HudRvK | Kapitel 9

Der verlorene Opa

»Heinrich?« Die Deckenlampe blendet mich. Ein dickes Sandkorn drückt gegen das Augenlid und ich kratze es weg. Es klebt ein wenig. Mama nimmt die Bettdecke beiseite und hievt mich aus dem Bett, stellt mich auf die Beine.
»Mama, was ist denn?«
»Wir wollen alle Opa suchen und da kannst du nicht hierbleiben«, erklärt sie, zieht mir Oberteil aus und das Unterhemd an. Was hat sie gesagt? Opa suchen? »Wo ist denn Opa?« Strumpfhose an, Hose drüber. »Draußen ist es kühl. Ich zieh dich dicker an. Wenn man aus dem Schlaf geweckt wird, friert man schneller.« »Wo ist denn Opa?«, wiederhole ich. Mama atmet tief ein, nimmt den Kopf zwischen ihre Hände.
»Wir wissen es nicht. Oma hat geschlafen, ist aufgewacht und Opa war weg. Die Haustür stand
offen und auch das Gartentor. Seine Kleider sind aber noch da. Er ist wohl …«
»Kommt ihr?!«, ruft Papa von draußen.
»Komm, Heinrich. Du kannst bei Onkel Heinz und mir im Auto fahren. Papa und Tante gehen zu Fuß. Oma fährt in einem Polizeiauto. Ein Polizist bleibt hier.«
Ich staune. »Ein Polizist?« Wir gehen hinaus, die Außentreppe hoch und auf die Straße. Zwei Polizeiautos und vier Polizisten stehen vor der Garage. Einer reicht Papa ein kleines Gerät und zwei Taschenlampen. Ich reibe meine Augen und gähne. Es kribbelt in mir, den Rücken hinab, sogar auf meinem Kopf. Das ist selten. Bauchweh meldet sich dumpf und Mama setzt mich auf den Rücksitz von Onkel Heinz‘ Ford.
»Gehen Sie bitte Richtung Kräheneck! Melden Sie sich von dort!«, sagt ein Polizist zu Papa und Tante. »Wenn Sie mit uns sprechen wollen, drücken Sie auf diese lange schwarze Taste«, erklärt er. »Dann rufen Sie: ‚Baden eins‘ für ‚Baden zwei‘. Sie sind ‚Baden zwei‘. Verstanden?«
»Alles klar«, erwidert Papa und zieht Tante am Ärmel. Sie verschwinden in der Nacht. Mama setzt sich neben mich.
»Es ist jetzt zwei Uhr achtunddreißig«, meint ein zweiter Polizist. »Wir suchen bis vier Uhr. Dann müssen wir eine Hundestaffel anfordern.« Er zeigt seinen Kollegen eine Karte. Sie einigen sich über die Straßen und Staffeln, die sie absuchen wollen. Mein Herz klopft wild. Jeden Schlag spüre ich im Hals. Mama zieht mich zu sich. Opa fällt mir ein. Im Schlafanzug durch die Nacht. Ihm ist doch bestimmt kalt. Onkel Heinz steigt ins Auto, der Polizist auf den Beifahrersitz. Er nimmt die Mütze vom Kopf und das Licht der Straßenlaternen spiegelt sich in seiner Glatze. »Fahren Sie im Schritttempo den Gänsebuckel hinunter, dann in die Bekstraße«, fordert er Onkel Heinz auf. Wir fahren los. »Der Fahrer fährt und guckt nur nach vorne, bitte«, dann dreht er den Kopf und sah Mama an. »Sie schauen links aus dem Fenster, ich rechts und vorne.«
»Ist gut«, antwortet Mama. Ihre Stimme zittert und ich drücke mich an sie.
»Ihr Vater ist bei uns schon zwei Mal als abgängig eingetragen«, meint der Polizist, »aber beide Male kehrte er von allein zurück. In den Unterlagen steht, dass er manchmal verwirrt ist, aber nicht warum. Erklären Sie mir das bitte.«
Mama seufzt. »Im Krieg, in Norditalien, hat er Schutz in einem Granattrichter gesucht und wurde dort verschüttet. Seine Kameraden gruben ihn aus. Zu lange zu wenig Sauerstoff ist wohl die Ursache für seine Verwirrtheit. Aussetzer hatte er schon immer. Er kann nur noch halbtags arbeiten, und das meist daheim …« Sie beginnt zu weinen und bringt keinen Ton mehr raus.
»In der letzten Zeit nehmen die Aussetzer zu«, setzt Onkel Heinz fort. »Wir sind schon lange dafür, dass …«
»Heinz!«, fährt Mama ihn an und haut auf seine Schulter. »Du bist dafür. Mutter und ich aber nicht!« Sie ballt ihre Hand zur Faust. Eine zitternde Faust, an ihrem Arm um meine Brust. Es schmerzt und ich versuche mich aus der Klammer zu befreien. »Mama …«
»Beruhigen Sie sich«, sagt der Polizist ein wenig lauter. »Wir sind unterwegs, um ihn zu finden. Das ist jetzt wichtig! Konzentrieren wir uns.«
Wir schweigen, Mama lässt mich los, rutscht an ihre Scheibe und starrt hinaus.
»Der verdammte Krieg«, flüstert der Polizist nach einer Weile. Onkel Heinz fährt durch die Bekstraße. Das muss der Krieg sein, von dem Opa immer erzählt. Der, in dem viele böse Menschen waren. »Wie gut ist ihr Vater zu Fuß?«
»Sehr gut«, sagt Mama. »Wirklich sehr gut.«
»Mist«, erwidert der Polizist. »Er könnte ja überall sein.«

