Paul und die Jungs | Kapitel 6

Das Verblassen beginnt

Knapp sechs Wochen durchgearbeitet, inklusive dreier Wochenenden. Ein großer Metro-Markt in Düsseldorf. Bauschlussreinigung nennt sich so was. Kaum Andi gesehen, nur zweimal Katharina in Bonn; und Paul, aber nur für eine halbe Stunde im Eiscafé. Kaum Zeit, um zu reden. Ich habe keine Ahnung, was mit ihm ist, ob gesund oder nicht, ob er den Job liebt, vielleicht einen Freund hat. Ich denke an ihn und alle anderen, habe Sehnsucht nach meiner Freundin und nach Andi. Eines jedoch sticht beständig hervor in diesen Wochen. Besonders in den Nächten, in denen ich nicht völlig kaputt und traumlos bis zum Morgengrauen durchgeschlafen habe: Pauls Kuss auf der Brücke. Das Echo erregt mich immer heftiger, je länger der Kuss zurückliegt, vor allem, wenn ich im Dunkeln alleine mit Sehnsüchten und Erinnerungen bin. Dann bewege ich die Hände zur Brust, zwei, drei Finger an die Warzen, von denen ich bisher nicht wusste, wie groß und hart sie werden können. Ich bin verwirrt und spüre tiefes Glück. Langsam drehen, zwirbeln, ziehen und abkühlen lassen. Und den Kuss im Kopf. Ich tauche in mich ein, bis Bilder kommen, die lediglich meiner Fantasie entstammen; Paul nackt neben mir. Das Zucken im Unterleib, der warme Strahl aus meinem Glied, das ist wunderschön, ein Punkt am Ende eines Märchens. Doch als Ausrufezeichen, als den Aufstieg zum Gipfelgrat, empfinde ich die Minuten bis zu diesem erlösenden Punkt. Dann kommen die Zweifel. Mitten in den Ferien. Bin ich noch normal? Und was ist noch mal normal? Mir wurde klar, dass ich tiefer gegraben hatte und in ein paar neue Schichten meines Selbst vorgedrungen bin. Wie viel unentdecktes Land dort wohl noch existiert? Ich bin bereit, auf die Suche zu gehen.

Während zweier Wochenenden mit Katharina verschwand Pauls imaginärer Körper und an seine Stelle trat ihre betörende Blässe, reale Nacktheit, unser beider stilles Empfinden. Wie Magnete strichen meine Finger über zahllose Sommersprossen, kraulten durch rotblonde Haare. Warum sollten ihre Brustwarzen etwas anderes fühlen als meine? So übertrug ich den Zauber auf sie und wir entdeckten zusammen bisher verborgene Landschaften. Ich bin tief beeindruckt. Jenseits der Stadt, abseits von RAF, NATO-Doppelbeschluss, Eisernem Vorhang und Nazis an der Schule, gibt es eine Brücke zwischen uns winzigen, unwichtigen Menschen. Die Zärtlichkeit. Sie ist sogar in der Lage, eine Brücke ins Selbst zu bauen. Dann kam der erste Schultag. Diese Erkenntnis und die im Ferienjob verdienten 4.500 Mark versüßten ihn mir. Ich träumte lieber mit den windbewegten Platanenblättern vor dem Fenster. Das ließ mich den Blick auf Pauls leeren Stuhl vor mir verkraften. Mit den Gedanken bei Katharina und wie zwanghaft auch an ihn, versuchte ich meiner Erregung Herr zu werden. Bloß nicht mit einem Steifen vor der Klasse stehen. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto weniger Scham blieb übrig. Mitschüler, Stundenplan, Liste der Fächer und Materialien, wen interessierte das?


»In welchen Kursen bist du jetzt?«
»Mathe, Englisch, Deutsch, der ganze Naturwissenschafts-Kram, Französisch als Zweitsprache. Und noch Schach und Schwimm AG.« Mutter kratzt sich am Ohr.
»Hattest du dich nicht für Hauswirtschaft angemeldet?« Ich ziehe eine Grimasse und stelle dabei Teller und Gläser auf den Tisch, verteile das Besteck.
»Hatte ich. Dann habe ich meinen Namen aber auf der Schachliste gefunden, also bin ich zur Sekretärin. War aber ein Reinfall. Sie hat mich ausgelacht und es für einen meiner üblichen Scherze gehalten. ‚Aber Herr Konstantin, Jungs gehen doch nicht in Hauswirtschaft‘, hat sie gemeint.«
»Also haben sie dich einfach von der Liste gestrichen und irgendwo anders eingetragen?«
»Haben sie.« Mutter schüttelt den Kopf. Was gibt es da noch zu sagen? Idioten eben. Mit hochgezogenen Augenbrauen geht sie in die Küche, kommt mit dem Kartoffelbrei wieder raus.
»Stell bitte den Topf mit den Rouladen auf den Tisch. Der ist mir zu schwer.«
»Klar.«
Kartoffelbrei, Rotkohl und Rouladen … ein Gedicht von Mittagessen. Ich höre den Schlüssel in der Wohnungstür.
