Paul und die Jungs | Kapitel 13

Abtauchen

Das Zeugnis. Eine mittelprächtige Katastrophe. Wieder und wieder suche ich den Wisch in meinen Händen nach den tollen Noten ab. Fehlanzeige. Und dabei bleibe ich so lange auf der Toilette sitzen, bis die Brille einen Abdruck hinterlässt. Heinrich muss sich mehr anstrengen, steht da. Mutter klopft an die Tür.
»Wie lange willst du da noch Sitzung abhalten?«
»Nur keine Panik. Komme gleich.«
Immer öfter ertappe ich mich dabei, es Paul gleichtun zu wollen. Der Gedanke überfällt mich in der Straßenbahn, auf dem Weg zum Training, mitten im Unterricht oder vor dem Fernseher. Eine Lehre beginnen. Da draußen sein in einem Betrieb, etwas lernen, mit den Händen sägen, bohren, schreinern. Das kann ja nicht so schwer sein. Na gut, davon müssen Mutter und Vater erst mal nichts wissen. Sie müssen nur eines: Zeugnis unterschreiben, kurze Litanei predigen. Weiter geht’s. Ich rolle Klopapier ab, stelle fest, dass ich nur aus Gewohnheit hier sitze und unter mir alles sauber ist. Also Hose hoch, Hände waschen und ab zum Mittagessen. Mutter wartet, Reis auf ihrem Teller, aber noch kein Hackfleisch.
»Meine Güte, Heinrich. Ich dachte schon, du bist festgewachsen.«
»Hab einen neuen Comic gelesen. Echt spannend.«
Sie legt den Kopf auf die Seite. Das linke Auge leicht zugekniffen. »Du brütest doch etwas aus, das sehe ich.«
»Katharina sitzt in Oberkochen. Neue Schule, neue Leute, fremdes Kaff im Nirgendwo. Und ich habe keine Telefonnummer. Daran habe ich gedacht.« Sie gibt mir Reis und eine ordentliche Menge Hackfleisch mit Soße. Für den Endiviensalat hat sie eine kleine Schale neben den Teller gestellt. »Danke, Mama.« Sie schöpft sich dagegen nur zwei Esslöffel Hackfleisch und stochert dann darin herum.
»Keinen Hunger?«
»Tja, Heinrich. Eigentlich schon. Auf Reis, Nudeln, Kartoffeln und alles an Grünzeug. Nur nicht auf Fleisch. Seltsam, nicht wahr? Bei dir war es umgekehrt.«
»Vermutlich mag mein Geschwisterchen kein totes Tier essen«, fällt mir dazu ein. »Apropos … wie soll es denn heißen? Gibt es schon Namensvorschläge?«
Sie seufzt. »Schwierig. Deinem Vater fallen nur Vornamen seiner norddeutschen Ahnen ein. Komischerweise redet er die ganze Zeit von einem Jungen.«
»Ab wann weiß man denn, was es wird?«
»Kommt drauf an, wie es gerade liegt beim Ultraschall. Ich denke, in fünf oder sechs Wochen kann man es erkennen. Aber wir wollen es nicht wissen.«
»Wie? Nicht wissen? Warum nicht?«
Sie lächelt milde. Die ungestüme Jugend kommt wieder mit dummen Fragen. »Weil wir es ja nicht ändern können. Irgendetwas hat entschieden, was es wird. Genauso wird es kommen. Es soll nur gesund sein. Mehr nicht.«
»Und was ist, wenn es nicht gesund ist? Wie bei Hahnemanns vorne am Eck. Nur mit einem Arm und Sprachfehler.« Sie legt die Gabel auf den Teller und dann die Hand auf meinen Unterarm.
»Und hast du das Gefühl, dass Hahnemanns ihr Kind weniger lieben?« Ich überlege. Wie oft sehe ich Hahnemanns? Ihn beim Handball, weil er die D-Jugend trainiert. Und sie mit dem Kleinen im Supermarkt, beim Bäcker oder beide mit Kind an Wochenenden in der Halle, wenn Ligaspiele sind.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Liebe fragt nicht nach Aussehen, Vollständigkeit oder Können. Dein Geschwisterchen kommt, wie es ist. Und wir lassen uns überraschen.« Eine Zeitlang vergesse ich Reis, Hackfleisch und Salat. Keine Ahnung, ob ich jemals so weise werde wie Mutter. Wären da nicht meine tiefe Wut und die anderen Irrungen und Wirrungen.
»Das heißt also, du hast jetzt keine Angst mehr, es nicht zu schaffen. Denn egal, was passiert, du wirst den Kleinen lieben. Nicht wahr?«
»Oder die Kleine. Ja, die Ängste sind weg. Ich freue mich sehr auf das Baby. Seinen Geruch, die Unbeholfenheit, wie es die Welt entdeckt …«
»Das Geschrei, die vollgekackten Windeln …«, unterbreche ich ihre Hymne. Mutter lacht.
»Dafür habe ich ja dich«, stellt sie fest und isst weiter. Ich habe es befürchtet. Aber immerhin sind wir elegant abgebogen. Jetzt kann ich das Zeugnis auf den Tisch legen.


