Buch | Kapitel 8

Der Mond

»Beim Barte des Neptun«, entfährt es Martin. »Dieses Boot lässt sich so leicht fahren wie nichts, was ich kenne.« Die Streifen am Horizont sind hellblau, wachsen in die Höhe und es zeigt sich knapp über der Dünung ein orangefarbenes Band. Buch sitzt auf der hinteren Bank, Magas Kopf auf seinem Schoß. Er kann nicht sagen, ob sie schläft, das Bewusstsein verloren hat oder gar Schlimmeres mit ihr ist. Sie machen schnelle Fahrt. »Steuer, Geschwindigkeit, mehr braucht es nicht!«, sagt Martin und dreht einige Male von Backbord nach Steuerbord und zurück. Er hat Spaß. Buch dreht den Kopf. Nichts zu sehen. Der beginnende Tag hat das Flackern geschluckt, dafür ist der nordwestliche Himmel voller schwarzgrauer Rauchwolken. Zwischen Buchs Füßen steht der Koffer. In ihm die Baumsamen; warten geduldig, die Welt wieder zu etwas Besserem zu machen. Das wird in Cork nicht mehr geschehen. So viel ist Buch klar. Etwas, das so brennt, ist nicht zu retten. Und die Menschen dort? Glauben, was der Orden sagt – oder sind tot.
Maga rührt sich nicht, atmet ruhig, die Lider geschlossen, aber die Augen wandern, suchen unruhig nach etwas, das nur sie kennt. Buchs Magen krampft, ist schwer und brennt, alles auf einmal. Es kommt in Wellen, ebbt ab, brandet heran. Er legt die rechte Hand auf Magas Stirn und fährt mit dem Finger einen Weg über Nase, Wangen, die Brauen. Es beruhigt ihn. Schon wieder kommen Tränen. Keine Zwiebeltränen, Tränen aus dem Abgrund, und der heißt Maga.
»Magellan hat es immer abgelehnt, ein solches Schiff zu fahren«, erzählt Martin dem Fahrtwind. Wie gut, dass es Ablenkung gibt, denkt Buch. Gischt kommt über die Bordkante, trifft Magas Gesicht. Das Blut weicht auf und läuft in schmalen Bahnen den Hals hinab. So viel Blut heute Nacht.
»Warum hat er es abgelehnt?«
»Er hat ihnen nicht getraut. Sagte immer, sie würden einen schweren Sturm niemals überstehen.« Martin lacht auf. »Wie wir sehen, überstehen Holzschiffe auch keine schweren Stürme.« Buch denkt an die letzte große Welle. Sie war wie die Berge im Fjord.
»Wo werden solche Schiffe oder Boote gebaut?«
»Auf dem Kontinent, mein Junge. Zumindest hat man mir das berichtet. Gesehen habe ich noch keine Werft. Aber vielleicht wäre es gut, wenn wir Irland verlassen und uns einen entfernteren Wohnort suchen.« Buch überlegt. Einen entfernteren Wohnort. Der ein ruhiges und einsames Leben ermöglicht. Ihm fällt nur ein Ort ein.
»Ich kenne einen solchen Ort«, sagt er laut.
»Du meinst, deinen Heimatort da oben im Norden?«
»Åndalsnes.«
»Gibt es da Wasser?«
»Einen Fjord.« Martin dreht den Kopf und schaut Buch an, dann zu Maga.
»Und was machen wir mit ihr?« Buch versteht den Sinn der Frage nicht. Was sollten er und Martin denn mit Maga machen?
»Natürlich geht sie mit uns.«
Martin wiegt den Kopf hin und her. Er dreht am Steuer, die Sonne wandert nach links und steht eine Handbreit über dem Horizont. Sie fahren nach Südwest durch zunehmend stärker werdende Dünung, der Wind frischt auf. Die gesamte Küste ist felsig, steil und zerklüftet. An Land gehen ist hier unmöglich.
»Bist du dir sicher, dass Maga mitgehen würde? Ich nicht. Sie ist keine, die sich für den Rest ihres Lebens an einen entlegenen Ort begeben wird.«
Buch weiß das. Natürlich hat Martin recht. Und doch hat er gesagt, dass sie mitgeht. Es ist das, was er sich vorstellt. Das wünsche ich mir, waren Bestemurs Worte, wenn sie von ihm etwas Besonderes wollte.
»Ich wünsche mir, dass sie mitgeht«, sagt Buch. Martin dreht für einen Moment den Kopf. Er schweigt, dann schaut er auf eine Linie aus zehn Lichtern neben dem Steuer. Ein rotes, neun grüne. Buch ahnt, was sie bedeuten. Die Zeit, die ihnen noch bleibt, bis keine Energie mehr da ist. Maga öffnet die Augen.
Nie hat Buch über die Farbe der Augen nachgedacht. Bei niemand. Weder während der Jahre in Åndalsnes, noch in Kristiansand oder auf dem Schiff. Augen sind wie Nasen oder Münder, einfach da. Wem sollten unterschiedliches Aussehen oder Farben nützen? Doch nun blickt er in eine Farbe, etwas zwischen grün und grau. Er bewegt den Kopf zurück. Das Grün wird stärker. Den Kopf wieder vor, das Grau gewinnt die Oberhand. Maga schaut nur, folgt den Bewegungen seines Kopfes. Ihm ist nicht bewusst, dass sein Finger nach wie vor den Linien ihres Gesichts folgt, Stirn, Nasenflügel, Brauen, Wangen. Sie lässt es geschehen. Buch muss etwas sagen, öffnet den Mund. Nichts kommt raus. Maga entdeckt die Worte im Zittern seiner Oberschenkel, im plötzlich angespannten Bauch. Sie hebt den Arm, greift um Buchs Nacken und zieht den Kopf bis kurz vor ihr Gesicht. Alle Konturen verschwimmen vor Buchs Augen, so nah ist er bei ihr. Maga hebt den Kopf ein Stück und drückt ihre Lippen sachte gegen seine. Buch denkt an Bestemurs Hütte. Das Windrad. Der Brunnen sprudelt über vor klarem Wasser, das sich im Trog sammelt, überläuft, den Hang hinab. Zu beiden Seiten wachsen duftende Blumen. Klein wie seine Finger und doch so gewaltig im Geruch. Der Sonnenaufgang trägt ihn bis zu seinem Nachtlager. Das ist es, was er nun riecht, Nase neben Nase, Stirn an Stirn. Maga greift fester zu, presst sich an ihn. Mit der Zunge auf der Suche nach etwas. Buch antwortet. Er sieht die schwarzen Abgründe auf der Wiese der Trauer verschwinden, überwachsen vom saftigen Gras. Buchs Rumpeln im Bauch findet einen Weg. Entkommt über Lippen, Zunge, Atem in Magas Mund. Zum ersten Mal fehlen ihm die Worte. Dieses Buch hat er noch nicht gelesen. Weder sieht er den staunenden Blick Martins, noch ahnt er, welche Tür aufgestoßen wurde. Ihm ist, als würde er ein leeres Haus betreten. Niemand hat je hier gelebt. Einzutreten macht Sinn.