»Papa kommt?«
»Ja«, bestätigt Mama und stellt zwei Flaschen Gaffel auf den Tisch. »Heute Nachmittag ist Eröffnung der neuen Waschstraße in Wesseling mit Lokalpresse und Fotos.« Der gusseiserne Topf ist fast randvoll mit brauner Soße und einer Menge Fleisch. Vorsichtig stelle ich das enorme Gewicht auf dem Untersetzer ab. Ein letzter Blick. Alles da, also hinsetzen. Vater kommt ums Eck, die Hemdsärmel hochgekrempelt, den Krawattenknoten gelockert, gibt Mutter einen Kuss und klopft mir auf die Schulter.
»Tag, Heinrich. Sag mal …« Er rückt den Stuhl weg vom Tisch und setzt sich. »Hast du noch jemanden, den ich in der HNO-Praxis einsetzen kann? Schade, dass Paul weg ist. Der Doc war sehr zufrieden mit ihm, und Frau Mahlkens muss ich wieder rausnehmen, weil sie nur morgens arbeiten kann.« Er sieht mich erwartungsvoll an, öffnet ein Gaffel mit dem Gabelgriff. Mutter rollt die Augen. Sie schiebt demonstrativ den Flaschenöffner neben seinen Teller.
»Vielleicht …«, entgegne ich und denke an Andi. »Andis Freundin hat vor ein paar Tagen gefragt, ob es bei uns einen Job gebe. Sie braucht Geld für den Führerschein.« Mutters linke Augenbraue wandert nach oben. »Führerschein? Wie alt ist das Mädchen denn?«
Ich muss grinsen. »Sie ist schon siebzehn. Hängengeblieben. Und einen halben Kopf größer als Andi.«
»Zum Wohl«, sagt Vater und setzt an, zieht ein Viertel aus der Flasche, während er mit der anderen Hand Kartoffelbrei auf den Teller packt. Nicht zu knapp. Sorgfältig drückt er eine Kuhle in den Berg, legt zwei Rouladen hinein und füllt den Rest mit Soße auf. »Ein Rouladenkrater«, erklärt er.
»Keinen Platz mehr für Rotkohl«, stelle ich fest. »Dann kann ich deine Portion haben?«
»Klar, nimm den Rotkohl. Ist gut in der Pubertät.«
»Heinrich ist groß genug«, meint Mutter. »Wegen mir muss er nicht mehr wachsen.«
»Ach was«, wischt Vater den Einwand mit einer Handbewegung beiseite und fängt an, Kartoffelbrei mit Soße zu vermischen. »Wenn es geht, soll Andi morgen Nachmittag mit seiner Freundin ins Büro kommen. So gegen sechzehn Uhr. Okay?« Die Gabel vor dem Mund, sieht er mich fragend an.
»Er wird kommen«, prophezeie ich und weiß, dass auf Andi Verlass ist. Und nun der Rotkohl. Mit Nelken, Sternanis, Äpfeln, Zwiebeln und dem Glanz von Gänseschmalz.


Andi hat gesagt, mein Vater hätte erst mal ne Weile gestaunt, als Michaela vor ihm stand. Er hat wohl vergessen, seine Zigarette anzuzünden und einfach wieder in die Schachtel gesteckt. Verständlich. Michaela ist von einem anderen Stern. Tiefblaue Augen, ein offenes, herzliches Lachen, hochgesteckte, ziemlich lange Haare, blond wie ich selten ein Blond gesehen habe. Geht sie über den Schulhof, ist sie eine auswandernde Bienenkönigin, die ein ganzes Volk um sich schart. Man kann deutlich sehen, wo sie sich gerade befindet. Andi hat gesagt, mein Vater hätte ihnen sogar die Tür aufgemacht. Ähnlich einem Curling-Spieler, der das Eis vor der Wuchtbrumme fegt, damit ja alles glatt geht. Ich habe sicher eine Viertelstunde gelacht. Allerdings fühlt sich Andi nicht ganz wohl in seiner Haut. Er hat Angst, denn die Konkurrenz ist groß und er nicht gerade Robert Redford. Wie dem auch sei. Sie hat den Job, ist zufrieden mit dem Verdienst, ihrem Freund, es ist endlich Samstag und ich sitze in der Sechzehn, auf dem Weg nach Bonn. Das Gleis führt mich direkt in Katharinas Arme. Die Haltestellen fliegen vorbei. Sürth, Godorf, Wesseling, bald Bonn-West, dann Bonn Hauptbahnhof, unterirdisch. Schon beim Abbremsen kann ich sie erkennen, ein Fluchen nicht verkneifen, denn mein Ausstieg schießt übers Ziel hinaus. Bleibt einfach nicht stehen. Katharina hat mich gesehen und beginnt zu laufen. Bis ich stehe. Direkt vor ihrem Gesicht auf der anderen Seite der Falttür. Es zischt, rattert und ruckelt. Schnell hinaus, auf sie zu, hebe das Leichtgewicht hoch und gehe mit ihr an die Wand der Station, weg aus dem Getümmel. Grüne Augen, ein Grün wie auf den Plakatwänden mit pazifischen Stränden. Das Neonlicht kann es nicht besiegen. Überfallartig küssen wir uns. Ein Mann räuspert sich laut. Wegen des Kusses? Oder schmatzender Lippen, verdrehter Köpfe? Dass wir Zungen tauschen, kann er nicht sehen, aber wir schmecken und spüren es bis in die Zehen. Katharina, möchte ich flüstern, müsste aber das Küssen beenden. Das tun wir, nachdem der Bahnsteig sich geleert hat und die Bahn weg ist Richtung Godesberg; unsere Namen flüstern, uns dabei in die Augen sehen. Wie still es in einer unterirdischen Station sein kann. Dann gehen wir wortlos zum Aufgang, ihre kleine Hand in meiner großen. Ich kann auf ihren Kopf schauen. Flachsblond zwischen rötlichem Schimmern, Sommersprossen in Hülle und Fülle. Was ich für sie empfinde, passt nicht zwischen Erde und Mond.

