Paul und die Jungs | Kapitel 7

Viele Wege führen ins Ich

Nächster Halt Rudolfplatz!, plärrt der Lautsprecher. Offenbar ist ein Blech lose oder die Lautsprechermembran beendet bald ihr Dasein. Wir bremsen abrupt. Einige werden wach, andere halten sich krampfhaft am Vordersitz oder den Stangen fest. Nichts wie raus hier! Oben angekommen ist mein erstes Ziel der Reibekuchen-Stand. Vier Mal mit Apfelmus. Mutter habe ich gesagt, dass ich nach der Schule gleich in den Comicladen gehe und auf dem Weg etwas essen werde. Eine der öligen Kartoffelscheiben in den Fingern, an Mariechens Kiosk vorbeischlendernd, den Blick auf die Zeitschriften und Magazine in der Auslage gerichtet, stutze ich und gehe einen Schritt näher. Mit dem Ellenbogen schiebe ich das Motor-Magazin auf Seite, die dicke, rote Überschrift des Musikexpress direkt vor Augen: ‚John Bonham tot!‘ Ein Pochen in der Brust. So heftig wie der Moment, an dem ich Katharina zum ersten Mal begegnete. Ein Blick aufs Datum. Das Heft ist vom 30. September. Es ist das letzte Exemplar. Der Frau im Kabuff gebe ich zehn Mark, zeige den Musikexpress. Sie nickt und zählt Rückgeld aus der Kasse.
»Stimmt so!«, rufe ich durch die Öffnung und bin wieder auf dem Weg. John Bonham ist tot? Das kann doch gar nicht sein! Der nächste Reibekuchen, zweimal abbeißen und weg ist er. John Bonham … und was ist jetzt mit Led Zeppelin? Ohne ihn können sie nicht weitermachen. Es gibt keinen Zweiten wie ihn! An der Ecke zum Friesenwall sitzt ein Obdachloser. Ihm drücke ich die restlichen beiden Reibekuchen in die Hand. Seine großen Augen nehme ich nur am Rande wahr. Da tummeln sich auf einmal dutzende Bilder im Kopf. Der Bärtige hinter der Wand aus Trommeln und Becken, einen enormen Gong hinter sich. Und jetzt ist er tot! Tiefe Traurigkeit fällt mich hinterrücks an. Auf Höhe der Kneipe bleibe ich einen Moment stehen. Wie kann der Schlagzeuger einer britischen Band ein dermaßen großes Loch in mich reißen? Ohne zu überlegen, öffne ich die Tür des Lokals, setze mich an die Theke. Kaum jemand im Raum. Zwei Alte, eine Frau um die vierzig, der Wirt.
»Haben Sie Southern-Comfort?«
Er mustert mich mit einem zusammengekniffenen Auge. Schätzt ab, ob ich schon achtzehn bin oder er den Ausweis sehen will. Aber es klappt. Ich bin wohl achtzehn oder er am Geld interessiert.
»Ham wir.«
»Mit Cola und Zitronensaft, bitte.«
»Kommt.«
Das Heft liegt vor mir auf der Theke. Artikel auf Seite fünf. Soll ich aufschlagen? Der Deckel kommt, das Glas. »Danke«, und dann »John Bonham ist tot.« Warum ich das ausgerechnet diesem Kerl sage, weiß ich nicht. Es muss wohl raus.
»Wer?«
»Ein Musiker.« Er zuckt mit den Schultern, nimmt das Geschirrspültuch und fährt über seine Edelstahlspüle, obwohl sie nicht sauberer sein könnte. »Egal«, sage ich und trinke einen großen Schluck. Gleich den nächsten hinterher und dann das Glas leer. »Noch einen, bitte.«
»Ist gut.«
Wieder ein Kölschglas. Die Cola ist abgestanden. Sicher vom gestrigen Abend. Dafür ist genug Southern in der Mischung. So schnell ich kann, kippe ich das Zeug runter und lege einen Zwanziger auf den Tisch. »Ist okay so«
»Danke.«
Niemand der drei Gäste sieht her als ich vom Barhocker rutsche und hinausgehe. Ich stelle mir vor, sie sitzen seit zehn Jahren ununterbrochen auf demselben Platz. Statuen im eigenen Leben. Dort fixiert, ewige Verdammnis in einer Kneipe, die gar nicht in meiner normalen Realität existiert. Draußen drehe ich mich um. Vergewissern, ob nicht plötzlich eine Metzgerei erscheint, ein Gemüseladen oder gar ein fremder Planet. Aber nein, ‚Zum alten Fritz‘ steht auf einer zerbrochenen Leuchttafel. Das macht es nicht besser. Und der Southern zeigt keine Wirkung. Also weiter Richtung Ehrenstraße, den zusammengerollten Musikexpress in der Hand. John Bonham verblasst. Ich fühle Paul neben mir gehen. Und dass ich mich bisher nicht getraut habe, ihn zu besuchen. Ich bin ein Feigling.


Jürgen sortiert Comics in die Regale und beantwortet die Fragen eines älteren Herrn, der bestimmte Superman-Ausgaben sucht. Er könne sie bestellen, meint Jürgen, aber zu einem wesentlich höheren Preis. Der Mann nickt alles ab. Offenbar ein Sammler. Jürgen zwinkert mir zu. Ich gehe zu den Neuheiten. Michel Vaillant, Mick Tangy und ein Freak Brothers Album namens ‚Die Reise‘. Das muss ich unbedingt mitnehmen. Dann warte ich, bis der vermeintliche Sammler geht. Jürgen winkt mich zu sich und wir gehen hinter den Vorhang.
»Heinrich, hab was für dich«, sagt er in eine Kiste hinein und zieht von unten einen U-Comix heraus.
»Uih! Danke! Den nehme ich auf jeden Fall. Dann noch das Freak Brothers Album, Michel Vaillant und Mick Tangy.« Er nimmt mir alles ab.