Sieben grüne Lichter. Maga muss sehr erschöpft sein. Sie schläft seit geraumer Zeit und Buch steht neben Martin. Die Sonne ist fast im Zenit, kleiner geworden und brennt heiß auf sie herab. Martin schwitzt. Trotz des heftigen Fahrtwindes. Die Dünung hat zugenommen, das Boot springt immer wieder in ein Wellental, taucht bis kurz vor der Bordkante ein, aber Martin hält exakten Kurs. Sie schweigen seit Maga sich wieder hingelegt hat. Buchs Augen schweifen umher, suchen das Meer ab, als gäbe es zahlloses Leben dort. Martin kennt den Blick. Es ist der nach innen, den Menschen auf dem Meer oft haben. Auch er. Wenn sie sich fragen, wo in dieser Leere ihr Platz ist. Dann hebt Buch die flache Hand an die Stirn und schaut über den Bug.
»Wann sind wir da?« Martin zeigt auf die Felsenküste auf der rechten Seite.
»Siehst du die Einschnitte in den Felsen?« Buch nickt. »Vorher war ihre Ausrichtung westlich, die dort drüben sind nach Süden gerichtet. Ein deutliches Zeichen, dass wir es geschafft haben. An der Spitze vor uns ist eine kleine Insel. Haben wir sie passiert, drehe ich nach Nordwest in die Bucht von Baltimore. Die Einfahrt in die Bucht ist schwierig bei ablaufendem Wasser. Gut für uns, dass wir mit der Flut um die Landzunge kommen.«
Buch dreht sich zu Maga, denkt an den Kuss und sein Herz schlägt heftig. Es kribbelt, aber tiefer. Nicht im Bauch. Martin klopft auf Buchs Brust.
»Ich weiß, es geht mich nichts an, aber seit wann hast du Gefühle für Maga?« Buch will antworten. Aber was? Wie kann er alles erklären? Mit welchen Worten?
»Ich weiß nicht, Martin. Vielleicht in Carlisle, als ich schreckliche Angst um sie hatte. Das alles macht irgendwie keinen Sinn.« Martin lacht auf.
»Doch, mein Lieber, das macht sogar sehr viel Sinn. Bisher jedoch nahm ich an, dass du eher ein zurückhaltender junger Mann wärst.«
»Ich bin zurückhaltend. Nur das macht Sinn.« Martin runzelt die Stirn. Die Insel vor ihnen wird größer. Zwischen ihr und dem Festland sind kleine Felsplatten sichtbar, die wie Messerschneiden aus dem Wasser ragen, parallel zu Insel und Küste.
»Wie alt bist du eigentlich?«
Buch zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht wirklich. Aber ich müsste zwischen 18 und 19 sein.«
»Maga ist aber auf jeden Fall älter«, stellt Martin fest. »Sicher 35 oder um den Dreh. Stehst auf ältere Frauen, was?« Buch hat keine Ahnung, was Martin meint.
»Ist das Alter wichtig?« Martin grinst und zieht eine Schnute. Sein Bart zittert im Wind.
»Absolut nicht. Wenn man sich verliebt, verliebt man sich. Da gibt es kein Halten.«
»Meinst du, ich bin verliebt?«
Martin lacht und beugt sich so weit vor, dass er mit dem Bauch ans Steuer kommt, das Boot verzieht ruckartig. Er korrigiert nach und lacht immer noch. Maga stellt sich hinter beide, legt Buch eine Hand auf die Schulter und krault seinen Nacken. Er schließt die Augen und lauscht dem Fahrtwind.


Maga klopft auf Martins Schulter. »Fahr dort links an den kleinen Pier.« Er zögert nicht und dreht nach Backbord, reduziert die Geschwindigkeit. Sie erreichen eine kleine Bucht. Langsam lässt Martin das Boot an den Pier treiben. Kurz davor springt Maga mit dem Tau in der Hand hinaus und zieht das Boot auf eine sandige Rampe. Es knirscht. Ein paar Mal wickelt sie das Tau um einen rostigen Eisenpoller. Martin und Buch klettern über den Bug an Land.
»Wir bleiben hier, bis die Nacht kommt«, erklärt sie. »Dann fahren wir in den kleinen Einschnitt direkt gegenüber, gehen an Land und sehen uns um.«
»Das macht Sinn«, sagt Buch. Martin ist schon auf dem Weg zu einem zerfallenen Haus auf der kleinen Anhöhe rechts des Piers. Buch will ihm folgen. Maga hält ihn zurück, stellt sich vor ihn. Graugrüne Augen, das Grün schillert im Sonnenlicht. In Buchs Unterleib kitzelt es. Nichts, was er kennt. Erst seit diesem Tag ist das Kitzeln erwacht. Seit dem Kuss. Den er unbedingt jetzt wiederholen will.
»Ich weiß nicht, was tun«, gesteht er. »All das ist neu für mich. Kannst du mir helfen?«
»Das kann ich«, sagt Maga und küsst ihn. Kurz nur, doch Buch kommt es vor, wie ein halbes Leben. »Komm! Wir gehen zu Martin und essen etwas. Ich habe Hunger.« Sie nimmt Buchs Hand und nebeneinander gehen beide den Hügel hinauf. Maga beginnt, den Arm zu schwingen und Buch lässt es geschehen. Er weiß nicht, was es bedeutet, aber es gefällt ihm. Sie tun es zusammen. Maga und er.
»Maga?«
»Hm?«
»Seit ich dich kenne, verschiebt sich meine Erinnerung. All das Erlebte rutscht einen Hang hinab. Ich vergesse es nicht, aber es bedeutet mir immer weniger. Und auch …« Buch schluckt trocken.
»Und auch die Menschen, die dich begleitet haben«, vollendet Maga den Satz.
»Ja, besonders die Menschen. Sogar Bestemur. Bin ich krank?«
»Nein, auf keinen Fall. Uns allen ergeht es so. Es bedeutet, du bist ein ganz normaler Mensch.«
»Ein ganz normaler Mensch«, wiederholt Buch leise und denkt an die Tränen, das Kribbeln, den heftigen Puls genau jetzt, während er neben Maga geht. »Ich habe geweint, Maga und wenn du mich küsst, kribbelt es in meiner Hüfte. Sehe ich dich, schlägt mein Herz, als wäre ich den ganzen Hang zu Berg hinaufgerannt. Sind das Gefühle?«
»Genau das sind sie.«
»Warum kommen sie jetzt? Warum nicht schon viel früher. Alle anderen haben sie doch auch, wenn sie auf die Welt kommen. Sogar Tals Schafe und Pferd hatten Gefühle, hat Bestemur gesagt.« Sie stehen vor dem Haus. Martin sucht drinnen unüberhörbar alles durch und trägt dann eine lange Bank heraus, geht wieder hinein. Maga setzt sich und zieht Buch neben sich.
»Es gibt wohl niemand, der dir das erklären kann, aber vielleicht war es so, dass der Tod deiner Eltern deine Gefühle zugeschüttet hat. Wie wenn du Samen in die Furche legst, Erde drüber streichst und jeden Tag gießt. Eines Tages kommen Blätter heraus. Mit viel Licht, Wasser und Pflege werden schöne Pflanzen draus. Bei dir hat es eben länger gedauert.«
Buch nickt. Das Bild gefällt ihm. Er ist eine Wurzel im Boden und wartet, bis die Zeit reif ist, um zu sprießen. »Das macht Sinn«, sagt er. Maga blinzelt in die Sonne. Das Grau in ihren Augen hat das Grün verdrängt. »Bist du in mich verliebt, Maga?«
Sie sieht ihn lange an. Martin kommt mit einem kleinen Tisch, stellt ihn vor Magas und Buchs Beine und verschwindet wieder.
»Ich war mir nicht sicher. Mein Gedanke war, dass ich in dir meinen Bruder sehe und suche. Aber auch wenn du ihm ähnlich siehst, bist du jemand ganz anderes. Du bist Buch. Jetzt bin ich mir sicher. Ich bin in dich verliebt. Du bist sanft und zart, naiv …«, sie lächelt. »Furchtbar schlau, ein guter Erzähler und wunderschön.«
»Also gefalle ich dir?«
»Sehr.«
Buch nimmt ihre Hand. »Du mir auch, Maga. Ich denke immer an das grüne Meer, wenn ich in deine Augen schaue.« Maga legt den Kopf auf Buchs Schulter. Martin kommt mit einem Hocker, stellt ihn gegenüber und setzt sich, packt gepökeltes Fleisch aus dem Rucksack und schneidet dünne Scheiben.
»Und das Alter?«, will Buch wissen. »Ist das egal?«
»Völlig egal«, betont Maga.
»Du bist doppelt so alt.«
Maga lacht und küsst Buchs Ohr. »Nicht mehr lange.«


