Paul und die Jungs | Kapitel 12

So weit

Wenn es einen Beweis braucht, um zu belegen, dass ich nach wie vor von Mädchen oder Frauen angezogen werde, dann ist er in diesem Moment erbracht. Pauls Mutter steigt an der Suevenstraße aus der Drei und kommt direkt auf mich zu. Sie schafft es, die Füße in einer Linie aufzusetzen, nicht parallel wie bei uns Normalsterblichen. Dabei senkt sie mit jedem Schritt eine Seite ihrer Hüften ab. Links runter, rechts hoch und umgekehrt, die Arme schwingen nur verhalten. Warum sie nicht umfällt, ist mir ein Rätsel. Zehn oder fünfzehn Meter vor mir formt sie ein breites Lächeln. Es endet nicht. Dann stehen wir uns für einen Moment gegenüber. Einem Kuss auf meine Wange folgt eine kräftige Umarmung.
»Heinrich, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Ist doch nicht der Rede wert, Frau Müller.« Ganz spontan schließe ich ebenfalls die Arme um ihren schlanken Körper und muss sogleich meinen Unterleib etwas zurückziehen, denn die Berührung lässt mich nicht kalt. Sie drückt sich ab und zwinkert mir zu. Heißt das, sie hat es bemerkt? Mitten im verschneiten Winter läuft Schweiß meinen Nacken hinab.
»Wo ist es?« Ich nicke hinter mich.
»Gleich vorne am Eck. Wir werden schon erwartet.«
»Okay, dann nix wie hin. Mehr als anderthalb Stunden konnte ich nicht rausholen.«
»Anderthalb Stunden?« Sie nickt und läuft los.
»Haben Sie nie einen freien Tag oder mal Urlaub?«
Sie lacht gepresst. Fast klingt es zynisch. »Ich muss Ersatz für mich finden. Ersatz, der auch von den Leuten angenommen wird.« Ich sehe sie an, ihr Profil. Sie schaut geradeaus.
»Heißt das, Sie sind … also, hm, so was wie unabkömmlich, weil andere Tänzerinnen nicht so gut tanzen können?« Jetzt lacht sie wirklich. Mit der rauen Stimme klingt das wie im Saloon an der Theke kurz vor dem Duell.
»Das hast du schön gesagt, Heinrich. Aber wir können ehrlich zueinander sein. Ich bin das beste Pferd im Stall, wenn du weißt, was ich meine. Ich habe Stammkunden.« Ich muss mich räuspern. Und schweige lieber. »Hab ich dich verlegen gemacht?«
»Schon irgendwie. Ich rede mit der Mutter meines Freundes, der in mich verliebt ist und mir bedingungslos vertraut. Unglücklich verliebt, muss ich dazu sagen.«
»Das hab ich mir schon gedacht. Du magst Mädchen und vielleicht manchmal Jungs. Bist also kein Kostverächter, nicht wahr?« Jetzt muss ich doch glatt husten. Eine Art Husten mit verschlucktem ‚Ja‘.
»Kein Kostverächter?«, wiederhole ich. Sie bleibt mir eine Antwort schuldig. Wir erreichen den Hauseingang. Sieben Klingeln. Die Hauswand folgt dem Knick der Straße.
»Darf ich dich was fragen, Heinrich?«
»Immer.«
»Wart ihr beide schon mal zärtlich?« Jetzt schießt die Hitze geradezu explosionsartig in meinen Kopf. Ich bringe im näheren Umkreis den Schnee zum Schmelzen.
»Mh.«
»War es schön?«
»Ja. War wunderbar.« Sie lächelt und drückt auf die oberste Klingel. Sie dürfte mir jedes Geheimnis entlocken. Der Türsummer springt an.

Der Mann im dritten Stock ist unscheinbar, deutet auf sich und sagt seinen Namen. Es ist der, mit dem ich telefoniert habe. Ein Herr Schramm. Ob der Name korrekt ist, kann ich nicht sagen. Dass ich Heinrich bin und die große Frau Pauls Mutter, weiß er, winkt ab und führt uns sofort durch die einzige Tür hier oben in eine geräumige Mansardenwohnung.
»Ich zeige Ihnen gleich das Zimmer«, kommt er zur Sache. Als er die Zimmertür öffnet, bin ich überrascht vom Platz und der schönen Einrichtung. Skandinavische Jugendmöbel, Echtholz, so wie ich das sehe. Alles stabil, kein Pressspan. Ein Fischgrätparkett in bestem Zustand, zwei Dachfenster und eine Gaube. Im Eck steht ein gut gewachsener Gummibaum.
