Kreuzungen
Wem kann ich das Erlebte erzählen? Vor einer Stunde bin ich nach Hause gekommen. Die ganze Strecke gelaufen. Mit Mühe und Not den Narren entkommen. Rosenmontag. Die Stadt ist mörderisch voll. Nach der zweiten Nacht in Martins Bett, brauche ich eine Pause. Doch es geht mir gut. Mehr als gut. Dass ich nicht ihn in verliebt bin, kroch heute Morgen wie Nebel über den Berggrat in unser gemeinsames Tal. Ich ahne, dass ein solch monströses Loch, wie Katharina es hinterlassen hat, nicht mal eben mit einer anderen Liebe zu stopfen ist. Neue Gefühle kann ich nicht herzaubern, alte nicht beiseite wischen wie Krümel vom Tisch, denn daran hänge ich mit langen, zähen Fäden. Aber Martin und ich haben uns Bach angehört. Toccata und Fuge. Ein wirkliches Erlebnis. Jürgen ist ein wahrer Könner. Unter Martins Parka hielten wir unsere Hände in der Katholischen Kirche Sankt Marien. Für Martin ein Symbol, versteckt zwar, aber er ist der Sieger unter den Anwesenden. Die Menschen um uns herum besaßen aber nur Ohren für den Klang der Orgel und den anschließenden Gottesdienst haben wir uns erspart. Also, wem kann ich das erzählen? Niemandem. Nur dem Gesicht im Spiegel. Und dieser Kerl wird sich jetzt duschen und rasieren.
Das Abtrocknen wird unterbrochen vom Klingeln des Telefons. Katharina!, ist mein erster Gedanke. Oder vielleicht Paul? Nein, sicher Andi, der vorbeikommen möchte, um Musik zu hören. Mit dem Handtuch in der linken Hand wetze ich aus dem Bad, reiße den Hörer von der Gabel. Schon ist eine laute Stimme zu hören.
»Heinrich!«
Das ist doch Vater! »Papa! Was …?«
»Ich bin in Lüdenscheid im Krankenhaus. Deine Mutter liegt hier. Seit heute Nacht. Hör mir gut zu!«
»Ja.« Mehr kann ich nicht sagen.
»Pack ein paar Sachen in deinen großen Rucksack. Bademantel, zwei Schlafanzüge, die warme Schlabberhose, Unterwäsche und einen dicken Pullover! Verstanden?«
»Moment! Ich schreib‘s auf!« Er wiederholt es. »Hab ich! Noch was?«
»Shampoo und eine von ihren Haarspangen. Keine Ahnung, wo die sind.«
»Ich weiß wo …«
»Gut. Dann setz dich in den Zug nach Hagen. Von dort fährst du nach Lüdenscheid-Brügge, dann mit dem Taxi zum Krankenhaus. Hast du Geld?«
»Klar …«
»Beeil dich …«
»Papa!«
»Was?!«
»Willst du mir nicht sagen, was los ist?«
»Oh! Ja, also das … das Baby ist nicht mehr da.« Das Baby nicht mehr da? Was soll denn das heißen? »Eine Fehlgeburt«, sagt er in mein Schweigen hinein. »Sie hat starke Unterleibsschmerzen bekommen. Ein Eingriff war …«, er schluchzt, sagt nichts mehr. Eine Frauenstimme redet auf ihn ein, versucht zu beruhigen.
»Ich komme!«
Jemand legt auf. War er das? Oder die andere Person? Lüdenscheid im Sauerland. Es könnte kaum weiter entfernt sein. Das Ende der Welt. Nichts wie in die Kleider!
Einen Intercity in den Norden zu finden, war nicht schwer. Aber zum Hauptbahnhof zu kommen fast eine Weltreise. Der verdammte Karneval. Von Köln nach Hagen geht es schnell, dann der Bummelzug nach Lüdenscheid-Brügge. Als ich endlich vor dem Krankenhaus das Taxi verlasse, sind knapp fünf Stunden vergangen. Andere Leute fahren in fünf Stunden nach Hamburg. An der Rezeption frage ich nach Mutter. Sie liegt auf der Gynäkologie im dritten Stock. Im Fahrstuhl bekomme ich weiche Knie und muss mich auf den Boden setzen. Darauf warte ich seit ich von daheim losmarschiert bin. Ausgerechnet jetzt muss das kommen. Mutter im Krankenhaus. Hoffentlich … die Doppeltür öffnet sich im ersten Stock und eine Schwester schaut mich überrascht an.
»Alles gut bei Ihnen?«
»Hab nur weiche Knie bekommen. Meine Mutter liegt hier seit heute Nacht.« Sie tritt in die Kabine, reicht mir eine Hand und will beim Aufstehen helfen, resigniert aber schnell.
»Sie sind mir zu schwer«, stellt sie fest. »Was hat denn Ihre Mutter, wenn ich fragen darf?«
»Fehlgeburt.«
»Oh, das tut mir sehr leid. Ich kenne das.« Langsam stemme ich mich hoch, mit dem Rücken an der Stahlwand abgestützt.
»Die nächsten Wochen werden sehr schwierig«, prophezeit sie und ich schaue auf sie runter. Ihr Kopf ist auf Höhe meiner Brust. »Der Körper hat sich auf das Baby eingestellt. Stoffwechsel, Hormone. Jetzt ist auf einen Schlag alles anders. Als wenn ein Kind von der Schaukel springt und das Schaukelbrett ziellos hin und her schwingt. So wird das in den nächsten Wochen sein«. Um es zu unterstreichen, nickt sie ein paar Mal. »Oder auch länger«, setzt sie noch einen drauf.
»Das kriegen wir schon hin«, erwidere ich. Die Kabine bremst ab.
»Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter.« Die Türhälften öffnen sich. Dritter Stock.
»Danke für den Rat«, sage ich und sie gibt mir ein ‚Viel Glück‘ mit auf den Weg. Gynäkologie rechts, steht auf dem Schild gegenüber. Hinter einer breiten Metalltür entdecke ich Vater. Ein Häuflein Asche auf einem roten Plastikstuhl. Als er mich bemerkt, springt er auf, rennt die paar Meter und fällt mir um den Hals. Seit mindestens einem Jahr bin ich größer als er und kann ihn locker anheben.
»Heinrich … ich bin ja so froh, dich zu sehen.«
»Wie geht’s Mama?«
»Naja, ganz okay, für die Umstände.« Er zieht an meiner Jacke und marschiert los. »Komm, gehen wir zu ihr.«
Ein ganzes Zimmer für sich zu haben hat was. Der Vorteil des Privatpatienten. Mutters Augen sind geschlossen beim Eintreten und Vater schleicht auf leisen Sohlen zum Bett. Sie atmet ruhig.
»Ist aber ein hübsches Zimmer«, stelle ich fest.