»Freak Brothers«, wiederholt er. »Da habe ich einige mehr bestellt, aber der Verlag kommt nicht nach. Kommt gut an, die neue Ausgabe.« Er überschlägt im Kopf die Summe, nuschelt ein paar Zahlen vor sich hin. Aber wegen der Comics bin ich gar nicht gekommen …
»Jürgen?«
Mit Bleistift notiert er den Betrag auf dem U-Comix. »Hm?«
»Darf ich dich mal was fragen?«
Seine linke Augenbraue wandert nach oben, bildet einen kleinen Winkel. Mutter kann das auch, wenn sie skeptisch ist. »Offenbar nichts zu den Comics …«
»Nein, eher zu einer Sache, über die wir beim letzten Mal kurz geredet haben, du weißt ja, mein Schulkumpel, dein Freund und so …«
»Oha«, sagt er und setzt sich, bedeutet mir mit der rechten Hand auf dem zweiten Bürostuhl Platz zu nehmen. Aus einem unteren Regal zieht er eine kleine Cola und reicht mir ebenfalls eine. Wir öffnen sie mit der Kartonschere. »Sag mal, rieche ich da Alkohol?«
»Kann gut sein«, muss ich zugeben und lege den Musikexpress auf den Tisch. »Bonham ist tot.«
»Scheiße!«, erwidert er und nimmt das Heft. Starrt auf den Titel. »Gibt’s doch nicht. Das erinnert mich an die Zeit vor zehn Jahren, Morrison, Hendrix und Joplin. Oder Keith Moon vor zwei Jahren. Das ist doch Mist. Bald sind wir alleine, wenn das so weitergeht.« Kopfschüttelnd wirft er den Musikexpress wieder auf den Tisch und trinkt die Cola fast leer, schaut durch den Vorhang in den Laden. Niemand da. Dann rülpst er kräftig. Ich weiß nicht, wen er mit ‚wir‘ meint, kann es mir aber vorstellen. Das ist wohl das Gefühl, wenn etwas zu Ende geht, eine Ära. Man weiß nicht, was jetzt kommt oder ob das, was kommt, gut ist. So bleibt nur die Trauer über das Vergangene. Wie der Verlust eines Freundes vielleicht. »Also erzähl, Heinrich.«

Nachdem ich fertig bin mit der Schilderung über Pauls plötzlichen Entschluss, die Schule nach der Zehn zu verlassen, dem Kuss auf der Hohenzollernbrücke, meine Gefühle für Katharina, die Gedanken an Paul und Jürgens zweiter Flasche Cola, lehnt er sich so weit zurück, dass ich befürchte, die Lehne des Drehstuhls reißt ab.
»Du möchtest jetzt von mir wissen, ob du schwul bist oder nicht, stimmt’s?«
»Ich ahne, dass es darauf keine Antwort gibt.«
»Da täuscht dich deine Ahnung nicht, Heinrich. Ich habe Jahre gebraucht, um mir diese Erkenntnis zu erlauben.«
»Zu erlauben?«
Jürgen nickt und seufzt schwer. »Geahnt habe ich es schon mit dreizehn oder vierzehn. Ich war wohl frühreif. Sieh dich an …« Kurz hebt er die Hand, den Zeigefinger. »Du bist sechzehn, wenn ich mich nicht irre, aber könntest gut für zwanzig durchgehen.« Es bimmelt. »Komme gleich!«, ruft er. »Warte hier, Heinrich. Nicht weggehen.«
»Hab Zeit.«
Jürgen verschwindet nach vorne und ich drehe mich auf dem Stuhl um die eigene Achse. So ein Comic-Laden wäre genau mein Ding. Lesen und verkaufen. Das Hobby zum Beruf machen. Der Geruch des bedruckten Papiers ist magisch. Ich könnte noch Bücher dazunehmen, mich vielleicht spezialisieren auf Science Fiction. Vorne wird geredet. Zwei Batman-Ausgaben. Eine als Geschenk einpacken. Dann die Kasse. Der Vorhang öffnet sich.
»Hattest du schon mal Sex mit einem Jungen?«, fragt Jürgen frei heraus. Ich werde knallrot. Was für eine unangenehme Frage.
»Nee, nur der Kuss. Und der kam überraschend.«
»Seither lässt dich dieser Kuss nicht mehr los …«
»Stimmt.«
»Aber mit deiner Freundin ist alles okay, oder?«
»Läuft super, nur habe ich das Gefühl, sie betrogen zu haben. Ich verschweige ihr, was passiert ist. Das nervt mich. Außerdem merkt sie, das mich was beschäftigt.« Jürgen steckt sich eine Ernte 23 an. Das kann ich jetzt gar nicht brauchen.
»Ich denke, das ist nicht mal so selten, dass Jungs oder Mädchen plötzlich Interesse für beide Geschlechter entdecken. Bei meinem Freund war das auch so, bis er plötzlich wusste, was er will. Es ist alles so wahnsinnig interessant, wenn das mit der Liebe losgeht …« Er seufzt, inhaliert tief und setzt sich dann. Seltsamerweise bleibt der Rauch drin. »Weißte was, Heinrich? Am Samstag ist ne Party draußen bei Bedburg. Altes Rittergut. Dieter und ich sind eingeladen. Wir könnten dich mitnehmen. Da tummeln sich jede Menge Menschen, die ihresgleichen mögen. Außerdem spielt ne astreine Bluesband.« Bedburg? Das ist schon ein Stück. Muss ich meinen Eltern beibringen. »Dieter und ich werden auf dich aufpassen, also keine Angst«, sagt er auf mein Zögern hin. »Die Leute sind völlig in Ordnung. Keine übermäßigen Spinner. Zudem muss ich am Sonntagmorgen in Sankt Marien die Orgel spielen …« Ich sehe ihn an und wiederhole den letzten Satzteil im Stillen. Orgel spielen in Sankt Marien, U-Comix verkaufen, manche indiziert. Liebt einen jungen Mann … »Guck nicht wie ein Auto. Ich war Ministrant und spiele alle zwei Wochen die Orgel zum Gottesdienst. Ist das so überraschend?«
»Ich … äh, ja, das hätte ich nicht vermutet.«
Er drückt die Kippe im Aschenbecher aus, lacht kurz wie der Hund aus der Cartoon-Serie im Abendprogramm. Etwas heiser. Dann sieht er mich mit festem Blick an. »Dieter und ich holen dich mit der Karre ab. Wo wohnst du?«
»Bernhardstraße, Bayenthal. Ich warte vor der Hausnummer 116.« Jürgen hebt den Daumen der rechten Hand.
