Paul und die Jungs | Kapitel 8

Wer schert sich drum

»Du machst dich rar«, beschwert sich Andi und steigt aus dem Bus, direkt vor meine Füße, blickt zu mir auf. »Das finde ich nicht gut.«
»Ich weiß. Tut mir leid.«
»Okay, Entschuldigung akzeptiert«, sagt er und nickt. »Aber deswegen weiß ich immer noch nicht, warum das so ist.«
»Na, aus demselben Grund, warum du dich rar machst, seit du ne Freundin hast.« Er kneift ein Auge zu.
»Ich rufe dich hundert Mal an, du rufst nicht zurück. Soll ich etwa warten, bis der Herr sich Zeit nimmt?« Er umrundet mich und marschiert Richtung Schulhof. Ich suche einen Grund, um wütend auf ihn zu sein. Da ist jedoch keiner. Alles was ich an Gründen entdecke, ist auf meinem Mist gewachsen. Ich bin nicht sicher, ob er das alles nachvollziehen könnte. Wenig begeistert von den kommenden sechs Stunden, klemme ich die Tasche unter den Arm und folge ihm. Stur wie er ist, geht er zielstrebig und zügig zum Haupteingang, verliert sich bald zwischen den anderen Schülern. Geplapper um mich herum, Lachen, Panik aufgrund nicht gemachter Hausaufgaben, aufgeregte Fünftklässler, die Großen aus der Dreizehn zeigen Gelassenheit. Kaum habe ich die Aula halb durchquert, ist am Eck zur Verwaltung Rektor Kurz zu sehen und ich ahne schon, nach wem er Ausschau hält. Seine winkende Hand ist deutlich sichtbar, der Blick trifft mich. Ich verlasse den Strom der Menschen und quere zum Hausmeister-Kabuff, an dessen Ecke er wartet.
»Herr Konstantin …«
»Herr Kurz.«
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihre Leistungen etwas nachgelassen haben.« Das will er von mir? Mir sagen, meine Leistungen hätten nachgelassen? »Das ist die Oberstufe, Herr Konstantin. Der Spaß ist vorbei.« Ich nicke. »Im Übrigen finde ich, dass Sie der Bezeichnung ‚langhaariger Bombenleger‘ mehr und mehr entsprechen.«
»Woher wissen Sie, dass ich in meiner Freizeit Bomben lege?« Er verdreht die Augen, hebt die Unterarme und formt die Hände zu Krallen. Damit möchte er vielleicht nach mir greifen, begnügt sich aber mit etwas Unsichtbarem.
»Das war doch nur eine Metapher, mein Gott.« Ich kann beruhigt lächeln.
»Sie dürfen gerne Heinrich zu mir sagen, Herr Kurz.« Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand greifen an die Nasenwurzel. Kurz stöhnt und hält die Augenlider etwas länger geschlossen. Dann wird sein Gesichtsausdruck umso entschiedener. Eine Hand beschwört förmlich, was nun kommt.
»Was ich damit sagen will: Gehen Sie zum Friseur! Scheren Sie die Matte! Ein bisschen können auch Sie auf Ihr Äußeres achten!«
»Ach so … sagen Sie das doch gleich. Nächste Woche hab ich nen Friseurtermin. Und mein momentaner Leistungsabfall ist analog zu meinem Biorhythmus. Ich bin grad in einer Meditationsphase und muss mich sammeln.« Ich hoffe, er fühlt sich auf den Arm genommen.
»Zu meiner Zeit wäre ihre Bemerkung Anlass für einen Schulverweis gewesen«, empört er sich. »Da gab es dann den Arbeitsdienst oder gleich die Wehrmacht. Das wissen Sie hoffentlich!« Er wird rot. Kleine Spuckebläschen bilden sich an den Mundwinkeln. Das Gemurmel meiner Mitschüler tritt in den Hintergrund. Oder werden sie leiser? Kurz ist ein Choleriker. Seine Anfälle oft spontan, wie aus dem Nichts kommend. Meistens entschuldigt er sich, manchmal zieht er nur schweigend von dannen.
»Natürlich weiß ich das, Herr Kurz. Hab ich alles nachgelesen in Büchern. Leider haben wir es nicht in Geschichte durchgenommen.« Er kocht.
»Mir würde es genügen, wenn Sie einfach mal wie ein guter deutscher Junge in die Schule kämen. Gut angezogen, gut frisiert, mit Anstand und Höflichkeit«, presst er um Haltung bemüht leise hervor.
»Okay. Mach ich«, ist meine Antwort und wende mich schnell ab, tauche unter im Fluss der Mädchen und Jungs. In einer Minute klingelt es. Englisch.


Es hat fünf Schulstunden gedauert, bis meine Entschuldigung Andis Herz erweichen konnte. Dabei hat sicher geholfen, ihm alles zu gestehen, was seit vielen Wochen einem Sturm ähnlich durch mein Inneres zieht. Seine Reaktion war Schweigen. Ein gutes Zeichen. Schweigt Andi, muss er nachdenken. Und natürlich verdauen. Meine Zweifel, vielleicht auch Ängste, Jungs eventuell genau so zu mögen wie Mädchen, hat ihn aus dem Tritt gebracht. Einen Zentimeter zurückweichen lassen, als er es hörte. Jetzt steht er in der Telefonzelle, ruft seine Mutter an und fragt, ob sie noch einen Teller für mich mit decken könnte, denn bei mir fiele das Mittagessen heute aus. Dann sitzen wir im Bus und schweigen. Herr Kurz fällt mir ein. Ich solle doch ein guter deutscher Junge werden, waren seine Worte.