Ihre Augen öffnen sich langsam. »Heinrich …«
»Schau mal, Heinrich hat dir Kleider mitgebracht.« Vater ist wie aufgelöst. Gar nicht mehr der, den ich kenne. Dunkle Ränder unter den Augen. Neben Mutters Bett steht ein Stuhl, in den er sich fallen lässt. Offenbar sitzt er seit geraumer Zeit neben ihr.
»Das ist lieb«, sagt sie leise. Es klopft und ohne Aufforderung kommt ein älterer Mann herein. Zweifelsohne der Chefarzt. Prof. Dr. Dr. steht auf der Plakette. Mehr muss ich nicht lesen. »Ich habe gehört, Ihr Sohn ist eingetroffen mit einem Rucksack voller Kleider«, platzt es aus ihm heraus. »Das ist schön. Solche Söhne braucht das Land.« Ich grinse. Will er mir die Hand geben? Aber nein, er mustert mich nur zwei Sekunden, dann tritt er neben das Bett. »Wie geht es Ihnen, Frau Konstantin?«
»Gut«, lügt sie. So kenne ich Mutter beim Arzt. Es geht immer gut. Keine Beschwerden.
»Na, das Körperliche haben wir geschafft. Zwischen Ihrem Ältesten und dem neuen Versuch lagen wohl zu viele Jahre. Und Sie wissen ja, im fortgeschrittenen Alter …« Er steht vor mir, der Weißkittel, und ich denke darüber nach, ihm die Blumenvase über den Kopf zu ziehen. Ob das in seinem Alter noch mal verheilt, ist die Frage. So ein Arschloch. Mutter nickt tapfer. »Ich habe der Seelsorgerin Bescheid gesagt. Sie wird gleich kommen.«
»Danke, Herr …«
»Ach, nicht der Rede wert.« Er tätschelt Mutters Hand. In der anderen steckt eine Kanüle, durch die Kochsalzlösung tropft. So stelle ich mir Ärzte vor. Den Pöbel großväterlich behandeln aber bloß nicht ernst nehmen. Die Schule fällt mir ein. Ist da auch nicht anders. »Wenn morgen alles in Ordnung ist, setze ich Sie in einen Krankentransport und Sie dürfen nach Hause.«
»Danke. Ich gebe mir Mühe.«
Es klopft erneut. Wieder das Hereinkommen ohne abzuwarten.
»Ah, die Frau Heinemann. Unsere Seelsorgerin. Eine Seele von Mensch, sozusagen.« Er lacht. Ich atme nur tief ein und aus. Vater ignoriert alles, die Hand auf der Decke.
»Hallo«, begrüßt uns Frau Heinemann und der Doktor verabschiedet sich mit generösem Lächeln.
»Was ein Idiot«, rutscht mir raus. Die Seele von Mensch wirft mir einen schnellen Seitenblick zu, zieht den zweiten Stuhl ans Bett und setzt sich. Mutter hat vielleicht gar nicht gehört, was ich gesagt habe. Gespannt lehne ich an der Wand gegenüber dem Fußende des Betts.
»Frau Konstantin, wie geht es Ihnen? Und ich meine nicht körperlich.« Mutter schießen Tränen in die Augen. Vater will aufstehen und ich mache zwei Fäuste. Was ist das für eine Frage? »Wir machen das schon, Herr Konstantin. Bitte bleiben Sie sitzen.« Frau Heinemann holt ein großes, weißes Tuch aus der Tasche und trocknet Mutters Tränen, tupft die Wangen. »Sie müssen wissen, dass der Körper sich auf das neue Leben eingestellt hat. Und aus einem Grund, den wir nicht kennen, hat Gott es zu sich genommen. Sollen wir für das Kind beten?« Mutter nickt und Frau Heinemann umschließt ihre freie Hand. Sie murmelt ein Gebet. Vater weiß nicht, was er tun soll und steht auf.
»Ich muss jetzt eine rauchen«, sagt er und verlässt das Zimmer. Also besetze ich seinen Stuhl.
»Es ist ganz natürlich, dass der Körper sich wieder in den Normalzustand versetzt. Sie werden ein Auf und Ab Ihrer emotionalen Zustände erleben für eine bestimmte Zeit.«
»Ja, ich weiß«, sagt Mutter schwach.
»Aber noch etwas kann kommen« Frau Heinemann macht eine Pause. »Muss nicht, aber kann passieren. Sie werden sich schuldig fühlen, Sie werden wütend, fallen in ein Loch, es ist eine Art Schockzustand. Und wird es zu schlimm, scheuen Sie sich nicht, einen Psychologen aufzusuchen. Medikamentös kann man da was tun, aber Gespräche sind auf jeden Fall wichtig.« Mutter nickt und ich will einwerfen, dass ich ja da bin. Fürs Reden kann Mutter mich nehmen, aber lieber halte ich den Mund verschlossen.
»Es kann gut sein, dass Tage kommen, die Sie nur liegend verbringen werden. Depressive Phasen. Das ist völlig normal, Frau Konstantin. Es wird vorbeigehen.« Wieder Tränen und Heinemann tupft. »Wie ich sehe, haben Sie einen großen Sohn. Der wird Sie bestimmt tatkräftig unterstützen«, sagt sie in meine Richtung.
»Klar«, bestätige ich. Mutter lächelt vage. Kaum zu erkennen. Ich werde Vater nach Hause schicken, überlege ich, bleibe bis morgen und fahre dann mit ihr zurück. Immerhin hat er eine Firma zu leiten mit knapp eintausend Angestellten. Frau Heinemann packt eine Bibel aus. Ich lehne mich an und zähle die Kochsalztropfen.
Keine Katharina. Kein Paul. Kein Andi. Kein Martin. Na gut, Mutter liegt im Bett und schläft viel. Sie muss total erschöpft sein, aber solange sie schläft, passiert auch nichts anderes, sagt der Doktor und wir lassen sie. Vater hat den Hausarzt dazu gebracht, morgens und abends auf einen Kurzbesuch vorbeizuschauen. Eine ältere Angestellte aus Vaters Firma kommt nachmittags vorbei und kümmert sich um den Haushalt, die Wäsche, bügelt Vaters Kleider. Und ich versuche mich an Spiegelei, Rührei, Gemüse schneiden, Kartoffeln und Reis kochen. Seit dem ersten verbrannten Schnitzel, lässt Vater jeden Abend Wiener Schnitzel, Sauerbraten, Zwiebelrostbraten oder ein Brathähnchen aus einer Gaststätte in der Teutoburger Straße kommen. Man kann es essen, aber vom Hocker reißt es mich nicht, allerdings hat Mutter wieder Hunger auf Fleisch. Vor allem Brathähnchen. Das ist ein gutes Zeichen. Nach einer Woche ist sie zum ersten Mal auf den Beinen, sitzt am Esstisch und löst Kreuzworträtsel als ich von der Schule komme.
Jetzt bin ich in der Küche, gieße eine Kanne Fencheltee auf, stelle sie auf den Tisch und setze mich ihr gegenüber. Behutsam legt sie den Kugelschreiber auf das Papier und schaut her.