»Wir kommen gegen siebzehn Uhr. Und jetzt noch 34 Mark und siebzig Cent.«


Katharina hatte gestern angerufen und traurig mitgeteilt, dass sie mit ihren Eltern nach Koblenz fahren würde, um irgendwelche Verwandten zu besuchen. Die Namen habe ich schon wieder vergessen. Unter normalen Umständen wäre ich enttäuscht gewesen, aber diese angekündigte Party mit den vielen Menschen, die anders sind, als das, was um mich herum ist, zieht mich magisch an. Ich habe ihr viel Spaß gewünscht, Körperteile in den Hörer geflüstert, auf die ich sie gerne küssen würde und mit einem ‚Tschüss‘ aufgelegt. Danach fühlte ich mich mindestens zwei Stunden schlecht. Hin und her gerissen. Wie eine Antilope, die von zwei Nilkrokodilen auseinandergenommen wird. Was ist nur los mit mir? Trotz meines schlechten Gewissens, stehe ich im Bad vor dem Spiegel, rasiere mich mehr als gründlich, mustere die dunkelblonden Locken auf dem Kopf, der sich so intensiv anstarrt. Auf jeden Fall werde ich heute Nachmittag noch duschen und das Parfüm benutzen, das Vater mir zum Geburtstag geschenkt hat.
»Heinrich! Frühstück!«
Ich nicke dem gutaussehenden jungen Mann zu, wasche den Rest Rasierseife ab, ziehe das T-Shirt über und gehe ins Esszimmer. Vater ist schon seit zwei Stunden unterwegs und Mutter steckt Toastbrot ins Gerät. »Könntest du nach dem Frühstück in den Edeka gehen und Mehl holen? Ich hab’s vergessen aufzuschreiben.«
»Kein Problem. Wie viel?« Mutter überlegt. Aus dem Korb nehme ich zwei Scheiben Pumpernickel, bestreiche sie mit Frischkäse und lege Schwarzwälder drauf.
»Zwei Pfund 405er und zwei Pfund 550er.« Es klackt. Allerdings rutscht die Wippe im Toaster wieder ins Gerät zurück. Mit einer Gabel holt Mutter die Scheiben heraus. »Einen neuen Toaster bräuchten wir auch«, stellt sie fest und sieht mich an. Mir ist nicht klar, ob der Blick einer Aufforderung gleichkommt, mit dem Mehl auch einen neuen Toaster mitzubringen, aber es kann ja nicht schaden.
»Die Feder ist aber schon lange kaputt …«
»So ist es«, meint sie, »und ich habe es deinem Vater schon ein dutzend Mal gesagt …«
»Kein Problem, Mama. Ich nehme Rad und Rucksack und hole bei Thielens einen neuen. Kostet ja nicht die Welt.« Sie sieht mich mit einer Mischung aus gerunzelter Stirn und amüsiertem Lächeln an.
»Kann es sein, dass du heute noch eine Erlaubnis für irgendwas brauchst?« Ich nicke und beiße ins Schwarzbrot. Kaue langsam, trinke einen Schluck Tee.
»Heute Abend ist ein Konzert in Bedburg. Eine bekannte Bluesband. Da würde ich gerne hin …«
»Bedburg? Wie kommst du denn da hin?«
»Ich hab dir doch schon von Jürgen erzählt, der mit dem Comic-Laden in der Ehrenstraße. Der fährt aufs Konzert und würde mich mitnehmen und auch wieder zurück.«
»Ist wohl auch so ein Musikliebhaber wie du …«
»Und wie. Der kennt sich richtig gut aus. Er sagt, die Bluesband heute Abend kommt noch richtig groß raus. Vielleicht kann ich da eine ihrer ersten Platten kaufen, eine Rarität wäre das.« Noch ein Biss ins Schwarzbrot, um das Flunkern abzumildern.
»Na, meinetwegen«, sagt sie dann. »Ist ja schließlich schon ein Erwachsener. Da bist du in guten Händen, nehme ich an.« Und wie, denke ich. Aber den Trumpf muss ich noch bringen.
»Jürgen ist voll in Ordnung. Zudem muss er früh zurück sein, weil er morgen in Sankt Marien wieder die Orgel spielt.« Mutters Oberkörper drückt sich gegen die Stuhllehne. Ihre Augen werden groß.
»Ach?! Er ist Organist?«
»Jeden zweiten Sonntag spielt er die Orgel im Gottesdienst.«
Sie stülpt die Lippen vor und fängt an, eine Toastscheibe mit Butter zu bestreichen. Das muss sie beeindruckt haben. Schnell den Rest vom Schwarzbrot in den Mund schieben. Schließlich muss ich noch das Büro der Spedition am Bonner Wall putzen. »Heinrich, du überraschst mich immer wieder«, sagt sie nach einer Weile.