»Waren Sie im Krieg?«, fragt Onkel Heinz gegen die Windschutzscheibe. Der Polizist starrt weiter hinaus, folgt Zäunen, Einfahrten, Hecken, dreht sich immer wieder nach etwas um.
»Das war ich«, murmelt er. Ich verstehe ihn kaum. Aber seine Stimme ist nicht mehr dieselbe. Nicht mehr die Stimme eines Polizisten, der uns erklärt, was wir tun sollen. »Ich rede nicht darüber, wenn es Ihnen recht ist.«
»Tschuldigung«, gibt mein Onkel etwas leiser von sich.
»Fahren Sie jetzt die Emilie-Binder-Straße runter und rechts in die Sonnenbergstraße. Am Spielplatz bitte langsam.«
»Mach ich.«
Das langsame Tuckern und die Stimmen schläfern mich zusehends ein und ich lege den Kopf auf Mamas Schoß. Opas Stimme taucht in meinem Kopf auf, sein Gesicht. Er sitzt vor dem Arbeitsbrett und feilt an Münzen, gibt mir sein Werkzeug zur Begutachtung. Ich bin ein guter Goldschmied, erklärt er stolz und ich frage mich, ob ich das auch werden könnte. Ich schlafe ein.

Krächzen, ein lautes Knacken, dann rauscht es. Stimmen wie aus einer anderen Welt. Ein Zittern überrascht mich und ich spüre die Kälte. Mamas Hand liegt auf mir und fühlt mein Zittern ebenfalls. »Heinz, hast du eine Decke hier?«
»Im Kofferraum.«
Das muss die Stimme meines Onkels gewesen sein. Wo bin ich? Eine Tür öffnet sich und kühle Luft weht herein. Dann ein lautes Knacken. »Baden eins für Baden-Zentrale. Bitte wiederholen
Sie das.« Die krächzende Stimme kehrte zurück. »Unbekannte männliche Person auf Brötzinger
Eisenbahnbrücke entdeckt. Hat ein Busfahrer der Stadtwerke gemeldet. Baden zehn kontrolliert.«
»Baden eins hier. Verstanden.«
»Vielleicht ist er das«, höre ich Mama sagen. Dann fällt die Autotür zu und eine dunkelrote Decke wird über mir ausgebreitet. Ich kuschle mich hinein und spürt Mamas Hände auf meinem Kopf.
»Vielleicht.« Ich erkenne die Stimme des Polizisten. Langsam kehrt die Welt zurück. Opa abgehauen. Mit Schlafanzug in die Nacht. Jetzt spüre ich Angst. Mein Opa. Ich mag ihn sehr. Aber ich weiß auch, dass noch ein Krieg in seinem Kopf ist, denn davon erzählt er und meist weint er dann.
»Wo fahren wir hin?«, fragt Onkel Heinz.
Der Polizist atmet hörbar ein und aus. »Wir sind bis zur Büchenbronner Straße alles abgefahren und über die Hercyniastraße zurück …« Er schweigt und Onkel Heinz startet den Motor. »Ich weiß ja nicht«, meint der Polizist, »aber ich glaube, er ist durch den Tunnel gelaufen. Ich könnte wetten.«
»Durch den Tunnel?«, wundert sich Mama.
»Warum denn das?«