»Wir wollten reden«, sagt sie knapp.
»Ja, ich weiß. Aber erst möchte ich wissen, wie es dir geht.« Es macht den Eindruck, als würde ihr Blick sich nach innen richten oder an einem entfernten Ort etwas Sinnvolles zu entdecken versuchen. Eine Erklärung vielleicht. Ein Bild des Kleinen, wenn er oder sie es geschafft hätte.
»Ich weiß nicht. Da ist eine große Leere. Beschreiben kann ich das nicht. Ein schwarzes Loch in der Erde. Nichts kommt raus, alles was hineinfällt, ist auf ewig verschwunden.«
Ich sehe meine Hand auf ihrem Unterarm. Das habe ich gar nicht gemerkt. Habe ich jetzt etwa schon Aussetzer? Egal. Auch sie sieht das dunkle Loch, ebenso wie ich und darin jene totale Finsternis, in der sich alles auflöst. Mutter reagiert und krault über meine Finger. Seit Tagen versuche ich mir vorzustellen, was es wohl für ein Gefühl ist, im Unterleib einen heranwachsenden Fötus zu spüren, ihn zu fühlen. Ich ernähre das Kleine von dem, was ich esse. Es sitzt praktisch an meinem inneren Tisch. Alles was ich falsch mache, spürt es unmittelbar. Ob diese Verbindung auch nach der Geburt weiterbesteht?
»Lass uns von dir reden, Heinrich.«
»Okay. Du denkst an das Telefonat von letztens.«
»Mh.«
»Also, ich fühle mich nicht mehr wohl in der Schule. Nicht in dieser und sicher in keiner anderen. Ich fühle mich nicht mehr wohl in der Klasse. Neben Andi oder Michael, Regina oder wie sie alle heißen. Ich bin dort ein Fremder geworden.«
»Aber sie ärgern dich nicht, oder?«
»Nein, sie sind wie immer. Das ist es nicht.«
»Was ist es dann?«
»Mama, ich weiß es doch nicht. Zumindest dachte ich bis zu dieser Sendung, dass ich es nicht wüsste. Aber dieser Bericht über den Entwicklungsdienst draußen in der Welt, hat irgendeinen Schalter umgelegt.«
»Hm«, macht sie und schließt kurz die Augen. Ich bekomme einen Schreck. Aber als sie mich erneut anblickt, meine ich ein Aufflackern darin zu sehen. Ein kurzes Leuchten. »Vielleicht ist es ja so, Heinrich, dass der Schmetterling aus dem Kokon geschlüpft ist und es nun Zeit wird, für etwas Neues.« Das Bild gefällt mir.
»Da könntest du recht haben. Und die Informationen zu diesem Entwicklungsdienst waren ja klipp und klar. Da sind die gesuchten Berufe. Dann gibt es ein paar Favoriten, etwa den Landwirt, ab 26 darf man erst in den Auslandseinsatz. Wenn ich nach den Sommerferien auf einem Betrieb beginne, drei Jahre Lehre, drei Jahre Geselle, zwei Jahre Meisterkurs und Sprachkurse, dann passt es genau.«
»Um ins Ausland zu gehen?«
»Mh.«
Sie bekommt feuchte Augen. »Scheiße, es war jetzt falsch, das zu sagen. Wo es dir noch nicht so gut geht …« Sie steht auf und zieht mich hoch. Wie klein sie ist und doch kräftig.
»Nein, nein. Ist schon gut. Es ist nur … also, eine Mutter sieht ihr Kind nicht gerne in die Ferne ziehen. Weißt du? Es ist wie ein zweites dunkles Loch …« Ihre Beine geben nach. Es gelingt mir nur knapp, sie aufzufangen und ins Bett zu tragen. Hausschuhe ausziehen, zudecken. Hastig hole ich einen Klappstuhl und setze mich neben das Bett. Sie weint still. Die Lippen aufeinandergepresst.
»Ich kann ja bleiben, Mama. Gibt auch hier gute Berufe. Lokführer ist auch super. Wollte ich früher immer werden. Erinnerst du dich noch?« Ihre Hand ist so kühl.
»Nein, das will ich nicht!«, sagt sie mit überraschend fester Stimme. »Es ist dein Leben. Und du musst es dir so einrichten, dass du glücklich werden kannst. Genau das möchte ich.«
Ich schweige. Mir fällt nichts ein. Wie man dieses Leben gesund überstehen soll, liegt nicht klar auf der Hand. Bei all den vielen Knoten und Stolperfallen. Überall ist Stacheldraht, selbst in den gemütlichsten Ecken.
»Was ist mit Andi?«, fragt sie nach einer Weile.
»Andi … er weiß, was ich vorhabe. Dummerweise habe ich gesagt, dass mich nichts mehr hält. Also auch nicht er. Der Satz war so was wie ein langes Messer, das ziemlich tief geschnitten hat. Er meidet mich, wo es nur geht.«
»Das kann ich verstehen. Besonders weil du ein großer Bruder für ihn bist.« Ich staune und denke an Andis Wutausbruch in der Luxemburger Straße.
»Ja, das hat er auch zu mir gesagt.«
»Andi liebt dich.« Ich muss schlucken. Das mit der Liebe bringt mich noch um den Verstand. Ich würde auch gerne jemanden lieben.
»Heinrich, lass bitte den Rollladen runter. Ich möchte ein wenig schlafen. Aber nicht die Tür zumachen, ja? Das macht mir Angst.«
»Ich lasse einen großen Spalt offen, sitze am Esstisch und mach die Hausaufgaben. Ruf mich, wenn du was brauchst.«
Vaters Angestellte kommt kurz nach 17 Uhr. Eine Frau Eschweiler. Sie ist wie die Kioskfrau am Chlodwigplatz. Weiß zu allem und jedem eine Geschichte. Ihr breites Südstadt-Kölsch ist schon Unterhaltung genug. Palavernd steht sie im Wohnzimmer und bügelt. Keine Ahnung mit wem sie erzählt. Wahrscheinlich denkt sie, Mutter hört zu. Wenn ich ihr zuhöre, weiß ich, warum ich so gerne in dieser großen Kleinstadt lebe, wieso ich noch meine, die Römer und all die anderen in den Mauern zu sehen. Es ist ein tiefes Gefühl von Zuhause. Das Telefon klingelt und reißt mich aus den Gedanken.
»Näänää, wat ess dat so laut?«
»Ich geh schon, Frau Eschweiler«, komme ich ihr zuvor. Es ist Vater.