»Du bist dir sicher, dass der Händler noch lebt?«
Martin zuckt mit der Schulter. »Ich müsste lügen. Natürlich bin ich nicht sicher, Maga. Das ist schon sehr lange her. Ich bin damals als Navigator die Strecke Portsmouth-Galway gefahren, bevor Magellan mich dazu überredet hat, bei ihm anzuheuern.«
»Aber Cork und Baltimore liegen doch nicht weit auseinander. Kennst du hier niemand?«
Maga schüttelt den Kopf. »Leider nein, Buch. Unsere hauptsächlichen Handelskontakte waren drei Männer aus Coruna, Cadiz und Genua. Ansonsten haben wir Lebensmittel aus dem Umland von Cork getauscht. Unsere Reise nach Spitzbergen war eine Ausnahme.«
Martin atmet tief ein und aus. »Wir wissen nichts«, sagt er. »Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist das Metallschiff. Bis Galway sind es von hier etwa 160 Seemeilen. Bei zehn Knoten ein knapper Tag. Es ist gut möglich, dass sie schon wieder auf der Rückfahrt sind. Knapp unter Land. Mit ein bisschen Glück, können wir sie abfangen.«
Buch denkt an Åndalsnes. Er hat keine Ahnung, was sie tun könnten. Die Ratlosigkeit ist sinnlos. »Und dann? Was tun wir dann? Wohin gehen wir?«
»Auf den Kontinent«, sagt Maga mit fester Stimme. Sie steckt das Messer in den Tisch und ein Stück Pökelfleisch in den Mund. »Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Früher oder später finden sie uns. Egal ob in Irland oder England. Der Kontinent ist unermesslich groß. Genug Platz. Und die Bäume werden dort ebenfalls wachsen.« Auf Martins Stirn bilden sich Falten.
»Bäume? Was für Bäume?« Maga presst die Lippen aufeinander. Buch legt die Hand auf ihre und drückt.
»In meinem Koffer, Martin. Dort habe ich Samen von Bäumen, die kräftig und zäh genug sind, Hitze und Dürre zu überstehen. Unser Plan war, von Cork aus das Land mit Bäumen zu bepflanzen, Samen zu ernten, an die Menschen verschenken und ihnen zeigen, wie man sie anpflanzt, hegt und pflegt, damit es wieder Schatten gibt, Wälder voller Grün, damit die Welt sich erinnert, was sie einmal war.«
»Scheiße«, entfährt es Martin. »Ich habe keine Ahnung, wie die Welt einmal war. Anders als sie jetzt ist?«
Maga nickt. »Ganz anders, Martin.«
»Wie?«
»Warst du schon einmal verliebt?«
Er starrt auf seine Hände, verschränkt alle Finger ineinander. »Oh ja, und wie.«
»War sie schön?«
»Wunderschön. Rote Haare, weiße Haut und viele Sommersprossen im Gesicht und auch …« Er schweigt. Räuspert sich und schaut zu Buch.
»So wie sie, war die Welt, Martin. Wunderschön. Und das für alle Menschen. Jeder konnte eine eigene Schönheit in ihr entdecken.«
»Wirklich?«
Magas Blick ist ihm Antwort genug. Das Schimmern wird stärker. Eine kleine Träne löst sich und Martin schüttelt den Kopf. »Aber warum ist sie dann so wie jetzt?«
»Warum sie so ist, wie sie jetzt ist, das steht in den Büchern in Cork. Aber nicht, warum die Menschen es so weit haben kommen lassen. Ich glaube …«, Maga fixiert einen Punkt auf dem Tisch und Buch lauscht gespannt. »Ich glaube, sie verstehen Schönheit nicht und ertragen es in keiner Weise, dass etwas schöner sein soll, als sie selbst.« Sie hebt den Kopf. »Denk an die Ordensmänner. Ich habe einen in Carlisle gefragt, was sie gegen uns haben, bevor ich ihm die Kehle durchschnitt. Er sagte: Ihr habt andere Götter. Und ihr sollt keine neben dem einen haben. Damit meinte er unsere Technik. Vielleicht ist das die Antwort, Martin. Es darf keine Schönheit neben unserer eigenen existieren.«
Martin wackelt mit dem Kopf hin und her, als hätte er das Alterszittern, dann schlägt er die Hand flach auf den Tisch. »Was du sagst, bedeutet aber, dass es zwecklos ist, Bäume haben zu wollen, um die Welt wieder schön zu machen. Es bedeutet, dass wir diese Schönheit ebenso wenig ertragen werden, und sie erneut zerstören. Warum also der ganze Aufwand?«
Alle schweigen. Buch denkt an den Mond. Immer ist er über den Menschen. Wenn jemand auf ihm wohnt, sieht er Tag für Tag das, was Maga angedeutet hat. Wie könnte er das aushalten? Die Nacht ist bald angekommen und es wird Zeit, für das Erwachen des Mondes. »Maga? Ist der Mond wie die Erde eine Kugel?«
»Das ist er.«
»Und wie weit ist er von uns entfernt? Steht das in den Büchern der Universität?«
»380.000 Kilometer. Ein Kilometer sind eintausend Meter.« Sie zeigt auf die Lichter von Baltimore. »Sieh da hinüber. Das sind ungefähr eintausend Meter.«
Martin hustet kurz und krault den Bart. »Warum willst du das wissen, Buch?«
»Es ist mir gerade eingefallen. Vielleicht kann ich eines Tages eine Reise zum Mond machen.«
»Eines Tages vielleicht«, sagt Maga. »Ich wünsche dir, dass es gelingt.« Buch lächelt. Die zunehmende Dunkelheit klaut die Farbe aus Magas Augen. Sie werden schwärzer und schimmern nur wenig. »Wir gehen«, sagt sie und steht auf.