»Tja«, sagt Andi und legt den Kopf an die Scheibe. »Während du dich also um Windeln und Milchflaschen kümmerst, werde ich an Michaela rumschrauben und an dich denken.«
»Bring Michaela einfach mit zu uns. Dann schauen wir mal, wie sie mit Babys umgehen kann. Vielleicht ist sie ein Naturtalent und wir zwei gehen auf die Piste.« Er schaut mich über die Schulter an. Die Stimme sagt ‚Barbarossaplatz‘. »Auf geht’s, Onkel Andi. Aussteigen.«
Wir springen aus der Bahn, steuern direkt auf einen Imbiss zu, kaufen Pommes mit Currywurst und schlendern zurück zur Haltestelle, genüsslich die dampfende Wurst dezimierend. »Also hier schmeckt die Currywurst eindeutig besser als am Rudolfplatz«, stellt Andi erfreut fest.
»Zweifellos. Und sie ist größer. Da bekommt man was für sein Geld.«
»Schon mal wieder was von Paul gehört?«
»Die Lehre hat begonnen. Mein Vater ist zufrieden mit ihm und ein paar Mal habe ich ihn in der Firma gesehen. Aber seit er in Deutz wohnt und offenbar einen Freund hat, war es das auch mit dem Kontakt.«
»Hm, er war doch so heftig in dich verknallt. Kann mir gar nicht vorstellen, dass sich das so schnell ändert.« Andi steckt die letzten zwei Stücke Currywurst und drei Pommes auf einmal in den Mund. Es passt kaum hinein. Eine ältere Dame grinst ihn an und wartet offenbar darauf, dass etwas herausfällt. »Mh«, nickt er. »Neckgd‘ut« Wir setzen uns aufs Geländer und ein Trupp Jecken in alten Preußenuniformen defiliert an uns vorbei. Schon reichlich Alkohol im Blut. Undefinierbare Laute von sich gebend.
»Ich hasse Karneval«, sagt Andi und wirft die Pappschachtel in den Mülleimer. Dann sieht er sich um. Guckt auf die Anzeige der Bahn, den Linienplan neben uns. »Sag mal, wo fahren wir eigentlich hin? Ich dachte, du wolltest in den Comic-Laden?«
»Nee, wir fahren raus zum Arbeitsamt.«
»Zum Arbeitsamt?! Warum?« Wieso muss er das jetzt fragen? Ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen. Seufzend rutsche ich vom Geländer, stelle mich direkt vor ihn. Seine Pupillen wandern hin und her. Es arbeitet hinter seiner Stirn. Hinter uns bimmelt es. Die Achtzehn kommt.
»Los, einsteigen, Andi!«
Zögerlich folgt er der Aufforderung, nimmt neben mir Platz und starrt an die Decke. Er schweigt und ich bin froh drum. An der Haltestelle Weißhausstraße stehe ich auf. Andi folgt. Wie ein Dackel dem Herrchen. Die Leine ist nicht allzu gespannt. Immer ein paar Schritte hinter mir. So gehen wir die paar Meter zurück, erreichen das Arbeitsamt und laufen den roten Pfeilen nach in die ‚Vorstellung der Kölner Ausbildungsberufe‘ für die Schulabgänger 1982. Aus vielen Betrieben und Institutionen sind Frauen und Männer anwesend. Tolle Fotos und tolle Menschen drauf. Ford hat einen großen Stand, zwischen RWE und der Bundesbahn. Lokführer? Warum nicht?
»Halt! Stopp!«, sagt Andi gedämpft und packt mich am Oberarm. »Ich gehe nicht weiter, ohne zu wissen, was hier läuft.« Zwei junge Damen des RWE-Stands lächeln uns an. Wie schön sie sind. Bei Ford gibt es fünf Kaffeehaus-Tische und genug Platz. Ich ziehe Andi zum erstbesten. Wir setzen uns und ich beuge mich dicht an ihn heran. Ich darf ihn nicht im Unklaren lassen. Das hat er nicht verdient.
»Andi … ich werde nicht weitermachen bis zum Abi. Das kann ich nicht mehr. Nichts hält mich an dieser Schule.« Es dauert einen Moment, aber dann kullert eine Träne aus dem rechten Auge, gleich darauf aus dem linken. Seine Hände zittern. »Andi, um Gottes willen …« Schnell presse ich das zitternde Etwas an mich. Wir müssen raus hier.
»Komm, steh auf!«
Das tut er. Ich schiebe ihn den Weg zurück ins Freie, Richtung Fahrrad-Abstellung. Er schluchzt und versucht nicht mal es zu verbergen. Zweimal verschluckt er sich dabei. Was kann ich jetzt zu ihm sagen? Habe ich in all den Jahren wirklich nicht geschnallt, wie eng er an mir klebt? Und dann setze ich ihm noch einen unsichtbaren Haken unters Kinn, in dem ich erkläre, dass mich nichts an dieser Schule hält. Nicht mal er.
Da sitzt er, auf dem Betonklotz der Beeteinfassung und starrt Löcher in den Boden. Den linken Arm um seinen Rücken gelegt, schweigen wir zusammen. Es gibt nichts, was man wirklich richtig machen kann. Tue ich etwas für mich, schade ich anderen. Tue ich etwas für andere, schade ich mir oder Dritten. Daraus besteht offenbar das Leben.