»Wo gehen wir hin, Katharina?« Sie zieht mich hinter sich her, ist die Hälfte von mir und doch voller Kraft. Kann ich sagen, dass ich sie liebe? Ist das Liebe, die ich empfinde? Oh Gott, ich weiß so wenig. Und warum fällt mir immer Gott ein, in solchen Momenten?
»Du grübelst!«, ruft sie über die Schulter. Schon sind wir auf dem Münsterplatz, queren ihn Richtung Marktplatz. Sie hat recht. Ich hänge zwischen meinen Gedanken fest.
»Ich muss viel nachdenken über einen Schulfreund«, antworte ich ihrer Schulter.
»Erzähl es mir gleich, wenn wir bei Ralf sind.«
»Bei Ralf? Gehen wir zu deinem Bruder?«
»Klar«, erwidert sie und weicht einem Marktstand aus, der fast leergekauft ist. Ein paar Äpfel und Birnen, das war’s.
»Was wollen wir denn bei deinem Bruder? Kann der mich überhaupt leiden?« Katharina lacht und steuert auf die Brüdergasse zu.
»Er ist nicht da. Ist für ein Auslandssemester nach Frankreich. Seine Wohnung hat er untervermietet an einen Kumpel, der übers Wochenende seine Eltern besucht.«
Jetzt rennen wir fast die Brüdergasse durch, biegen auf Höhe der Kirche in einen Hauseingang. Katharina kramt einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, schließt die Haustür auf, sieht im Briefkasten nach der Post; nur Werbung. Dann steigen wir in den dritten Stock. Eine Dachgeschosswohnung. Hastig kickt sie die Turnschuhe von den Füßen in den kleinen Flur und sieht mich herausfordernd an.
»Musik?«
»Ja, gerne. Was hört denn dein Bruder so?«
»Allerlei schräges Zeug. Lass uns nachschauen.«
Ein schneller Griff an das untere Ende meines T-Shirts. So zieht sie mich in das, was ich als Wohnzimmer bezeichne. Eine kleine Holztreppe führt in einen unter dem Giebel eingezogenen, offenen Schlafbereich, mit einem Geländer versehen. Bettzeug drückt sich durch die Spalten. Unmengen Schallplatten in Apfelkisten unter der Holzstiege.
»Nett hier. Was zahlt man für so ne Wohnung?«
»Keine Ahnung«, meint Katharina und kniet sich vor die Kisten. »Das übernehmen meine Eltern.« Sie flippt die Hüllen mit dem Zeigefinger durch, liest leise Titel oder Bandnamen vor. Alle Scheiben sind tatsächlich nach Buchstabe sortiert. Der unbekannte Bruder Ralf steigt im Ansehen. Ich mag Ordnung im Schallplattenbestand sehr. Im Augenwinkel entdecke ich ein bekanntes Cover, das einen Zentimeter aus dem Wust herausragt. Vorsichtig ziehe ich daran. Jimi Hendrix, Are You Experienced.
»Hier«, sage ich und hebe das abgenutzte Cover vor Katharinas Nase.
»Jimi Hendrix? Na ja …« Ich stecke es zurück und sie hebt die oberste Kiste ihres Stapels runter, sucht offensichtlich gezielt nach einer Platte. Nach der Hälfte der Hüllen ein Jauchzer.
»Wusste ich doch, dass Ralf sie hat …«
»Was denn?«
Katharina nimmt die schwarze Scheibe und reicht mir die Hülle. Renaissance steht da in Schreibschrift, A Song For All Seasons. Der Kopf einer ziemlich schönen Frau, die melancholisch auf die Seite schaut. Es knistert schon aus den Lautsprechern. Katharina nimmt mir die Hülle aus der Hand und zieht mich am Hosenbund zur Couch, gibt mir einen Schubs. Da sitze ich, zeitgleich mit dem Einsetzen leiser Musik, Synthesizer und Flöten, dann wird es rockiger, aber auf eine besondere Art. Eine Menge Streicher, Schlagzeug, E-Piano …
»Das ist Progressive Rock, oder?« Sie hockt sich auf meinen Schoß und zuckt mit den Schultern.
