und ich wüsste das ja. Also müsste ich ihm jetzt helfen.«
»Denkst du nicht, dass deine Mutter wissen möchte, was mit ihrem Geld passiert?«
»Doch, aber was soll ich denn jetzt tun?« Wieder Tränen. Was für eine Zwickmühle!
»Paul, vertraust du mir?«, fragt sie, hebt mit zwei Fingern unter seinem Kinn Pauls Kopf an, so dass er nicht ausweichen kann.
»Aber ja …«
»Gut. Wir gehen zusammen zu deiner Mutter und bringen ihr die Kleider. Wann fängt sie dort an?«
»Um sechs machen sie den Laden auf.« Sie sieht auf die Uhr.
»Dann ist sie jetzt schon unterwegs. Gut, Paul. Den Rest lass mich machen. Wir gehen jetzt.« Sie nickt mir zu. Ich stehe auf und hole Andi aus dem Zimmer. Mutter geht zum Telefon.

Der Taxifahrer weiß nicht genau, was er von seiner Fracht halten soll. Eine Frau mit drei Jungs, die wirres Zeug reden. Andi hat daheim Bescheid gesagt, dass er später kommt, weil wir noch mit meiner Mutter unterwegs wären. Das ist wie ein Freifahrtschein. An der Ecke Eigelstein und Eintrachtstraße steigen wir aus. Paul dreht sich zur Hauswand. »Da drüben, das Moulin Rouge, das ist es. Der Typ am Eingang heißt Walther. Er ist ganz nett.«
Mutter sieht mich und Andi an. »Ihr beiden wartet hier.« Damit marschiert sie los, Paul an der Hand. Direkt auf den netten Walther zu, der ihr freundlich zunickt und dann Paul erkennt, ihm auf die Schulter klopft. Mutter sagt was zu ihm und er legt den Kopf schräg. Offenbar wiederholt sie es und Paul sagt ebenfalls etwas.
»Das ist wie im Film«, stellt Andi fest.
»Wenn er Mutter was tut, gehen wir rüber und hauen ihm was in die Fresse!«, kündige ich an. Ich spüre Andis Blick auf mir. Es muss ein entsetzter Blick sein, denn er schweigt. Aber Walther verschwindet in der Tür und kommt kurz darauf mit Pauls Mutter wieder heraus. Und sie ist ganz deutlich sofort auf einhundertachtzig, denn Paul bekommt umgehend eine Ohrfeige. Mutter zieht beide mit sich, unter Protest von Frau Müller, die leicht bekleidet den Eigelstein überquert.
»Das glaubt mir niemand«, sagt Andi. Die drei erreichen uns. Mutter zieht ihre Jacke aus und reicht sie Frau Müller. Sie ist tatsächlich so groß wie ich. Einsneunzig. Mit hochhackigen Schuhen jedenfalls. Aus Mutters Tasche kommt ein Umschlag.
»Als Paul heute zu uns kam, bat er mich um Hilfe wegen einer Zwickmühle, in der er steckt. Sein Vater hat ihn gebeten, Geld aus dem Haushalt zu entwenden und ihm zu überreichen, heute Abend …«
Ich horche auf. Mutter kann also ebenfalls die Wahrheit beugen.
»Um Gottes Willen, Junge!«, schreit Frau Müller quer über die Straße. Sie nimmt einen der Pumps vom Fuß, holt aus und Paul duckt sich weg. Mutter nimmt ihr den Schuh ab. Walther streckt sich und schaut herüber.
»Beruhigen Sie sich, Frau Müller!«, ruft Mutter und stellt sich direkt vor die hochrote Frau Müller. »Was sollte ihr Sohn denn tun?! Er liebt seinen Vater. Hören Sie mich an und wir bekommen das Problem vielleicht vom Tisch!« Andi lehnt mit weit aufgerissenen Augen an einem Käfer. Frau Müllers Arm bleibt oben, ohne Pump.
»Hier ist das Geld«, Mutter gibt ihr den Umschlag. »Paul tut es leid. Mit ihrer Erlaubnis werde ich zum Treffpunkt gehen und ihrem Mann anbieten, einen Job in der Firma meines Mannes anzutreten. Ich habe bereits mit ihm gesprochen. Wir suchen noch jemand für das Lager. Dann hat er eine Perspektive und muss nicht mehr seinen Sohn nötigen, Ihnen das Geld zu entwenden.«
Der Arm sinkt langsam nach unten, ein Blick zu Paul, der halb hinter mir steht und meine Hand hält. Das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich drücke ein wenig und zwinkere ihm zu.
»Auch Paul könnte bei uns arbeiten«, sage ich. »Das tue ich auch, drei Mal die Woche. Man verdient gut. So könnte er seinen Papa sehen.« Seine Mutter starrt uns der Reihe nach an, schüttelt erst langsam, dann immer schneller den Kopf.
»Ist das so ne christliche Vereinigungsscheiße? Alle Menschen sind gleich und ihr seid gleicher?«
»Nein, nur eine Gebäudereinigung mit vielen Angestellten und jeder Menge Arbeit«, erklärt Mutter und gibt ihr die Tüte mit den Kleidern. »Die hatte Paul noch dabei. Seien Sie stolz auf ihn, er ist ein guter Junge.«
»Oh Gott …«, bricht es aus Pauls Mama hervor, dann knickt sie ein, schluchzend. Der Bürgersteig im Eigelstein ist nicht gerade der sauberste. Inzwischen sind schon einige Fenster offen und die Leute schauen gebannt, was da vor sich geht.
»Heinrich! Hilf ihr hoch! Andi, du holst diesen Kerl da drüben, er soll helfen!«
»Klar«, bestätigt Andi und rennt hinüber.