Der Rückweg wird eine Tortur. Für ihn vermutlich schlimmer als für mich. Wir laufen bis zum Barbarossaplatz nebeneinander. Immer wieder kommen uns Clowns, Cowboys oder Funkenmariechen entgegen. Ein einziger Spießrutenlauf. »Sag mal, hast du nie gemerkt, dass du mein großer Bruder bist? Familie? Ein Teil von mir ist in dir.« Jedes von Andis Worten ist wie ein Messerstich. Nein, ich habe es nicht gemerkt. Alles war wie selbstverständlich. Wir sind eben Freunde. Dicke Freunde. Ich liebe ihn. Aber bedeutet das, auf ewig gebunden zu sein?
»Was meinst du mit ‚großer Bruder‘?«
»Genau das, was ich gesagt habe. Mein Blut ist deines und umgekehrt.« Ich denke an Old Shatterhand und Winnetou. Blutsbrüder. Aber kann man das empfinden?
»Andi, was sollte sich denn an unserer Freundschaft ändern? Ich will doch nur raus aus der Schule. Weg von den Idioten …«
»Also bin ich auch ein Idiot?« Er bleibt stehen und es ist nicht zu übersehen, dass er wütend wird.
»Du doch nicht!« Er starrt mich an. Unentschlossen. Dann stapft er weiter und erhöht die Geschwindigkeit. Vor der Unterführung fängt er an zu rennen. Spinnt er jetzt? Ich werde ihm nicht nachrennen. Bald verliere ich ihn aus den Augen und gehe in die nächste Kneipe die kommt. Keine Jecken anwesend. Gottseidank.


Jetzt ist es nicht nur Katharina, die auf einem fernen Planeten wohnt, auch Andi hat alle Tore verschlossen. Er sitzt sogar auf Pauls Platz, hat mir den Rücken zugekehrt im Sinne des Wortes. Ich sehe ihn vor mir und höre, wie er unserem Lehrpersonal was von Sehschwäche erzählt. Die Pausen verbringt er mit Michael und einigen anderen. In der Klasse ist es stiller geworden. Ich treibe ab. Eine ablandige Strömung zieht mich aufs offene Meer. Und ich genieße es. Es ist Schmerz und Wohlempfinden in einem. Sehe ich Klara, lächelt sie mir zu, wir reden über unser Referat, den Reinfall des Jahrzehnts, die kaputte Scheibe. Sie bekommt einen Lachanfall. Dann fragt sie mich nach der ‚Strafe‘, den zehn Stunden bei einem Psychologen. Ich erzähle ihr, dass man ihn gut manipulieren kann. Standardantworten auf erwartbare Fragen. Ein positives Gesamtbild sollte sich ergeben am Ende, sagt er. Das wird es auf jeden Fall. Wir können alle zufrieden sein. Klara knufft meine Schulter und zieht von dannen.

Am Freitag vor Rosenmontag sitzt Mutter schon am gedeckten Tisch als ich nach Hause komme. Sie ist still. Lediglich eine schmale Begrüßung. Etwas ist im Busch. Ich muss nur noch Kartoffelsalat und Fischstäbchen mit Erbsen auf meinen Teller schöpfen, dann können wir essen. Bevor das erste Fischstäbchen in meinem Mund verschwindet, legt sie mir die Hand auf den Arm.
»Es wird Zeit, Heinrich.«
»Zeit? Für was?«
»Dass du redest. Etwas geht vor. Andi kommt nicht mehr, ruft nicht an. Katharina ist weg, du interessierst dich nicht mehr für ihre Wohnadresse, sprichst nicht über Paul oder machst was mit ihm. Die Zeugnisnoten brechen nach unten aus. Ich sehe dich nicht mehr lernen.« Sie macht eine Pause. Ein eindringlicher Blick folgt. »Muss ich noch mehr auflisten?« Ich zucke mit den Schultern und ziehe eine Schnute.
»Ist halt grad ne Phase. Pubertät oder so. Hab ich mal gelesen.«
»Der Psychologe hat angerufen. Er ist begeistert von dir. Kriegt dich aber nicht zu fassen, weil du ihm genau die Antworten gibst, die er hören will. Er meinte, du wärst wie die Fahne im Wind.«
»Dann stellt er wohl die falschen Fragen.« Sie schüttelt den Kopf. Das Essen kann mich mal. Ich stehe auf und gehe ins Zimmer. Musik hören. Nach der ersten Platte habe ich die Nase voll. Also an den Schreibtisch, den Rollladen dreiviertel nach unten und die Kladde mit meinem Geschreibsel öffnen. Gedichte. Ob es wirklich Gedichte sind, darüber kann man streiten. Im Deutschunterricht gibt es nur Gereimtes und deutsche Literaturgrößen. Lichtgestalten der Verse und Wortgewalten. Also was ist es dann, das ich hier niederschreibe? Ich schlage den Deutschen Literaturatlas auf. Nach viel unnützem Zeug stoße ich auf die Formulierung Lyrische Kurzprosa. Das gefällt mir. Ich stelle den Schinken zurück. Es klopft.
»Ja?«
Mutter öffnet die Tür einen Spalt. »Ich werde dich in Ruhe lassen. Ein bisschen Zeit gebe ich dir, um zu überlegen, was deine Antworten sein werden. Sagen wir eine Woche.« Ich nicke und lege den Ellbogen auf meine Lyrische Kurzprosa. Aber sie kommt nicht herein, bleibt mit dem Kopf im Türspalt.
»Dein Vater und ich sind übers Wochenende eingeladen. Zu einem guten Kunden nach Werdohl. Wir fahren morgen früh und kommen Dienstagmorgen zurück. Den Rosenmontag-Rummel geben wir uns nicht.«
»Okay.«
»Und jetzt komm. Das Essen ist schon fast kalt.«