»Wenn man das so nennt … ich finde es schön und romantisch.«
Inzwischen singt eine Frau. Vielleicht die vom Cover. Die Stimme ist in der Tat wundervoll. Und jetzt ein seltenes Instrument. »Das ist doch so ein … so ein … wie nennt man dieses Klavier aus der Barock-Zeit?«
»Cembalo«, erklärt sie und fixiert meine Augen. Ich sehe klares Grün, den Mund näher kommen. Der Song wechselt und mit der glockenhellen Stimme setzen ihre Lippen auf, ich spüre die kleinen Rillen darin und Katharinas Schambein auf meinem pulsierenden Erwachen. Wie schön diese Melodie doch ist. Kaum zu glauben, dass sie mich so berührt, direkt aus Katharinas Herzen wie eine Schlange in meinen Mund kriecht, in Zungenform. Keinen Augenblick später sind wir ein Knäuel aus Geräuschen und Verlangen. Saugen uns fest, überall Hände, Duft, Musik. T-Shirts fallen, Hosen sind offen, mühelos ausgezogen, diese Stimme aus der rothaarigen Hitze geöffneter Schenkel, ein Dschungel ohne Wiederkehr, der mich einlässt, damit ich tief nach dem suche, was in ihr schlummert. Dem erlösenden Krampf. Wiegend auf meiner Hüfte, rollt eine Dünung über uns hinweg, bald eine zweite. Die Stimme der Frau kommt aus einem anderen Universum.
»Ich liebe dich«, sagt der Mund vor mir. Grüne Augen zwischen rötlichem Schimmer. Es ist tatsächlich Katharina. Ich liebe dich, denke ich und zögere, erwidere nichts, traue mich nicht. Für die Länge eines Wimpernschlags. Es genügt, um sie wach werden zu lassen. Das Blatt einer Guillotine fährt zwischen uns. Der Zweifel. Sie richtet sich auf. »Was ist mir dir, Heinrich? Stimmt was nicht?«
Wie kann ich jetzt nur Angst spüren? Geradeaus schauen auf den festen Busen, der genau in meine Hand passt, so hell mit rosafarbenen Höfen. Wie er zittert unter jedem Einatmen. »Nichts«, lüge ich und schon biegen die kleinen Hände meinen Kopf nach hinten.
»Du lügst.« Lieber die Augen schließen, denke ich und wundere mich, aus welcher dunklen Ecke so ein dämlicher Ratschlag kommt. Doch er gewinnt und schnell gehen meine Lider zu. »Du hast eine andere! Stimmt‘s?!« Schon reiße ich die Augen wieder auf.
»Was?! Wie kommst du darauf …«
»Weil du lügst! Du hast noch nie gelogen!«, unterbricht sie mit schneidender Stimme und schüttelt meinen Kopf.
»Nein! Es gibt keine andere, Katharina. Aber …«
»Aber?«
»Wie kann ich sagen, dass ich dich liebe, wenn ich gar nicht weiß, was das ist? Liebe …«
Sie stutzt. Macht so eine Art Knautschgesicht, die Stirn in Falten, vorgestülpte Lippen. »Und das fällt dir jetzt ein?« Das macht mich etwas sprachlos. Wie sollte ich meine Gedanken steuern oder meine Einfälle kontrollieren? Aber vor allem, wie könnte ich ihr meine Träumereien von Paul erklären, die mich in einen Mahlstrom aus Verwirrung und Gefühlen stürzen. »Heinrich Konstantin! Du bist ein Blödmann!« Ich nicke und sehe das wütende Gesicht vor mir, was mich mehr und mehr erregt. Noch bin ich in Katharinas warmem Unterleib, beschützt und geborgen. Die Erregung steigt, kribbelt und kriecht in meinen Schoß und ich sehe, wie sie es spürt. Da sind ein paar wütende Blitze im Augengrün, dann drücken die kleinen Hände meinen Kopf wieder runter. Wir küssen uns ohne Pause bis zur nächsten Dünung.

Die Nacht muss warten. In Ralfs Bett ist es urgemütlich und mit einem Geländer vor Augen oder im Rücken und der Tiefe unter uns, sind die Stunden bis zum Morgen eine nicht enden wollende Lust. Wir fragen uns gegenseitig nach Fantasien und verbotenen Gedanken, probieren aus, ob wir Gefallen daran finden, lachen über misslungene Versuche und schlafen erst gegen sechs Uhr völlig ermattet ein. Aneinandergeklebt. Wieder eins geworden, gleich dem Menschengeschlecht, das die Götter trennten und nun auf ewiger Suche nach dessen anderer Hälfte durch die griechische Tragödie mäandert. Die Liebe, dieses seltsame Ding, das waren wohl meine letzten Gedanken vor dem tiefen, traumlosen Schlaf.

Klappern, schabende und klopfende Geräusche, die vertraut sind. Jemand schlägt Eier auf. Langsam kriecht Schinkenduft in meine Nase. Musik … die Stimme von gestern. Jimi Hendrix wäre mir jetzt lieber, aber Düfte und Geräusche genügen, um die Augen zu öffnen. Das ist Ralfs Bett und Katharina fehlt. Endlich schaffe ich es, zu kombinieren. Sonntag, Frühstück. Ei mit Schinken? Schnell aus den Federn. Für einen Moment verziehe ich das Gesicht. Meine Hoden tun weh. Warum? Nackt steige ich die Holztreppe nach unten, luge in die kleine Küche. Katharina hat mein T-Shirt an, das ihren Hintern abdeckt. Es brutzelt, sie summt eine Melodie.