»Sag mal, Heinrich, Paul ist seit zwei Tagen nicht zur Arbeit gekommen. Hat sich nicht krank gemeldet. Hast du eine Ahnung, wo er sich herumtreibt? Die Berufsschule hat schon angerufen heute Morgen. Natürlich bei seiner Mutter, die mich wiederum kontaktiert hat. Also, wenn du was weißt, dann raus damit.«
»Ehrlich, Papa. Ich habe keine Ahnung. Paul hat sich von mir ferngehalten. Ich kann in der Langobardenstraße nachfragen und dir Bescheid geben.«
»Ja. Tu das. Aber lass dir nicht zu lange Zeit.« Er schweigt, legt aber nicht auf. »Wie geht’s deiner Mutter?«
»Sie schläft heute viel. Frau Eschweiler ist da.«
»Ja, ist deutlich zu hören.«
»Wann kommst du?«
»Stunde noch. Sag Frau Eschweiler, sie soll warten bis ich komme. Sie kriegt nen Zwanziger extra. Geh du Paul suchen.«
»Ist gut.« Er legt auf und ich spüre Puls im rechten Ohr. Als hätte ich es nicht geahnt.
Eine halbe Stunde später bin ich unterwegs. Ich jogge und bin zwanzig Minuten später in der Langobardenstraße, drücke die Klingel. Der Summer entriegelt und schon sprinte ich die Stufen nach oben. In der Tür steht Rainer.
»Oha! Heinrich! Dich hätte ich am allerwenigsten erwartet. Komm rein.« Zügig kicke ich die Schuhe von den Füßen, schaue in Pauls Zimmer nach. Es sieht sehr unbenutzt aus. In der Küche klappert es. Als ich eintrete stellt Rainer ein Glas auf den Tisch und gießt Spezi ein.
»Du siehst verschwitzt aus. Was trinken?«
»Gerne! Danke.« Rainer setzt sich. Von Martin nichts zu sehen.
»Rainer … hast du Paul gesehen?« Er sieht mich ein zweites Mal überrascht an.
»Nein. Er ist doch meist bei seinem Freund, dem Ex von Martin.«
»Weißt du, wo dieser Ex wohnt?«
»Warum?«
»Weil niemand weiß, wo Paul ist. Er ist nicht bei der Arbeit, geht nicht in die Berufsschule, ist nicht bei seiner Mutter und offensichtlich auch nicht in seinem Zimmer.«
»Tja.« Rainer fasst sich ans Kinn und kratzt daran herum. Dann steht er auf. »Ich ruf mal da an. Moment.« Er steht auf, geht in den Flur. Die Wählscheibe tickert. Das Tuten ist zu hören. »Ich bin’s, Rainer … was? Jaja, du mich auch.« Er wird abgewürgt. Offenbar ein rüder Ton auf der anderen Seite. »Ich will nur eines wissen: Ist Paul bei dir?« Eine Zeitlang ist nur Unverständliches zu hören. »Du hast ihn rausgeschmissen? Einfach so?« Rainer stöhnt. »Nein, er ist nicht hier. Du weißt, dass er siebzehn ist? Du hast eine Verantwortung!« Sein Gegenüber wird richtig laut. »Arschloch!«, brüllt Rainer und legt auf. Es wird fast still. Seine Atmung ist zu hören. Rainer hat sich wirklich aufgeregt. Dann kommt er zurück. »Er hat Paul vor die Tür gesetzt, der Idiot!«
»Warum?«
»Hat sich nen neuen Lover geangelt.« Seufzend lässt er sich auf den Stuhl fallen. Es knarzt gehörig.
»Und jetzt?«
»Tja, Heinrich, das ist ne rhetorische Frage. Über das Arschloch hat er sicher Leute aus der ‚Kette‘ kennengelernt. Er kann also überall sein. « Mein Gesichtsausdruck genügt ihm, um eine Erklärung nachzuschieben. »Eine Kneipe für Jungs wie uns.«
»Wo wohnt der Idiot?«
»Aachener Straße. Du fährst mit der Eins bis zum Friedhof Melaten, steigst aus. Gegenüber sind drei Wohnblöcke. Der erste ist es, dritter Eingang. Bei Wallmann klingeln.«
»Und die ‚Kette‘?«
»Da ist Ausweiskontrolle. Weder Paul noch du kommen da rein.« Ich hole tief Luft und trinke die Spezi fast leer. An der Wand hängt eine Schiefertafel mit angebundener Kreide. Ich schreibe unsere Telefonnummer drauf.
»Okay. Danke, Rainer. Wenn er kommt, ruf mich bitte an.«
»Natürlich. Viel Glück.«
Es ist dunkel geworden. Vom Hauptbahnhof laufe ich zum Moulin Rouge. Wie immer steht Walther vor der Tür. Ich gehe direkt auf ihn zu. Ein paar Meter vor ihm erkennt er mich und grinst, was mich freut, denn ich will nicht erleben, dass er ungemütlich wird.
»Hallo«, begrüßt er mich. »Du bist doch Pauls Freund.«
»Stimmt. Wegen ihm bin ich hier.«
»Probleme?«
»Vermutlich.« Schnell erzähle ich ihm eine Kurzversion.
»Hm, pass auf. Pauls Mutter kann jetzt nicht weg, aber ich besorge dir den Hausschlüssel von ihr. Dann kannst du in der Wohnung nachschauen. Vielleicht ist er ja dort.« Ohne Umschweife verschwindet er und ist keine drei Minuten später wieder draußen. Ich bin beeindruckt. »Leg einen Zettel auf den Küchentisch. Schreib drauf, dass seine Mutter sich Sorgen macht. Und lass eine persönliche Nachricht von dir zurück.«
»Mach ich.«
»Danach kommst du wieder und berichtest.«
»Alles klar. Vielen Dank.«
»Nix zu danken, Jung. Und jetzt hopp.«
Das wird der Abend der Kilometer. Mit der Fünfzehn zum Zülpicher Platz und dann in die Neun. Eine Dreiviertelstunde später stehe ich vor dem Haus in der Mommsenstraße. Alles ist dunkel. Nichtsdestotrotz öffne ich die Haustür, dann die Wohnungstür, rufe nach Paul, sehe in jeder Ecke nach, aber vergeblich. Mit dem Telefon im Flur rufe ich daheim an. Vater hebt ab.
»Und? Erfolg gehabt?«
»Nein.« Auch ihm berichte ich, aber ausführlicher.
»Tja, ich weiß auch nicht, was ich machen soll. Also schultechnisch erst mal nichts, außer ihn krank melden. Dann ist ein paar Tage Ruhe. Ich kenne einen Arzt, der uns nachträglich ein Attest ausstellt. Bring den Schlüssel zurück, dann kommst du nach Hause.«
»Soll ich noch bei seinem Freund nachhaken?«
»Nee, Heinrich, das ist mir zu nebulös. Wer weiß, was dich da erwartet.«
»Okay. Bis später.« Wir legen auf und ich schreibe den Zettel. drei Ausrufezeichen hinter die Bitte, sich doch zu melden. Dann bin ich wieder draußen, auf dem Weg in den Eigelstein.
