Paul und die Jungs | Kapitel 3

Es ist nichts

Die letzten Grüße der Sonne in ihrer schönsten Form. Licht und Wärme. Gegen die Kühle des endenden Oktobers. Und das auf einer der neuen Holzbänke des nagelneuen Schulhofes liegend, die Länge ganz ausnutzend. Niemand sonst, nur ich. »Finden Sie das nicht ein bisschen egoistisch, Herr Konstantin?« Für diese Stimme muss ich nicht die Augen öffnen. Herr Burbacher, wer sonst.
»Nö.«
»Stellen Sie sich vor, jeder würde das tun, dann hätten wir eine Zweiklassen-Gesellschaft. Die allen Sitzplatz für sich in Beschlag Nehmenden und diejenigen, die sich die Füße in den Bauch stehen müssen, weil kein Platz ist.«
»Es gibt knapp eintausend Schüler und fünf neue Bänke. Das ist allein aus diesem Grund schon eine Klassenkampfsituation. Hätte die Stadt etwas mehr Geld in die Hand genommen und den Schulhof mit Bänken gepflastert, dann sähe es besser aus.«
»Aha!«, sagt er lauter. »Aber Sie nutzen diese Mangelsituation aus.« Die Sonne kitzelt meine Nase. Ich reibe daran, stecke einen Finger ins rechte Nasenloch und suche einen Popel.
»Meine Güte, Herr Konstantin!«
»Herr Burbacher!«
»Was?!«
»Ich mache den Vorschlag, im Werkunterricht mit allen Klassen ein kollektives Projekt zu starten: Bau von Holzbänken. Zur Förderung des gemeinschaftlichen Miteinanders und dem Schaffen von Bequemlichkeit. Wäre das ein Vorschlag in ihrem Sinne?« Er räuspert sich.
»Sie wissen, dass wir momentan keine Werklehrer haben und es keinen Werkunterricht gibt …«
»Aha! Also Mangelwirtschaft in der Schulverwaltung. Eine Folge des schlecht umgesetzten Fünfjahresplans, oder?« Es bleibt ein paar Sekunden still. Dann klickt es und Zigarettenrauch verbreitet sich.
»Sie können mich mal, Herr Konstantin«, murmelt er und inhaliert geräuschvoll. Es rasselt beim Ausatmen. Ich öffne die Augen und setze mich aufrecht. Roth Händle. Burbacher sieht mich an wie jemanden, der ihm täglich ungestraft in den Vorgarten pinkelt. Aus meiner Sicht eine Auszeichnung. Paffend wendet er sich ab und setzt den Rundgang fort. Große Pause ist gleich um und wieder mal folgt Mathematik. Dieses Mal jedoch bei einem neuen Lehrer, der ungewöhnlicherweise mitten im Halbjahr anfängt, weil unsere Mathelehrerin einen Unfall hatte und für einen längeren Zeitraum fehlen wird. Andi ist krank. Heute Nachmittag werde ich ihn besuchen, die Hausaufgaben bringen, ein wenig quatschen, lästern, vom neuen Lehrer erzählen. Andi braucht den Tratsch. Es klingelt und ich strecke mich ausgiebig.

Als ich mich im Strom der Mädchen und Jungs durch die Türen schieben lasse, sehe ich Paul aus der Toilette kommen, den Parka in der Knopfreihe versetzt zugeknöpft. Der Saum der Hosenbeine ist ausgefranst, weil sie zu lang sind und er alle zwei Schritte drauftritt, was die ganze Hose ein Stück nach unten rutschen lässt. Er winkt, greift an den Hosenbund und springt wie Münchhausen in die blassblaue Jeans hinein, die er vergeblich hochzieht. Ein paar der Mädchen vor mir kichern. Ich bleibe einfach stehen. Die Masse muss um mich herum strömen. Dann wird es leer und Paul stellt sich neben mich.
»Darf ich bei dir sitzen, solange Andi krank ist?«
»Klar, kein Problem, Paul.«
»Danke.« Ich lege den Arm um seine Schulter. So gehen wir Richtung Klassenzimmer. »Jetzt haben wir den Neuen«, merkt er an und seine Stimme ist leiser geworden. Änderungen sind nichts für ihn, bringen Nervosität und Unruhe in sein Leben. »Meinst du, der Neue ist gut?«
»Wir werden sehen, Paul. Lassen wir mal auf uns zukommen …«
»Und wenn er nicht gut ist?«
»Das wäre nicht gut für ihn.« Er sieht mich an. Aus dem rechten Augenwinkel kann ich es sehen. Zwei oder drei Mal klopfe ich auf seine Schulter.