»Wenn es so ist, wie Sie sagen, verwirrt und das seit dem Krieg, dann ist es gut möglich, dass er das tut, was im Krieg notwendig war, nämlich Schutz suchen. Und was bietet besseren Schutz als ein Tunnel?«
»Mann, so ein Kerl!«, platzt es aus Onkel Heinz raus. Es krächzt und die Stimme ruft uns.
»Ja, Baden eins hört.«
»Etwa sechzigjähriger Mann, weiße Haare im blauen Schlafanzug. Kollegen sind schon da. Anfahrt über den Hanfackerweg. Krankenwagen ist unterwegs und der Frühzug wird zurückgehalten.«
»Gott sei Dank fährt da nachts kein Zug«, sagt Mama mit versiegender Stimme und beginnt wieder zu weinen.
»Zum Hanfackerweg, bitte«, fordert der Polizist Onkel Heinz auf. Ich staune über den langsam heller werdenden Himmel, die erwachende Stadt, so viele Menschen in den Bussen und Autos. Kurz bevor wir den Bahnübergang erreichten, dreht sich der Polizist zu uns. »Steigen Sie aus, wenn Sie möchten, aber warten Sie bitte am Auto. Laufen Sie nicht aufs Gleis oder am Damm zur Brücke. Überlassen Sie das den Kollegen.« Er sieht mich an und lächelt. Onkel Heinz biegt in den Hanfackerweg und parkt vor dem Bahnübergang. Ein Krankenwagen steht auf der anderen Seite und ein Polizeiauto links von uns. Die blauen Lichter malen seltsame Schatten auf die Häuser. Es kitzelt wieder.
»Mama, ich muss mal.« Sie sieht mich an und nickt. Onkel Heinz steigt aus und Mama nimmt meine Hand. Wir verlassen den Ford und stellen uns an eine Hecke. Ich versuche zu pinkeln. Dabei sehe ich nach links, unter den Bäumen durch. Auf der Brücke stehen Männer und da sehe ich Opa. Er steckte in einer großen Decke und sie reden offenbar auf ihn ein. Das Rauschen des Flusses schluckte alle Geräusche.
»Fertig?«
»Ja, Mama.«
»Dann komm schnell. Es ist kalt.« Wir gehen zurück zu Onkel Heinz‘ Auto und steigen ein. Zwei Polizisten und zwei andere Männer in grauer Uniform bringen Opa über die Gleise zum Bahnübergang. Er schaut auf den Boden, legt sich freiwillig auf die Bahre, die vor dem Krankenwagen steht, dann schieben sie ihn hinein.
»Wo geht Opa denn jetzt hin? Geht er nicht mit uns nach Hause?« Es ist so still im Auto. Ich drehe mich zu Mama und sehe, wie das blaue Licht ihre Sommersprossen rhythmisch abdunkelt. Dann entdeckte ich ihre ebenso blauen Tränen und denke an ein Bild in meinem Weltraum-Buch, voller großer Sterne in schwarzer Welt.
»Mama?« Sie schüttelt nur den Kopf und schließt die Augen.
»Sag nichts, Heinrich. Komm her.« Ich drücke mich an sie und horche auf das Pochen in ihrer Brust.