Walter sieht mir von weitem an, dass ich keinen Erfolg hatte. Als ich bei ihm bin, nickt er. »Warte mal kurz, ich geh mit dir rein. Muss nur mal Ersatz holen.« Flugs verschwindet er in der Kneipe nebenan und kommt mit einem nicht minder großen Kerl wieder raus. »Das ist Heinz. Er steht solange hier, bis wir fertig sind.« Heinz nickt und steckt die Hände in die Jackentaschen. Walther schiebt mich durch die Tür wie ein Schaf zur Schlachtbank. Drinnen gehen wir direkt auf einen langen Gang zu, vorbei an Tanzflächen, Tableaus und Tischen. Da ist Pauls Mutter. Völlig nackt. »Immer schön weiter«, sagt Walther und wir landen in einem Umkleidezimmer. »Dauert noch bissken. Dann hat sie eine halbe Stunde Pause.« Er verschwindet und kommt sogleich mit zwei Flaschen Cola wieder. »Hier, Jung, trink wat!«
»Danke.«
»Erzähl mir von Pauls Freund.«
Nach einem ausgiebigen Schluck Cola packe ich jedes Detail auf den Tisch. Auch meinen Plan, dass ich, entgegen der Anordnung meines Vaters, gleich hiernach diesen Typ aufsuchen werde, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Walther nickt.
»Genau richtig, Jung. Dat würde ich auch tun. Ausreden nur Sonntach.«
»Ich werde ihn nicht davonkommen lassen.«
Er grinst. »Wir verstehen uns«, sagt er und steht auf. »Ich muss wieder raus. Bis nachher.«
»Danke für alles.« Er zwinkert mit dem rechten Auge und schließt die Tür hinter sich. Da sitze ich in der Umkleidekabine von Pauls Mutter, die nackt auf einem erhöhten Tisch tanzt, Geldscheine vor sich auf dem Boden, es ist zehn Uhr, morgen früh ist Schule und der Türsteher ist schon fast ein guter Kumpel. Wer hätte das gedacht heute Morgen.
Mit nichts als einem großen, schwarzen Seidentuch um den Körper, betritt sie das kleine Zimmer. Schweigend zieht sie sich an. Ein rotes Top mit Spaghettiträgern, schwarze Unterhose und Filzschlappen. Ich kann nicht anders als hinsehen. Es macht ihr nichts aus. Die faszinierendste Frau, die mir je begegnet ist.
»Heinrich«, sagt sie leise und legt eine Decke um sich. »ich weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll. Glaub mir …« Sie beginnt zu weinen und ich erstarre. Mehr als meine Hand kann ich nicht ausstrecken. Ich will sie in den Arm nehmen, werde es aber nicht tun. Sie greift die Hand und legt sie auf ihr Knie, presst ihre Finger drauf. »Das werde ich jetzt ausbaden müssen, Heinrich. Komme, was will.«
»Was denn?«
»Nachher werde ich die Polizei rufen. Er ist viel zu lange verschwunden.«
»Polizei ist eine gute Idee, Frau Müller …«
Sie schüttelt den Kopf, reibt die Decke übers Gesicht. »Nicht für alle Beteiligten.«
»Warum?«
»Na, überleg mal. Ich miete eine Wohnung für meinen siebzehnjährigen Sohn in einer WG mit homosexuellen Männern über achtzehn. Dein Vater weiß davon, er hat ne Firma. Dein Freund Jürgen weiß davon. Dieser Herr Schramm mit seinem guten Projekt, das wäre alles ein gefundenes Fressen für die feinen Herren. Meine Kunden. Betrügen hier ihre Frauen und richten morgen über harmlose schwule Jungs.«
Jemand gießt einen Eimer Eiswasser über mir aus. »Scheiße … daran habe ich ja noch gar nicht gedacht.« Sie nickt. Der Schreck verlässt mich nicht. Er nistet sich in jeder Zelle ein. Ich kann nicht mehr klar denken und alle Puzzleteile fallen wie Geröll auf mich herunter.
»Ich wusste, es wird schiefgehen«, höre ich sie sagen.
»Und jetzt?«
Sie zündet sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. »Und jetzt«, wiederholt sie. »Den Mietvertrag verbrennen. Herrn Schramm, Martin und Rainer sagen, dass Paul nie bei ihnen war, das Zimmer auflösen, seine Sachen zu mir bringen. Und morgen früh, wenn alles erledigt ist, tue ich so, als sei ich die besoffene, schlechte Mutter, die nicht mal mitkriegt, wenn ihr der Sohn abhanden geht. Bis die Berufsschule anruft. Aber dann muss die Prostituierte erst noch zur Arbeit. Die verdammte Rabenmutter, die es nicht mal schafft, ein einziges Kind aufzuziehen.« Sie macht eine Pause wirft die Zigarette auf den Boden, tritt sie aus und vergräbt das Gesicht in den Händen. Der ganze Körper zittert wie Espenlaub im Wind. Ich fühle mich inmitten eines großen Eimers Scheiße.
Sie telefoniert mit meinem Vater und erläutert ihm die Tragweite von Pauls Verschwinden. Völlig gefasst, mit ruhiger Stimme. Wie ausgewechselt. Von Vater ist nichts zu vernehmen. Sie bittet ihn, mich noch etwas hierbehalten zu können, um alles zu regeln. Pauls Zeug holen in Deutz, denn ich wüsste die Wege. Dann legt sie auf. »Du hast großes Glück mit deinem Vater«, sagt sie. »Walther hat gesagt, dass Heinz mit dir fährt. Ich werde Herrn Schramm jetzt anrufen, er soll den Mietvertrag vernichten und Paul aus seinem Gedächtnis streichen. Um sechs Uhr gehe ich zur Polizei. Pauls Sachen bringt Heinz hierher. Ich will nicht, dass irgendein Nachbar euch sieht.«
»Wird schon schiefgehen«, sage ich großspurig. Sie drückt einen Kuss auf meine Wange, zieht ihre Tanzkleidung an, ohne dass ich mich umdrehe und verschwindet aus dem Raum. Walther kommt und begleitet mich hinaus. Vor dem Eingang steht ein Käfer. Heinz sitzt am Steuer. Es sieht aus wie ein Stier in einer Telefonzelle. Wie er es wohl in das Auto geschafft hat? Ich setze mich auf die Beifahrerseite, berühre aber seinen massigen Arm und die massive Schulter. Walther drückt die dünne Tür zu.
»Wohin?«
»Über die Deutzer Brücke, gleich danach rechts rein. Langobardenstraße.«
»Okay.«
Es geht los. Heinz ist nicht gesprächig. Er sagt überhaupt nichts und ich sehe keinen Grund, das zu ändern, denn so ganz geheuer ist er mir nicht. Aber wir setzen unser Vorhaben problemlos um. Ich instruiere Rainer und Martin über das, was Pauls Mutter gesagt hat und beide verstehen vollkommen, um was es geht. Als wir auf dem Rückweg sind, stellt Heinz eine einzige Frage.