Einen Vierfach-Toaster für nur 79,90 Mark. Der letzte seiner Art den Thielens im Schaufenster stehen hatte und noch mal zehn Mark heruntergesetzt bei gekauft wie gesehen. Das muss mir erst mal jemand nachmachen. Ich kann es kaum erwarten, ihn morgen früh auszuprobieren. Jetzt jedoch sitze ich in einem 220er Diesel und komme mir vor wie ein Spießer. Beiges Fahrzeug, Mercedes-Stern, ockerfarbene Kunstledersitze, alles peinlich sauber. Ich habe das Gefühl, ein Bild ist zerstört, eine Vorstellung von, ja, von was? Einem männlichen Pärchen? Fahren die beigefarbene 220er Diesel? Ich lebe in einer Welt falscher Annahmen. Dieter am Steuer und Jürgen hält ein Nickerchen. Den Zeitplan habe ich gerade so geschafft. Büros geputzt, unter die Dusche, noch mal rasiert und von diesem Zeug auf mich gekippt, von dem Vater sagte, für den Preis könne man als Familie eine Woche gut leben. Im Moment hocke ich jedoch stocksteif auf der Rückbank, wünsche mich zu Katharina und frage mich, wie es Paul wohl geht in Chorweiler und ob er ab und zu an mich denkt. Es wird vielleicht Zeit, dort aufzutauchen, die Angst zu überwinden. Mich der Sache stellen. Aber nur vielleicht. Eigentlich ist mir nicht klar, was ich tun soll. Nur eins steht fest: es gibt neue Welten, in die es einzutauchen gilt. Komme, was wolle.

»Heinrich?«
Die Stimme reißt mich aus den Gedanken. Jürgen schnarcht dezent. Dieter schaut kurz in den Rückspiegel. Wir verlassen die A4 auf der Überleitung zur A61.
»Ja?«
»Jürgen hat erzählt, du wärst ein wenig verwirrt. Als wenn man nach einem tiefen und langen Schlaf erwacht und erst mal völlig desorientiert ist.« Er sieht wieder nach vorne und ich bin beruhigt. Einfädeln auf die rechte Spur. Ein paar LKWs Richtung Holland, ein Camper. Dieter hat das Autofahren im Griff.
»Stimmt. Ich hab eine Freundin und liebe sie …« Jetzt muss ich eine Pause machen und über dieses Wort nachdenken: Liebe. Dieter sieht über die Schulter, in den Außenspiegel und zieht auf die Überholspur.
»Du liebst sie«, wiederholt er.
Ich seufze. »Und wie. Ich hoffe, ich weiß, was das ist … Liebe.«
»Liebe bedeutet, für den anderen da sein. So sehe ich das. Alles andere ist Verliebtsein«, sagt er, als wäre das ein ungeschriebenes Gesetz. Für den anderen da sein. Das kommt mir bekannt vor.
»Ist das nicht Nächstenliebe?«
»Auch. Ich helfe bei der Obdachlosen-Speisung. Das ist Nächstenliebe. Es ist ein Gefühl für Leid und Leben des Menschen, der sich über eine Erbsensuppe freut und dem ich zuhöre.«
»Aber mehr ist es nicht. Du bist nicht in ihn verliebt.«
»Nein.«
»Also ist Liebe so was wie ne Treppe. Untere Stufe ist Nächstenliebe im Obdachlosen-Treff, nächste Stufe dann Mami und Papi lieben dich, dann verliebe ich mich und gehe ne Stufe höher. Oder?« Dieter lacht, wechselt wieder auf die rechte Spur. Vor uns ist alles leer. Freie Fahrt.
»Das mit der Treppe finde ich gut.« Er schweigt für einen Moment. Jürgen gibt einen lauten Seufzer von sich, dreht den Kopf nach rechts gegen die Scheibe und schnarcht weiter. »Ich denke aber gar nicht mehr so viel darüber nach, was Liebe nun ist. Ich bin einfach glücklich mit meinem schnarchenden Freund. Das Schwierige war es nicht, ihn zu lieben oder in ihn verliebt zu sein oder ihm das zu beichten, das Schwierige war, mir einzugestehen, dass ich nicht so bin, wie meine Eltern wollten, dass ich bin. Nicht der war, den sie katholisch und als Familienmensch erzogen hatten.« Ich rutsche in die Mitte der Rückbank, so dass ich ihn besser im Rückspiegel sehen kann. Und er mich. Seine Worte schwirren in mir herum wie Achterbahn fahrende Ameisen. Es kitzelt überall. Mit jeder Silbe entsteht ein kleines Loch in der Wand meiner Realität, die um mich herum gebaut ist. Licht fällt von außen hindurch. Mir dämmert, dass dies wichtig ist. Erkenntnis? Eine Wahrheit, die unumstößlich ist? »Das Schwierige war, zu erkennen, dass nicht ich der Fehler bin, sondern das starre Leben um mich herum«, setzt er nach. Bergheim zieht an uns vorbei, hier und da schon ein gelb verfärbter Baum. Braune Stoppelfelder, manche gepflügt. Der Fehler ist im System, sagte er. Jürgen und Dieter sind frei. Frei in dem, was sie füreinander fühlen. So ist das. Ich komme aus dem Grübeln nicht mehr heraus. Bald bremst Dieter ab. Bedburg steht auf dem Schild. Wir sind da.

Ein Vier-Seiten-Hof, wie man sie in dieser Gegend sehr oft findet, in alter Bauweise, die Heim, Hof und Burg zugleich war. Gegen alles Gesindel oder marodierende Landsknechte schützen sollte. Ich finde, das macht Sinn. Der Typ, der mir das erklärt, ist sicher alt, aber ich kann nicht einschätzen, wie alt. Rauschebart wie die beiden Frontleute von ZZ Top, Augenbrauen, die Breschnew Konkurrenz machen; wie soll ich da ein Alter schätzen. Ihm gehört das alte Gemäuer und wie es aussieht, wird rundherum renoviert. Der Innenhof ist gepflastert mit Grauwacke, eine Bühne in der dem Hoftor gegenüberliegenden Scheune. Lautsprechertürme, Mischpult, endlose Kabelstränge und Licht. Und ziemlich viele Menschen aller Couleur. Ich denke an Woodstock und Deutsche Bank.