Pünktlich und zusammen mit dem Rektor steht er vor uns, der Neue. Er ist alt. Über fünfzig, mit einer seltsamen, turmhohen Lockenpracht, grau wie ein Novemberhimmel.
»Jemand muss bei seiner Geburt ziemlich intensiv am Schädel gezogen haben«, flüstert Michael hinter mir und der Kreis um ihn kichert und lacht. Der Rektor starrt her und geht dann Richtung Fenster, ein Auge auf uns, das andere auf den neuen Kollegen, der momentan in großen Lettern ‚Herr von Baldemer‘ auf die Tafel schreibt.
»Die meisten sind gute Schüler«, beschreibt der Rektor seine Sichtweise auf diejenigen, die keine guten Schüler sind. Der Blick bleibt an uns hängen. Herr von Baldemer legt die Kreide weg und dreht sich breit lächelnd zur Klasse.
»Junge Menschen brauchen Führung«, sagt er mit Bedacht. »Führung und Vorbilder, dann geht alles wie von selbst.« Michaels Fuß trifft meinen Hintern. Ein Stöhnen folgt. Der Rektor verabschiedet sich, wünscht dem Neuen Glück und nimmt uns das Versprechen ab, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Auf die Antwort wartet er nicht, geht einfach, vielleicht froh, draußen zu sein. Ein Mädchen hustet, Paul rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her. Wir warten gespannt. Wie ein Feldherr vor der Schlacht, wandert Herr von Baldemer mehrmals von der Fensterreihe zur Tür und zurück, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. Dann bleibt er plötzlich stehen und zeichnet recht gut eine Form an die Tafel.
»Was ist das?«
»Afrika«, kommt zügig.
»Genau! Sehr gut.« Dann an der Ostküste ein Land.
»Kenia«, sagt jemand.
»Nein! Aber nahe dran. Denken Sie an früher.«
»Früher?«, fragt Paul. »Wann soll denn ‚früher‘ sein?«
»Dort war ich Missionar«, ergänzt er. Regina holt ihren Atlas aus der Schublade unterm Tisch, schlägt Afrika auf, hebt die Hand. »Tansania«, sagt sie dann. Herr von Baldemers Kopf neigt sich nach hinten, senkt sich schlagartig wieder ab. Ein gewaltiges Nicken.
»Jawohl! Tansania, und Tansania war früher was?«
»Deutsch-Ostafrika«, antworte ich. In seine Augen tritt ein Leuchten, der Blick heftet sich an mich, als wäre ich eine Boje in stürmischer See und des Neuen letzte Rettung.
»Deutsch-Ostafrika! Das ist richtig, äh …«
»Heinrich.«
»Heinrich!« Wie er es ausspricht, gemahnt es an die großen Kaisernamen oder den Löwen aus Braunschweig. »So ein schöner, altdeutscher Name.« Die Klasse kichert. Murmelt hämisches Zeug. Ich kann es ihnen nicht verdenken.
»Missionar?«, kommt es überraschend aus Pauls Mund. »Wieso Missionar? Sind Sie kein Mathematik-Lehrer?« Baldemer schüttelt den Kopf, tut Pauls zweifelnde Frage mit einem generösen Lächeln ab. Langsam kommt er ums Pult herum, auf uns zwei zu.
»Studium der Mathematik, Biologie und! Theologie. An der Universität Johannesburg. Ihr denkt, das ist unvereinbar? Aber nein!« Schweigen. Ich starre an die Tafel, zähle die Sekunden der dramatischen Pause. »Schließlich beschäftigt der Vatikan auch Astronomen«, fährt er fort, »… Physiker, Biologen. Wisst Ihr auch, warum?«
»Nö«, sagt Michael.
»Na, weil die Schöpfung natürlich wissenschaftlich erklärt werden will. Das fordern die Menschen heutzutage. Sie möchten nicht mehr nur glauben, sie möchten Gott erklärt haben.« Wir sehen uns alle an. Eine den anderen und umgekehrt. Ich spüre deutlich, dass wir sprachlos sind. Egal, ob Streber oder Revoluzzer, es hat uns zum Schweigen gebracht. Paul stupst seinen Ellenbogen in meine Seite. Ich drehe den Kopf halb zu ihm. Unsicherheit, so kann ich beschreiben, was mir auffällt. Baldemer geht wieder zum Pult und fixiert Paul. Sekundenlang. Und mit jeder Sekunde sinkt Paul mehr in sich zusammen, wird kleiner und kleiner, verknoten sich seine Finger zu einem Teig aus Knochen und Haut. Er beginnt zu schwitzen.
»Wie heißt du, mein Junge?«
»Äh, Paul …«
»Und wie weiter?«
»Müller.«
»Aha, Paul Müller …« Baldemer schlägt das Klassenbuch auf, fährt mit dem Finger die Schülerliste ab, bleibt hängen. »Ja, hier, Müller, Paul. Hm, sag mal Paul, dein Vater heißt natürlich Müller, klar, aber weißt du auch den Mädchennamen deiner Mutter?«
»Rosenzweig«, schießt es aus ihm heraus. Rosenzweig? Ich stelle mir seine Mutter neben dem Namen Rosenzweig vor. Ja, passt sogar. Eine schöne Blume mit jeder Menge Dornen. Baldemer studiert still die restlichen Namen.
»Und hier haben wir noch Blumenthal, Petra und Ehrenreich, Martin«, stellt er fest. »Das ist ja wunderschön. Könnt Ihr mal aufstehen?« Die beiden erheben sich. »Und du bitte auch, Paul.« Mit beiden Händen orchestriert Baldemer Pauls Aufstehen, schwingt die Arme auf und ab. Paul zittert unmerklich. Seine Finger liegen auf dem Tisch und werden kreidebleich, so fest drückt er. Was hat dieser Missionar vor? Gemächlich kommt er her, mustert Paul, geht zur Rückwand und zwischen den anderen Tisch zurück, zu Martin und Petra. Fixiert erst sie, dann ihn, als wären es Ausstellungsstücke.