»Sag mal, Andi, dein Vater ist doch im Schützenverein und hat immer so komische Klamotten an, so jägermäßiges Zeug …« Sein Gesichtsausdruck lässt mich grinsen. Er hält mich in diesem Augenblick für völlig verrückt. »Keine Angst, ich drehe nicht durch. Kurz hat mich heute Morgen zu sich gewunken. Du bist ja wie ein Blöder vorausgeeilt, sonst hättste das mitbekommen.«
»Und?«
»Er hat sich beschwert, dass ich wie ein ‚langhaariger Bombenleger‘ aussehe. Ich solle mal wieder zum Friseur und endlich ein anständiger deutscher Junge werden.« Andi kneift ein Auge zu. Es rattert in seinem Kopf.
»Aha, verstehe, jetzt willst du die Klamotten von meinem Alten anziehen, so Kniebundhosen und so Zeug.«
»Nee, besser. Dein Vater sammelt doch so Militaria-Zeug, Ritterkreuze und was es so alles gibt. Du hast mir doch schon Kataloge gezeigt. Und in einem Katalog waren auch Wehrmachtsklamotten. Kann ich mich gut erinnern.« Andi überlegt, blickt auf seine Füße. Ich warte und male mir aus, welche Utensilien mich zu einem guten deutschen Jungen machen würden.
»Ja, da gibt es einen Versand«, erinnert er sich. »Irgendwo bei Hannover. Hab ich schon durchgeblättert. Und du meinst …«
»Ja, das meine ich.«
Andi lehnt sich zurück, starrt an die mit Filzstift verhunzte Decke. »Hm, das könnte ein Spaß werden.« Ich lehne mich ebenfalls zurück, strecke die Beine in den Mittelgang und stelle mir den Spaß vor. Wir biegen in die Bonner Straße ein. Endlich ein anständiger deutscher Junge werden, das wäre mal was.

Es gibt Pommes mit Tiefkühlerbsen und Fischstäbchen. Dazu Mayonnaise und Remoulade. Für Andis Mutter ein Sternemenü. Immerhin steht in der Küche eine Spülmaschine, so dass außer abräumen keine Küchenarbeiten anfallen und wir zu den Hausaufgaben übergehen. Andi ist schneller als ich. Kurz vor drei sind wir fertig. Er geht Kaba und Kekse holen. Aus dem Hosenbund zieht er den Katalog. Die vorletzte Seite besteht aus vier Bestellkarten, in die man nur Artikelnummer und Anzahl eintragen muss und dann ab in den Briefkasten. Wir beginnen zu blättern. Ich bin überwältigt vom Angebot. Offenbar kann dieser Versand die Wehrmacht erneut ausrüsten.
»Ob das alles neu genähtes Zeug ist?«, fragt Andi sich.
»Denke schon. Oder meinst du, sie haben alte Lager geräumt?«
Er deutet auf eine Anmerkung unter der Kategorie ‚Uniformen‘. ‚Uniformen der Waffen-SS werden ausschließlich von unseren Partnerunternehmen in den USA hergestellt und können nur über diese bestellt werden, da es sich um eine in der Bundesrepublik Deutschland verbotene Organisation handelt‘.
»Alter! Was ne Scheiße!«, platzt Andi heraus. »Meinst du, mein Vater ist ein klammheimlicher Nazi?«
»Bisschen rechts ist er schon, aber das ist doch nix Neues.«
»Ja, Sprüche fallen öfter bei ihm, so wie bei unserem verblichenen Herr Baldemer, aber ich meine, so richtig Nazi. So überzeugt …«
»Keine Ahnung, Andi. Frag ihn halt.« Er schüttelt den Kopf, gibt mir den Katalog, lässt sich nach hinten fallen und drückt das Kissen aufs Gesicht. Es klopft ein Mal dann geht die Zimmertür auch schon auf. Andis kleine Schwester kommt rein.
»Was macht ihr hier?«
»Nix!«, ruft Andi und wirft ihr das Kissen an den Kopf. »Raus hier!« Sie geht wieder. »Nervensäge …«
Ich grinse in den Katalog und entscheide mich für die Uniform einer Infanteriedivision aus dem Frankreichfeldzug. Der Stahlhelm ist wie neu, das Emblem der Division auf der Seite, Koppelschloss, die Knobelbecher sind gebraucht, haben aber eine genagelte Sohle. Schulterstücke und Kragenspiegel sind die eines Stabsfeldwebels. Na, immerhin … ich notiere alle Artikelnummern auf der Bestellkarte und kreuze Vorkasse an. »Lass uns zur Bank gehen, damit ich das gleich überweisen kann. Je eher, desto schneller kommt das Zeug.«
Andi richtet sich wieder auf, legt den Arm um meine Schulter. »Sag mal, Heinrich, muss ich jetzt Angst haben unter der Dusche nach dem Handballtraining?« Ich sehe ihn an.