»Wo wohnt Pauls Freund?«
»Aachener Straße. An der Haltestelle Melaten.« Dann wieder eisiges Schweigen. Es ist nicht schwer zu sehen, dass uns Heinz genau dort hin fährt. Wir wenden an der westlichen Ecke des Friedhofs und fahren zurück. Heinz schaut aus dem Fenster.
»Wo?«
»Der letzte Block von uns aus. Vor der Querstraße. Dritter Eingang.«
Gleich darauf biegt er in die Brucknerstraße, fährt dann wieder rechts in die Clarenbachstraße und hält.
»Wie heißt er?«
»Wallmann.«
»Bin gleich wieder da …«
»Was passiert hier?«
»Mach dir keine Sorgen, Jung. Muss nur was klarstellen.«
Ich zucke mit den Schultern. »Okay.«
Heinz verschwindet im Zwielicht der wenigen Laternen. Es dauert und ich nutze den frei gewordenen Platz, um mich zu strecken. Nichts passiert in dieser Straße. Ein einziges Auto fährt vorbei. Im Käfer gibt es keine Uhr. Aber schätzungsweise nach zwanzig Minuten schält sich Heinz‘ grobschlächtige Gestalt wieder aus dem Halbschatten. Ein Blick nach beiden Seiten, dann öffnet er die Tür und steigt ein. Der Käfer neigt sich stark nach links und mein Freiraum ist weg.
»Jetzt fahr ich dich nach Hause. Wohin müssen wir?«
»Bernhardstraße, Bayenthal.«
»Am besten über die Alteburger Straße, oder?«
»Genau.«
Und schon sind wir unterwegs. Kein einziges Mal übertreten wir die vorgegebene Geschwindigkeit. Heinz lenkt den Käfer mustergültig durch die Nacht. Niemals werde ich fragen oder wissen wollen, was er mit dem Klarstellen gemeint hat. Ich kann es mir aber vorstellen und ertappe mich dabei, dass dieser Kerl es verdient hat, was auch immer sein Lohn war, den Heinz ihm hat zukommen lassen. Schweigend fahren wir durch die Stadt. Vielleicht irgendwo an Paul vorbei, der sich amüsiert in einem Lokal oder im Kino den Film des Jahres bewundert. ‚Ihr könnt mich alle‘, wird er denken. Bald wird es dunkler und ich erkenne die Alteburger Straße. Heinz biegt in die Schönhauser Straße und gleich darauf in die Bernhardstraße ein. »Sag, wenn ich halten soll.«
Hundert Meter weiter bitte ich ihn zu stoppen. Das tut er. Mitten auf der Straße. »Vielen Dank und richten Sie Walther bitte auch meinen Dank aus.«
»Gerne. War mir ein Vergnügen, Jung.« Ich schließe die Wagentür, er fährt ganz ruhig weiter, schaltet schnell hoch und verschwindet. Was für ein seltsamer Typ. Vielleicht der Mann fürs Grobe. Auf jeden Fall verschwiegen.
Mutter schläft tief und fest. Vater sitzt in unmöglicher Stellung auf der Couch, eine halbleere Flasche Wein auf dem kleinen Tisch neben sich. Er schnarcht. Ich wecke ihn vorsichtig und hole Joghurt und Kefir aus dem Kühlschrank, löffle den Joghurtbecher leer, öffne den Kefir. Im Wohnzimmer höre ich die Tür zur Terrasse, dann ein Feuerzeug. Mit dem Becher gehe ich hinaus ins Freie. Die Zigarette glüht, dann folgt der Rauch.
»Keine Spur von Paul«, berichte ich und trinke einen ordentlichen Schluck. Im wenigen Licht, das durch die Scheibe fällt, sehe ich ihn nicken. Tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.
»Pauls Mutter hat recht«, sagt er nach einer Weile. »Das kann für alle böse enden.«
»Bereust du, zu wissen, was wir alle mehr oder weniger getan haben?«
»Nein. Ich überlege, ob wir nicht an irgendeinem Punkt in eine andere Richtung hätten abbiegen sollen. Aber im Nachhinein … niemand kann so mir nichts dir nichts seine Bahn verlassen. Pauls Mutter hätte bei uns anfangen sollen. Mit ihren Fähigkeiten, hätte ich sie gleich als Objektleiterin einsetzen können, aber …«
»Aber sie wollte nicht. Und dafür hatte sie Gründe. Ebenso Paul. Ebenso Herr Schramm und die Jungs, denen er eine Heimat gibt, weil sie von daheim rausfliegen, ausgestoßen werden.«
»Ja«, sagt er knapp und nickt mir zu. »Jetzt geh ins Bett. Morgen ist Schule.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Heinrich.« Ich trinke den Becher leer und denke an Mutter. An ihre Leere. Beim Durchschreiten der Glastür höre ich Vater husten.
»Heinrich?«
»Hm?«
»Gut gemacht.«
Ist es nicht seltsam, wenn man mitten in seinem Schulleben, den kleinen Hausarbeiten, dem Job in Vaters Firma und all dem anderen Zeug völlig vergisst, welcher Tag heute ist? Damit meine ich nicht das Datum. Ich habe keine Ahnung, was heute für ein Wochentag ist.
»Entschuldigung, Herr Zwerenz …«
Er hebt mal wieder nicht den Kopf, nur den Blick. Ich darf reden.
»Welchen Tag haben wir heute?«
»Den 26. Februar.«
»Ich meine Wochentag. Nicht Datum.«
»Freitag.« Er rümpft die Nase. »Ist das wieder so eine Verarsche?«
»Keineswegs, Herr Zwerenz. Käme mir nie in den Sinn. Wissen Sie ja.«
»Keineswegs, Herr Konstantin.«
»Touché«, sagt Andi und Zwerenz grinst.
»Ich glaube, ich geh mal auf Klo. Vielleicht muss ich reihern.«
»Ja, gehen Sie nur, Herr Konstantin. Wir anderen widmen uns mal den Aufgaben des Bundesrats. Vielleicht weiß ja jemand was dazu, ohne! ins Buch zu linsen.«
Bundesrat für’n Arsch, denke ich und mache, dass ich rauskomme. Die Luft auf dem Flur ist unverbrauchter. Fast paradiesisch. Auf der Toilette wasche ich die Hände ausgiebig und setze mich auf die Fensterbank. Lärm kommt vom Schulhof herauf. Fünftklässler bei einem Ballspiel und nicht in Sportkleidern. Wusste gar nicht, dass Fünftklässler während der Schulstunden auf dem Pausenhof mit einem Ball spielen dürfen. Öfter mal was Neues. In den Dreck auf dem Fenster schreibe ich ‚Paul Rosenzweig‘ und ziehe zwei Linien. Ich muss Vater dringend vorschlagen, ein Angebot für die Fensterreinigung hier abzugeben.