Buch hört Martin unten im Boot fluchen. Er hat sich gestoßen. Maga kommt die Rampe hoch, um Buch zu holen. Sie nutzt das Tablet als Licht. Eintausend Meter sind es bis Baltimore. Das könnte man vielleicht schwimmen, wenn man Übung hat. Er hat Martin von diesem Gedanken berichtet, was der mit einem Kopfschütteln abtat, denn die Strömung wird jeden Schwimmer ohne Zögern ins Meer ziehen und niemand hätte so viel Kraft. »Niemand hat so viel Kraft«, sagt Buch leise. »Nicht mal ein Gott?«
Maga kommt den Hügel hoch und stellt sich neben Buch, nimmt seine Hand. Das Tablet taucht graue Felsen und Moos in weißes Licht. Ein Licht, das es auf der Welt nicht gibt. Nicht mal die Sonne leuchtet auf diese Art. Sie hebt es hoch, schaltet das Licht aus. Ein roter Punkt blinkt, es klickt und wird taghell. Auf dem Schirm sieht Buch sich neben Maga stehen.
»Für unsere Erinnerung«, flüstert sie in sein Ohr.
»Ich werde mich immer an dich erinnern, Maga. An alle deine Worte, an jeden Händedruck. Du bist in meinem Kopf.« Er überlegt einen Moment. »Und in meinem Herz.«
»Ich weiß, Buch. Und du bist in meinem Herz.« Sie zieht ihn mit sich. Buch will nicht gehen. Er möchte sie halten. Das Kribbeln spüren. Ihre Wärme. Kraulende Finger im Nacken. Vielleicht können sie noch warten, bis der Mond aufgeht, aber Maga ist schon an der Kante.
»Komm, Buch, wir wollen weiter.«
»Ich komme.«
Ein Sirren. Und ein Geräusch, als reißt jemand ein Ledertuch entzwei. Maga stöhnt. Aus dem Mund kommt ein Gurgeln. Sie schwankt. Das Tablet fällt zu Boden, rutscht den Hang runter. Ein Sirren und ein dumpfer Schlag, gleich einem Stock, den Tal mit einem Hammerschlag in den Sumpf treibt. Maga fällt wie ein alter Weidepfahl, vom Wind umgerissen.
»Martin!«, brüllt Buch so laut es ihm möglich ist. Gebückt kriecht er zu Maga, packt sie unter den Armen und zieht sie den Hang hinab. Rutscht mehr als dass er kontrolliert absteigt. Ein Keuchen hinter ihm. »Lass mich mal! Mach das Boot klar!«
Buch rennt, stürzt, rappelt sich auf, über den Pier. Kein Gedanke an Löcher, Risse, Unebenheiten. Rennen! Mit einem Sprung ist er im Boot, rutscht aus, fällt und steht wieder. Den roten Knopf drücken, die Anzeige beachten. Nur ein Tau. Martin ist schon über ihm mit Maga auf der Schulter. Ein Sirren, gleich zwei Mal. Martin schreit auf und fällt mit Maga vornüber ins Boot. Buch wirft das Tau weg und reißt den Hebel nach hinten. Das Brummen wird laut und mit einem Ruck bewegt es sich rückwärts.
»Nur gerade halten«, ächzt Martin. »Halt es einfach stur gerade, bis wir aus der Bucht sind.«
Buch hält das Steuer gerade. Zwei Mal schlägt etwas gegen die Bordwand. Auf dem Pier stehen Umrisse von Menschen in langen Gewändern. Buch duckt sich. Wieder schlagen diese Dinger gegen Bordwand und Bug, auf die vorderen Planken.
»Hebel ganz nach vorne und Steuer langsam nach links drehen«, ruft Martin. Buch tut genau das. Das Boot macht einen Satz nach vorne und legt sich mit der linken Bordkante fast ins Wasser. Die Ordensmänner bleiben zurück, werden kleiner. »Nicht nach Baltimore! Fahr aufs offene Meer!« Martins Stimme wird schwächer. Buch dreht nach Steuerbord, eine halbe Umdrehung. Er sieht sieben grüne Lichter. Das bedeutet Energie. Das Meer ist groß. Ebenso wie die Geschwindigkeit. Das Boot hüpft wie ein flacher Kieselstein übers Wasser, trifft hart auf, hebt wieder ab. In Buch öffnet sich ein Abgrund. Größer als alle bisherigen Abgründe zusammen. Und tiefer. Doch er ist nicht schwarz, sondern rot wie die Abendsonne. Ein Feuer am Himmel. Nur raus!, denkt er. Raus aus der Bucht! Ein Blick nach hinten. Niemand folgt ihnen. Wie auch? Bei dieser Geschwindigkeit wird ihnen niemand folgen können.


Fünf grüne Lichter. Schaukeln in starker Dünung. Buch muss sich übergeben. Das Pökelfleisch. Er trinkt einen Schluck Wasser, dann schaut er zum rötlichen Mond, der knapp über dem Horizont steht.
»Ich bin allein mit dir«, sagt er. »Und den Toten.« Aus Maga läuft kein Blut mehr und Martins Kleidung hat alles in sich aufgesogen. In seinem Rücken stecken Stöcke aus Holz. Drei Stück. In Magas Rücken ragt eine Spitze heraus. Der zweite Treffer. Der erste hat ein großes Loch in den Hals gerissen. Das Kribbeln ist weg, wie tot das pochende Herz. »Das alles macht keinen Sinn«, sagt Buch laut. Dann steht er auf, fängt sich mit den Händen ab, um nicht umzufallen. Die Knie stützt er gegen das, was Martin Konsole nannte. Buch schaut aufs Meer. Dann schreit er wie noch nie in seinem Leben. Das Meer bleibt unberührt davon. Ein einzelner Schrei kann es nicht daran hindern, Meer zu sein. Keine der Wellen antwortet ihm und der Mond ist viel zu weit weg, als dass der auf ihm wohnende Mann es hören könnte. Der würde sich nur über die Menschen wundern. Keine anderen Götter neben sich haben, denkt Buch. Das hatte Maga gesagt und die Ordensmänner haben es in die Tat umgesetzt. Ohne Zögern. Buch setzt sich auf die Bank, legt sich hin. Das Schaukeln macht ihm nichts mehr aus.
»Und wenn jetzt ein Sturm kommt? Wie jener, der Magellans Schiff in tausend Teile zerbrochen hat. Dann bin ich jedenfalls bei Maga und Martin. Ich werde mich an sie binden mit einem Tau.«
Er dreht sich auf die Seite und legt die Hand auf Magas Wange. Sie ist kalt wie das Meer. Alles Leben ist weg. Aber wohin? Das Klatschen der Wellen gegen die Bordwand lässt ihn müde werden. Er schläft ein.

Schweiß rinnt über Buchs Gesicht. Die Haut brennt. Die Sonne ist heiß wie Bestemurs Esse. Dunst hoch oben am Himmel lässt das Blau fast verschwinden. Buchs Zunge klebt am Gaumen, die Lippen sind aufgesprungen. Salz in der Nase. Es ist überall. Er muss trinken, rappelt sich auf und weiß sofort, wo er ist. Im Nichts. Rundherum Wasser. Kaum Dünung, kein Wind. Am Salz vorbei drückt ein Duft in Buchs Nase. Die Erinnerung kommt. Tote Schafe mit Blauzunge. Sie liegen auf der Weide im Sommer, mit aufgeblähtem Wanst. Jede Bewegung könnte eine zu viel sein. Der Geruch ist widerwärtig, hat Bestemur gesagt. Buch weiß, dass die toten Tiere giftig werden. So geschieht es gerade mit Martin und Maga. Er muss sie loswerden. Ächzend steht er auf, trinkt einen Schluck, dann einen großen, spült den Mund aus, die Nase. Das Salz muss weg. Dann schaut er auf Martin. Wie soll er ihn über die Bordwand bekommen? So kräftig ist Buch nicht. Also erst Maga. Nichts mehr an ihr ist die Frau, die in seiner Erinnerung lebt. Kühl, schon leicht aufgebläht, das Blut schwarz und krustig, das Loch im Hals wie die Ränder eines herausgerissenen Torfklumpens. Aus ihrem Rucksack holt er das Messer. Die Daumen am Gelenk. Es wird sein, wie das Abtrennen der Hinterläufe bei Tals Schafen. Er tastet den eigenen Daumen, fühlt das hintere Gelenk, bewegt es und findet einen Punkt. Ruhig setzt er das Messer an Magas Hand. Es schneidet wie in Pökelfleisch. Zäh, ein wenig reißen die Fasern, das Gelenk wird sichtbar. Buch überdehnt es, setzt an der Sehne an und schneidet hinein. Das restliche Fleisch, die Haut, weg ist der Daumen. Das wiederholt er an der zweiten Hand, steckt beide Daumen in die Westentasche, dann nimmt er die Beine, hebt sie an, dreht Maga zur Bordwand, lässt die Beine wieder los. Die Knie liegen auf der Kante. Er packt beide Schultern, dreht sich und drückt mit dem Rücken gegen ihren. Stück für Stück rutscht er unter sie, dann stemmt er sich hoch. Kaum hörbar taucht sie ins Wasser, zwei oder drei Handbreit unter der Oberfläche, treibt wieder auf und entfernt sich langsam vom Boot. Schließlich versinkt, was von ihr übrig ist. Buch schöpft Meerwasser, um das Blut abzuwischen, aber bald ist es ihm egal. Martin ist das Problem. Er wiegt doppelt so viel wie Maga oder Buch.
»Das muss ich anders lösen«, sagt er zu Martins Körper. »Ich möchte das nicht. Du musst mir verzeihen.«