»Dein Schniedel hat mir schon immer gefallen. Zarte, bewegliche Vorhaut …« Er weicht entsetzt zurück, ich kämpfe mit einem Lachanfall. »Vergiss es, Andi. Ich stehe mehr auf die Dunkelhaarigen. Du bist nicht mein Typ«, setze ich noch einen drauf. Er steht auf und zieht die Jacke an.
»Das ist nicht lustig«, erwidert er, stutzt. Und dreht sich dann um. »Warum bin ich nicht dein Typ?«
»Ich mach doch nur Spaß. Sag bloß, du bist deswegen eingeschnappt?« Uns fehlen die Worte. Alles, was jetzt kommt, kann nur verletzen. Ich sehe es an seinem Blick und er an meinem. Also reiße ich die Karte an der Perforation ab und stecke sie ein. »Komm! Ab zur Post. Ich schicke die Karte als Eilbrief und bezahle gleich.« Andi verlässt still das Zimmer. Seltsamerweise stelle ich ihn mir in diesem Moment nackt vor. Nichts wie raus hier.


Es ist Samstagnachmittag, meine Jobs sind erledigt und auf dem Esstisch liegt der Falk-Plan von Köln. Zwei volle Umdrehungen des Minutenzeigers habe ich darüber nachgedacht, mit Mutter über alles zu reden und dann verworfen. Selbst wenn ich davon ausgehe, dass sie Verständnis zeigen würde, kämen doch nur tausend Fragen ihrerseits und sie würde mindestens zwei Monate drüber grübeln. Sich vielleicht sogar fragen, was sie falsch gemacht hat. Dann kommt mir die Idee, dass dies jetzt ein Moment ist, an dem sich das gemeinsame Leben beginnt zu trennen. Eigene Geheimnisse, das eigene Fühlen wird mächtig, älter werden, mich von dem lösen, was lange meine gewohnte Umgebung war. Der Ruf der Freiheit vielleicht? Vielleicht rede ich ja doch mit ihr darüber. Aber erst einmal ist der Besuch bei Paul angesagt und morgen werde ich zu Katharina fahren.
Noch nie in meinen wenigen Lebensjahren war ich in Chorweiler gewesen. Mit Vater dran vorbeigefahren auf dem Weg nach Dormagen oder Neuss, aber so mittendrin … immerhin weiß ich, dass die Fünfzehn nach Chorweiler fährt und ich an der Liverpooler Straße aussteigen werde. Mutters Fähigkeiten habe ich die Entzifferung der Adresse auf Frau Müllers Zettel zu verdanken. Paul wohnt in der Florenzer Straße 14-18, unweit der U-Bahn-Station. Ich bin froh, dass ich alleine zuhause bin. Zwar starre ich auf das verwirrende Puzzle aus Straßen, doch in meinen Kopf stürzen die Figuren in wahlloser Abfolge durcheinander. Paul, Sabine, Katharina … keine einzige davon kann ich einfangen und mich ihr nähern. Warum sind alle so weit weg? Auf einem entfernten Orbit umkreisen sie den Planeten Heinrich, der langsam seine Atmosphäre verliert. Das Telefonklingeln reißt mich aus diesem Zustand. Ich gehe in den Flur und nehme ab.
»Konstantin.«
»Heinrich …« Es ist Katharina. Aber noch etwas anderes ist zu hören. Unsicherheit?
»Oh! Du bist es …«
»Steht das noch morgen?« Ich bin kurz verwirrt. Was meint sie? Wieso zittert ihre Stimme? Dann fällt mir ein, dass ich ja nach Bonn fahren will und wir einen Kinobesuch geplant haben.
»Klar, morgen mit der üblichen Bahn. Erst gehen wir was essen, dann …«
»Heinrich?«
»Ja?«
»Ich liebe dich.«
Jetzt verschlägt es mir die Sprache. Etwas ist geschehen. Das ist so klar wie Kloßbrühe. »Und ich liebe dich, Katharina.«
»Also bis morgen.«
Sie legt auf. Ich sehe mich als einen dieser Komiker in lustigen amerikanischen Filmen, die noch eine Zeitlang, Hörer in der Hand, vor dem Telefon verharren und dumm aus der Wäsche gucken, weil sie nichts kapieren. Dann lege ich auf, ziehe Schuhe und Jacke an. Die Alarmglocke unterhalb meines Herzens hört nicht auf zu schrillen. Auch nicht, als ich schon im Bus sitze und zum Chlodwigplatz fahre. Chorweiler … Chorweiler … ich mag das Wort nicht. Ich mag den Stadtteil nicht. Trabantenstadt. Und was ist mit Katharina? Sie ist diejenige, die problemlos eine Stunde telefonieren kann. Und jetzt so kurz, mit verunsicherter Stimme? Ich komme gar nicht mehr aus diesem Karussell heraus. Umstieg in die Straßenbahn. Die Magengrube zieht sich mehr und mehr zusammen. Warum ausgerechnet Chorweiler? Als die Bahn endlich unterirdisch fährt, bin ich froh. Die Menschen vor der Scheibe sind weg. Nur noch mein Gesicht spiegelt sich darin. Hell, dunkel, hell, dann der Ebertplatz. Eine Menge Zusteigende. Lachen, Schweigen. Ein alter Mann mit einem Offiziersschiffchen, das aussieht, als hätte er es schon an der Ostfront getragen. Ein letztes Stück Erinnerung vielleicht … plötzlich wieder Tageslicht. Und Regen. Weidenpesch, wir verlassen den Untergrund. Häuserzeilen, geparkte Autos. Ich überlege, bei der nächsten Haltestelle auszusteigen, umzukehren und Paul einfach zu vergessen. Doch ich tue es nicht, also Gartenstadt, Longerich, nach der Kaserne tauchen die ersten Wohnblöcke auf. Nicht mehr lange.