Wir sitzen wieder im Taxi. Dieses Mal Richtung Ehrenfeld. Paul darf heute bei uns im Gästezimmer schlafen. Seine Mama wird inzwischen auf dem Tableau stehen, im Halbdunkel ihre verquollenen Augen verstecken. Mutter starrt aus der Windschutzscheibe. Wir drei sitzen hinten und schweigen. Andi kichert immer wieder ein wenig. Offenbar hatte er seinen Spaß. Auf Pauls Schoß liegt sein Parka und darunter hält er meine linke Hand. Ich lasse es zu. Wenn es ihm hilft … Am Beginn der Stammstraße steigen wir aus und laufen die paar Meter zur genannten Adresse. Es ist kurz vor zwanzig Uhr.
»Meinst du, das klappt?«, will ich voller Zweifel von Mutter wissen. Sie macht eine Verlegenheitsgeste, ist sich selbst unsicher.
»Wir sind jetzt hier. Für Paul. Auf die eine oder andere Weise kommen wir zu einem Ergebnis.«
Aus dem Hauseingang zur 2a kommt ein Mann. Nicht sehr groß, aber kräftig. »Papa«, sagt Paul leise. Der sieht uns, seinen Sohn, runzelt die Stirn und bleibt stehen. »Papa, ich bin’s!«
»Das sehe ich«, kommt die Antwort. »Und wer sind die da?« Mit einer Hand deutet er auf uns andere.
»Meine Schulkollegen, Heinrich und Andi, und Heinrichs Mama …«
»Aha.« Langsam kommt er näher. »Hast du dabei, um was ich dich gebeten habe?« Paul setzt an, aber Mutter blickt ihn streng an.
»Herr Müller, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen!« Nichts, keine Reaktion. Sein rechts Augenlid zuckt. »Mein Mann hat eine große Gebäudereinigung. Wir suchen jemand fürs Lager. Ein Vollzeitjob, auch mal am Samstag. Sie könnten schon nächste Woche anfangen. Der Verdienst ist gut. Ich habe bereits mit meinem Mann gesprochen.«
Es dauert, bis er etwas sagt. Dummerweise die identische Frage, nur etwas lauter. »Paul, hast du dabei, um was ich dich gebeten habe?!«
»Nein!«, sagt Mutter. »Paul hat es nicht dabei. Er hat es ihrer Frau gebracht. Und mit ihr bin ich übereingekommen, ihnen das Angebot zu machen.«
»Was erlauben Sie sich eigentlich?«, ist alles, was ihm einfällt. Er will Mutter auf die Seite schieben, nach Paul greifen und bekommt eine Ohrfeige aus dem Nichts. Niemand von uns hat Mutters Hand kommen sehen.
»Ich fange auf der Stelle an zu schreien, nach der Polizei! Wenn Sie nicht vernünftig werden. Ihrem Sohn das Geld rauszupressen, an seine Liebe zu appellieren, das ist ja wohl das Allerletzte!« Sie wird richtig laut. »Sie sollten jetzt schnell wieder ins Haus gehen! Melden Sie sich nächste Woche, und Sie haben die Arbeit. Tun Sie das Richtige!«
»Bitte, Papa«, sagt Paul. Andi und ich stellen uns neben Mutter. In seinen Augen flackert es, Wut und Unsicherheit. Er reibt seine Backe.
»Wie ist die Adresse?«
»Bonner Straße, vor dem Großmarkt. Firma Konstantin. Ist nicht zu übersehen«, sagt Mutter kühl. Das Flackern in seinen Augen erlischt. Er blickt zu Paul, dann auf den Boden, dreht sich um.
»Ist gut. Ich schau am Montag vorbei«, murmelt er und verschwindet wieder im Haus. Ich spüre ein Zittern in meinen Beinen. Am liebsten würde ich mich auf der Stelle hinsetzen und laut schreien.
»Kommt«, sagt Mutter. »Wir gehen. Da hinten steht ein Taxi. Wir fahren in die Alteburger Straße. Da kenne ich ein griechisches Lokal. Ich lade Euch ein.«
»Prima«, findet Andi. »Ich hab schon seit einiger Zeit wieder Hunger.« Mutter lacht und gibt ihm einen Klaps auf die Schulter. Paul fällt in das Lachen ein. Wir laufen los. Ganz ohne zu hüpfen. Mein Blick heftet sich an Mutters Nacken. Sie ist einen Kopf kleiner als ich und doch um Längen größer. Tief in mir spüre ich Stolz.

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