»Ganz schön schrille Mischung an Leuten«, sage ich spontan und schaue dem Rauschebart in den Nacken. War das zu vorlaut?
»Jo, stimmt«, ist alles, was er sagt. Jürgen sucht eine Toilette und Dieter einen Parkplatz. »Ich bin der Hans«, erklärt er, zieht ein Päckchen Schwarze Hand aus der Gesäßtasche und hält es vor mein Gesicht. »Eine drehen?«
»Ich heiße Heinrich und nein, vielen Dank. Ich rauche nicht.«
»Na jut, Jung. Schau mal im Wohnhaus, links die Küche, da is en großes Büffet. Und falls du bissken Asche übrig hast, von wegen der Kosten und so, die wirfste einfach in den Klingelbeutel.«
Er lässt mich stehen. Also Büffet in der Küche. Mitten auf dem Innenhof steht eine große Linde, um den Stamm eine recht neu gezimmerte Holzbank, zwei Frauen sitzen drauf, unterhalten sich angeregt. Eine nickt mir mit freundlichem Gesicht zu als ich auf dem Weg ins Wohnhaus vorbeigehe. Ich hebe die Hand, lächle und muss zugeben, dass es sehr ungewohnt ist, was ich gerade erlebe, diesen Mix aus jung, alt, mittendrin, bunten Klamotten, Batik, ein paar feinen Anzügen, sogar Nadelstreifen darunter. Grundsätzlich alle aber winken, nicken, lächeln sich zu, erzählen miteinander, trinken an die Wand gelehnt ein Bier. Das könnte die Menschheit sein in eintausend Jahren, stelle ich mir vor und drücke mich an zwei Männern vorbei in den Flur des Hauses. Terrakotta-Fliesen, eine holzwurmdurchsetzte Garderobe, niedrige Türrahmen unter denen ich mich durchbücken muss. Dann bin ich in der Küche und setze mich staunend auf einen ziemlich alten Stuhl mit abgewinkelten Beinen. Die Szene hier drin ist wie ein Gemälde. Ich fühle so was wie Ehrfurcht oder Dankbarkeit, ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich auch einfach gerührt. Zwei sich küssende Frauen direkt neben Männern die sich begrüßen wie hunderte Jahre alte Freunde, einem Teller verteilenden Carlos Santana-Verschnitt und neben ihm das glatzköpfige Gegenteil, Schlagzeug-Sticks im leicht gespannten Hosenbund stecken. An drei Wänden Tische, bunte Tücher als Tischdecken. Auf ihnen alles, was das Herz begehrt. An der dem Fenster abgewandten Seite ist ein großer Kachelofen in die Wand gebaut. Ich schließe die Augen und lausche allen Stimmen hier drin. Bis mir jemand auf den Kopf tippt.
»Eingeschlafen, Heinrich?«
Es ist Jürgen, Dieters Arm liegt um seine Schulter. Mehr als Kopfschütteln kann ich nicht. Aus einem unbekannten Grund kommen mir fast die Tränen. Also stehe ich schnell auf, greife nach einem Schein in der Hosentasche, finde den Klingenbeutel und werfe fünfzig Mark hinein. Wir lassen uns Teller geben.


Die Zeit schreitet voran, zieht wie der leichte Westwind an mir vorbei. Der Blues ist langsam und erinnert mich an den Besuch in den Südstaaten vor wenigen Jahren und Platten von Albert King. Jürgen hat gesagt, es ist als Konzert angemeldet bei der Kommune, von wegen Lärm und dem Parken der Autos. Weil der Gutshof außerhalb liegt, darf die Band bis Mitternacht Musik machen. Er hat mir aber eingebläut, dass es nur ein Konzert ist. Es gäbe hier weder Männer die Männer küssen noch Frauen, die Ihresgleichen küssen. So langsam leuchtet mir auch der Sinn eines Vier-Seiten-Hofes mit verschließbaren Toren ein. Das Konzert einer Blues-Band, mehr nicht. Mutters Anmerkung fällt mir ein: ‚Dann bist du ja in guten Händen …‘. In der Tat. Von kinderfressenden Schwerverbrechern keine Spur. Im Gegenteil, es ist angenehm friedlich. Und die Musik ist tatsächlich hervorragend. Der glatzköpfige Schlagzeuger ist nicht John Bonham, aber wer hätte das schon erwartet. Dieter und Jürgen stehen halblinks vor mir. Jeder den Arm um des anderen Hüfte, wiegen sie sich mit der Musik. Drei Frauen mit Batik-Shirts rechts und ein Nadelstreifen links, der sich dauernd streckt und nach etwas oder jemanden umsieht. Ich tippe Jürgen auf die Schulter, deute auf meinen Teller als er sich umdreht. Noch etwas zu Essen holen, forme ich mit den Lippen. Er nickt. Vorsichtig suche ich einen Pfad durch die Menschen und sie lächeln. Das ist ja fast schon unheimlich. Spontan denke ich an die Sanyasins mit ihren orangenen Gewändern, wie sie dauerlächelnd ihre Krishna-Bibeln auf der Hohen Straße verkaufen. Aber nein, so ist es hier nicht. Hier gibt es alles, quer durch die Bank. Von seriös bis Hippie. Ich nähere mich dem gemeinsamen Nenner. Sie alle eint das Ausgestoßensein. Menschen mit Berufen, Träumen, Studium, Wünschen, und doch müssen sie sich verstecken. Ich lächle zurück.