»Tolles Zimmer«, stellt Pauls Mama staunend fest. »Das ist doch sicher teuer.«
»350 Mark im Monat, inklusive aller Nebenkosten«, sagt er und schließt die Tür wieder. »Gehen wir in die Küche. Ich habe Kaffee vorbereitet.« 350 Mark … das könnte ich mir leisten. Bei meinem Vater verdiene ich um die 600 Mark im Monat. Allerdings muss ich ja auch essen und kaufe mir noch eine Menge Comics, Schallplatten und was da sonst noch anfällt.
In der geräumigen Küche sitzt ein junger Mann. Er grüßt zurückhaltend, sehr förmlich. Steht auf und gibt uns die Hand. »Das ist Martin«, sagt Herr Schramm. »Wohnt auch hier.« Wir setzen uns. Alles ist ordentlich. Tassen mit Untertellern, weißes Porzellan, exakt so gestellt, wie es im Knigge steht; nehme ich an. Die Arbeitsplatten sauber, Spüle aus Edelstahl und wie geleckt. Auf der Raufasertapete kein Fleck. Selbst der Boden ist perfekt rein. Mein Vater würde die Bewohner sofort einstellen.
»Kaffee?«
»Sehr gerne«, antwortet Pauls Mutter lächelnd. Ich nicke. Herr Schramm gießt uns ein. Als er die Kanne abstellt, gibt es kein Geräusch.
»Wohnen Sie auch hier?«, will sie von ihm wissen.
»Nein. Es gibt vier Zimmer. Drei Bewohner und ein Gemeinschaftsraum. So eine Art Wohnzimmer. Es wohnen momentan zwei junge Männer hier. Martin und Rainer.« Schramm schaut zu Martin. »Rainer kommt zurzeit spät nach Hause. Er arbeitet am Flughafen in der Spätschicht.« Pauls Mutter nickt langsam, sieht zu Martin, dann zu Schramm.
»Und welche Funktion haben Sie hier?«
»Ich bin der Hausverwalter, mache Nebenkostenberechnung, begutachte neue Mieter, organisiere Handwerker, wenn etwas kaputt geht, wohne aber nicht hier.«
»Verstehe. Aber dies ist ja eine besondere Wohngemeinschaft. Mein Sohn ist noch nicht volljährig. Theoretisch verletze ich die Aufsichtspflicht …« Schramm nickt und hebt die Hand.
»Das wissen wir. Ich weiß es. Deshalb mieten Sie ja das Zimmer. Paul darf noch nicht unterschreiben. Wenn die Eltern Schwierigkeiten machen«, er sieht zu Martin, »dann unterschreibt ein anderer Erwachsener den Vertrag. Alle hier drin sind also Untermieter.« Frau Müller schaut zu Martin. Ihr Blick ist eine einzige Aufforderung.
»Mein Vater hat mich rausgeworfen«, sagt der. »Inzwischen bin ich achtzehn, mache eine Lehre an der Uni zum Bibliothekar, wohne aber schon zwei Jahre hier.« Schramm nickt mit zusammengepresstem Mund.
»Dein Vater hat dich mit sechzehn rausgeworfen?«, hakt sie nach. »Warum denn das?«
»Mein Freund und ich lagen knutschend auf seiner Wohnzimmercouch.«
»Männer«, ist ihre Reaktion. Ich habe das Gefühl, nur noch zuhören zu müssen. Die Welt hier drin ist eine andere. Also lehne ich mich zurück und trinke den Kaffee, der hervorragend schmeckt.
»So wie ich das verstehe, Frau Müller, möchte Ihr Sohn selbständig wohnen, denn Sie arbeiten wohl hauptsächlich abends und nachts …« Sie rollt mit den Augen und atmet tief ein.