Köln-Chorweiler steht auf der Anzeige. Die Station liegt unter dem City-Center, einer zweigeschossigen Einkaufsmeile. Allerdings unterscheiden sich die Menschen hier drin deutlich von denen auf der Hohen Straße. Und der Geruch. Eine Mischung aus Feuchtigkeit, Abgestandenem, Bier, Schweiß und Gleichgültigkeit; wenn man sie riechen kann, dann genau hier. Klärchens Biertruhe neben Herberts Lotto-Station. Bäckereien, Kleidergeschäfte, ein Supermarkt neben einem Kebab-Laden und gegenüber die Rhein-Apotheke. Wie komme ich ins Freie? Ich folge einem Luftzug um die Ecke und finde den Weg hinaus in den Regen. Allerdings ist das die Liverpooler Straße. Also erneut hinein. Es muss auf der anderen Seite ebenfalls einen Ausgang geben. In Herberts Lotto-Station kaufe ich eine Dose Cola und frage den Mann nach der Florenzer Straße. Kurz angebunden, bestätigt er meine Vermutung, dass ich über den zweiten Ausgang dorthin komme. Immer der Nase nach, sagt er und ich habe keine Ahnung, was er meint. Nach zwanzig Metern weiß ich es. Ein Metzgereischild auf Türkisch und der Geruch nach Fleisch weisen den Weg. Halal geschlachtet. Nur Lamm und Rind. Dran vorbei und durch die Tür. Regen, aber immerhin frische Luft. Ich bin in einer engen Betongasse, nur Graues um mich herum, ein Hochhaus im Rücken und eine ins Parkhaus gegenüber führende Fußgängerbrücke über mir. Vor einer Abstellbucht für Müllcontainer stehen fünf Jugendliche, mein Alter, alle eine Kippe im Mund, Bier in den Händen. Sie mustern mich. Abschätzen. Wer ist der Kerl? Noch nie gesehen hier … dann reden sie weiter über belangloses Zeug. Ich gehe die wenigen Meter zur Straße. Rechts Hochhäuser. Gelbe Balkone an hellgrauer Fassade. Zwanzig Stockwerke, daneben eines nur halb so hoch. Hinter mir ein enormer Block. Vier oder fünf Häuser aneinandergereiht. Das muss die Florenzer Straße sein. Nur wenige Meter gehen und ich entdecke 14-18, stoppe und atme tief ein.
Die Menge der Klingeln versuche ich gar nicht erst zu zählen. Mit dem Zeigefinger suche ich die Reihen ab und siedend heiß fällt mir auf, dass ich leichtsinnigerweise angenommen habe, ein Klingelschild auf dem ‚Müller‘ steht, wäre so einfach zu finden oder überhaupt existent. Was, wenn nur der Nachname seines Freundes draufsteht? Und das nächste Drama folgt sofort, denn in der Masse der Anwohner entdecke ich fünf Personen namens Müller. Allerdings schließe ich mal aus, dass damit Paul gemeint ist, denn mit sechzehn wird er nicht alleine auf dem Schild stehen. Was also tun? Herbert kommt mir in den Sinn. Wieder zurück zu Herberts Lotto-Station.

»Kann ich mal bitte telefonieren?« Er gibt einer Kundin deren Rückgeld und sieht mich mürrisch an. Also lege ich fünf Mark auf die Theke. Für fünf Mark kann ich nach Paris telefonieren.
»Ortsgespräch?«, will er wissen.
»Ja, aber ich brauche noch ein Telefonbuch, bitte.«
»Kostet extra.«
Nicht lange überlegen, Heinrich. Nimm den Fünfer weg und leg nen Zehner hin. »Das sollte jetzt mehr als genug sein.« Herbert zieht ein ramponiertes Telefonbuch aus einer Schublade und wirft es aufs Thekeneck.
»Danke.« Ich ahne, dass die Suche dauert. Nach vier Seiten Müller, entdecke ich einen in der Mommsenstraße. Hausnummer stimmt. Ich schnappe den Kugelschreiber und notiere die Nummer auf der Hand, schlage das Buch zu. »Und das Telefon?«
»Durch den Vorhang, gleich rechts«, raunt Herbert und nimmt drei Lottoscheine entgegen. Ich gehe durch den Vorhang und meine, mich trifft der Schlag. Ein Erdbeben hätte kein größeres Chaos verursachen können als ich hier vorfinde. Das Grau des Telefons ist kaum noch zu sehen unter all den bräunlichen Flecken. Es ekelt mich, aber hilft ja alles nichts. Wählen und nach zehnmaligem Tuten erkenne ich die Stimme von Pauls Mutter.
»Hier ist Heinrich. Ich bin grad in Chorweiler. Wissen Sie, wie Pauls Mitbewohner mit Nachnamen heißt?« Es ist still auf der anderen Seite. Vielleicht leises Atmen oder ein Rauschen. So langsam werde ich ungeduldig.