»Also, wie gesagt, ich war Missionar in Tansania. In einer Missionsschule«, setzt er seine Erklärung fort, geht zurück zum Lehrerpult und nimmt Platz. »Aber meine Familie wollte nicht mehr länger in der Hitze leben und deswegen sind wir nach Deutschland gekommen, ins schöne Köln. Jetzt bin ich hier und werde Euch wohl in Biologie unterrichten, neben Mathematik, solange meine Kollegin krank ist.« Wieder nickt er, indem sein ganzer Kopf sich auf und ab bewegt.
»Erzählen Sie uns, was man da so macht als Missionar«, fordert ihn Michael auf. Den Unterricht vermeiden mit allen Mitteln, eine geläufige Strategie.
»Können wir uns wieder setzen?«, will Petra wissen. Baldemer winkt mit der linken Hand. Ein fürstliches Winken, wie in den alten Fernsehfilmen, die sich um Kaiser, Könige und das höfische Leben drehen.
»Na ja«, beginnt er und starrt an die abgehängte Decke. »Wir versuchten mehr oder weniger erfolgreich, den Eingeborenen Glanz und Glorie einer christlichen Gesellschaft näherzubringen, aber primitiv wie sie nun mal sind, ist das nicht einfach.« Er schlägt das Klassenbuch zu, dreht den Kugelschreiber auf dem Tisch, ist irgendwie abwesend. Offenbar zur Hälfte schon wieder in Tansania. »Wisst Ihr, ich habe es mit Musik versucht, meinem Konzertflügel, Schumann und Bach, hab an Wochenenden für die Schwarzen gespielt, die meisten sind Bantu, aber am Ende sind es doch mehr oder weniger Wilde geblieben.« Baldemer schweigt. Oder schwelgt in Erinnerungen? Ich schaue auf die Uhr, dann zu Paul. An seinem Gesichtsausdruck ist deutlich die Verwirrung abzulesen. Da ergeht es ihm wie mir und wohl allen anderen.
»Aus welchem Jahrhundert kommt der?«, höre ich Michael hinter mir flüstern. Eine berechtigte Frage. Und er soll uns was über Biologie erzählen? Unwillkürlich muss ich tief einatmen. Mir schwant, dass unser aller Schülerleben nicht einfacher werden wird.


Mutter hat geraspelten Spitzkohl mit Hackfleisch gekocht, viel Kümmel drin. Dazu gibt es Kartoffeln. Paul stopft drei volle Teller in sich hinein, wie ausgehungert. »Schön, dass es dir schmeckt«, sagt sie und grinst über beide Ohren. Ich überlege gerade, warum ich wohl keinen Bruder habe oder eine Schwester. Ich glaube, das hätte mir gefallen. Paul lehnt sich zurück, hält die Hand an den Bauch.
»Puh, Frau Konstantin, das war richtig gut. So was hab ich noch nie gegessen.« Sie lacht und Paul leert den Inhalt seines Glases in sich hinein, setzt es ab und schaut uns beide an. Ich stehe auf und stelle das Geschirr zusammen. »Warum musste ich heute aufstehen und den Mädchennamen meiner Mama sagen?« Auf das Besteck achtend, stelle ich Teller und Topf neben die Spüle.
»Du musstest was?«, höre ich Mutters Stimme.
»Unser neuer Lehrer ließ mich aufstehen und hat nach dem Mädchennamen meiner Mama gefragt. Ich bin froh, dass er mir eingefallen ist.« Im Türrahmen bleibe ich stehen.
»Das war ja nicht alles«, ergänze ich. »Er hat dann die Namensliste abgesucht, dann mussten Martin und Petra ebenfalls aufstehen.« Mutter sieht mich verwundert an.
»Ihr habt also einen neuen Lehrer? Mitten im Halbjahr?«
»Ja, du weißt doch, Frau Waldmann ist im Krankenhaus und irgendwie schieben sie jetzt die Lehrer hin und her. Den Neuen bekommen wir in Bio. Wahrscheinlich weil Herr Adam neben Bio auch noch Geschichte und Erdkunde gibt.«
»Und wie heißt der neue Lehrer?«
»Herr von Baldemer«, sagt Paul. Mutter stülpt kurz die Lippen vor. Woher sollte sie auch wissen, was im Kopf des Neuen vorgeht. Dann hebt sie eine Augenbraue und fixiert Paul.
»Wie heißt denn deine Mama mit Mädchenname?«
»Rosenzweig.«
»Rosenzweig?«
»Ich finde, das passt«, stelle ich fest. »Sieht gut aus und hat Dornen.« Paul lacht.
»Und wie heißen Martin und Petra?«, hakt sie nach.
»Petra Blumenthal und Martin Ehrenreich«, berichtet Paul. Mutters Blick senkt sich auf den Tisch, wird etwas unstet. Es ist nicht die Tischplatte, die sie sieht. Eher habe ich den Eindruck, sie ist weit weg. Tief in Gedanken versunken. Nach einer Weile steht sie auf und geht in die Küche.
»Ich nehme euch heute das Spülen ab. Ihr wollt doch noch zu Andi.« Paul und ich sehen uns an. Zu schön, um wahr zu sein. Hausaufgaben bei Andi.
»Danke, Mama.«
»Ja, vielen Dank, Frau Konstantin.«
Ein paar Minuten später sind wir auf dem Weg.