»Hallo, du … kann ich duschen?«
Ohne herzusehen, eine weitere Schinkenladung in die Pfanne legend, nickt sie. »Klar. Aber beeil dich. In fünf Minuten bin ich hier fertig.«
»Ich beeil mich«, versichere ich, gehe die fünf Schritte, setze den Mund auf ihren blassen Nacken und fahre mit der Zungenspitze bis an den Haaransatz. Gänsehaut bildet sich rasend schnell, sie zittert kurz, so etwas wie ein Seufzer ist zu hören. Dann verschwinde ich ins Bad, das man maximal als Kabine bezeichnen kann. Umfallen geht nicht. Hauptsache Dusche, Shampoo und genug Seife. Das warme Wasser ist fantastisch. Den Schlaf aus Gesicht und Körper spülen, und vielleicht die Gedanken sortieren. Ich muss mit Katharina reden, denn ich kenne noch immer nicht die Antwort auf die Frage nach der Liebe. Sie offenbar ja. Woher? Habe ich was verpasst? Ich bin völlig ratlos, seife mich von oben bis unten ein, reibe über die Brustwarzen, bin im Nu elektrisiert, denke an Katharinas Beine, geformt aus einem Stück, eine geschwungene Linie. Gezeichnet vom besten Künstler auf diesem Planeten. Ich verzehre mich nach ihr. Wenn das keine Liebe ist?

Den Fön lasse ich weg. Hat eh wenig Zweck in meinen Haaren. Ich ziehe alles an, bis auf das T-Shirt und nehme den Regiestuhl vor dem Fenster, ihr gegenüber. Auf dem kleinen Tisch hat kaum alles Platz. Zwei Teller mit Rührei, Schinkenstreifen, Tomatenscheiben, zwei Gläser Orangensaft, Salz, Pfeffer, Toastbrot und eine große Tasse Pfefferminztee für Katharina. Sie grinst mich an.
»Dein T-Shirt bekommst du später.«
»Kein Problem.«
»Was hast du eigentlich deinen Eltern gesagt, wo du bist?« Die Frage überrascht mich.
»Na, so wie wir es abgesprochen haben. Ich schlafe bei meinem Kumpel Arno an der Uni und du bist mit deiner Freundin in der Wohnung deines Bruders. Meine Eltern fragen sowieso nicht nach. Und deine haben dich doch bisher auch in Ruhe gelassen. Warum fragst du?« Sie wiegt den Kopf hin und her.
»Naja, das Konstrukt könnte eines Tages zusammenbrechen. Immer irgendwo treffen, Ausreden und so …«
»Du weißt, das müssen wir nicht. Meine Eltern haben nichts dagegen. Meine Mutter weiß, dass wir zusammen schlafen und du die Pille nimmst. Meinem Vater ist das eh egal. Du könntest also immer nach Köln kommen und bei uns übernachten.« Sie seufzt. Nickt aber dann.
»Essen wir, bevor es kalt ist«, entscheidet sie. Mir ist es recht. Wir stürzen uns auf die Leckereien. Nachdem ich die Hälfte Ei und Schinken verdrückt habe, schaue ich sie an. Die kleinen, schlanken Hände, Bahnen von Sommersprossen auf den Unterarmen, so viele winzige, vertikale Rillen in den Lippen, die sich wie Krepppapier anfühlen und mich – warum auch immer – wahnsinnig werden lassen beim Küssen. Schnell einen Schluck Orangensaft.
»Katharina?«
»Hm?«
»In der Dusche habe ich die ganze Zeit über gestern nachgedacht. Ich möchte, dass du weißt, was mir durch den Kopf geht. Das mit der Liebe …« Sie nimmt die Teetasse in beide Hände und hält sie, als wären draußen Minusgrade, sagt aber nichts. Ich kann fortfahren. »Ich frage mich das bei meinen Eltern oft. ‚Ich liebe dich, hab dich lieb, Schatz‘, aber … ehrlich gesagt, davon sieht man im Alltag recht wenig. Und ist das dann die Liebe? Kommt dieses Gefühl nur, wenn man heiß aufeinander ist und ansonsten ist es eine Floskel?« Katharina schweigt. Habe ich sie auf dem falschen Fuß erwischt? »Ist das nicht vielleicht eine Lüge, wenn mein Vater meiner Mutter sagt, er liebt sie und ist er zur Tür draußen, hat er es schon wieder vergessen, weil der Kunde zu dem er fährt, wichtig für die Zukunft der Firma ist oder er nur ans Zocken in seiner Stammkneipe denkt?«
»Nein, ist sicher keine Lüge«, antwortet sie sofort und unterbricht meinen Gedanken. »So wie es gestern keine Lüge war oder einfach so dahingesagt. Denn in diesem Augenblick ist es so.« Sie lächelt. »Und übrigens auch die ganze Nacht.« Ich muss schlucken, einen Schluck O-Saft trinken.