»Schwarzenberg, glaube ich«, höre ich sie einen Moment später sagen.
»Okay …«
»Heinrich?«
»Ja?«
»Sag Paul, dass ich ihn vermisse. Er soll mich doch mal wieder besuchen. Hörst du?« Ihre Stimme versagt. Ich meine, sie schniefen zu hören. Dann legt sie auf. Meine Laune rutscht noch ein Stück den Hang hinab. Angewidert lasse ich den Hörer auf die Gabel fallen und gehe zurück in den Vorraum. »Danke«, sage ich mit dem Öffnen der Tür, dann Richtung Metzgerei, ins Freie, vorbei an den biertrinkenden Jungs und zur Klingeltafel. Schwarzenberg … es dauert. Als Paketbote oder Briefträger muss man hier ja wahnsinnig werden. Und tatsächlich, es existiert ein Schwarzenberg. Ich drücke mehrmals. Statt einer Frage aus dem Lautsprecher nur das Summen des Türöffners. Endlich bin ich drin. Eine Batterie Briefkästen auf der linken Seite und rechts vier Fahrstühle. Wie soll ich denn hier eine Wohnung finden?
»Verdammter Mist …« Niemand hört mein Gefluche. Eine alte Frau kommt von außen auf den Eingang zu. Schwer beladen mit drei Edeka-Tüten. Ich öffne ihr, was sie gar nicht bemerkt. Als wäre ich eine Automatik-Tür. »Entschuldigung, wissen Sie vielleicht wo …« Sie verschwindet in einem der Fahrstühle. »Das gibt’s doch nicht!« Ich gehe wieder hinaus und klingle Sturm.


Wenn ich oft genug klingle, verliert irgendjemand da oben die Nerven und wird wutentbrannt runterkommen. So mein Plan. Er geht auf. Ein paar Minuten und sieben hereinkommende Menschen später stürzt derjenige aus dem letzten Fahrstuhl und rennt durch die Eingangstür, entdeckt aber nur mich. Vielleicht zwanzig Jahre alt, rote Adidas-Turnhose, weißes Doppelripp-Unterhemd, Badelatschen und wenige Stellen auf der Haut ohne ein Tattoo. Er funkelt mich an.
»Klingelst du hier Sturm?!«
»Tu ich! Denn ich will zu Paul und hab keine Ahnung, wo ich in diesem Bunker suchen soll. Steht ja nirgends hier!« Ich bin lauter als gewollt. Er zuckt zurück. Was vielleicht daran liegt, dass er einen Kopf kleiner ist.
»Was willst du von Paul?«
»Ihn besuchen. Wir waren zusammen in einer Klasse.« Der Kerl blockiert die Tür. Ein alter Mann klopft von innen. Er lässt ihn raus. Der Alte guckt ihn grimmig an. Das ist das Haus der Schlechtgelaunten, wie es scheint. Und ich fühle mich nicht wesentlich besser. Die rote Turnhose überlegt sicher eine Minute, mustert mich von oben bis unten.
»Paul ist nicht da. Er ist bei seinem Alten. Muss aber demnächst kommen.«
»Ich werde warten.«
»Hier?« Die Turnhose nervt.
»Das überlasse ich dir. Oben warten ist auf jeden Fall wärmer.«
»Na, meinetwegen«, sagt er und öffnet die Tür mit einem Schlüssel. Ich schaffe es gerade noch, sie aufzufangen bevor sie zufällt, folge ihm in den ersten Fahrstuhl, der sich öffnet. Es geht in den elften Stock. Geruchsmäßig ist die Kabine am unteren Ende der Skala ertragbarer Gerüche. Elf Stockwerke schweigendes Rattern. Oben angekommen geht es nach links. Jede zweite Deckenlampe ist kaputt, der Boden verschrammt, Teile fehlen und blanker Estrich schaut heraus. Vor mancher Wohnungstür liegt ein Willkommen-Abtreter, gemalte Kinderbilder hängen an mehr oder weniger zerkratzten Türblättern. Wie zwecklos, denke ich. Die Turnhose nimmt die letzte Wohnung auf der rechten Seite. Ich schließe die Tür hinter mir und fühle mich an Pauls Zuhause erinnert. Jemand hat einen Container voll Kram ausgekippt und liegenlassen. Hier sieht jedes Zimmer identisch aus. Unnützes Zeug, leere Flaschen, Klamotten, Iso-Matten. Ich verstehe es nicht und suche Pauls Freund; wenn er es denn ist und finde ihn in dem, was man als Küche bezeichnen könnte. Zumindest gibt es einen Kühlschrank neben einer Spüle. Auf einem Holztisch steht eine Zweifach-Platte zum Kochen. Die Turnhose zieht ein Gaffel leer, stellt die Flasche ab. »Auch ein Kölsch?«
»Warum nicht.«
»Nimm reichlich Platz«, fordert er mich auf. »Kölsch steht unterm Tisch.« Der reichliche Platz besteht aus einem weiteren Stuhl und das Bier ist warm.
»Ist der Kühlschrank kaputt?« Er nickt.
»Kannst Frederik zu mir sagen«, bietet er an und öffnet eine weitere Flasche, setzt an, zieht sie ein gutes Stück leerer.
»Heinrich«, ist meine knappe Antwort. Seine Augenbrauen rutschen ein Stück nach oben.