Nach dem Spülen sitze ich auf der Couch. Mutter packt Kleider in den Koffer und ein Geschenk für den guten Kunden und dessen Frau. Ich schalte den Fernseher ein und lande beim WDR. Offenbar eine Reportage über irgendein Dorf in Afrika. Eine Menge Menschen rennen durch die Gegend, bauen etwas. Ein bärtiger, braungebrannter Mann mit Berliner Dialekt wird interviewt. Er ist Wasserbauingenieur und beim DED angestellt. Sie ziehen von Dorf zu Dorf, um zusammen mit den dort lebenden Menschen Brunnen zu bauen, in einfacher, schnell zu reparierender Konstruktion. Muss man mit dem Hammer reparieren können, sagt er. Und Strom kommt von Fahrrädern oder kleinen Windturbinen. Dann geht es mit dem Jeep zu einem Flughafen und das Filmteam steigt in ein Flugzeug. Dann Schnitt in eine Art Kibbuz, lauter junge Leute. Asiaten, Europäer, Afrikaner. Einer sagt, sie pflanzen nach Maya-Art. Mais, Kürbisse, Bohnen. Das gäbe eine Schattengare und die Pflanzen helfen sich gegenseitig.
»Was guckst du da, Heinrich?«
»Irgend so ne Reportage über Afrika.«
»Du musst noch das Bad putzen, denk dran.«
Die jungen Leute verkaufen was sie nicht selbst verbrauchen auf einem Markt in der Nähe. Den Ertrag setzen sie um in Werkzeuge und technische Hilfsmittel. Wieder eine Überblendung. Diese Mal nach Berlin zu einem älteren Mann mit weißem Bart in einem mit Akten überladenen Büro. Einer der Chefs beim DED, wie der Reporter sagt. Wir brauchen immer junge Menschen, sagt der Weißbart. Vor allem Techniker, Elektriker, Landwirte, das ist gefragt. Der Reporter dankt und der Abspann folgt. Ich schalte aus und bin verwirrt.
»Geh jetzt Bad putzen, Mama!«
Es ist, als hätte jemand eine Welle in Bewegung gesetzt, die langsam an Wucht gewinnt. Nur sieht sie noch niemand. Noch ist es leichte Dünung. Kaum ein Gedanke bleibt haften. Was geht da vor? Im Flur stoppe ich und schaue zum Telefon. Kurzentschlossen hebe ich ab und wähle die Nummer der Auskunft. Wie kann ich Ihnen helfen?, fragt die Dame.
»Bitte die Nummer vom Deutschen Entwicklungsdienst in Berlin.«
»Moment …« Es dauert ein paar Sekunden. »Die Nummer wird angesagt. Darf ich noch etwas tun?«
»Nein, vielen Dank.«
Es klickt und die Nummer wird durchgegeben. Zwei Mal. Alles richtig notiert und ich lege auf. Für eine halbe Ewigkeit starre ich auf das Blatt. Irgendein Manitou möchte mir etwas mitteilen. Ist es das, nach was ich gesucht habe? Also Hörer abheben und die Berliner Nummer wählen. Freitagnachmittag arbeitet sowieso niemand mehr …
»Willkommen beim Deutschen Entwicklungsdienst, Berlin. Guten Tag.« Eine Frauenstimme. Ich zögere zu lange. »Hallo?«
»Ja, mein Name ist Konstantin.«
Ich erzähle was zur Sendung und frage, wie man sich das vorstellen muss, beim DED zu arbeiten. Sie kennt offenbar die Frage und spult routiniert einen Text ab. Welche Berufe gesucht sind, welche davon sehr wichtig. Dass man in seinem Beruf den Meistertitel benötigt und Englisch fließend können sollte, dazu Spanisch nicht minder schlecht oder aber Französisch. Bis man das alles erreicht hat, ist man sicher 26 Jahre alt, was auch das Mindestalter sei für einen Auslandseinsatz. Wenn ich kurz vor der Gesellenprüfung stünde in einem der wichtigen Berufe, solle ich mich wieder melden. Dann werden sie mich nach Berlin einladen, um sich ein Bild von mir zu machen.
»Danke, das war echt informativ.«
»Sehr gerne. Und ein schönes Wochenende.«
»Auf Wiederhö…«
Sie legt auf. Mutters gute Ohren habe ich ganz vergessen. Sie taucht als Schatten im dunklen Flur auf, geht an mir vorbei, nimmt mir den Hörer aus der Hand und setzt sich auf den Stuhl. Da ist nichts als ihr Blick. Ansonsten Schweigen.