Die Uhr über der Tür geht nicht rückwärts. Nach fünf Minuten schwinge ich mich von der Fensterbank, wasche erneut die Hände und gehe zurück. Auf dem Flur läuft am anderen Ende Rektor Kurz mit einem Polizisten. Selbst von hier erkenne ich deutlich, wie er den Kopf vorschiebt, um zu sehen, wer da nicht im Unterricht ist. Offenbar bin ich genau derjenige, von dem er was will.
»Herr Konstantin! Kommen Sie mal!«
Der Ruf ist sicher durch jede Klassenraumtür gedrungen. Ich muss nicht zu Zwerenz zurück, was viel wert ist. Allerdings bekomme ich Magengrummeln beim Anblick des Polizisten. Als ich beide erreicht habe, deutet Kurz auf den Mann in Grün. »Das ist der Herr Schneider. Er möchte dich etwas fragen.«
»Okay.«
Der Herr Schneider nickt nur. Aber Kurz dreht sich weg und zieht ihn mit sich. »Kommen Sie, wir setzen uns in mein Büro. Muss ja nicht jeder mitbekommen.«
Kurz stellt dem Polizisten einen Kaffee vor die Nase. Mich vergisst er leider. Dann zündet er sich eine Zigarette an.
»Auch eine?«
Herr Schneider lehnt dankend ab, greift in die Innentasche seiner Uniformjacke und holt einen Papierumschlag heraus. Den Inhalt legt er auf den Tisch. Unter anderem den Kinderausweis von Paul Müller. Sämtliches Blut stürzt Richtung Erdmittelpunkt. Mir wird schwindlig.
»Bitte sieh dir diese Dinge an und sag mir, was du davon kennst, was du vielleicht schon mal gesehen hast in der letzten Zeit.«
Vorsichtig tippe ich auf den Kinderausweis.
»Sieh ihn dir ruhig an. Innen ist ein Passfoto.« Schweigend öffne ich das Dokument. Natürlich ist es Pauls Ausweis. »Erkennst du den Jungen?«
»Ja, klar. Das ist Paul. Das Foto ist vielleicht zwei Jahre alt. Er sieht jetzt anders aus, älter, mit kurzen Haaren.«
»Aha. Das weißt du also genau?«
»Er macht doch eine Lehre bei uns und ist seit paar Tagen nicht mehr zur Arbeit gekommen. Seine Mutter hat bei uns angerufen, dass sich die Berufsschule bei ihr gemeldet hat. Mein Vater hat mich gefragt, ob ich wüsste, wo er steckt.« Mein Mund ist trocken wie die Wüste Gobi. Das Schlucken schmerzt.
»Kennst du seine Mutter?«, hakt der Polizist nach.
»Klar. Frau Müller kenne ich.«
»Nicht gerade das beste Vorbild, um Kinder zu erziehen«, wirft Kurz ein.
»In der Tat«, bestätigt Herr Schneider. »Sie macht mir nicht den Eindruck, als wüsste sie, was ihr Sohn tut oder wo er sich herumtreibt. Sie hat noch nicht mal gemerkt, dass er weg ist.«
Kurz hebt beide Hände und stülpt die Lippen vor. Das Urteil über Pauls Mutter ist gefällt. Jetzt wird mir wirklich schlecht. Mit dem Finger schiebt Herr Schneider einen kleinen Zettel in meine Richtung.
»Lies mal, was da steht.« Ich beuge mich vor. Die Schrift ist ausgewaschen.
»Heinrich 20 Mark. Rex Danny.«
»Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?«
»Aber ja. Er war öfter bei mir und hat entdeckt, dass ich Comics habe. In die war er bald so versessen, dass ich ihm zwei neue Ausgaben geschenkt habe. Eine kostet 9 Mark 80. Er wollte es mir immer wiedergeben, aber sie waren ja ein Geschenk.«
»Dann hat er sich das wohl auf diesem Zettel notiert«, sinniert Herr Schneider.
»Heinrich war Pauls Schutzpatron«, platzt Kurz plötzlich raus. Eines Tages wird es noch ein Unglück geben, mit diesem Idioten, denke ich.
»Schutzpatron?« Eine Steilvorlage für den Polizisten. »Was heißt denn Schutzpatron?«
»Ganz einfach. Paul hat nie beim Sportunterricht teilgenommen, immer das Klemmbrett getragen. Paul ist nur durch die Gegend gehüpft wie ein Flummi, war unkonzentriert, klapperdürr, er wurde von allen gemieden. Auch viele Lehrer haben ihn nicht ernst genommen.« Das hat gesessen. Auf der Stirn von Rektor Kurz entstehen Schweißperlen.
»Weiter«, fordert Herr Schneider mich auf.
»Eines Tages saß er da und weinte. Er könnte nix, wär nix. Ich habe ihn mit zu mir genommen. Wir haben Hausaufgaben gemacht und ab da sind wir irgendwie Freunde geworden. Eines Tages sagte er, die Schule wäre Mist. Er wollte eine Lehre machen. Also hat er nach der Zehn aufgehört.«
»Aha, er war also so was wie ein Außenseiter.«
»Das kann man so sagen«, bestätige ich. Herr Schneider zieht an seiner grünen Krawatte und rückt sie zurecht, trinkt den Kaffee halbleer. Ich suche den Blickkontakt mit ihm und will endlich wissen, was wir hier tun.
»Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber … was ist denn los?« Kurz räuspert sich. Herr Schneider beugt sich vor.
»Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, dass dein Freund Paul tot ist. Ein Spaziergänger hat ihn entdeckt. Vor der Mülheimer Brücke. Du weißt, es ist Hochwasser und das reicht bis zum Grünstreifen am Niederländer Ufer. Dort wurde er gefunden. Das hier«, er deutet auf den Tisch, »hatte er bei sich. Leider hat sich erst gestern Abend eine Augenzeugin gemeldet, die in der betreffenden Nacht gesehen hat, wie eine Person von der Hohenzollernbrücke gesprungen ist. Die Beschreibung ist passend. Wir vermuten einen Suizid.«
»Ich verstehe nicht, dass sich solche Augenzeugen erst Tage später oder gar nicht melden«, sagt Kurz.
»Das ist nicht selten«, erwidert Herr Schneider. Was reden die da? Und was tue ich hier? Warum bin ich noch an diesem Ort? Ich glaube, er ist verflucht und wir alle ebenso. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Beide schweigen und sehen sich an. »Tja, also, ich weiß alles, was ich wissen wollte. Auf Wiedersehen.« Verschwommen sehe ich den Polizisten aufstehen, dann ist seine Hand auf meiner Schulter. Kurz beugt sich vor.
»Heinrich, du kannst nach Hause gehen. Ich sage Herrn Zwerenz Bescheid.«
»Natürlich werden wir auf die Beerdigung gehen«, sagt Mutter mit fester Stimme.
»Ich kann nicht, Mama!«
»Doch, du kannst! Paul war sehr einsam. Und das soll er an diesem Tag nicht sein. Das ist unsere Pflicht.« Sie nimmt meinen Kopf zwischen die Hände und biegt ihn nach unten. »Wir werden uns von Paul verabschieden! Das schulden wir ihm!« Sie hat recht. Natürlich hat sie recht. Ich habe nur Angst davor, dass die Knie wieder weich werden oder ich losheule wie ein Schlosshund. Vater kommt aus dem Schlafzimmer.