Die Küche ist leer bis auf einen älteren Mann, der mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl döst und einer jungen Frau; um die zwanzig eventuell. Sie trägt ein blaues Kleid, das kurz über den Knöcheln endet, die schmale Taille wird von einem breiten Ledergürtel betont. Kurze, schwarze Haare, nicht mehr als zwei Zentimeter lang. Ich bleibe stehen. Niemand sonst im Raum. Die Musik kommt zum Fenster herein und der Mann bewegt sich nach wie vor nicht. Ich sehe ein zweites Mal zu der Kurzhaarigen. Sie anzusehen ist wie ein Sonnenaufgang, nachdem ich nach Jahren die dunkelste aller Sonnenbrillen von den Augen reiße. Sofort ist mir klar, was mich so blendet: ihr Hals. Es gibt keinen längeren, schlankeren und wenn sie den Kopf dreht, muskulöseren als diesen Hals. Wie auf telepathischen Kontakt hin, bemerkt sie mich und schaut her. Ich weiß, dass ich rot werde. Sie lächelt nicht das Lächeln aller anderen. Es ist wesentlich weiter entfernt. In einem Raum fernab meiner bisherigen Erfahrung.
»Hallo«, sagt sie. Ich nicke nur und fluche über meine Sprachlosigkeit. Wie ein Trottel. »Ich bin Sabine.«
»Ja, äh … Hallo.« Sie steht einfach und sieht mich an. Schwerfällig setze ich ein Bein vors andere. Bin ich irgendwie gelähmt? Fast meine ich, stolpern zu müssen. »Heinrich.« Eine minimale Bewegung ihres Kopfes, kurz auf die Seite.
»Heinrich? Das ist aber mal ein alter Name.«
»Jo, ich bin zufrieden.« Sabine lacht kurz. Sieht sie nicht aus wie die Nofretete-Büste aus dem Museum? Was mache ich hier? »Ich wollte noch etwas zu essen holen«, bringe ich raus, aber das wird sie sich gedacht haben. Sie tut schließlich dasselbe, pikst mit einer Gabel Melonenstücke auf einen Teller, rollt Schinken und drapiert ihn dazwischen. Melone und Schinken? »Schmeckt das? Süß und salzig?« Als Antwort wickelt Sabine eines der Melonenstücke in eine Scheibe Schwarzwälder und hebt es mir hin.
»Probier!« Ich probiere. Und bin begeistert von der Kombination.
»Boah! Lecker!« Zwei Schritte trennen uns. Der alte Mann beginnt zu schnarchen, Sabine wirft einen Seitenblick auf ihn, schnappt sich zwei Scheiben vom dunklen Brot und sieht auf meinen Teller.
»Lassen wir ihn schlafen. Ich werde mal in Ruhe essen. Rechts vom Wohnhaus ist ein Gesindehaus. Dort kann man gut sitzen. Falls du Lust hast auf Gesellschaft.« Sie geht, lässt mich einfach zurück. Das blaue Kleid schmiegt sich bei jedem Schritt um den grazilen Körper. Fehlen nur die Flügel. Hungrig schöpfe ich zwei Löffel Kartoffelsalat, etwas Bohnensalat, zwei Frikadellen und natürlich Melonenstücke mit Schinken. Dazu ein Glas Orangensaft. Nichts wie raus. Rechts vom Wohnhaus, sagte sie. Das Gesindehaus ist winzig. Das arme Gesinde. Zu wievielt sie wohl darin gehaust haben? Zwei Stufen führen in einen schmalen Flur. Im rechten Raum stehen drei Holztische mit Bierbänken. Sabine hat noch nicht angefangen zu essen. Ich habe den Eindruck, sie hat nur auf mich gewartet, wusste, dass ich komme. Das sagt jedenfalls ihr Blick. Also nehme ich gegenüber Platz und spüre förmlich, wie sich ein Schirm aus Vertrauen und Geborgenheit über uns aufspannt.
»Du hast aber viel Hunger.«
Ich schaue wohl etwas betrübt drein, woraufhin sie lacht. »Mach dir keine Gedanken. Seit mein Bruder in der Pubertät ist, schaufelt er bei mir regelmäßig den Kühlschrank leer. Ich bin es also gewohnt.« Jetzt ist mir der Appetit irgendwie vergangen. Lustlos beiße ich in eine Frikadelle, die bei weitem nicht so gut schmeckt wie Mutters Fleischklopse; und den Senf habe ich noch dazu vergessen.
»Wie alt ist dein Bruder?«
»Sechzehn.«
Ich muss schlucken. So alt wie ich. »Und wie alt bist du?«
Sabines Zögern lässt mich an meiner Frage zweifeln. In irgendeinem alten Schinken sagte einer, dass man eine Dame nicht nach dem Alter fragen sollte. Ich halte das für ausgemachten Blödsinn.
»Ich bin 26, demnächst werde ich 27.« Sie lacht, denn die Überraschung ist mir wohl deutlich anzusehen. »Verzeih, wenn ich lache. Aber dein überraschtes Gesicht ist die häufigste Reaktion auf das Erfahren meines Alters.«
»Tut mir leid …«
»Ach was, das muss dir nicht leid tun. Ich sehe halt nun mal aus, wie ich aussehe.« Jetzt muss ich irgendein anderes Thema nehmen. Sie kommt mir zuvor. »Du bist sicher kaum älter als 18, nicht wahr?«
»Äh, genau genommen bin ich 16.« Sie lacht nicht, steckt sich stattdessen ein Melonenstück in den Mund, kaut genüsslich.
»Dann gehst du noch zur Schule?«, sagt sie einen Moment später.