Die Woche drauf ist Andi wieder gesund. Das ist eine erfreuliche Nachricht. Die zweite, eher unangenehme Neuigkeit, ist ein Lehrerwechsel von Herrn Adam zum Neuen in Biologie. In Mathe kommen wir mit ihm zurecht. Seite für Seite im Buch, streng nach Plan, doch er kann immerhin gut erklären. Zur ersten Biostunde jedoch bringt er ein Aquarium mit, noch leer. So groß wie eine DIN A3-Seite und ebenso hoch, stellt er es an die rechte Kante der gefliesten Tischfläche und lässt Wasser hineinlaufen. Dreiviertel voll. Das war’s. Keine Erklärung. Und auf unsere Frage nach dem Sinn dieses Aquariums folgt sein schon gewohntes Abwinken. Stattdessen klappt er den linken Flügel der Tafel aus, schreibt groß ‚GOTT‘ drauf und klappt ihn wieder zu. Dann folgt der rechte Flügel und auf ihn kommt das Wort ‚EVOLUTION‘. Wieder schließt er ihn, dann dreht er sich um, hebt den Kopf. Seine Augen leuchten.
»So«, sagt er und reibt die Hände. »Jetzt möchte ich zwei Gruppen haben. Eine findet Argumente für eine göttliche Schöpfung, die zweite folgt Darwin. Also, ich sehe vor mir 36 Schüler. Dann haben wir in jeder Gruppe achtzehn Jungs und Mädels. Los geht es! Organisiert Euch! Ihr habt 30 Minuten Zeit. Ich gehe solange eine Zigarette rauchen.« Er verschwindet und lässt uns zurück. Etwa zehn Sekunden herrscht totale Stille. Ich denke an ‚Vorsicht, Kamera!‘ oder irgend so eine Quatschsendung. Überall Kopfschütteln, deutliche Fragezeichen über den Köpfen.
»Was machen wir jetzt?«, fragt jemand.
»Keine Ahnung«, kommt es im Chor.
»Am besten wir machen nichts. Ich muss noch für Geschichte büffeln«, schlägt Andi vor. Das wird schnell Konsens. Michael zückt ein Kartenspiel. Er, Markus und ich beginnen mit Skat. Die Mädchen reden oder stricken, alles zerfällt in eine lockere Atmosphäre.

Nach 30 Minuten ordnen wir uns, räumen die Tische auf und warten. Baldemer kommt zurück, blickt uns gespannt an, klatscht in die Hände. »Ich schätze, jede Gruppe hat einen Sprecher bestimmt. Dann fange ich mal mit ‚GOTT‘ an. Bitte …«
Das hätten wir vorausahnen können oder müssen. Mit betretenen Gesichtern sehen wir uns an, einige werden rot. »Nanu? Nichts? Wie kann das sein?« Eisiges Schweigen steigt wie Nebel auf, quetscht sich zwischen uns. Dann meldet sich Regina, unsere Klassensprecherin.
»Herr von Baldemer, wir fühlen uns ein bisschen überrumpelt. Im Buch sind wir bei der Zelle, dem Energiehaushalt, Mitochondrien, das ist auch das Thema der nächsten Klassenarbeit, die von Herrn Adam für in zwei Wochen angekündigt wurde. Wir verstehen nicht ganz, was Sie von uns wollen.«
Es ergeht ihm wohl ebenso, er versteht nicht. Verwunderung, Enttäuschung, ruhelose Blicke vom Aquarium zum Klassenbuch zu uns. Nach langem Schweigen setzt er sich, drückt Zeigefinger und Daumen an die Nasenwurzel. Wir haben nichts falsch gemacht. Und Regina hat eindeutig recht. Auf den Punkt gebracht. Deshalb haben wir sie gewählt. »Holt Euer Buch raus«, sagt er schließlich, »und lasst mich mal sehen, auf welcher Seite Ihr seid.«
Linder, Biologie für die Oberstufe. Regina bringt ihm ihres nach vorne, aufgeschlagen. Baldemer schaut, blättert vor und zurück, klappt es zu. »Na schön«, lenkt er ein. »Ich kenne den Linder. Wissenschaftlich exakt, aber berücksichtigt nicht die tieferen Grundlagen der Schöpfung. Na ja …«
»Das Fach heißt aber Biologie, nicht Religion«, wirft Regina ein. Baldemer beantwortet das mit einem Blick, der Wasser in Eis verwandeln könnte, schweigt aber. Der Gong erlöst uns und er schreibt etwas ins Klassenbuch, dann verschwindet er. Andi geht zur Tafel, klappt beide Seiten auf. GOTT und EVOLUTION. Schnell nässt er den Schwamm und wischt beides weg. Dafür liebe ich ihn.