»Paul hat von einem Heinrich erzählt. Der hätte ihn wohl aus einem bösen Traum befreit oder so …« Frederik, die rote Turnhose, hat kaum Haare auf dem Kopf. Vor zwei Wochen kahlrasiert oder so ähnlich. Ein schwarzer Schatten Borsten mit dünnen Narben, verteilt auf dem Schädel, teils blutverkrustet.
»Du bist sein Freund?«
»Sagt wer?«
»Pauls Mutter.«
»Aha! Von der weißt du also, wo Paul jetzt wohnt.« Er nickt verhalten. »Ja, hab Paul im Betrieb kennengelernt. Bin da aber nicht mehr.« Ich will nachfragen, warum nicht, lasse es aber bleiben. Eine Ahnung sagt mir, ich sollte nicht zu tief bohren. Er beugt sich vor und mustert mich genau. »Ich kann gut verstehen, dass Paul sich in dich verliebt hat«, sagt er leise. Ich trinke einen großen Schluck. »Aber er meinte, du wärst gar nicht schwul«, setzt er nach. Dann stellt Frederik die Flasche auf den Tisch, steht auf, zieht die Turnhose aus und stellt sich vor mich. »Du gefällst mir wirklich gut … Heinrich.« Seine Hand landet auf meinem Kopf und fährt langsam die rechte Schläfe hinab. Sein Penis ist vor meinem Gesicht und er wächst. Ich bin gelähmt. Alles ist gelähmt. Kein Sprechen möglich, keine Bewegung. Zwischen meine Abscheu drängelt sich die Neugier hindurch und will diesen Penis berühren, während sich alles in mir gegen den Rest der roten Turnhose sträubt. Die Wohnungstür öffnet sich knarzend und fällt wieder zu. Frederik dreht sich gegen den Kühlschrank und pfeift ein Lied.
»Bin wieder da!« Pauls Stimme. Dann steht er im Türrahmen, sieht seinen Freund mit fast steifem Penis vor der Kühlschranktür stehen und mich mit hochrotem Kopf auf dem Stuhl. Paul macht kehrt. Eine Tür schlägt zu. »Arschloch«, sage ich zu Frederiks Hinterkopf, stehe auf und suche die geschlossene Tür. Viel Auswahl habe ich nicht, klopfe. Sie ist nicht verschlossen, also gehe ich hinein, schließe die Tür aber hinter mir. Paul steht am Fenster durch das er nicht allzu viel sehen kann. Das Glas ist trüb, fettige Schlieren überall.
»Dein Freund ist einfach aufgestanden, hat sich die Turnhose ausgezogen und vor mich hingestellt, Paul. Mehr ist nicht passiert; und wäre auch nicht passiert. Zumindest nicht von meiner Seite …« Ich stelle mich neben ihn. Chorweiler im Regen. Was für eine trübe Aussicht. »Ich bin nur hier, weil ich dich unbedingt wiedersehen wollte.« Schweigen gegen die Scheibe. Das Tageslicht unter den Wolken reicht kaum aus, Pauls Zimmer zu erhellen. Das Fenster schluckt den Rest. »Ich soll dich grüßen von deiner Mutter. Sie hat Heimweh nach dir. Fahr mal nach Hause. Ich könnte mitgehen …«
»Du warst bei Mama?«
»Ich wollte dich dort besuchen.«
Zaghaft spüre ich Pauls Finger auf der Suche nach meiner Hand. Ich greife zu. Fest. Unsere Blicke folgen den Regentropfen über der Trabantenstadt. Block neben Block. Ein Strand aus Einsamkeit. Paul fängt an zu weinen, dreht sich und meine Arme schließen sich um ihn. Um Gottes willen … was ist hier nur passiert? »Warum ziehst du nicht wieder zu deiner Mutter? Das hier ist doch scheiße, Paul.«
»Dort bin ich alleine. Hier nicht.«
»Aber der Kerl ist doch ein Arschloch …« Jetzt blickt er mich an. Wie sehr sich doch sein Äußeres verändert hat. Ein junger Mann steht neben mir und lächelt etwas gequält. Auf eine gewisse Art erinnert Paul mich an Alain Delon. Fast unnahbar. Ich stelle fest, dass er mir gefällt und das erschreckt mich.