Samstagmorgen. Schon das Aufwachen fühlt sich wie Freiheit an. Zumindest temporär. Sturmfreie Bude nur, aber es ist ein Vorgeschmack auf das, was in mir wächst. Mutter hat dankenswerterweise geschwiegen gestern, auch als Vater heim kam. Aber es ist nur ein Aufschub. Bis Dienstag oder Mittwoch muss ich meine Argumente bereit haben, einen Plan präsentieren. Bedenken habe ich keine, denn schließlich ist es mein Leben und dieses Raunen in mir, dass etwas nicht stimmt, mit dem, was ich tue, hat seit gestern aufgehört. Ein Weg hat sich aufgetan und er ist hell erleuchtet. Landwirt? Auf einem Bauernhof arbeiten? Sicher nicht der leichteste Job. Aber ein wichtiger Baustein für das Danach. Entwicklungsdienst, ein verlockender Gedanke. Die Welt braucht uns junge Menschen. Wir sind diejenigen, die alles bewegen werden. Die Alten haben versagt. Es fühlt sich gut an. Jedes Bild im Kopf, jeder Gedanke dazu ist am richtigen Platz. Das Puzzle setzt sich wie von selbst zusammen. Doch jetzt ist erst mal Wochenende und danach folgen die idiotischen zwei Tage. Die schlimmste Zeit im Jahr. Anziehen und einen Kaba trinken. Auf dem Esstisch liegt eine Karte von Mutter. ‚Tu immer das Richtige‘, steht drauf und ‚Kuss‘. Sie macht sich große Sorgen. Tu das Richtige. So wie es aussieht, gibt es nichts Komplizierteres im Leben.

Wenn ich auswärts esse, erspare ich mir das Spülen und die Wohnung bleibt so sauber, wie sie jetzt ist. Am Montagabend einmal durchsaugen, Wäsche in den Korb und gut ist. Mutter wird zufrieden sein. Also brauche ich nur Geld und die einzige Bank, die heute Morgen geöffnet hat, ist die Sparkasse am Chlodwigplatz. Zu Fuß mache ich mich auf den Weg. Hochnebel über dem Rhein, kein Schnee mehr, es ist trocken und solange ich nur die kleinen Straße nehme, treffe ich kaum auf Jecken. Das ändert sich am Ubierring. Ein einziges Drama. Nicht verkleidet bedeutet, sofort aufzufallen im Gewühl der Torkelnden und Johlenden. So schnell es möglich ist, erreiche ich die Sparkasse, hebe ausreichend Geld ab und bin wieder draußen. Über die Annostraße laufe ich zum Aufgang zur Deutzer Brücke. Kaum oben angekommen, stehe ich in einem Pulk Narren. Alle in Gefängnisanzügen, grau-weiß gestreift, Nummern auf dem Rücken, Flaschen in der Hand. Sie nehmen mich in die Mitte, jauchzen, tanzen im Kreis um mich, bis zwei Frauen die Wendeltreppe hochkommen. Prompt wendet sich der Trupp dem weiblichen Geschlecht zu. Ich mache, dass ich wegkomme.
In Flussmitte bleibe ich stehen und lege die Unterarme aufs Geländer. Der Rhein führt moderates Hochwasser, sehr schnell fließend. Einfach hineinspringen und im Nu wäre ich in Leverkusen oder noch weiter flussabwärts.
»Aber nit springe, Jung!«, ruft eine Frauenstimme aus einer Gruppe Hexen. Die größte unter ihnen legt den Arm um mich.
»Hörens, Jung, ist nit alles driß!«
»Ich weiß. Danke.«
»Kühste mit? Wir jehn wat suppen.« Sie meint es ernst. Schwer zu sagen, wer sich hinter der Schminke versteckt, aber die Augen verraten, dass sie schon ein paar Täler durchwatet hat.
»Geht ihr nur. Ich will einen Freund besuchen.« Ihr Blick wird starr, sie beugt sich vor und drückt einen Schmatz auf meine Wange.
»Nit springe!«
»Keine Angst.« Mit einem Schulterklopfen verabschiedet sie sich, folgt den anderen Hexen. Der Rhein schweigt zu allem. Was er nicht schon alles gesehen hat und ertragen musste. Aber er ist geduldig. Nur manchmal trägt sein Wasser den einen oder die andere aus unseren Reihen mit sich fort. Ich reiße mich vom Anblick los und ein paar Minuten später stehe ich vor dem Haus in der Langobardenstraße. Sehr nervös. Mutig drücke ich die Klingel.

Martin ist da. Still wie beim ersten Mal. Er deutet auf die Hausschuhe und ist wieder schnell in der Küche. Als ich an den Türrahmen der Küchentür klopfe, schaut er kurz auf, nickt und blickt wieder in sein Buch. Unibibliothek, daran kann ich mich erinnern. »Setz dich! Heinrich … stimmt’s?«
»Ja.«
Wieder Stille.
»Was liest du?«
»‚Der Fremde‘, von Camus.«
»Gutes Buch.«
Martin legt es auf den Tisch und sieht erneut her. »Du kennst es?«
»Hab ich vor zwei Jahren oder so gelesen. Der Mann ohne Emotionen.«
Er steht auf und geht an die Spüle. »Einen Kaffee?«
»Gerne, Martin. Aber nicht ganz so stark.« Wieder nickt er. Verzieht keine Miene. Mir fällt Meursault ein, der emotionslose Protagonist aus ‚Der Fremde‘. Wasser in den Kessel, Herd anschalten, Pulver in den Filterbehälter. Martin erledigt alles wie ein Roboter. Routiniert. Jeder Handgriff sitzt, und zwar mit identischer Geschwindigkeit zum vorherigen. »Denkst du, er ist emotionslos?« Seine Frage erwischt mich kalt. Ist schon zwei Jahre her. Ich überlege und muss ausweichen.
»Bist du anderer Meinung?«
»Das bin ich, ja. Meursault wurde in die Kälte hineingeboren. Er konnte demzufolge nur kalt werden.« Das Pulver riecht wundervoll. Martin setzt sich, schlägt das linke Bein übers rechte wie Pauls Mutter. Und wippt.
»Aber am Ende ist er doch ausgeflippt als der Pfarrer kam.«
Martin grinst. »Ist er auch schon zuvor. Der Mord, ein Affekt. Und dann noch vier Mal in den toten Körper. Das war das bewusste Spüren. Da ist doch etwas in mir. Wut. Es ist mächtig. Lass es raus.« Er könnte recht haben. Vor zwei Jahren war ich noch weit weg von solchen Gedanken. Wasser beginnt zu kochen. Das Ventil pfeift. Er gießt auf und ich folge dem dampfenden Strahl. Nachgießen, warten, nachgießen. Dann fällt mir wieder ein, was ich hier gerade sehe. Meursaults alltägliche Handlungen. In der Küche?
»Gibt es einen Grund, warum du das Buch liest?« Er stellt den Kessel weg und dreht sich um, an die Arbeitsplatte gelehnt, dicht beim frisch gebrühten Kaffee. Martins Blick mustert mich, tastet mein Gesicht ab, vielleicht den ganzen Oberkörper.
»Warum fragst du?«
»Ich hatte nur kurz den Eindruck, Meursault würde hier vor mir stehen.«
»Weil ich so ruhig bin und kühl wirke?«
»Mh.«
»Du bist sicher wegen Paul da, oder?« Ich schrecke innerlich zurück. Bin ich zu weit gegangen?
»Auch.«