Am nächsten Morgen fängt mich der Rektor ab. Herr Kurz, der Name entspricht nicht seiner physischen Größe. Noch einige Zentimeter größer als ich, kann er auf die meisten von uns herunterblicken, und das nicht nur physisch.
»Herr Konstantin!« Ich nicke und versuche zügig aus der Masse aller herauszukommen. Neben dem Hausmeister-Kabuff stelle ich mich vor ihn.
»Guten Morgen, Herr Kurz.«
»Ja, wir werden sehen, ob der Morgen gut ist.« Nicht reagieren. Mystische Andeutungen sind sein oft genutztes Werkzeug. »Ihr Vater hat mich gestern Nachmittag angerufen. Er fragte, warum Herr von Baldemer drei Schüler mit … ja, mit offensichtlich jüdischen Nachnamen hat aufstehen lassen. Hat er das?« Ich bin kurz perplex. Mein Vater? Mutters Schweigen, ihr Blick, also steckte doch mehr dahinter. Und offenbar war es ihr wichtig genug, um mit meinem Vater darüber zu sprechen. Da er aber erst spät nach Hause kam, musste sie ihn nachmittags in der Firma angerufen haben. Also wirklich wichtig für sie. Jüdische Nachnamen? Über so etwas hatte ich – nein, hatten wir – noch nie nachgedacht.
»Ja, das hat er. Erst Paul, seine Mutter heißt Rosenzweig, dann Petra und Martin. Deren Nachnamen kennen Sie ja.« Herr Kurz nickt.
»Ja, natürlich. Jüdische Nachnamen, hm, das ist wohl wahr …«
»Entschuldigung, Herr Kurz, aber ich sehe nicht ganz, um was es hier geht. Paul und ich erzählen meiner Mutter etwas und meinen Eltern ist das offenbar wichtig. Sie werden angerufen und wissen nun Bescheid … inwiefern kann ich da was für Sie tun?«
»Warum habt Ihr das überhaupt erzählt?« Mein verdutztes Gesicht überrascht ihn offenbar. »Ja, ich meine, war das ein Problem für Paul und dich?«
»Keine Ahnung, Herr Kurz, nein, es war einfach sonderbar. Seltsam. Noch nie hat irgendein Lehrer nach jüdischen Nachnamen gefragt. Schon deshalb war es außergewöhnlich.« Er kratzt sich am Kopf, zwirbelt sein rechtes Ohr.
»Na gut, also ich sehe es nicht gerne, wenn man meine Lehrer anschwärzt. Bitte haltet Euch etwas zurück.« Ich bin baff.
»Anschwärzt?! Wieso anschwärzt?«
»Unterlasst es einfach«, ordnet er an und wendet sich ab. Geht Richtung Lehrerzimmer, lässt mich stehen wie einen vergessenen Koffer auf dem Bahnsteig. Der Gong ertönt. Erste Stunde Politik. Ich beschließe, das Ganze in die Schublade ‚unnötiger Kram‘ zu packen.

Letzte Stunde Biologie. Herr von Baldemer bringt drei durchsichtige Plastikbeutel mit, in denen eine Menge Pflanzen schwimmen. Ohne eine Begrüßung legt er sie vorsichtig in das Waschbecken des Fliesentischs. »Paul, Martin und Petra, würdet Ihr mir helfen mit dem Einsetzen der Pflanzen?« Schon bei der Nennung von Pauls Namen klingelt eine Alarmglocke in meinem Kopf. Paul hüpft wie angestochen von seinem Stuhl auf, geht nach vorne. Baldemer erklärt, dass nun ein Aquarium angelegt wird, mit Frischwasser befüllt, Pumpe und Filter eingehängt werden.
»Kommen denn da Fische rein?«, will Paul wissen.
»Nein, da kommen Kaulquappen rein. Die bringe ich heute Nachmittag und morgen können wir sie uns genau ansehen.«
»Kaulquappen?«, wiederholt Paul.
»Ja«, bestätigt er. »Daran können wir sehen, wie genial Gott das Prinzip der Metamorphose angelegt hat.« Baldemer lächelt und wir sehen uns der Reihe nach an. »Während wir vier hier zugange sind, können die anderen für die Klassenarbeit lernen. Die Bausteine der Zelle und ihre Funktionen.« Ich sehe Reginas Kopf rot werden. Sie steht auf.
»Herr von Baldemer, wenn wir schon lernen dürfen, wäre es dann nicht klüger, alle lernen zu lassen? So profitieren alle davon. Wir könnten Sie zu einzelnen Punkten befragen …«
»Das könnt Ihr getrost machen.«
»Ja … und was ist mit Paul, Petra und Martin?« Er sieht die drei der Reihe nach an.
»Ihre Noten sind ganz gut, ich denke, die schaffen das auch ohne die 45 Minuten zusätzliche Lernzeit. Außerdem werden sie von ihren Genen ja unterstützt.«
»Hä?«, entfährt es Paul und Regina hebt die Hand, schnippt mit den Fingern, aber Baldemers Gesichtsausdruck verwandelt sich schlagartig. Er sieht ungehalten aus, fast wütend.
»Kein Wort mehr jetzt! Wir machen es so, wie ich gesagt habe! Ansonsten notiere ich mir das in mein Büchlein.«
»Ich helfe gerne«, sagt Paul und lächelt wie ein kleines Kind unterm Weihnachtsbaum. Immer jedem Streit aus dem Weg gehen. So kenne ich ihn. Irritiert schlage ich den Linder auf, kann mich aber nicht konzentrieren. Das Gespräch mit Kurz, jüdische Nachnamen, die Gene meiner drei Mitschüler … Baldemer öffnet eine der Tüten und nimmt vorsichtig das Seegras heraus, setzt es ein, trägt Martin auf, etwas von dem Sand anzuschütten. Alles sieht so normal aus. Immerhin mal ein Lehrer, der so kleine Projekte wie ‚ein Aquarium einrichten‘ im Unterricht einführt. Und doch stimmt hier etwas nicht …