Mit einem Ruck reißt er einen der Holzstöcke aus Martins Rücken. Lang wie Buchs Unterarm, sehr stark, die Spitze im Feuer gebrannt und gehärtet, am Ende drei Stück dünn geschabtes Holz, wie Blätter, mit Pech angeklebt. Buch legt das Ding auf die Konsole. Dann schneidet er Martins Kleidung in Stücke, wirft sie über Bord, bis der nackte Körper vor ihm liegt. Als er das Messer ansetzt, öffnet sich ein Abgrund in ihm. Wenn er hineinschaut und den Boden entdeckt, dann können Tränen kommen. Es wird ihm weh tun, das zu tun, was er vorhat. Doch der Abgrund ist schwaz, kein Boden. Ein Loch, mehr nicht. Das Fühlen hat sich wieder zurückgezogen und Buch ist dankbar drum. Er durchtrennt Martins Hals, fährt mit der Hand unters Genick und sucht einen geeigneten Wirbel. Mit zwei festen Schnitten ist er durch. Den Blick abgewandt, wirft er Martins Kopf über Bord. Tief einatmen, die Luft halten. Das tue ich, wenn ich mich beruhigen möchte, hat Bestemur manchmal gesagt, wenn es ihr zu viel wurde. Die Arme folgen. Buch schwitzt enorm. Dann die Unterschenkel.
»Du machst es mir nicht einfach, Martin. Und Erfahrung habe ich auch nicht mit so dicken Knochen und Gelenken.«
Ab und zu kracht und knackt es. Buch lässt einen Schrei übers Meer. Wo kommt nur das ganze Blut her? Wie viel von diesem roten Saft kann ein Mensch in sich haben? Und warum riecht er nach den alten Eisenpfannen? Ist Martin denn nun leichter? Kann er ihn anheben? Mit letzter Kraft befördert Buch den Torso ins Meer, fällt erschöpft gegen die Konsole und gibt sich dem Schaukeln hin. Daheim würde er jetzt im Bach sitzen und das Wasser beobachten, wie es sich teilt, um ihn herum fließt, den Dreck mit sich nimmt. Doch hier … seinen Durst kann er mit dem Meer nicht löschen, aber mit Leichtigkeit bringt es die Dünung fertig, dass er eindöst. Wie lange, weiß er nicht.

Wie viel Zeit vergangen ist, kann er nicht sagen, aber nach drei Schluck Wasser steht er auf, klettert über die Konsole auf die vorderen Planken. Mit Wucht rammt er den kleinen Stock aus Martins Rücken ins Holz, klettert zurück, schöpft Meerwasser ins Boot und vermischt es mit dem krustigen Blut. Wieder und wieder streicht er über die Mixtur, nimmt weiteres Blut dazu bis er etwas hat, das weichem Wachs ähnelt. Vorsichtig kratzt er es in die Handschale, klettert über die Konsole und zieht mit zwei Fingern eine farbige Linie vom Stock zum Bug, peilt über Linie und Stock zur Konsole und malt die nächste Linie. Er wiederholt es so oft, dass die Planken bald aussehen, wie Martins Kompassrose. Mit einer Schnur aus Magas Rucksack spannt er eine Linie von Konsole zum Stock bis zum Bug. Dann wäscht er sich die Hände und riecht daran. Eisen und Salz. Buch drückt auf den roten Knopf, schiebt den Hebel etwas vor und dreht am Steuer. Der Schatten des Stocks wandert über die roten Linien. Seine Länge sagt Buch, dass die Nacht bald kommen wird. Er weiß, das Boot giert, beständig abgetrieben von der Strömung. Wie Magellans Schiff. Die Nacht muss vorüberziehen. Buch hängt seine Weste über die Konsole und legt sich darunter. Es darf kein Sturm kommen.


»Ich weiß nichts«, sagt Buch. Im Traum oder wach. Das zu erkennen, fällt ihm schwer. Der Wind hat aufgefrischt, am Himmel zeigen sich Schlieren und Schafwolken. Regen wird kommen. »Bestemur!« Er lauscht. »Bestemur! Kannst du mich hören?! Ich brauche deine Hilfe!« Die letzten Schlucke Wasser trinkt er langsam. Auf den Unterarmen klebt eine weiße Salzkruste. Feine Linien, wie die Schärenlandschaft vor Kristiansand. Die Bäume fallen ihm ein. Er nimmt Magas Daumen aus der Tasche und hält sie an die Mulden auf der Oberseite des Koffers. Es klickt. Buch öffnet. Das Tablet liegt noch auf der Rampe. Die Ordensmänner werden es mitgenommen haben. Den oberen Boden nimmt er raus, mustert ihn genau. Ein blauer Stoff, sonst nichts. Mit Schwung schleudert er ihn ins Meer. Vor sich sieht er den Beutel. Wie Gold. Nein, mehr wie Gold. Was sich darin befindet, kann die Welt verändern. Der Weg nach Hause ist möglich, doch der Weg zurück in die Zeit niemals. Mit diesem Beutel aber schon. Buch setzt sich vor die Konsole. Feucht werden dürfen sie nicht, hat Maga gesagt. »Ich lege sie wieder zurück, Maga. Aber ich weiß nicht, ob die Bäume je wachsen werden.« Buch verschließt den Koffer, steckt die Daumen in den Hosensack und wartet.

Die Folie fällt ihm ein. Vorsichtig zieht er sie aus Magas Rucksack, entfaltet sie und begutachtet eine schwarze Schnur die in einem Kästchen endet. Aus ihm kommen zwei weitere Schnüre. Lassen sich damit die Batterien des Bootes aufladen? Buch sucht vergeblich nach etwas, in das er die Schnüre stecken kann. Im Koffer sind zwei Löcher. Dort passen sie rein. Aber diese Löcher gibt es sonst nirgends auf dem Boot. Immer wieder blickt er zum Stock. Je mehr er grübelt, desto eher vergisst er den Durst, die trockene und verklebte Mundhöhle, die Salzkruste vor der Nase. Als die Hitze unerträglich wird, schaut er zum Stock. Der Schatten ist kurz. Buch wartet. Er wird nicht kürzer. Schnell drückt er den roten Knopf, legt den Hebel um und steuert so, dass der Schatten genau zum Bug zeigt, die Sonne im Rücken.
»Ich fahre jetzt nach Norden«, sagt er in den Wind. »Aber weil ich giere und weiß, dass alles Land auf Steuerbord liegt, werde ich nach rechts drehen.« Das tut er und der Schatten wandert zwei Blutstriche auf die rechte Bootsseite. Vier grüne Lichter. »So viel Energie habe ich noch. Es dauert nicht lange, dann ist nichts mehr da und in mir auch kein Wasser. Ich werde sterben.« Irgendwo hinter ihm ist Maga in der Tiefe. Buch fragt sich, wie weit es nach unten geht. »Ich weiß nichts.«