Der Kaffee schmeckt vorzüglich. Die bittere Note macht ihn zu etwas Besonderem. Dieses Mal nur einen Löffel Zucker ohne Milch.
»Offiziell wohnt Paul noch hier, aber im Moment ist er wohl bei seinem Freund, von dem ich absolut gar nichts halte. Aber er arbeitet doch in der Firma deines Vaters. Siehst du ihn dort nicht?« Ich ahne sofort Unheil. Die nächste Falle in die Paul getappt ist?
»Selten. Und er ist mehr als kurz angebunden. Verabredungen blockt er ab, alles wäre gut, sein Freund toll … warum hältst du nichts von dem Typ?«
»Er ist ein Blutegel. Oder besser: ein Emotionsegel. Er saugt dich aus und lässt dich fallen, wenn du langweilig geworden bist.«
»Du kennst ihn also?« Martin nickt und trinkt in einem Zug aus, stellt die Tasse auf den Tisch. Dieses Mal lauter. Es klackt vernehmlich, ist wie ein Ausbrechen aus dem ansonsten gleichförmigen Muster seiner Bewegungen.
»Mit ihm hat mich mein Alter auf der Couch erwischt. Er war mal mein Freund.«
»Aha, und hat dich dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel …«
»Nicht nur mich.« Martins Blick ändert sich. Langsam wird es dunkler in der Küche. Von draußen hört man regelmäßig an- und abschwellendes Gegröle. Die Jecken. Nicht nur mich, hat er gesagt. Demnächst werde ich Paul wieder aus einer verfahrenen Situation retten müssen. »Du bist ‚auch‘ wegen Paul da, hast du gesagt. Wegen was sonst?« Bevor ich antworten kann, hebt er den Kopf und schaut an die Decke. »Ah, verstehe. Rainer. Der hat es dir angetan, stimmt’s?« Gut, dass wir schon im Zwielicht sitzen, so kann er nicht sehen, wie meine Wangen rot werden.
»Ein wenig schon, ja.«
»Ich muss dich enttäuschen. Rainer ist vor den Jecken geflüchtet zu seiner Schwester nach Oldenburg.«
»Das kann ich verstehen. So eine Schwester wäre jetzt nicht schlecht.«
»Naja, im Moment sind wir hier drin sicher«, sagt er und grinst. Dann steht er auf, kommt um den Tisch und stellt sich dicht vor mich. »Heinrich, ich möchte gerne mit dir schlafen. Genau jetzt und hier.«
Eine Hand hebt er auf meinen Kopf, krault die langsam wachsenden Haare. Mit der anderen nimmt er vorsichtig meine Arme auf Seite und setzt sich. Da ist kaum Gewicht auf meinem Schoß, über was ich aber gar nicht mehr nachdenke. Er sieht, dass ich keinen Widerstand leiste. Im Gegenteil. Da sind mit einem Mal seine Finger unter meinem Pullover, dann direkt auf meiner Haut, kriechen langsam zu den Brustwarzen. Obwohl ich ihn ansehen will, fallen meine Augen zu. Martin duftet nach einer Blume oder einem Strauch, vielleicht Lavendel, ich weiß es nicht. Ich bin schon zu weit weg, um darüber zu sinnieren. Wellen aus Lust laufen auf den Strand, kommen von seinen knetenden, reibenden Fingern, erreichen meine Brustwarzen. Also tue ich es ihm gleich. Suche die Haut, den Körper, die Brust. Unser beider Duft verändert sich.