Paul, Martin und Petra sind nicht fertig geworden mit dem Aquarium, haben sich aber bereit erklärt, noch ein wenig Zeit anzuhängen. Es wird sich maximal um zwanzig Minuten handeln, erklärt Baldemer. Ich sage Paul, dass wir mit dem Essen warten, bis er kommt. Dann machen Andi und ich uns auf den Heimweg. Wir sind still. Nur wenn Ostern und Weihnachten auf einen Tag fallen, ist Andi länger als fünf Minuten still. Es hält nur bis zur Hälfte des Weges. Der Bus fährt durch ein Schlagloch, was uns fast mit dem Kopf die Decke berühren lässt. Das hat uns aus dem Grübeln gerissen.
»Sag mal, Heinrich, hast du ne Ahnung, was da abgeht?«
»Fassen wir zusammen: Er kommt aus Tansania und erzählt gleich, dass es mal Deutsch-Ostafrika hieß. Dort hat er vergeblich versucht, den Wilden christliche Kultur beizubringen …«
»Er hat im Apartheidsstaat Südafrika studiert«, fährt Andi fort.
»… und zieht ausgerechnet die drei Schüler raus, deren Namen wohl irgendwie jüdisch sein sollen«, ergänze ich.
»Und ist zudem irgend so ein Freak, der denkt, Gott hätte die Welt und den ganzen Rest gemacht«, beendet Andi unsere Sammlung. Ich sehe ihn an und berichte von der Unterredung mit Herrn Kurz. Andi macht große Augen. Wieder verfallen wir in Grübeleien, obwohl ich weiß, dass ich sagen werde, was unsere Erkenntnis sein muss, wir es aber noch nicht aussprechen oder aussprechen können. Vielleicht ein letzter Zweifel, Überbleibsel guter Erziehung? Kurz vor der Haltestelle in der Bonner Straße steht Andi auf, drückt den Meldeknopf und geht zum hinteren Ausstieg. Ich folge ihm.
»Er ist ein Nazi«, höre ich dann. Die anderen Leute starren uns an.
»Zweifellos, Andi, da müssen wir uns wohl nix vormachen.« Der Bus hält. Zischend öffnen sich die Flügeltüren. Wir steigen aus.
»Aber ein besonderer Nazi, ein religiöser Nazi«, stellt Andi fest.