»Ja, in die Elfte.«
Sabine dreht sich seitlich, zieht ein Bein hoch, stellt den Fuß auf die Bank, greift mit dem rechten Arm ums Knie. Das blaue Kleid spannt sich. »Ich bin neugierig, Heinrich. Du bist mit Jürgen und Dieter gekommen …« Meinen fragenden Blick interpretiert sie richtig und unterbricht sich selbst. »Ja, die meisten Leute hier kennen sich untereinander«, erklärt sie. »Wir haben am Ende nur uns. Und jetzt erzähl mir von dir. Warum bist du hier?« Sabine ist frei heraus, umwerfend. Beeindruckend schön, aber noch imposanter ist diese gelassene Direktheit. Darauf stehe ich, denn das erlaubt mir, ebenso zu sein. Kurz und knapp erzähle ich ihr die Geschichte von Paul, Katharina und dem Schwanken zwischen meinen inneren Pfeilern. Sie nickt still, mehrmals. Ihr Gesicht ist ernst. Dann schweigen wir beide für zwei Melonenstücke und den Rest der Frikadelle.
»Und jetzt erzähl von dir, Sabine.«


»Ich studiere klassischen Gesang an der Musikhochschule …«
»Ui! Echt?« Ihr Grinsen offenbart Grübchen in den Mundwinkeln. Tief und schattig.
»Ja, bald bin ich fertig.«
»Und dann?« Sie atmet tief ein und malt Figuren auf die vernarbte Holzplatte. Noten fallen mir dazu ein oder ein Teil ihrer Träume vielleicht.
»Ich träume von der Met oder der Scala.« Das sagt mir etwas.
»Also New York oder Mailand.« Jetzt ist sie dran mit dem überraschten Gesicht.
»Ich bin erstaunt. Hätte ich nicht erwartet, dass ein Sechzehnjähriger mit diesen Worten die richtigen Orte verbinden kann.«
»Naja, ein bisschen was weiß ich schon.« Ich stelle mir Sabine in einem Galakleid vor, auf einer Bühne unter einem Spot, die Ränge besetzt mit den Größen der Welt. Ihre Stimme gibt den Menschen Hoffnung, Illusionen, eine Pause vom Leben. Und doch ist sie jetzt hier an diesem Ort. Fernab der von allen akzeptierten Kunst und Kultur, zwischen Menschen, die sich verstecken müssen. Und ich bin mitten unter ihnen.
»An was denkst du, Heinrich?« Nach einem kurzen Moment fällt mir auf, dass ich den Kopf schüttle, nur behutsam. Vielleicht, um die vielen Gedankenfetzen zu ordnen, Sätze aus ihnen zu formen. Langsam legt sich Sabines Hand auf meinen Unterarm, wie ein kühler Luftzug. Der Kartoffelsalat duftet gut. Er muss warten.
»Ich fühle mich wohl hier, so geborgen. Dieter und Jürgen mag ich, es ist friedlich. So wie es sein sollte. Weißt du, was ich meine?«
»Ungefähr kann ich es mir vorstellen. Ich vermute mal, so ergeht es einigen.« Die Hand auf meinem Unterarm. Wie lang und schmal sie ist. Mutter würde jetzt auf eine Klavierspielerin tippen.
»So wünsche ich mir die Zukunft, Sabine.«
»Deine Zukunft?«
»Nein. Das wäre ziemlich egoistisch. Für Paul, Katharina, Jürgen und Dieter, die Menschen in Köln, drüben, hinterm Eisernen Vorhang, in Südafrika … warum kann es nicht überall so sein wie jetzt und hier?« Sie sagt nichts. Warum nicht? Mag sie Frauen und weiß nicht, wie antworten? Wie mir das erklären? In den Boden versinken oder aufspringen und mein Leben auseinanderreißen! Das kommt mir in den Sinn.
»Ich glaube nicht daran, dass es jemals anders wird, Heinrich«, sagt sie leise. »Jürgen und Dieter werden sich immer verstecken müssen. Oder Paula und Marion, die draußen auf der Bank saßen. Die Menschen ändern sich nicht.« Ich friere plötzlich. Als wäre die Temperatur nach ihren Worten um wenige Grad gesunken. Wie kann sie so strahlen, wenn es laut ihrer Worte keine Hoffnung gibt, jemals frei sein zu können? Sabines Hand ist nun ein Fremdkörper auf meinem Arm. Nicht mehr beruhigend. Ohne zu zögern, lege ich meine Hand auf ihre. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Ich bin kurz davor, Niagarafälle zu weinen, aber das will ich nicht. Stattdessen versuche ich zu lächeln und ihre Antwort ist das Heben eines Mundwinkels. Immerhin fast ein Lächeln.
»Kann ich nicht mal zu einem Konzert von dir kommen? Dir zuhören?«
Tiefes Einatmen, dann nickt sie.
»Warum nicht? Ruf in der Musikhochschule an und frag nach den Probestunden von Sabine Dernbach. Es kommen immer mal wieder Schüler, die wissen wollen, was auf sie zukommt, wenn sie Gesang studieren.«
»Das werde ich tun.«

»Hier bist du!«, trifft mich eine Stimme hinterrücks. Jürgen setzt sich zu uns, wirft einen Blick auf Sabines Hand unter meiner und grinst. »Dann habt ihr euch kennengelernt. Schön.« Der Schirm über uns ist weg, der Zauber verflüchtigt. »Ich bin verdammt müde, Heinrich. Ist zwar erst halb zwölf, aber ich denke, wir werden fahren. Ist das okay für dich?« Muss das sein? Jetzt schon? Kann ich nicht mit Sabine hier im Gesindehaus sitzenbleiben und die Nacht endlos ausdehnen? Stille Gedanken, die ich für mich behalte.
»Nee, kein Problem. Schließlich musst du ja morgen an die Orgel.« Das Grinsen kann ich mir nicht verkneifen und Jürgen erwidert es.
»Das hättste nicht gedacht, was? Dass ein schwuler Kerl in ner katholischen Kirche beim Gottesdienst vor der Klaviatur sitzt, nicht wahr?« Sabines Hand zieht sich zurück auf das blaue Kleid.