Drei Lichter. Buch schaut geradeaus. Er ist kurz davor, noch einen Strich nach rechts zu drehen. Warum brennt der Nacken so furchtbar? Buch will trinken. Eine Welt voll Wasser und es schmeckt fürchterlich. Länger und länger wird der Schatten. Er hält den Kurs. Wandert er aus, korrigiert Buch nach. Doch er merkt, dass seine Augen dem Strich immer weniger folgen können. Mal wird er breiter, dann verschwindet er. Buch muss blinzeln, über die Augen fahren hat er nur einmal getan. Das Salz brannte ganz furchtbar. Langsam bemüht er sich, eine Schnur durch einen Metallring zu fädeln, dann ums Steuer, zur anderen Seite in einen zweiten Ring, dann ein Knoten. Er probiert zu drehen. Das Steuerrad bewegt sich nicht mehr. Buch setzt sich vor die Konsole. Bestemurs Gesicht lächelt ihn an. Der ganze Kopf schält sich aus einem Nebel, den er zuvor nicht bemerkt hat.
»Du sollst Geschichten erzählen, nicht auf einem endlosen Meer sterben. Das war nicht mein Plan.«
»Ich habe dich enttäuscht, Bestemur.«
»Nein, hast du nicht. Mach dir keine Gedanken.«
»Etwas anderes, als mir Gedanken machen, kann ich aber nicht.«
»Ich weiß. Ruh dich aus jetzt.«


Es sind die Toten, die springen. Und immer, wenn sie hoch genug springen, tauchen ihre Köpfe für einen Atemzug aus dem Nebel auf. Da ist Tal, dahinter Berg, Tausch, Bestemur, Magellan und Martin. Sogar Johanna ist zu sehen. Selten, aber deutlich. Als würden sie die Oberfläche eines Sees durchstoßen, nach Luft schnappen, um wieder zu tauchen. Nur Maga bleibt verschwunden. Buchs Unterleib krampft. »Vielleicht ist sie schon in meinem Herzen«, sagt er zu den Köpfen.
»Der Junge redet endlich.«
»Mach seine Lippen feucht.« Buch spürt ein nasses Tuch. Dankbar versucht er den Stoff mit der Zunge einzufangen. Oder redet er sich diesen Versuch nur ein? Maga hat gesagt, er soll vom Wasser trinken. Aber Buch kann nur wiederholen, dass sie in seinem Herzen wohnt.
»Ich verstehe nicht, was er sagt. Von einer Maga ist die Rede. Dass sie in seinem Herz ist.«
»Vielleicht seine Liebste. Bei dem ganzen Blut auf dem Boot müssen mindestens noch zwei mitgefahren sein.«
»Aber nein«, sagt Buch. »Sie waren schon tot und ich musste sie über Bord werfen.«
»Hol Lawrence. Sag ihm, der Junge ist wach. Er soll den Doc mitbringen.«
Buch lauscht. Lawrence. Und was ist ein Doc? Ist das ein anderes Wort für Doktor? Also ein Heiler? Wie in den Büchern? Kann ich die Augen aufmachen? Buch öffnet die Augen. Es ist angenehm dunkel. Drei Kerzen brennen auf einem Tisch und der bewegt sich. Wie Buch.
»Ich bin auf einem Schiff«, stellt er fest.
»Genau«, sagt die Stimme. »Auf der Endeavour.« Buch ist es egal, wo er sich befindet. Jedenfalls nicht mehr allein in einem Boot mitten auf dem Meer. Eine Metalltür ist zu hören. In den Kerzenschein tritt ein Mann mit grauem Bart. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtet er Buch, setzt sich auf die Kante der Liege und tastet alles ab, was offenbar wichtig ist, zieht Buchs Lider auseinander, leuchtet mit einem Licht hinein. Nichts tut Buch weh, nur die Haut brennt im Nacken.
»Scheint alles in Ordnung zu sein. Glück gehabt. Einen halben Tag länger unter der sengenden Sonne, und es wäre um dich geschehen gewesen, mein Junge.« Buch blinzelt. Sein trockener Mund fühlt sich nicht nach sprechen an. Also nickt er schwach. »Wascht ihn mit warmem Wasser. Auf keinen Fall kaltes. Dann reibt ihn mit Öl ein. Nehmt von dem Olivenöl.«
»Was?! Das ist teure Ware! Lawrence wird darüber nicht sehr erfreut sein.«
»Als Gegenwert hat er ein gut erhaltenes Boot mit Akkumulatoren und elektrischem Antrieb. Das ist wesentlich mehr wert als eine Flasche Olivenöl.«
»Auch wieder wahr«, sagt die Stimme im Hintergrund. »Ich hole das Wasser. Aber waschen werde ich ihn nicht. Das soll meinetwegen eines der Mädchen erledigen.«
Buch ist das alles egal. Er will schlafen. Und von Maga träumen.