Daheim decken wir den Tisch, ich schenke uns Fanta ein, die Mutter aus Vaters Firma mitgebracht hat; Reste von der letzten Geburtstagsparty. Es gibt Spiegelei mit Kartoffelbrei und Spinat. Eines meiner Lieblingsessen und ich kann kaum an mich halten. Als Mutter sich setzt, in die Hörzu schaut und das Kreuzworträtsel auf der vorletzten Seite beginnt, räuspere ich mich laut. Sie sieht auf.
»Herr Kurz hat mich auf Papas Telefonat angesprochen.«
»Und?«
»Er sagte, er sieht es nicht gerne, wenn man seine Lehrer anschwärzt.« Mutter legt Kugelschreiber und Hörzu beiseite.
»Das hat er gesagt? Anschwärzen?«
Ich nicke und sie schweigt, bekommt wieder den Tausend-Meter-Blick. Andi nutzt die Stille und erzählt ihr vom heutigen Biologie-Unterricht. Als er fertig ist klingelt es. Paul kommt. Ich helfe Mutter die Spiegeleier zu braten in unseren beiden Pfannen, dann essen wir. Schweigend. Ein Berg aus Geröll liegt auf uns allen. Das Lästern, Quatschen, Lachen, alles weg. Verschwunden zwischen unseren Gedanken. Besteckklappern, das Sprudeln der Fanta, Schluckgeräusche. Paul verdrückt lediglich anderthalb Teller, dann schiebt er ihn ein Stück Richtung Tischmitte. »Er sagt, ich habe eine jüdische Nase. Groß und in der Mitte einen Höcker.« Mutters Gabel fällt ihr aus der Hand, landet auf dem Tisch. Sie sieht Paul an.
»Sag das noch mal«, bittet sie ihn leise. Paul deutet auf seine Nase.
»Sie ist groß und hat nen Knubbel in der Mitte. Eindeutig jüdisch.«
»Wann hat er das gesagt?«, will sie wissen.
»Wir waren gerade am gehen, da pfeift er mich zurück und zeigt auf meine Nase.«
»Haben Petra und Martin das gehört?«
Paul packt seine Gabel, dreht sie ungelenk hin und her. »Ich lüge nicht!« Mutter steht auf, nimmt den Stuhl mit und setzt sich neben Paul. Langsam zieht sie ihn an sich heran, umarmt den schmalen Oberkörper.
»Natürlich lügst du nicht. Mach dir keine Gedanken. Ich habe nur gefragt, um zu erfahren, ob wir Petra und Martin als Zeugen haben, denn was dieser Mensch zu dir und bisher gesagt hat, dürfen wir ihm nicht durchgehen lassen.« Unvermittelt kommen Paul die Tränen. Er will etwas sagen, verschluckt sich jedoch dauernd. Mutter nickt mir zu. Andi und ich stehen auf, räumen ab, schließen die Küchentür und spülen das Geschirr.
»Wir sollten was tun, Heinrich«, schlägt Andi vor.
»Das werden wir«, erwidere ich und kann dabei kaum den Topf halten, so sehr zittern meine Hände. »Wir werden etwas tun.«

Paul hat seine Mama um Erlaubnis gefragt, bei uns übernachten zu können. Sie hat zugestimmt. Während des Abendbrots reden wir über das Für und Wider, ihr von der ganzen Misere zu berichten. Paul lehnt das rundweg ab. Er hat Angst und Mutter stimmt ihm zu. Mein Vater ist radikaler, ebenso wie ich, aber letztendlich steht fest, dass wir Pauls Wunsch respektieren sollten. Nach einstündiger Debatte sind wir wieder bei Null.
»Na gut«, sagt Vater, »wir Ihr wisst, ist das Rathaus unser Kunde. Morgen werde ich dort den Personalrat fragen, was in so einem Fall zu tun ist; ohne Namen zu nennen. Einfach mal ein wenig vorfühlen. Vielleicht gibt es ja einen Weg über das Schulamt.« Alle sind einverstanden. Nach dem Abräumen holt Mutter die Spielesammlung heraus und wir beginnen mit ein paar Runden Mensch-ärgere-dich-nicht. Nach ein paar Minuten hält sie den Würfel etwas zu lange in der Hand, sieht uns an.
»Entschuldigung«, platzt es aus ihr heraus.
»Entschuldigung? Für was, Mama?«
»Ich, nein … wir haben nie wirklich mit dir über das alles geredet. Und wie viel habt Ihr in der Schule von dieser Zeit mitbekommen?«
»Von welcher Zeit?«, fragt Paul.
»1933 bis 1945, das Dritte Reich.« Wir überlegen, schwanken mit den Köpfen. Das war letztes Schuljahr.
»Wenig«, erinnert sich Paul. »Hauptsächlich den Krieg.«
»Das war bei Hinze, dem alten Sack«, fällt mir wieder ein. »Irgendjemand hat damals nach Konzentrationslagern gefragt …«
»Das war Regina«, weiß Paul.
»Genau, Regina. Sie schlug vor, nach Dachau zu fahren mit der Klasse.« Paul ist plötzlich wie ausgewechselt. Nicht nervös, eine ruhige Stimme, als hätte der ganze Mist etwas in ihm ausgelöst. Einen anderen Paul hervorgebracht, der sich bewusst wurde, was um ihn herum passiert, was manche in ihm sehen. »Wurde aber abgelehnt. Kein Lehrpersonal zur Aufsicht, haben sie gesagt«, weiß er noch und lehnt sich zurück. »Und meine Mama hat mir nicht erlaubt, ‚Holocaust‘ zu sehen. Sie sagte, das wäre nix für Kinder.« Ich ziehe tief die Luft durch die Nase. An diese Serie kann ich mich erinnern, obwohl ich nicht alles gesehen habe wegen meines Handballtrainings.
»Wir hätten mit euch darüber reden sollen«, wiederholt Mutter und knetet ihre Finger, lässt dann den Würfel fallen.
»Du bist doch erst im Krieg geboren«, sage ich, »davon kannst du ja gar nichts mitbekommen haben. Und Opa war bei den Panzern, der erzählt nur von Russland, nie von dem, was sonst noch geschah.«
»Ja, ich weiß«, erwidert sie mit leiser Stimme.
»Wir können jetzt drüber reden«, schlägt Paul vor. Mutter sieht ihn an. Dann lächelt sie und ruft Papa an den Tisch. Er bringt die Flasche Wein mit, die er geöffnet hat, setzt sich neben mich.
»Um was geht es?«
»Ums Dritte Reich«, sagt Paul. Papa nickt.
»Gut, dann sag ich euch mal, was ich darüber weiß.«