»Nein, wirklich nicht.«
»Iss schnell fertig. Ich hol schon mal den Daimler. Dieter hat ein Bierchen zu viel. Der kann nicht fahren.«
»Ist gut. Ich komme dann raus.« Schon ist er weg und ich starre auf den Kartoffelsalat.
»Mach den Teller leer. Ich bringe ihn dann zurück«, fordert sie mich auf. Ein Blick auf den langen Hals und das fein geschnittene Gesicht. Hier sitzen und essen, sie betrachten. Was könnte es Schöneres geben? Die erste Gabel landet in meinem Mund. Beinahe rutscht mir heraus, sie nach einer Telefonnummer zu fragen. Der Rest der Tatsachen purzelt sogleich hinterher. Zehn Jahre älter, Katharina und Paul, die endgültige Verwirrung. Also Nofretete lieber nicht anstarren, die Augen auf dem Teller halten. Noch tiefer ins Labyrinth vordringen zu wollen, macht mir Angst. Als ich den letzten Krümel aufgegessen habe, stehe ich auf. »Ich ahne, was in dir vorgeht, Heinrich«, sagt sie leise und schaut hoch. »Ich bin asexuell. Es gibt in meinem Leben weder einen Mann noch eine Frau. Ich mag es, mit Menschen Eis essen zu gehen, ins Kino, mich mit ihnen zu unterhalten. Aber ich habe kein Verlangen nach ihnen.« Ich starre sie an, versuche mich an dieses erste Wort zu erinnern. Was sagte sie? Asexuell? Bevor ich weiterdenken kann, erhebt sich Sabine vom Platz, nimmt den Teller, kommt um den Tisch herum und gibt mir einen Kuss auf die Backe. »Ich mag dich. Du erinnerst mich an einen guten Freund. Er ist ein toller Zuhörer.« Mit einem Lächeln verschwindet sie und ich warte nur noch darauf, dass es jetzt durchs Dach regnet.


Dieter schnarcht noch um einiges lauter als Jürgen. Ich denke an Mord. Wäre das Mord? Oder Totschlag? »Entschuldigung, Jürgen, aber wie hältst du das aus?«
»Immer vor ihm einschlafen«, sagt er, schaut über die Schulter, setzt den Blinker und schon sind wir auf der 61. Das nächste, was mir einfällt, ist ein altes Ehepaar, das neulich im Fernsehen zu sehen war. Vierzig Jahre verheiratet. Beide sägen ganze Wälder in jeder Nacht, sagte der Reporter. Wie soll man das aushalten? Ich muss lachen. »Was lässt dich lachen?«
»Ach, nicht der Rede wert. Eben dachte ich an ein altes Ehepaar. Zusammen schnarchend im Bett. Ihr beiden schnarcht auch. Irgendwie liebenswert, oder? Menschen halt. Mein Vater schnarcht auch, besonders mit viel Bommerlunder.« Jürgen pendelt bei 100 Stundenkilometern ein, der Diesel schnurrt ruhig. In der Ferne sieht man eines der Braunkohlekraftwerke leuchten. Eine Antwort bleibt aus. Aber möglicherweise ist er mit den Gedanken ganz woanders oder wundert sich über mein Geschwafel.
»Du hast Sabine kennengelernt«, sagt er nach einer Weile. »Das wundert mich, ehrlich gesagt, nicht. Gibt wenige, die sich an ihre Erscheinung herantrauen. Bei dir hätte ich drauf gewettet, dass ihr euch kennenlernt.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll, halte lieber den Kopf an die kühle Scheibe. Sie vibriert sanft. Er hat recht mit ‚ihre Erscheinung‘. Sie sticht aus einer Menge Menschen wie ein Leuchtturm im Wattenmeer hervor.
»Jürgen?«
»Hm?«
»Ich habe keine Ahnung, was asexuell bedeutet … also für einen Menschen.«
»Tja …« Er setzt zum Überholen eines holländischen Bananenlasters an, zieht an ihm vorbei. Es ist dunkel in der Kabine des LKWs. Die großen Reifen rauschen auf dem Teer. »Das ist gar nicht so einfach zu erklären, Heinrich. Ehrlich, so richtig nachvollziehen kann ich es nicht. Mich verlangt es nach Dieter. Also, du weißt was ich meine. Ich fahr auf ihn ab und manchmal könnte ich ihn auffressen, aber Sabine … hm, sie zieht es zu niemandem …«
»Du meinst, sie hat einfach keinen Bock, mit jemandem zu schlafen … ich hab das schon so weit kapiert, aber heißt das auch, sie kann sich nicht verlieben?« Jürgen schüttelt den Kopf. Kein Nein, eher so was wie eine Verlegenheitsgeste. Er reibt sich die Stirn.
»Das habe ich sie nie gefragt.«
»Wie lange kennst du sie schon?«
Dieters Kopf fällt auf seine Brust. Es sieht ungesund aus. Ich greife zur Arretierung der Lehne und drehe sie nach hinten, ziehe den Pullover aus, mache eine Art Kissen draus, um seinen Kopf draufzulegen. »Danke«, sagt Jürgen.
Ich vergesse meine Frage. Sie ist unwichtig. »Der Abend hat mich jetzt noch mehr in die Brühe gedrückt«, gestehe ich stattdessen und lehne den Kopf wieder an die Scheibe. »Ich muss da raus, sonst werde ich noch irre. Nächste Woche besuche ich Paul. Komme, was wolle.«
»Tut mir leid, Heinrich.«
»Schon gut. War toll da. Vor allem Sabine …«
Dieter rülpst wie eine Kuh. Er schreckt sofort hoch, sieht sich um. »Was?! Wo sind wir?« Wir lachen, was das Zeug hält.

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