Das Bett und alles um ihn bewegt sich auf und ab. Geht es abwärts, kribbelt es in Buchs Bauch. Er muss würgen, dann husten und die Augen öffnen. Der Würgereiz treibt ihn in die Senkrechte. Noch immer die Kabine. Licht fällt durch eine runde Öffnung. Die Kerzen sind weg. Aus dem Halbdunkel schält sich ein Mann. Graubärtig, aber nicht der Doc. In der Hand einen Stuhl, den er neben Buchs Liege stellt und sich setzt.
»Man nennt mich Lawrence. Ich bin der Kapitän der Endeavour. Und du bist?«
»Man hat mich Buch genannt, weil ich Geschichten erzählen kann.« Lawrence blickt ihn ohne Reaktion an. Als hätte er schon allerlei merkwürdige Namen gehört.
»Buch, das Boot, in dem wir dich gefunden haben und das jetzt auf dem Achterdeck vertäut ist, gehört nicht dir, oder?«
»Nein. Es gehörte den Menschen in Cork. Doch die Ordensmänner haben Cork niedergebrannt, uns verfolgt bis nach Baltimore, Maga und Martin getötet. Ich konnte entkommen und musste beide über Bord werfen.«
»Verstehe.« Lawrence nickt. »Das war aber nur das Ende der Geschichte, nicht wahr? Erzähl sie mir von Anfang an.«
Buch erzählt. Von Anfang an. Kein einziges Mal wendet Lawrence die Augen von ihm ab. Zwei oder drei Mal blinzelt er. Sein Atem ist ruhig. Als Buch geendet hat, zieht er unter dem Bett den Koffer hervor. »Das ist der Koffer, von dem du erzählt hast?« Buch nickt. Aus der rechten Jackentasche nimmt Lawrence ein Tuch, wickelt es auseinander. Magas Daumen liegen darin. Buch schluckt. Die Abgründe sind wieder da. »Du hast gesagt, deine Beschützerin hat den Koffer mit ihren Daumen geöffnet?«
»Ja, das stimmt.«
»Zeig es mir.«
Buch nimmt die Daumen, einen in die linke, den anderen in die rechte Hand. Sie sind eiskalt und sehr fest. Nichts mehr dran, was an Magas Streicheln erinnert. Lawrence legt den Koffer auf Buchs Schoß und der presst beide Daumenkuppen in die Mulden. Es klickt. »Offen.« Lawrence klappt den Deckel auf und sieht hinein. Der blaue Beutel. Vorsichtig holt er ihn heraus, zieht die Schnur auseinander und kippt den Inhalt ins untere Fach. Die Samen der Bäume. Runzlige Haut, hellbraun, manche dunkelbraun, unterschiedliche Formen.
»Daraus können Bäume wachsen?«
»So steht es auch in einem der Bücher, das ich gelesen habe. Formen und Farben stimmen überein.« Lawrence wirft den Beutel ebenfalls in den Koffer und lehnt sich an. Mit beiden Händen fährt er über sein Gesicht. Reibt hin und her und atmet lautstark aus.
»Es macht dir nichts aus, dass ich das Boot als Prise behalte?« Prise … Buch erinnert sich. Eine Art Belohnung, etwas mit Wert.
»Nein. Es ist ja nicht meins.«
»Mit dem Koffer kann ich nichts anfangen. Schließlich kann ich ja nicht immer mit den Daumen in der Tasche herumlaufen. Und in einem halben Jahr wirst du mit ihnen nichts mehr öffnen können.«
»Es gibt einen Akku im Koffer. Die Folie zum Laden haben Sie sicher gefunden. Es muss nur jemand ein anderes Schloss einbauen. Er hat in jedem Fall Wert. Eine gute Prise«, sagt Buch. Lawrence legt den Kopf schräg und blickt von Buch zum Koffer.
»Einverstanden.«
Buch kann die Augen des Kapitäns im Halbdunkel nur schlecht erkennen, aber sie sind eindeutig blau. Nur wenigen Menschen ist er bisher begegnet, deren Augen blau waren. Augen wie der Himmel, wenn die Sonne scheint. »Ich habe Fragen«, sagt er und legt Magas Daumen auf die Liege.
»Nur zu, mein Junge.«
»Wohin fahren wir?«
»Wir kommen aus Cardiff und sind unterwegs nach Coruna.«
»Im ehemaligen Spanien«, stellt Buch fest. Lawrence macht eine anerkennende Geste. »Und wann fahren Sie wieder zurück?«
»Gar nicht. Der Orden hat die meisten größeren Siedlungen und Städte in Irland eingenommen. Jetzt widmet er sich der walisischen Küste. Und nichts wird ihn aufhalten.«
»Der Orden …«, wiederholt Buch leise. »Warum wird ihn niemand aufhalten?« Lawrence lacht auf. Endlich eine Reaktion. Mehr als nur das stille Starren mit blauen Augen.
»Wer sollte das tun? Sie sind straff organisiert, sind geübt im Kampf, werden immer mehr. Wir anderen haben genug mit uns selbst zu tun.«
»Ich möchte anheuern«, erklärt Buch. Lawrence runzelt die Stirn.
»Was habe ich davon?«
»Ich kann mir alles merken. Egal wie viel, egal was, egal wo. Ich weiß alles, noch Jahre später. Sie handeln? Ich werde ihr Buch sein. Ihre rechte Hand.«
»Hoppla! Große Worte, mein Junge! McMahon! Hol unser Warenbuch!« Erst jetzt sieht Buch den kleinen Mann an der hinteren Wand. Einen schwarzen Umhang um sich gewickelt. Die Tür geht auf und er verschwindet. Lawrence lächelt. Johanna fällt ihm ein. Freundliche Worte, sich kümmern, aber den Wert eines Handels immer im Hinterkopf. Der kleine Mann kommt zurück, gibt Lawrence ein dickes Buch, eingebunden in speckiges Leder.
»Hier, mein Junge. Die ersten dreißig Seiten. Bis morgen. Beweis es mir.«


Buch geht langsam über das Deck. Die Steuerbordseite zum Bug, auf der Backbordseite zurück. Drei große Masten und ein Jibboom, an dem vier Dreiecksegel festgemacht sind. Den Begriff hat der Mann namens Patrick erwähnt, der vorne unter einem Tuch sitzt und Taue repariert. Die Endeavour sei sehr alt, aber in Coruna wieder seetüchtig gemacht worden. Zwei Freunde des Kapitäns haben dort eine große Werft. Die Welt ist viel größer als ich dachte, war Buchs Antwort, womit Patrick nichts anzufangen wusste. Ein Nicken samt Stirnrunzeln war die einzige Reaktion. Buch zieht das speckige Warenbuch unter der Weste hervor. Er hat gelesen, bis der Schlaf kam. Fast sechzig Seiten geschafft. Unter dem erhöhten hinteren Deck ist ein Zwillingssteuerrad, von zwei Männern bedient. Der Kompass ist dazwischen montiert. Ein Kurs von 190 Grad liegt an. Buch nimmt den rechten Aufgang zum Oberdeck. Eine Glocke hängt dort. Am Heck sind Leinen gespannt, an denen Hosen, Pullover und Westen trocknen. Buch lehnt an das Holzgeländer und schaut auf das Mitteldeck. So viele Männer und Frauen. Der Wind verwirbelt seine schwarzen Haare, die schon Armeslänge haben. Er hat unter Deck eine Frau gesehen, die Haare schneidet. Kurze Haare machen Sinn, denkt er. Wie Maga. Das wird mich mit ihr verbinden. Nur sie und ich werden kurze Haare haben. Buch geht nach unten, durch einen großen Raum mit Hängematten, auf einem Gitter, das den Blick in die Laderäume erlaubt. Felle, Kisten, Fässer. Die Endeavour liegt tief im Wasser. Er weiß, dass er auf diesem Schiff bleiben will. Sie soll ab jetzt seine Welt sein.

»Was kann ich für dich tun?«
Buch schaut am Vorhang vorbei in den durch Tücher und Kisten abgetrennten Bereich. Ein Stuhl und darunter jede Menge Haare.
»Haare schneiden?«
»Natürlich Haare schneiden, aber in welcher Form? In welcher Länge soll ich abschneiden? Um deinen Bart muss ich mich ja nicht kümmern. Da wächst ja nichts.« Buch streicht über das Kinn.
»Das stimmt. Also dann bitte Haare schneiden. Ganz kurz.« Er bemisst eine Länge zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Das ist sehr kurz.«
»Ich möchte es so.«
»Und was bekomme ich dafür?«
»Eine schöne Geschichte.«
Sie sieht ihn einen Moment an, öffnet und schließt die Schere ein paar Mal. »Na gut«, antwortet sie schließlich. »Eine Geschichte habe ich schon lange nicht mehr gehört. Setz dich! Wenn sie mir nicht gefällt, musst du hier saubermachen.« Buch nimmt Platz. Von hinten bekommt er ein graues Tuch übergeworfen. Der erste Schnitt. Es ziept. Vielleicht muss die Schere geschliffen werden. Er konzentriert sich auf das, was er vor langer Zeit gelesen hat.
»Ich erzähle dir eine Geschichte von zwei Kindern. Ein Junge, ein Mädchen. Sie heißen Hänsel und Gretel und sind Bruder und Schwester.« Die Haare fallen und Buch erzählt ausführlich. Vom Aussetzen der Kinder, dem Legen der Spur und dem erneuten Aussetzen, der menschenfressenden Hexe, der Gefangennahme und dem Mästen des Hänsel bis zum Tod der Hexe im Ofen. Am Ende sind sie wieder beim Vater. Buchs Haare fallen nach allen Seiten. Es zwickt und kneift, die Frau ist still. Als sie fertig ist, stellt sie sich vor Buch, schaut ihn an.
»Das war die schlimmste Geschichte, die ich je gehört habe«, bringt sie mit leiser Stimme heraus. »Wer tut denn so was seinen Kindern an?«
»Ich weiß nicht«, erwidert Buch wahrheitsgemäß. »Aber es ist ein Märchen. Und ich habe gelesen, dass Märchen nur geschrieben wurden, um den Menschen zu zeigen, wie man es nicht macht.«
»Ich glaube, das hat nichts genutzt«, sagt sie und schiebt mit den Füßen die Haare zusammen. »Eine Menge Haare waren das. Ich werde sie dem Seiler geben, der kann damit Taue reparieren.« Buch staunt. Taue reparieren mit seinen Haaren?
»Ich muss also nicht saubermachen?«
»Nein. Du hast mich gut unterhalten.«