Martin steht auf und zieht mich mit. Aber ja, genau das, was ich jetzt auch tun will. In sein Zimmer, auf das ich nicht achte, denn ich möchte es jetzt tun. Nein, ich will das jetzt tun. Es gibt kein Halten mehr. Gegenseitiges Ausziehen, so schnell es nur geht. Nackt und doch ist es gemütlich warm. Ich weiß nicht, was tun. Es ist mein erstes Mal. Erneut mein erstes Mal. Nur mit Martin, nicht mit Katharina. Einen Kopf kleiner zwar, drückt seine Hand mich doch mit Leichtigkeit aufs Bett, dann ist er über mir und tut das, vor was ich bei Paul noch Angst hatte. Mich küssen. Von Angst ist aber nichts zu sehen weit und breit. Lavendel, salzig, ein wenig Schweiß, die Zungen verknotet, seine Hand an meinem Penis. Unvermittelt machen sich Martins Lippen auf den Weg, eine Reise auf meinem Körper, bis aus seinem Mund eine warme Höhle wird, mein Begehren in sich aufnimmt. Nichts mehr da, was mich noch im entferntesten halten kann. Ich ergebe mich vollständig. Martin ist nicht Meursault. Er ist ein Pyromane, der mich anzündet und mit mir zusammen im Feuer vergeht.


Es dauert, bis mir klar wird, wo ich bin, den Schlaf aus dem Kopf bekomme, die Unruhe aus meinem Herzen. Schwaches Atmen hinter mir, auf dem Bauch eine Hand und da drückt ein Glied gegen den Rücken. Seite an Seite liege ich vor einem jungen Mann und da fällt mir Martin ein. Also umdrehen. Sein Gesicht direkt vor Augen. Von irgendwoher kommt gerade genug Licht, um ihn zu betrachten. Da ist ein kleiner Junge. Er muss sich gegrämt haben, als der Vater gesehen hat, was sein Sohn tut. Als Baby in den Händen gehalten, aufgezogen und rausgeworfen. Verbannt trifft es schon eher. Wie kann man den Sohn nicht mehr lieben, nur weil er mit dem Sohn anderer Eltern knutscht? Oder die Tochter mit einer anderen Tochter, von wo auch immer. Vielleicht war es ja gar keine Liebe. Nicht so, wie Mutter oder Vater mich lieben. Und was hat Martins Mutter wohl gemacht? Was tut sie jetzt? Ihren Sohn vergessen?
Ich denke an gestern Abend und fühle mich frei, bereue keine Sekunde. Immense Zartheit, das war zwischen uns. Mein Begehren wächst, je länger ich den kleinen Jungen ansehe, der nur wenig älter ist. Voller Neugier und Anspannung rutsche ich Richtung Fußende des Betts und spüre Martins Penis vor mir. Das ist es, an was ich schon seit langem denke, von was ich träume. Ihn in den Mund zu nehmen. Keine Angst, keine Hemmungen, dafür ein Vollbad in der Freiheit. Ich tue das, was ich will, was mich reizt, was ich empfinde. Martin murmelt unverständliche Worte, dreht sich auf den Rücken. Mir gefällt, was ich sehe, reibe die Haut.
»Heinrich?«
»Sag einfach nichts.«
»Mh.«
Es dauert ein wenig, bis er reagiert, den Schlaf aus jedem Winkel vertreibt. Dann wird er groß. Ich mag diese Größe, die Weichheit an der Eichel, das Harte am Schaft. Und wieder der Mund. Martin stöhnt. Keine Ahnung, ob das gut ist, was ich tue. Ich, der Neuling, der Novize. Aber ich weiß, was ich möchte. Zärtlichkeit. Also bin ich zärtlich und beobachte ihn. Sein Atmen, das Heben und Senken der Brust, das Zucken der Lider, um die Mundwinkel, die Finger greifen ins Leere, dann ins Laken. Die Hand dazu nehmen wirkt Wunder. Martins Rücken biegt sich über dem Laken, die Muskeln werden sichtbar, drücken sich aus dem Bauch. Plötzlich wird er still, ist gespannt wie ein Flitzebogen. Er wird explodieren. Ich weiß es, spüre das Zucken heranrollen. Dies ist mein Traum. Nicht das Verlieben. Nicht der Schmerz der Trennung. Genau dies. Ich lebe meine Fantasie und genieße sie. Martin kommt. Es ist wunderbar.

Wie viel Zeit vergeht, ist schwer zu sagen. Mit der Hand streiche ich vom Bauch zur Brust, küsse mich zu seinem Mund. So weiche Lippen und überall Lavendelduft. Als ich mich neben ihn lege, folgt er meiner Drehung und sieht mich an. »Ich weiß nicht, ob ich mich in dich verlieben werde oder nicht, Heinrich. Ist das schlimm?«
»Nein. Mach dir keine Gedanken. Im Moment ist mir verlieben oder lieben wohl egal. Ich habe keine Ahnung, was in mir wächst, wohin es geht. Was ich weiß, ist, dass es genau jetzt wirklich schön ist. Der Rest ist morgen oder an einem anderen Tag.«
»Ja, wir sind momentan in einem Raumschiff. Und ich mag deine Zärtlichkeit. Da könnte ich mich dran gewöhnen.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll, sagen könnte. Mit Schwung setzt er sich auf mich, kommt meinen Worten und Gedanken zuvor. Ich ahne, was er möchte und weiß nicht, ob ich es möchte.
»Du bist erregt, Heinrich. Sehr feucht.«
»Und wie.«
»Dann entspann dich. Und wenn du nicht magst, was ich tu, dann sag ‚Halt‘.«
»Mh.«
Er lässt sich Zeit und schaut auf mein Gesicht. Dann geschieht es. Das Bild, das ich mir verwehrt habe. Das unter einer dunklen, schweren Decke liegt. Nicht nachschauen!, steht auf einem Schild daneben. Aber wir schauen nach. Gemeinsam. Ich bin in Martin. Tiefer und tiefer. Warten. Wieder zurück und bald finden wir einen Rhythmus. Immer wieder japse ich nach Luft. Es dauert nicht lange und ich packe den schmalen Oberkörper, reiße ihn zu mir runter und fühle mich der Kernspaltung nahe.
»Luft!«, ruft Martin, aber ich höre es nur aus großer Ferne. Da sind kleine Lichter in meinem Kopf. Funken stieben in alle Richtungen auseinander. Eine klopfende Hand trifft wieder und wieder meine Hüfte.
»Heinrich!« Stöhnend stemmt er sich hoch. »Meine Güte! Woher hast du nur die Kraft? Du hast mich fast zerdrückt …« Langsam sinkt sein schmaler Körper wieder auf meinen Brustkorb.
»Entschuldigung, Martin.«
»Puh! Junge, Junge …«, ist alles, was er antwortet. Nach einigen Minuten ist er eingeschlafen und ich drehe mich samt ihm auf die Seite, verlasse seinen Körper und döse langsam ein.