Zwei Tage später, freitags, Chemie in der fünften Stunde. Seit 45 Minuten staunen wir über das volle Aquarium, bekommen wenig vom Periodensystem der Elemente mit. Von den Pflanzen im Glaskasten ist kaum was zu sehen. Eine Armada aus Kaulquappen wimmelt durchs Wasser. Die kleinen Dinger lassen sich treiben, rudern wie wild, lassen sich wieder treiben. Bei einigen kann man ganz schwach das Ausbilden der Beine erkennen. Meine Aufmerksamkeit gilt jedoch den Flaschen mit Schwefel- und Salzsäure die hinter den Laborfenstern stehen und ob Winterberg vor dem Ende die Scheiben verriegelt. Er tut es nicht und aus der Tasche nehme ich den schwarzen Edding. Noch die Hausaufgaben, lernt schön, ein schönes Wochenende, sagt er, dann ist er draußen. Ich stehe auf und nehme die Flasche mit der Salzsäure, kontrolliere, ob der Glasstopfen fest drauf sitzt und schreibe auf das Etikett ‚Zyklon B‘, stelle sie wieder zurück, so dass man mein Gekritzel nicht sehen kann. Andi und Paul stellen sich vor das Aquarium, inspizieren die vielen Tierchen darin. Es müssen hunderte sein. Baldemer kommt herein und sieht uns vor dem Aquarium. Freudig erregt wird er schneller, legt Tasche und Jacke ab.
»Ah, ich sehe, Ihr studiert schon den Fortgang der Metamorphose, die Beinchen entstehen, nicht wahr?«
»Die Masse an Kaulquappen braucht doch Platz für die Entwicklung«, mutmaßt Andi. »Ist doch viel zu eng da drin, oder?«
»Na ja, ein paar werden es nicht überleben, das stimmt schon. Ich werde später etwa die Hälfte rausnehmen.«
»Und wohin damit?«, will Andi wissen.
»Ja, also, mal sehen. Wir wollen ja nur beobachten, wie sich die Verwandlung auswirkt und uns mal Gedanken drüber machen, ob ein so komplexer Plan wirklich von alleine entstehen kann. Ob da nicht göttliches Handwerk dahinter steht.« Michael kommt zu uns, schaut von oben ins Aquarium.
»Haben Sie in Johannesburg eigentlich zusammen mit schwarzen Menschen studiert?«, fragt er die wimmelnde Masse im Wasser.
»Wie bitte?« Baldemer ist perplex. »Haben Sie mich gemeint?«
»Ich habe gestern meine Mama gefragt«, beginnt Andi und lehnt sich an die Tafel. »Sie sagte, ich hätte auch eine krumme Judennase. Aber mein Papa meinte, wir wären reine Arier. Sie sehen ja, ich bin blond und blauäugig.«
»Jaja, das sehe ich …«
»Ich bin das nicht«, wirft Paul ein. »Ich bin sicher ein Halbjude oder so. Und was würden Sie am liebsten mit Juden machen, Herr von Baldemer? Diesen krummnasigen Untermenschen?«
»Äh …«
»Sie müssen ausgerottet werden«, schlage ich vor. »Was meinen Sie, hat ihr christlicher Gott damals Beifall geklatscht, als man die Juden vernichtet hat?« Aus dem Laborkasten nehme ich die Flasche und zeige ihm das Etikett. »Sehen Sie, Zyklon B, ich habe mir sagen lassen, dieses Zeug wirkt astrein …« Die anderen treten beiseite, ich nehme vorsichtig den Glasstopfen raus und gieße ein Viertel der Säure ins Aquarium. Das Sterben beginnt umgehend. Eine Art Zersetzung, das Aufweichen von Fleisch. Langsam trübt das Wasser ein.
»Nein …«, haucht Baldemer schwach. Langsam setze ich den Stopfen ein, stelle die Flasche zurück, schiebe das Fenster zu und arretiere das Schloss. Nicht, dass noch etwas passiert.
»Sind nur Juden, äh, Kaulquappen«, sagt Andi.
»Ja, nur Kaulquappen. Das ist quasi nichts«, nickt Michael.
»Es ist nichts«, meint Paul. Wir setzen uns. Die Klasse ist still. Sie wussten es nicht, nur wir vier. Ich räuspere mich lautstark und stehe wieder auf.
»Mein Vater war gestern beim Schulamt. War ne offizielle Beschwerde, von wegen, der neue Biolehrer ist ein Nazi und so. Mal sehen, was dabei rauskommt.« Baldemer schweigt. Nach einer gefühlten Ewigkeit oder besser, einer Minute, steht er auf und geht. Wir erfahren ein paar Tage später, dass er sich hat versetzen lassen. Außerdem müssen wir zwei Wochen lang an je drei Tagen den Schulhof fegen, wegen der Kaulquappen. Aber das ist so gut wie nichts.

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