»Morgen holen wir Opa«, sagt Mama freudig und strahlt mich an. Mit der Hand verstrubbelt sie meine Haare. Onkel Heinz hatte mir nach dieser abenteuerlichen Nacht erklärt, dass Opa jetzt vollkommen verrückt geworden sei und nun in der Klapse säße; wer weiß für wie lange. Und vielleicht käme er nie wieder, was ich abends Mama erzählte und sie seufzend als Blödsinn abtat. Natürlich kommt Opa wieder, beruhigt sie mich. Er sei eben ein wenig krank vom Krieg und die Ärzte werden ihn ein paar Tage beobachten, aber das würde schon in Ordnung kommen. Ich war beruhigt. Ein Haus ohne Opa? Unvorstellbar.
»Ist er wieder gesund?«
»Gesund ist er natürlich nicht, denn wenn das Gehirn ein Weilchen ohne Sauerstoff ist, dann bleiben Schäden. Aber er ist jetzt wieder ganz bei sich.«
Ein Weilchen ohne Sauerstoff …
»Wie lange ist denn ein Weilchen, Mama?«
Sie denkt nach. »Die Grenze ist um die zwei Minuten, habe ich mal gelesen.« Zwei Minuten hört sich sehr wenig an. Und die Suche nach Opa dauert viele Stunden. Und dann all die Tage im Krankenhaus …
»Mama? Ist es nicht besser, wenn wir das Gartentor abschließen und Opa den Schlüssel wegnehmen? Wenn er dann wieder abhauen will, muss er im Garten bleiben, oder?«
Sie hebt die Augenbrauen, starrt mich an und beginnt laut zu lachen. Hört gar nicht mehr auf, setzt sich auf den Küchenstuhl und zieht mich an sich. Dieses Mal hat sie Tränen in den Augen vom Lachen, und das ist nicht schlimm.

Wir fahren das Nagoldtal entlang und ich finde es wunderschön. Ab und zu starre ich durch die Seitenscheibe auf den vorbeiziehenden Straßenrand, folge der weißen Seitenlinie, die sich mal nähert und dann wieder entfernt. Wie ein Zug auf den Schienen, denke ich. In Bad Liebenzell halten wir am Kiosk vor dem Kurpark und Mama kauft drei Eis. Im Auto wird kein Eis geschleckt, sagt Onkel Heinz. Mama und ich lehnen an der Kioskwand und Onkel an seinem weißen Ford. Er sieht aus wie einer dieser großen Jungs, denen ich ungern begegne. Das Knie angewinkelt und einen Fuß auf den Reifen gestellt. Ich beiße ein großes Stück ab und schiebe es im Mund hin und her. Es ist schrecklich kalt!
»Na? Kalt, was?« Mama grinst. »Nicht so große Stücke auf einmal. Manchmal bekommt man Kopfweh davon.« Ich nicke und atme mit leicht geöffneten Lippen ein. Auf der anderen Talseite fährt ein Zug. Rote Lokomotive und zwei grüne Personenwagen. Wir hätten auch mit dem Zug fahren können, durch die vielen Tunnel, immer neben dem Wasser. Onkel Heinz steigt ins Auto.
»Komm! Iss auf! Opa wartet.«

Das Krankenhaus liegt mitten im Wald, auf einem Berg über Hirsau. Der Ford muss ziemlich arbeiten, um dort hochzukommen. Onkel Heinz schaltet immer wieder und der Motor hört sich wie Omas Küchenmaschine an, wenn sie Karotten raspelt. »Wenn die Karre jetzt verreckt, dann werde ich aber wütend! Er hätte auch mit dem Taxi fahren können!« Mama schweigt und guckt seitlich aus dem Fenster. Ich denke an Opa und seinen Krieg. Manchmal träume ich von dem, was er mir erzählt. Ob ich auch mal in den Krieg muss? Niemals werde ich das tun, nehme ich mir vor. Auf keinen Fall. So viele tote Menschen. Für was soll das gut sein? Opa ist krank geworden. Also ist Krieg zu nichts zu gebrauchen. Und doch weiß ich, dass ich mich gerne grusle und immer interessiert zuhöre, wenn es spannend wird. Wie Raumschiff Enterprise. Etwas ist wohl nicht in Ordnung mit mir …
Onkel Heinz fährt durch eine Schranke und parkt unter einem Baum, den er Linde nennt. Die versaut mir den Lack, stellt er fest und wir steigen aus. Ich entdecke Opa unter einem großen Vordach, einen Koffer neben sich. Er winkt uns zu. »Opa!«, rufe ich und renne quer über den Parkplatz zu ihm, prall ungebremst gegen ihn und werde hochgehoben. »Vorsicht, kleiner Mann«, grinst er mich an. Er ist unrasiert. Seine Augen strahlen. Von hinten schlingen sich Mamas Arme und beide.
»Tag«, sagt Onkel Heinz und nimmt den Koffer. »Gehen wir? Ich will noch den Rasen mähen.«