»Legen wir die Karten auf den Tisch, Herr Schramm. Ich tanze nackt vor Männern und Gutbetuchte nehme ich mit aufs Zimmer. Um acht Uhr komme ich heim und schlafe meist bis drei Uhr. Paul braucht Menschen, die sich um ihn kümmern, ihn verstehen. Seinesgleichen. Den Erzeuger habe ich rausgeworfen, weil er ein Totalversager ist.« Bei Schramm geht die linke Augenbraue um einige Millimeter nach oben. Ansonsten bleibt er gefasst. Ich schätze, er hat hier schon einige Geschichten gehört.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Müller. Paul ist hier gut aufgehoben. Alles, was wir bereden und tun, bleibt unter uns. Ist nicht so ganz astrein, was wir anbieten, aber es gibt eben Notfälle, auf die sonst niemand entsprechend reagieren kann. Den Vertrag schließen wir bis zum Erreichen von Pauls Volljährigkeit ab. Danach kann er selbst entscheiden. Sie sind in jedem Fall unsere erste Ansprechpartnerin, aber …«, er beugt sich vor. »Wenn ihr Mann ein Totalversager ist, sollten Sie ihm das hier keinesfalls auf die Nase binden, denn damit könnte er Ihnen einen Strick drehen.«
»Kein Problem«, werfe ich ein. »Paul wohnt dann einfach noch bei uns.« Sie sieht mich an. Schramm grinst und hebt beide Handflächen.


Sonntagvormittag. Ich fahre mit der Sechzehn nach Bonn. Kurz nach elf Uhr. Mutter hat mich schweigend ziehen lassen. Ich wäre auch aus dem Fenster geklettert, nur um wegzukommen. Rufe ich bei Katharina an, geht ihre Mutter ans Telefon, einmal auch der Vater. Sie wäre nicht da und noch in der Schule, bei einer Freundin, im Sport … Ausreden. Jetzt habe ich die Nase voll. Schließlich hat Mutter mal gesagt, ich müsse das tun, was mein Herz sagt. Und das sagt mir: fahr nach Bonn! Das tue ich jetzt.
Die Winterlandschaft fliegt vorbei, dabei liegt auf den Straßen kein Schnee mehr. Nur noch die Gemüsefelder sind weiß. Aber das ist mir egal, denn ich bin den dauernden Knoten im Magen leid. Er ist immer da. Rumort. Manchmal im Hintergrund, dann wieder als grelle Feuerkugel.
Die Zeit bis zur Ansage der Ollenhauerstraße zieht sich wie ein Gymnastikgummi. Schon kurz nach dem Hauptbahnhof stelle ich mich neben den Ausstieg, den Finger über dem Knopf haltend. Endlich kommt das Signal. Die Ansage. Ich drücke fest und so tief es geht. Die Menschen bereiten sich auf das Mittagessen vor. Meine Chance. Kaum ist die Öffnung breit genug, springe ich raus und gehe so schnell es der noch liegende Schneematsch erlaubt. Ein paar Minuten später stehe ich in der Brentanostraße, fünfzig Meter vor dem Haus, und versuche etwas zu entdecken. Aber es ist Tag. Niemand hat Licht brennen oder ein Rollo unten. Weiter geht’s. Sicher werde ich schon beobachtet in so einer feinen Wohngegend. Also das Gartentor auf, einatmen, die Klingel drücken. Stimmen hinter der Tür, es ist die Mutter. Als sie öffnet, starren wir uns an. Sie kennt mich mit Locken und stutzt. »Heinrich?«
»Ja, Frau Reuter, ich bin es.«
»Also …«
»Wer ist es denn?« Das fehlt mir noch. Katharinas Vater, die Pantoffel an den Füßen. Er starrt nicht minder.
»Wird es nicht kalt im Haus?«, frage ich vorsichtshalber. »Vielleicht darf ich ja auf einen kurzen Besuch reinkommen.« Er dreht sich um und ruft Katharina. Die Mutter winkt und deutet auf einen Stapel Filzlatschen.
»Zieh die Schuhe aus und nimm dir Latschen. Der Matsch draußen ist ja schlimm.«
»Mach ich.«
Die Tür fällt ins Schloss. »Komm in die Küche! Ich koche gerade.« Die Filzlatschen passen nicht, aber das wird mein geringstes Problem sein. Ich folge ihr. Einen Stuhl hat sie schon vom Tisch abgerückt. »Setz dich doch! Möchtest du eine warme Tasse Kaba?«
»Gerne! Danke.« Sie nickt. Länger als nötig. Offenbar ist mit meinem Auftauchen ihr Rhythmus ins Stocken geraten. »Das riecht nach Grünkohl mit Pinkel«, sage ich, um das bisschen Konversation nicht austrocknen zu lassen. Sie nimmt den Ball gerne auf.