Ich weiß, dass ich von Katharina träume. Sie rennt auf einen Straßengraben zu. Wie sie überall zu finden sind. Am Rand stoppt sie und schaut hinein. Was es wohl da zu sehen gibt?, denke ich im Traum. Kann man im Traum denken? Egal, denn ich will sie an die Hand nehmen und an einen besseren Ort führen, aber sie rutscht in den Graben. Und je näher ich diesem banalen Entwässerungsgraben am Rand einer belanglosen Straße komme, desto mehr verwandelt er sich in einen Grand Canyon. Es gibt kein Halten mehr. Wir rutschen. Je tiefer wir fallen, desto abgründiger und breiter wird die Schlucht. Desto dunkler sein Grund. Doch kaum ahnen wir, dass alles zu Ende ist, stehe ich wieder oben und starre auf Katharinas Hand. Sie steht an einem Straßengraben. Schweißgebadet wache ich auf und rieche Rührei mit Speck und Zwiebeln. Das ist ein fremdes Bett in einem fremden Zimmer und ich bin nackt? Getrocknetes Sperma an den Lenden? Jemand singt. Jetzt kommen die Bilder und Martin schaut ins Zimmer.
»Hallo, Heinrich. Na? Endlich aufgewacht?«
»Wie spät ist es?«
»Schon neun Uhr durch. Du schläfst wie ein Stein.«
Es zieht in meinen Hoden. Ich schaue nach, ob noch alles dran ist. Martin lacht. »Du bist echt ein Bild von einem Kerl. Ich könnte sofort wieder über dich herfallen, aber ich will in die Kirche.«
»Zu Jürgen?«
»Ja, heute spielt er Bach. Da muss ich zuhören.«
»Okay, ich komme. Kann ich noch duschen?«
»Klar.«
Er verschwindet und ich schlurfe ins Bad. Selten, dass meine Hoden so weh getan haben. Es fühlt sich an wie Muskelkater. Eine Dusche wird helfen.
Martin kann astreines Rührei mit Speck und Zwiebeln braten. Da könnte sich selbst Mutter eine Scheibe abschneiden. Ich stürze mich regelrecht darauf. Gerade so gelingt es mir, die guten Manieren nicht zu vergessen. Mir gegenüber sehe ich Vorder- und Rückseite des Stadtanzeiger. Das erinnert mich an ein altes Ehepaar. Er die Zeitung, sie schmiert sich Toast. Sein Frühstücksei ist mal wieder zu hart und der Kaffee zu stark. Ich muss auflachen. Martin nimmt die Zeitung runter.
»Was ist?«
»Wir sind ein Ehepaar und dreißig Jahre verheiratet. Du mit Zeitung, ich Lockenwickler auf dem Kopp. Vorgestern haben wir das letzte Mal zusammen geredet.« Er lacht nicht, überlegt aber offenbar intensiv.
»Klingt verlockend. Na gut, Heinrich. Wenn das so ist, dann würde ich vorschlagen, du gehst mit in die Kirche zum Konzert. Onkel Werner wird auch da sein, Tante Frieda ebenfalls. Danach haben wir Kaffeekränzchen bei Merzenich.« Ich reibe den Teller mit einer Scheibe Brot sauber und schlürfe den letzten Schluck Kaba.
»Klar gehe ich mit in die Kirche, Schatz. Ich räume ab und spüle. Du machst dich fertig. Und zieh das gute Hemd an! Ich will mich nicht blamieren.« Jetzt lacht er. Es klingt anders als vermutet. Wie eine Art Befreiung von langer, schwerer Last. Dann verstummt er von einer Sekunde auf die andere und sieht mich lange an. Ich ahne, was er denkt oder vielleicht beginnt zu fühlen. Paul fällt mir ein und wie es ihm wohl geht. Dass er in mich verliebt ist oder war und gerne eine solche Nacht mit mir verbracht hätte. Martin steht auf.
»Dann dusche ich und mache mich fein. Bis gleich.« Für einen Augenblick zögert er. Es genügt, um ebenfalls aufzustehen. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, beuge mich vor und küsse den weichen Mund.
»Im Moment ist es einfach so, wie es ist«, sage ich.
»Genießen wir es«, entgegnet er.

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