»Ich hasse meine Deutschlehrerin«, sagt sie dann. »Aber wenn ich abends im Sport bin, ist das weg oder wenn ich ein Buch lese. Ich vermisse meine Katze, die vor zwei Jahren überfahren wurde, aber heute Nacht nicht.« Offenbar mache ich ein zerknirschtes Gesicht, denn Katharina grinst, dann lacht sie laut, kriegt sich kaum noch ein. »Jetzt guckst du wie Oskar aus der Tonne«, stellt sie fest. Das ist kein Kompliment. »Du grübelst zu viel, Heinrich. Ich glaube, das ist nicht gut.« Da bin ich nicht ihrer Meinung, lege aber lieber Schinkenstreifen auf das letzte Toastbrot und beiße hinein.
»Ich glaube, wenn man zu viel grübelt, vergisst man das Leben«, sagt sie. Jetzt wird mein Hals ganz trocken. Die Reste vom Toastbrot lege ich auf den Teller und sehe hinaus. Aus dem Augenwinkel kommt Katharinas Hand. »Wenn du satt bist, kann ich das ja noch essen, oder?«


Zusammen aufräumen, putzen, Ralfs Wohnung auf Vordermann bringen und gegen fünfzehn Uhr bringt Katharina mich zum Bahnhof. Am Marktplatz setzen wir uns in ein Eiscafé. Früchtebecher für sie und ich ein Spaghettieis mit heißer Himbeersauce. Mein persönlicher Klassiker. »Morgen Nachmittag kaufe ich noch ein paar Lebensmittel ein«, erklärt sie und ich gebe ihr einen Zwanziger. Sie jobbt zwar bei McDonald, aber mein Verdienst ist wesentlich höher.
»Nimm den Zwanziger. Ich habe ja wesentlich mehr gegessen als du. Ist nur fair.« Katharina nickt, steckt ihn ein und löffelt den Früchtebecher leer. Etwas ist seit gestern Abend in mir passiert. Ich kann es riechen wie einen noch weit entfernten Sommerregen, ohne dass meine Sinne es orten können. Alles ist wie immer. Die Sonne scheint. Es müssen etwas über zwanzig Grad sein. Ein Septembertag in Bonn. Mein Zögern, unser Gespräch, das Thema über das ich zu viel grüble und dem sie mit Spontanität begegnet. Beide werden wir im kommenden Frühjahr siebzehn. Alles könnte schön sein oder ist schön oder muss schön sein?
»Machst du es wie immer? Sitzbank auf dem Bahnsteig und warten, bis irgendwas fährt?« Ich nicke.
»Ja. Fahrplan habe ich nicht im Kopf.«
»Die Sechzehn fährt ja alle halbe Stunde.«
»Ich fahre mit der Bahn und steige in Köln-Süd aus. Wollte noch bei einem ehemaligen Schulfreund vorbeischauen. Der macht ne Lehre in Marsdorf. Mal gucken, wie es ihm so geht.« Katharinas Löffel klimpert im hohen Glas, als sie ihn hineinstellt.
»Ah! Hast du mir schon mal von ihm erzählt?«
»Eigentlich kennst du nur Andi. Und von Michael habe ich schon mal erzählt. Aber nicht von Paul.«
»Paul heißt er?« Sie sieht an mir vorbei, findet aber keine Erinnerung. Das hätte mich auch gewundert. Ich wüsste gar nicht, was ich von Paul hätte erzählen sollen. Dass seine Mutter eine strippende Tänzerin ist? Oder dass ich von ihm geküsst wurde? Der Sommerregen kommt näher, obschon alles über uns wolkenlos ist. Was tue ich gerade?
»Ja, er hat urplötzlich gesagt, dass er nach der Zehn abgeht, obwohl seine Noten ganz gut waren. Jetzt macht er eine Lehre im Karosseriebau. Klingt interessant.« Katharina runzelt die Stirn.
»Jetzt sag nicht, dass du dir überlegt hast, die Schule für eine Lehre abzubrechen.« Jetzt nicht zögern, Heinrich! Kopf schütteln.
»Nee, aber die bauen da Rettungswagen, THW und so Zeug. Das hat mich schon immer interessiert.« Ihr Blick wird prüfend, skeptisch. Ein wenig von unten heraus. Der Duft des Sommerregens naht …
»Du solltest bis zum Abi durchziehen und dann in die Naturwissenschaft gehen. Das ist das Richtige für dich. Und deckt sich mit meinem Plan. Wir könnten zusammen in Bonn studieren, eine kleine Wohnung mieten …« Da ist ein deutliches Leuchten in ihren Augen und sie redet schneller. Katharina hat sich unsere Zukunft schon recht genau ausgemalt. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Ich finde, wir ergänzen uns prima, haben identische Interessen, können von der Mikrobe bis zum Kosmos über alles gemeinsam diskutieren und sie schlägt mich meistens beim Schachspiel. Kaum jemand, den ich kenne, ist so intelligent wie sie. Ein Leben mit ihr wäre sicher fantastisch. Gäbe es da nicht diese Zweifel ganz tief unten in einer meiner Schubladen. Ob ich der bin, von dem ich bisher dachte, er sei es.