Endlich gehen wir wieder spazieren. Über den Wasserleitungsweg in den Schwarzwald hinein, vorbei an der Baumwüste, die der Tornado hinterlassen hat. Ich erzähle Opa von der Schule an diesem Vormittag und denke dabei an meine Frage, die ich mich nicht zu stellen traue. Ob in Opas Kopf wieder alles in Ordnung ist. Als wir die Baumwüste hinter uns lassen und in den Schatten der hohen Tannen eintauchen, uns die Kühle umgarnt, wir auf keine der Ameisenstraßen treten wollen, ich Opas große, warme Hand halte und zu ihm aufschaue, meine ich in einer anderen Welt zu sein.
»Weißt du, Heinrich, das in meinem Kopf …«, beginnt er von sich aus, um doch wieder kurz innezuhalten, tief Luft zu holen, »das in meinem Kopf ist wie ein Schatten. Wie die kühlen Schatten der Tannen hier.« Seine freie Hand beschreibt einen Kreis. »Ich spüre ihn kommen und dann ist alles Nebel. Ich höre die Stimmen von damals, Explosionen und das ganze Geschrei und kann mich dazwischen verlaufen. Als würdest du in ein Zimmer nebenan gehen, das nur manchmal existiert. Weißt du, wie ich meine?«
Ein Zimmer nebenan, das nicht immer da ist? »Nein, Opa. Aber kannst du nicht die Augen offen lassen und Mama und mich angucken, wenn der Nebel kommt? Du siehst uns. Dann kann doch nichts passieren, oder?«
»Niemand will das hören, Heinrich. Niemand will wissen, was ich zu erzählen habe. Als wäre es nur in unseren Köpfen passiert.«
»So wie ein Traum?«
Er sieht mich an und reibt sein unrasiertes Kinn. Ein Vogel keckert laut und eindringlich. »Ein Eichelhäher, der Alarmvogel im Wald«, stelle ich fest. »Mama hat mir das gesagt.« Ich weiß nicht, ob Opa den Eichelhäher überhaupt gehört hat.
»Du bist wirklich der Einzige, der mir zuhört«, sagt er fast abwesend. Diese brüchige Stimme erkenne ich und mir wird mulmig im Bauch. So weit von daheim weg. Die Kurve nach Neuenbürg haben wir schon passiert. Wenn nun wieder etwas mit Opa ist? Was soll ich dann tun? Der Abzweig nach Waldrennach kommt in Sicht und er zieht mich in die kleine Schutzhütte. Wir setzen uns auf die Rundbank. Am Türpfosten allerlei eingeschlagene Wegmarken. Farben und Zeichen für die Wanderer, hat Opa mal erklärt. So fänden sie sich im Schwarzwald immer zurecht. Aus meinem kleinen Rucksack nehme ich einen Apfel, beiße zwei Mal hinein und reiche ihn weiter, aber er lehnt ab und sich an die Holzwand, die voller Spinnweben ist.
»Der Doktor hat nur gesagt ‚Sie müssen das vergessen‘ und mir Tabletten gegeben. ‚Es sei ja auch viel Gutes passiert‘ meinte er allen Ernstes.«
»Was denn?«, frage ich neugierig. Opa lacht. Es klingt wie ein Hustenanfall.
»Das habe ich mich auch gefragt. Offenbar war er nicht im selben Krieg wie ich. Oder irgendwo, wo es besonders schön war.« Wo es besonders schön war … aber Opa sagte, Krieg sei nicht schön. Wo sollte das also sein?
»Opa? Darf ich dich was fragen?« Er klopft auf meine Schulter und ich drehe den Apfel hin und her. »Du hast gesagt, im Krieg sind die Menschen böse.« Ich sehe ihn an und er nickt. »Dann sind sie vorher nicht böse? Und ich verstehe nicht, wie die Menschen dann nach dem Krieg auf einmal wieder gut werden? Oder bleiben sie böse?« Er starrt mich an, als wäre ich ein Geist. Dann wandert sein Blick von mir weg, auf etwas, das ich nicht sehen kann. Ich lasse den Apfel fallen. Er schmeckt nicht. Dann rutsche ich an Opa heran und lege meinen Arm um ihn, so gut es geht. Eine große rote Waldameise entdeckt den Apfel.


Bild von Caroline Dabrunz ©2021

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