»Gehen wir?«
»Wir gehen«, bestätigt Mutter. Es führt kein Weg dran vorbei. Auf wen werden wir treffen? Wer wird dort sein? Schweigend verlassen wir das Haus, holen das Auto aus der Garage und fahren zum Südfriedhof. Vater raucht. Mutter starrt geradeaus. Nicht wie sonst. Sehen was passiert, links und rechts, mal jemanden grüßen. Ich komme mir vor wie in einem Western, wenn die Bewohner eines namenlosen Wüstenkaffs mit Pferd und Karre auf den Hügel fahren, um einen der ihren zu beerdigen. Einen stummen Helden. Du hast alles falsch gemacht, Heinrich. Sagt Paul. Von der Hohenzollernbrücke springen? Das kann nicht Paul gewesen sein. Der Motor schweigt. Sind wir schon da? Ja, also aussteigen. An der Tafel ist angeschrieben, wer wann beerdigt wird. Niemand außer uns geht durch den Haupteingang zur Aussegnungshalle.
»Sind wir zu früh?«, fragt Vater sich selbst und nimmt Mutter an die Hand.
»Es werden nicht viele kommen«, erwidert sie. Mir ist es recht. Je weniger, desto besser.
Vor der Aussegnungshalle steht Pauls Mutter zusammen mit Walther und einem zweiten Mann, den ich nicht kenne. Das war es an Personen. Wir steuern auf die kleine Gruppe zu. Die Begrüßung ist mehr ein Ritual. Händeschütteln, nicken, schmales Lächeln. Pauls Mutter hat eine Sonnenbrille auf. Mutter weint und Vater nimmt dankbar eine Zigarette von Walther an, der sie ihm auch gleich anzündet.
»Danke.«
»Bitte.«
Ein Mann kommt aus dem Gebäude. Herr irgendwas steht auf dem Namensschild. Ich kann es nicht lesen, weil er sich zügig umdreht und uns herein bittet. Wir gehen ihm nach. Langsam, gestelzt, als würde das Paul wieder lebendig machen. Es ist kalt hier drin. Ein monströser Sarg zwischen wenigen Blumen. Ich schaue mich um. Wo ist Pauls Vater? Er wird es doch nicht wagen, die Beerdigung seines Sohnes zu verpassen? Sachte schüttle ich den Kopf. Der Stadtangestellte weist uns eine einzige Reihe zu. Dann stellt er sich vor den Sarg und liest kleine Abschnitte aus der Bibel. Anschließend dürfen wir noch einmal hineinsehen. An Paul vorbei defilieren. Ich will nicht hineinsehen. Mutter zieht mich mit. Was sind das für Blumen? Ich meine, sie heißen Nelken. Weiße Nelken. Ein Schluchzen. Walther führt Pauls Mutter vom Sarg weg. Vater presst die Lippen aufeinander. Der unbekannte Mann zeigt keine Regung. Endlich geht es ins Freie. Noch nie war ich so froh, aus einem Gebäude hinaus an die frische Luft zu kommen. Fast wie eine Geburt. Aus einer Seitentür kommt eine Art Wagen, auf dem der Sarg steht. Nun mit geschlossenem Deckel. Was für ein lächerlicher Zug von Menschlein für einen so lieben Kerl. Verdammt. Ich weine.
Da stehen wir nun am Grab. Ich im Hintergrund. Mutter tritt vor. Sie greift nach der Hand von Pauls Mutter. Ich sehe das Fleisch weiß werden, so fest krallen sich beide aneinander. Ob ich diesen Horror jemals vergessen werde? Der Stadtangestellte äußert noch ein paar Sprüche, dann schaufeln wir Dreck auf den Sarg und verlassen diesen unheiligen Ort endlich. Auf dem Weg zum Ausgang setzt sich Mutter von uns ab und schließt zu Walther und dem unbekannten Mann auf. Vater gesellt sich zu Pauls Mutter. Was passiert da? Mutter redet auf beide ein. Ihre Hände bewegen sich mal nach links, dann wieder auf und ab. Sie erklärt etwas. Dass niemand mit uns hier war, macht mir zu schaffen. Wenigstens ein paar aus der Klasse hätten kommen können, Rainer und Martin vielleicht? Vater und Pauls Mutter gehen schneller, dann bleiben alle stehen, sehen sich an. Vater und der unbekannte Mann geben sich die Hand. Ich ziehe an allen vorbei und laufe Richtung Ausgang, setze mich auf eine der Holzbänke. Es ist warm und die Vögel erzählen aus ihrem Alltag.
Eine ganze Zeit geschieht nichts. Dann kommt Pauls Mutter mit dem Unbekannten. Sie macht einen kleinen Bogen, legt die Hand auf meinen Kopf und geht weiter. Walther kommt. Er setzt sich zu mir, gibt mir einen Stoß mit seiner Schulter.
»Na, Jung? Wie is dat? Is dinge Herz schwer?«
»Und wie. Die Alpen sind ein Scheiß dagegen.«
»Ich kenn dat. Zur Genüge.«
»Ich hätte mich mehr um ihn kümmern müssen.«
Walthers Pranke landet auf meinem Rücken.
»Et lag nit in dinge Hand, dat zu verhindere.« Er versucht es auf Hochdeutsch, als hätte er es mal irgendwann einstudiert. »Die Kreuzungen für uns können nur wir sehen. Nur wir entscheiden, wohin wir gehen.« Dann steht er auf und streckt sich. »Deine Eltern sind feine Menschen«, sagt er und geht. Was meint er? Mutter und Vater erreichen endlich die Bank, setzen sich. Mich in der Mitte.
»Was habt ihr beredet?«
»Dein Vater und dich haben dem Chef von Pauls Mutter ein Angebot gemacht. Sie arbeitet bei uns und zahlt ihre Schulden bei ihm monatlich zurück. Eine Anfangsrate geben wir ihr als Privatkredit. Sie arbeitet noch drei Monate dort. Bis dahin sollte er Ersatz gefunden haben.« Das zu begreifen fällt mir schwer.
»Wie seid Ihr auf diese Idee gekommen?«
»Die letzten Tage haben dein Vater und ich uns Gedanken gemacht, wie wir ihr helfen können. Sie hat ja schon einmal gesagt, dass sie etwas abarbeiten muss. Also kann sie das auch bei uns machen zu wesentlich menschlicheren Bedingungen.«
Ich bin ein einziges Erdbeben. Acht auf der Richterskala. So sehr zittere ich und rutsche fast von der Bank. Weinen, mehr kann ich nicht. Mutter und Vater ziehen mich wieder hoch, legen je einen Arm um meinen Rücken und ich tue es ihnen gleich.
Ende