»Gefalle ich dir, Heinrich?« Jetzt stutze ich wirklich.
»Die Frage hast du mir noch nie gestellt, Katharina. Ich kann nur Ja sagen. Du bist beeindruckend schön. Vor allem … vor allem ist es dein Wesen, deine Art, die Stimme, dein Lachen, deine Hände, die Sommersprossen …«
»Ich schätze, dann liebst du mich«, hakt sie ein. Ich muss grinsen.
»Ja, ich schätze, dann liebe ich dich.« Ihre Gesichtszüge entspannen sich. Ich entspanne mich. Einen langen Augenblick sagen wir nichts, bewegen uns nicht.
»Ich zahle«, sagt sie dann und steht auf. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Sie ist faltig. Als ich mich umdrehe, sehe ich drei alte Damen.
»Dat häste jetz wat schön jesaat, Jong«, murmelt die eine. »Imma schön festhalten, dat junge Ding«, die andere. Ich nicke lachend.


Der Eilzug aus Bad Neuenahr ist meiner. Gleis eins, wenig Menschen die zusteigen wollen. Dafür umso mehr Bundesgrenzschutz auf beiden Bahnsteigen und im Bahnhofgebäude. RAF, vermutet Katharina. Staatsbesuch, tippe ich. Wir werden es nicht in Erfahrung bringen. Eine Lok mit drei Waggons, alte Silberlinge. Verdreckt, aber mir ist das egal. Ich fahre gerne Zug. Fensterhälfte runter und den Geruch in mich aufnehmen. Katharinas ausgestreckte Hand streicheln. Pfiff, die Tür klackt, es geht los. Katharina läuft einige Meter, aber die Lok beschleunigt zu schnell. Bald sind wir auf offener Strecke. Gemüsefelder auf beiden Seiten. Alles flach. Die Kölner Bucht und weit und breit kein Sommerregen. Der Duft ist verschwunden oder besser: die Ahnung hat sich aufgelöst. Bald sind wir in Brühl und eine Menge Rentner steigen zu. So etwas wie eine Reisegruppe. Schlossbesichtigung mit Führung und anschließendem Sektbuffet. Ich habe noch nie das Brühler Schloss gesehen, denke ich und bin ziemlich sicher, dass dies auch für den Rest meines Lebens so bleiben wird. Schlösser sind einfach nicht mein Ding. In Kalscheuren verlassen zwei Jungs den Zug. Nächster Halt ist Köln-Süd. Was werde ich Paul erzählen? Von meiner Angst, ihn wiederzusehen? Dass der Kuss meine Träume verändert hat und diese Veränderung sogar schon meiner Freundin aufgefallen ist? Obwohl ich richtig Lust auf sie als Mädchen habe, ich die Gedanken an ihn nicht loswerde? Das ist alles ziemlich verrückt. Die Alten brabbeln, lachen, giggeln oder dösen weg. Köln-Eifeltor fliegt an uns vorbei. Ich atme tief durch und gehe zum Ausstieg.

Die Treppe runter, vorbei an einigen Instituten der Universität. Geographie, Zoologie, Biochemie, Richtung Haltestelle Zülpicher Straße. Für einen Moment bleibe ich stehen und drehe mich im Kreis. Universität … Naturwissenschaften, hat Katharina gesagt. Wenn, dann nur Physik. Aber bin ich jemand, der sein Leben lang an so einem Institut forscht? Ich schüttle den Kopf. Schnell weiter. Die Haltestelle ist unter der Eisenbahnbrücke. Keine drei Minuten später kommt die Neun. Kaum was los in der Tram, eine Menge freier Sitzplätze, trotzdem bleibe ich stehen, drücke die Stirn gegen die kühle Scheibe am Kinderwagenplatz. Fünf Haltestellen weiter steige ich aus. Mommsenstraße, nur hundert Meter bis zu der heruntergekommenen Häuserzeile. Warum bin ich nervös? Der Hauseingang sieht aus wie immer, das Klingelpaneel nicht weniger kaputt. Zweimal drücken. Es summt und ich nehme jede der wenigen Stufen zum Hochparterre mit stetig wachsendem Kloß im Hals. Die Wohnungstür ist angelehnt. Die übliche Dunkelheit. Als ich eintrete, höre ich einen Wasserstrahl aus der Küche, Stuhlrücken auf dem Boden.
»Hallo? Paul?«
»Komm rein!«, ruft eine Stimme. Es ist Pauls Mutter und ich werde noch nervöser, gehe zur Küchentür und bleibe im Rahmen stehen. Sie sitzt da im Bademantel. Ein Bein übergeschlagen, trinkt einen großen Schluck Wasser. Im schlechten Licht der Küchenfunzel schillert etwas in ihrem Gesicht. »Setz dich, Heinrich«, fordert sie mich auf, kippt den Rest vom Wasser mit ausgestrecktem Arm ins Waschbecken und greift unter die Spüle. Eine Flasche Mariacron landet auf dem Tisch.