»Nicht immer. Er kann auch zärtlich sein …«
»Und du meinst, das reicht für ne Beziehung?«
»Manchmal.«
»Wie oft hat er dich schon mit nem anderen Kerl betrogen? Du hast gesehen, was grad passiert ist …« Paul antwortet nicht. Schaut wieder zum Fenster hinaus. Der Regen wird dichter. Mehr Veränderung gibt es nicht zu sehen da draußen. »Also nicht nur einmal«, vermute ich. Wieder Schweigen. Mein Blick fällt auf den Teppich um uns herum. Vater träfe der Schlag. Er würde umgehend mit einer Teppichreinigungsmaschine anrücken. Verrückte Gedanken … »Wie ist die Lehre?«
»Gut«, sagt Paul knapp. »Interessant, aber …«
»Aber?«
»Die Leute kriegen mit, wenn da ein schwules Pärchen arbeitet. Das muss man aushalten können …« Ich atme tief ein. Mir fehlen wirklich die Worte. Etwas Tröstendes, Beruhigendes, irgendwas mit Hoffnung und Zuversicht. Dann fällt mir die in einem Vier-Seiten-Hof versteckte Party ein, Menschen hinter schützenden Mauern. Alles im Geheimen. Ich lasse seine Hand los, packe die schmalen Schultern, drehe ihn um und küsse ihn. Warum Worte? Es ist, wie es ist …


Luft holen. Nasenspitze an Nasenspitze und die schwarzen Pupillen kaum sichtbar im Halbdunkel des Zimmers. Sind das sinnliche Lippen? Erneut treffen sich unsere Münder. Vorsichtig, voller Rücksicht darauf, dass wir Schulfreunde waren, zusammen im Turnunterricht gewesen, auf Klassenfahrt, ein unscheinbarer, irrlichternder Paul und der alle anderen überragende Heinrich. Die Tür geht auf, ohne dass ich mir etwas dabei denke. Ein lauter Fluch. Etwas Hartes trifft mich an der Schläfe. Für einen Augenblick verliere ich die Orientierung, sehe nur Pauls Beine. Aus dem Augenwinkel die rote Turnhose und dessen Faust. Ein zweiter Schlag. Ich falle in den Kram. Zwischen Schuhe, Hosen und zwei leere Sporttaschen. Dann bekommt Paul sein Fett ab. Er ist diesem Frederik nicht gewachsen und ich noch geschockt. Paul kreuzt die Arme vor dem Kopf, aber es hat keinen Zweck. Frederiks Hiebe kommen durch. Meine Handflächen finden nicht mal den Boden, so voll ist alles mit Müll. Dann macht es in mir Klick. Mit einem Sprung stehe ich, greife diesen Kerl im Nacken und am Turnhosenbund. Mit Schwung werfe ich ihn an die Wand. Als er auf dem Boden landet, bin ich über ihm, packe mit der rechten Hand in seinen Schritt und drücke zu. Da ist sein Schrei aus Wut und Schmerz. Die linke Faust trifft ihn am Kinn. Ein zweites Mal. Er wird still. Der Kopf ist zur Seite geneigt. Vielleicht ohnmächtig? Pauls Wimmern drückt sich in meine Ohren. Zügig lasse ich von Frederik ab, bin so schnell es geht bei Paul. Mit einem Ruck ziehe ich ihn hoch und bugsiere den schmalen Körper in die Küche. Zurück zu Frederik, der noch auf dem Boden liegt. Immerhin stöhnt er und fasst sich ans Kinn. Also wieder zu Paul.
»Heinrich …«, flüstert er. »Ich …«
»Du musst hier weg. Ich nehme dich mit zu deiner Mutter. Okay?« Er nickt, setzt sich. Aus dem Kasten hole ich zwei Gaffel, öffne sie und stelle beide auf den Tisch. Dann hocke ich mich ebenfalls hin. Wir trinken still. Pauls Schläfe schwillt an und er hat Blut in einem Mundwinkel. Ich muss mich zurückhalten, um nicht ins Zimmer zu gehen und diesen Frederik ein zweites Mal außer Gefecht zu setzen. Lange warten müssen wir jedoch nicht. Er kommt raus, geht eingeknickt über den Flur in ein anderes Zimmer.
»Hol deine Sachen! Papiere, Geld, das Wichtige. Klamotten oder anderes unwichtiges Zeug lassen wir hier. Das können wir jederzeit kaufen.« Schweigend stellt er die Flasche in die Spüle und verschwindet. Ein Wasserhahn läuft irgendwo. Dann öffnet Frederik die Tür und sieht mich an. Immer in die Augen sehen. Im Blick behalten.
»Ich gehe«, höre ich Paul sagen.
»Ja, geh doch! Geh zu deinem neuen Freund …«
»Das ist nicht mein …«
»Halt einfach die Fresse!«, fährt ihm Frederik ins Wort, schließt die Tür wieder von innen. Paul erscheint im Türrahmen.
»Hab alles.« Ich nicke, stelle die Flasche weg. Wir können gehen. Raus aus diesem furchtbaren Block. Die Jungs stehen immer noch in der Müllcontainerbucht. Pauls geschwollenes Gesicht erregt ihre Aufmerksamkeit. Ich lasse sie nicht aus den Augen. Kurz bevor wir sie erreichen, drehen sie die Köpfe weg. Vergeblich warte ich auf einen Spruch, um mich vergessen zu können. Aber es bleibt still. Schade. Meine Stimmung hat die richtige Temperatur. Paul trottet mir nach. »Hast du Hunger?«, frage ich mit Blick auf den Döner-Laden. Er zögert. Also ziehe ich ihn hinein. »Lass uns was essen.«
»Ich hab nur noch wenig Geld.«
»Paul …«
»Okay. Schon verstanden.«
Bei dem jungen Kerl bestelle ich zwei große Kebab-Teller mit allem drum und dran, zwei Cola, außerdem eine Flasche Wasser und ein paar Servietten. Eine davon mache ich nass. »Hier, wisch dir das Blut vom Mund.« Paul tupft daneben. Ich nehme ihm die Serviette ab und erledige das.