Vor Lawrence auf dem Tisch liegt das Warenbuch. Seine Kajüte hat nicht die Größe von Magellans Raum. Der zentrale Tisch kaum die Hälfte, vier Stühle und ein Kartentisch auf der Backbordseite, daneben stehen zwei Bücher in einem Regal. Die Buchstaben auf den Buchrücken leuchten golden. Dante Alighieri – Divina Commedia steht auf einem. Daneben ist ein komisches Ding zu sehen, ein Gerät vielleicht, das Buch nicht kennt. Es sieht kompliziert aus und ruht in einer Schale aus mit Stoff beschlagenem Holz. Lawrence räuspert sich. Rechts von ihm sitzt McMahon. Der Mann im schwarzen Umhang.
»Die Stunde der Wahrheit, mein Junge«, sagt Lawrence, schlägt das Buch und schiebt es nach rechts. »Hast du die 30 Seiten gelesen?«
»55 Seiten. Auf Seite 55 steht unten rechts, dass der Händler Erikson tot und sein Nachfolger ein Idiot ist.«
»Inzwischen ist sein Nachfolger ebenso tot«, stellt Lawrence fest. »Mich interessiert Seite 23. Die ersten zehn Einträge.« Buch blättert in Gedanken bis Seite 23 und zitiert die ersten zehn Einträge. »Seite 18, der fünfte Eintrag von unten.« Buch geht im Kopf fünf Seiten zurück.
»Pech, zwei Fässer, von John William, bestimmt für die Werft in Cadiz.«
»Such du was aus, McMahon«, sagt Lawrence. Das tut er, fragt. Buch springt im Kopf zu den gewünschten Seiten, zählt auf und wartet. Lawrence beugt sich vor.
»Gestern habe ich etwas gesagt. Warum wir nicht zurückfahren. Erinnerst du dich?«
»Sie haben gesagt: ‚Gar nicht. Der Orden hat die meisten größeren Siedlungen und Städte in Irland eingenommen. Jetzt widmet er sich der walisischen Küste. Und nichts wird ihn aufhalten.‘«
Lawrence presst die Fingerspitzen beider Hände gegeneinander. »Was du liest und was du hörst, das kannst du dir alles merken, was?«
»Nicht nur das«, sagt Buch. »Inzwischen kann ich auch darüber nachdenken, ob sich aus dem, was ich weiß, nicht andere Möglichkeiten ergeben.« Lawrence beugt sich vor.
»Wie meinst du das?«
»Im Warenbuch steht, dass sie um so weniger für Schaffelle bekamen, je mehr davon von anderen Händlern am Zielort angeliefert wurden. Anstatt zwei Gallonen Olivenöl, nur anderthalb.«
»Das ist der Lauf der Welt, Junge. Trifft zufällig einen Tag zuvor ein Schiff aus dem Osten ein, dann ist das Pech.«
»Dann nehmen wir an, das Schiff aus dem Osten trifft nicht ein. Dann bleibt der Gegenwert hoch. Zu wissen, wann ein Schiff mit welcher Ladung woher kommt, ist dann wie Gold. Wissen ist etwas wert. Es ist denkbar, in einem großen Haus Waren zu lagern, um sie knapp zu halten. Gibt es nämlich zu viel davon, sinkt der Wert. Sie müssen verknappt werden. Fragen die Menschen wieder nach, etwa im Winter, steigt der Wert. Wir liefern und können den Wert bestimmen.«
Lawrence kratzt sich ausgiebig den Bart, schaut zu McMahon. Der schiebt die Lippen vor und zuckt mit den Schultern. Lawrence nickt. »Geh nach oben an Deck, Junge. Frische Luft schnappen. Ich komme gleich.«


Aus dem Dunst schälen sich Linien, Schatten. Entfernte Berge. Buch steht auf der Backbordseite und starrt nach unten auf das am Rumpf vorbeiziehende Wasser. Wirbel entstehen und verschwinden, die Gischt kräuselt sich, ein feines Gespinst aus Wassertropfen schafft es immer wieder bis zu Buchs Gesicht. Er zieht Magas Beutel aus der Weste und schaut hinein. Ich habe es versprochen, erinnert er sich. Ihn nach Cork zu bringen. Aber niemand mehr ist dort. Und von Magas vielen Büchern wird er kein einziges lesen können. Das Wissen ist verbrannt.
»Wenn du auf meinem Schiff anheuern willst, musst du dir einen anderen Namen zulegen.« Buch spürt eine Hand auf der Schulter. Ein Bart neben sich. Lawrence schaut ebenfalls aufs Wasser. »Wir nähern uns Asturien. Beim übernächsten Schlag sind wir in Coruna.« Einen Namen. Welchen Namen sollte er sich geben? Erst Namenlos, dann Buch … und jetzt? »Was soll mit diesen Baumsamen geschehen? Auf dem Schiff nutzen sie dir nichts.«
»Ich weiß«, sagt Buch. »Maga ist tot. Ihre Leute sind tot. Niemand will Bäume. Eine alte Welt gibt es nicht mehr. Ich kann zurück nach Åndalsnes, aber nicht zurück in der Zeit. Nicht, wenn nicht alle Menschen mitgehen.«
»Das ist wohl wahr, mein Junge.«
Buch dreht den Beutel um. Alle Samen kullern heraus, hinab ins blaue Wasser. Er lässt den blauen Stoff los. Einen Atemzug noch kann er ihn sehen, dann hat ihn die Gischt zu sich genommen.
»Ich frage dich jetzt nicht, warum du das getan hast. Aber ich will wissen, warum du bei mir bleiben willst?« Buch stellt sich aufrecht, drückt den Rücken durch.
»Neben dem Kartentisch ist ein Regal. Dort habe ich zwei Bücher entdeckt. Auf einem steht ein Name. Dante Alighieri. Ich werde Dante heißen.« Lawrence grinst breit. Sein Bart verformt sich.
»Das geht in Ordnung, Dante. Du wirst mein Lademeister. Ich hatte noch keinen, weil ich nur mir selbst traue. Doch … warum willst du aufs Meer? Auf ein Schiff? Ich rieche noch etwas anderes.« Buch ahmt Magas Lächeln nach.
»Ich will, dass wir viel besitzen. Viel mehr als alle anderen zusammen. Mehr Schiffe, mehr Waren, mehr Häuser, in jedem Hafen einer von uns, damit wir immer alles wissen. Und wenn ich denke, es ist genug, dann werde ich Männer bezahlen, um den Orden von der Erde verschwinden zu lassen. Nur das macht Sinn.«
Lawrence zieht die Augenbrauen nach oben. »Nun, Rache kann durchaus sinnvoll sein. Da gebe ich dir recht. Aber warum willst du überhaupt Rache?«
»Ich wurde geliebt und ich habe geliebt. Das hat man mir genommen.«

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