»Auch ein Glas?«
»Danke, nein. Das Zeug mag ich nicht.«
Langsam nehme ich Platz. Das Schillern in ihrem Gesicht stellt sich als ein enormer Bluterguss raus. Linke Seite. Schon älter. Lila, gelb, vielleicht ein wenig grün. Er zieht sich wie eine Landkarte von der Schläfe übers Auge bis zum Wangenansatz. Ich muss einfach auf diesen Fleck starren und sie sieht es, tastet vorsichtig über die bunte Haut. »Tut noch ordentlich weh«, erklärt sie.
»Was ist passiert?«
Vom Mariacron gluckert eine ordentliche Menge in das Wasserglas. Sie macht sich nicht die Mühe, den Drehverschluss auf die Flasche zu schrauben, nimmt das Glas und leert es in einem Zug. Ich mache große Augen und aus ihrem Mund kommt ein ausgedehntes ‚Ah!‘, den Alkohol rieche ich bis hier.
»Ein Kunde. War nicht ganz zufrieden mit meiner Leistung.«
»Unzufrieden mit dem …« Das Wort bleibt mir im Hals stecken.
»… mit dem Striptease, meinst du?« Ich nicke. »Nee, ich meine mit der Leistung beim Zusatzservice. Weißte, was ich mein, nicht?«
»Ich kann’s mir vorstellen.« Sie lacht.
»Vergiss die Männer«, lässt sie mich wissen und amüsiert sich über mein betretenes Schweigen. »Du wirst nicht so ein Idiot, Heinrich. Du hast es in der Hand.«
»Ich hab es nicht vor, Frau Müller.«
»Guter Junge.« Die nächste Ladung Mariacron läuft ins Glas. »Paul ist nicht da. Er wohnt nicht mehr hier. Hat jetzt nen Freund …«
»Was? Er wohnt nicht mehr hier? Aber er ist doch erst sechzehn …« Wieder ein großer Schluck als wäre es Wasser.
»Wenn sie sich lieben, Heinrich … warum nicht? Sein Freund, Frederik heißt er wohl, ist schon zwanzig. Er hat ihn in Marsdorf kennengelernt. Offiziell ist es natürlich eine WG, du weißt ja …« Ich mache eine Verlegenheitsgeste. Ich ahne vielleicht, aber von Wissen kann nicht wirklich die Rede sein.
»Haben Sie die Adresse? Oder eine Telefonnummer? Ich möchte ihn mal besuchen …« Der Rest vom Weinbrand landet im Glas. Dann nimmt sie aus einer Schublade Block und Kuli, schreibt ein paar Zeilen und reißt den Zettel ab, schiebt ihn rüber. »Danke, Frau Müller.« Sie grinst spontan, zuckt mit dem Gesicht. Der Bluterguss muss noch ziemlich wehtun.
»Dann sind Sie jetzt ganz allein. Macht Ihnen das nichts aus?«
»Doch«, sagt sie, leert den Mariacron, stellt das Glas in die Spüle und steht auf. Mit Tränen in den Augen schaut sie auf mich runter. Falsche Frage, du Idiot! Ich könnte mich verfluchen.
»Entschuldigung, Frau Müller, das war …«
»Nein, nein, Heinrich, schon gut. Ich bring dich zur Tür. Besser du gehst jetzt.« Sie stellt sich so dicht vor mich, dass kaum Platz zum Aufstehen bleibt. Mariacron, ein Parfüm, ihr Körper, ein Gemisch wie Sprengstoff und vor meiner Nase der nicht ganz geschlossene Bademantel. Doppeltes Räuspern. Ich werde rot. Warum ist sie nur fast so groß wie ich? Ihr Busen hebt und senkt sich. Ruckartig trete ich einen Schritt zurück. Dann umdrehen.
»Wenn Sie Hilfe brauchen … mein Vater hat einen guten Anwalt.« Ihre Hand landet auf meiner rechten Schulter. Sie schiebt mich sachte Richtung Tür.
»Nett von dir, Heinrich. Danke. Wird aber nicht nötig sein. Mein Boss hat das geregelt.« Schon ist die Wohnungstür erreicht. Ich öffne und sie verfrachtet mich hinaus. Sanft und doch bestimmt. »Du musst nur Mensch werden. Und dann Mann. Verstehste mich? Und wenn du meinen Sohn siehst, grüß ihn von mir.« Mit dem Punkt geht die Tür zu. Dann ein doppeltes Klicken. Sie hat abgeschlossen. Erst Mensch, dann Mann.
Was habe ich gerade erlebt? Ihre Tränen und mein aufflackerndes Verlangen nach Pauls Mutter? Verpügelt, allein und ich ein Trottel. Mit dieser Erkenntnis gehe ich aus dem Haus und meine, jeder hier sieht, was ich denke und fühle oder dort drin passiert ist. Im Boden zu versinken wäre eine angenehme Lösung. Stattdessen ziehe ich den Zettel aus der Hosentasche und versuche, die Schrift zu entziffern. Chorweiler, mehr ist nicht zu lesen. Paul wohnt in Chorweiler? Auf den Bürgersteig starrend, Hundehaufen suchend, marschiere ich zur Haltestelle. Warum werde ich das Gefühl nicht los, in einem Meer aus Einsamkeit zu treiben?

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