»Danke.«
»Nix zu danken, Paul.«
Wir gehen zum Stehtisch und lehnen uns an die Wand. Samstag, früher Abend. Die Menschen machen sich auf in die Stadt. Kino, Kneipe, Spaß haben. Irgendwas machen. Paul kann die Tränen nicht zurückhalten. Ich lege den Arm um seine Schulter. Als unser Essen kommt, frage ich nach dem Telefon. Der Mann führt mich nach hinten. Ich rufe Pauls Mutter an und bitte sie, auf uns zu warten. In spätestens einer Stunde wären wir da.


Die letzten Meter zum Hauseingang in der Mommsenstraße muss ich Paul förmlich treten. Weiß der Teufel, was in ihn gefahren ist. Er rückt nicht mit der Sprache raus. Seine Mutter steht geschniegelt und gestriegelt in der Küche. Fertig, um in den Eigelstein zu fahren. Als ich Paul durch die Wohnungstür drücke, fällt sie ihm um den Hals. Es hat den Eindruck, sie will ihn fressen.
»Walther holt mich ausnahmsweise mit dem Auto«, sagt sie dann und geht in die Küche, Paul hinter sich herziehend. »So spare ich eine halbe Stunde. Mehr Zeit haben wir nicht«, erklärt sie und setzt sich an den Tisch. Ich drücke Paul auf den Stuhl und nehme an, er will nicht erzählen, also rattere ich die Erlebnisse von heute runter. Sie atmet tief ein und aus. Dann greift sie sich mit einem Papiertuch in die Augenwinkel. Der schwarze Kajal fließt die Wange hinab, bildet kleine Linien. Immer wieder kullern Tränen über den Nasenflügel. »Sag doch auch mal was, Paul«, bittet sie ihn und streicht über seinen Kopf, den er auf die Seite zieht. »Ich habe dich vermisst. Du hast einfach nichts von dir hören lassen.« Aber Paul bleibt still. In seinem Gesicht zuckt kein Muskel. Dutzende Fragen schwirren durch meinen Kopf. Er will nicht hier wohnen? Kann er überhaupt noch in Marsdorf arbeiten? Machen seine Kollegen ihn dort fertig? Warum ist dieser Frederik eigentlich rausgeflogen? Irgendwie muss es jetzt hier weitergehen …
»Ich kann nicht mehr nach Marsdorf«, kommt es urplötzlich aus ihm heraus. »Frederik ist rausgeflogen, weil er mich dauernd geküsst hat. In der Umkleide oder im Pausenraum. Drei Mal hat ihn der Chef verwarnt. Er würde ihn anzeigen, hat er gedroht. Und ich hab nur noch Drecksarbeiten bekommen. Halle fegen, Hof fegen, rosa Bleistifte für die Berufsschule, rosa Kappe von den Kollegen …« Er legt den Kopf auf die Tischplatte. Haut dann die Stirn drauf. Noch einmal. Dann immer öfter. Ich ziehe ihn zurück. Seine Mutter sieht auf die Wanduhr und verdreht die Augen.
»Paul, ich muss weg. Heute ist Samstag. Da verdiene ich am meisten Geld. Heinrich, ich bitte dich …«, fleht sie mich an. »Kannst du bei ihm bleiben?« Da ist wieder das Gebirge über mir. Ich will nur weg. Morgen nach Bonn. Um Gottes willen, ich habe Paul geküsst. Schon wieder. Und diesen Schwanz gesehen, nach dem ich greifen wollte. Wer dreht hier wohl demnächst durch? Pauls Mutter zieht den Kajal nach, schnäuzt sich, rückt die Bluse zurecht. Sie sieht umwerfend aus. Paul dagegen hängt wie ein nasses Handtuch im Eck des Boxrings. Mir kommt eine Idee.
»Ich wette, wenn ich meinen Vater frage, gibt er Paul einen Ausbildungsplatz. Wir stellen jeden Herbst vier oder fünf Lehrlinge ein.« Ich schlucke und weiß nicht, was ich da sage. »Und wir haben auch noch ein Zimmer. Ein Gästezimmer. Wenn ich zuhause alles erkläre, kann Paul vielleicht eine Zeitlang dort wohnen …« Ich bin sicher, meine Eltern werden mich steinigen. Was rede ich da?! Pauls Mutter sieht mich ungläubig an.
»Wissen denn deine Eltern, dass Paul … dass er …«
»Nein, das wissen sie nicht. Aber ich hoffe, ich lehne mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass es ihnen egal ist.« Sie starrt auf den Boden, dann auf ihre Finger, die perfekt rot lackierten Nägel. Dann klingelt es und wir beide zucken zusammen. Nur Paul bleibt reglos. Die Stirn wieder auf der Tischplatte. Pauls Mutter sieht mich an, steht auf, tritt hinter mich und beugt sich herab. Ein Kuss landet auf meiner Wange.
»Wenn was ist, ruf mich an! Die Nummer hängt im Flur überm Telefon.«
»Ist gut, Frau Müller.«
Sie streicht Paul über die Haare. Ein zweites Mal klingelt es. »Ich hab euch lieb«, sagt sie und geht. Eine Wolke Parfüm bleibt in der Küche hängen. Ich suche den gelben Sprudel, finde aber nur Reissdorf im Kühlschrank, öffne zwei Flaschen und setze mich neben Paul.
»Deine Mutter hat sich verändert«, stelle ich fest. Er antwortet nicht. »Trinken wir die aus, dann fahren wir zu mir.«

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