»Jaaa, das Lieblingsessen hier im Haus. Das einzig Gute am Winter sind der Grünkohl und die grobe Wurst.«
»Mag ich auch sehr. Hoffentlich gibt es die Wurst auch in Oberkochen. Keine Ahnung, was man bei den Schwaben sonntags kocht.«
»Ah ja, das weiß ich auch nicht. Spätzle, nehme ich an.« Sie lächelt, gießt Milch in einen kleinen Topf, stellt ihn auf den Herd und schaltet an.
»Hallo.«
Ich schließe die Augen für einen Moment. Das Mädchen, das ich liebe. »Wisst ihr was, ihr beiden Hübschen? Lasst mich kochen und geht runter in den Hobbykeller. Ich rufe, wenn es Essen gibt.« Sie sieht mich fragend an. »Du isst doch sicher mit, oder?«
»Wenn ich darf!«
Katharina greift meine Hand und zieht mich in den Hobbykeller.

Nut- und Federbretter an allen Wänden. Dazu eine Bar, ebenfalls aus Holz, eine schwere Eckbank und der obligatorische Stammtisch mit schmiedeeisernem Titel über einem Kupferaschenbecher. Hier wird Wochenendgeschichte geschrieben. Es ist aber nur der Raum für Geselligkeiten. Nebenan liegt ein Bastelkeller für das Hobby von Katharinas Vater, der alte Möbel restauriert, um sie dann mit bäuerlichen Blumengemälden zu verzieren. Hier unten ist all das, was ich ablehne und von dem ich hoffe, es möge mir in meiner Zukunft erspart bleiben. Katharina drückt mich auf die Eckbank, setzt sich neunzig Grad zu mir, die Hände auf dem Tisch gefaltet. Was soll ich sagen? Sie weiß es ebenfalls nicht. Also schweigen wir. Da sitzen sie und ich über Eck und tausend Kilometer liegen zwischen uns. Hier unten ist es vollkommen still. Nicht mal unser Atmen ist zu hören. Kein Räuspern. Etwas ist zerbrochen. In ihr und mir. Aber was? Dann sehe ich sie an, drehe den Kopf. Die grünen Augen sind hinter einer Wand. Ich weiß plötzlich, was da in Trümmern liegt. Unsere Vertrautheit. Wir sind uns fremd geworden.
»Spürst du das auch?«, höre ich die leise Stimme. Ich kann nur nicken und die Augen schließen. Diese imprägnierten Nut- und Federbretter sind wie Nadelstiche am ganzen Körper. Hier unten sitzt man, lacht und trinkt, klopft Sprüche und oben bricht Liebe entzwei.
»Es ist besser so«, sagt sie. »Ich habe mir nie vorstellen wollen, ohne dich zu leben. Aber es ist anders gekommen. Bei euch wohnen will ich nicht. Was, wenn wir uns streiten? Wenn du eine andere kennenlernst? Oder ich nicht mehr mag.« Sie macht eine Pause und bewegt das Stammtisch-Blech wie einen Klöppel. »Meine Eltern haben recht. Ich muss mich auf die Schule konzentrieren.«
Mein Nicken wird dauerhaft.
»Denk nicht, dass mir das nicht wehtut«, sagt sie einen Moment später. »Ich hab mir die Augen ausgeheult. Und das wird heute Abend nicht anders sein, jetzt, da ich dich wiedergesehen habe.«
Die Bank ist hart. Was das wohl für Holz ist? Wahrscheinlich Eiche. Eine deutsche Eckbank ist sicher aus deutscher Eiche. Ich bin völlig umsonst hierher gefahren. Was habe ich mir davon erhofft? Dass alles anders wird? Katharinas Hand landet auf meiner. Das lässt mich aus irgendeinem Grund lächeln. Höre ich auf meinen Bauch, dann sagt er mir, dies ist die letzte Berührung. Das letzte Mal Haut auf Haut. Sogar das Licht verändert sich in diesem Moment. Das Gelb der Lampe über uns wird trüb. Kratzer sind auf der Tischplatte. Ich stehe auf und gehe nach oben. Sie folgt mir nicht. Aus der Küche kommt ein Klappern, dann läuft der Wasserhahn. Ich nehme meine Stiefel, starre kurz auf die graubraune Pfütze darunter, ziehe die Latschen aus und öffne die Haustür. Der Duft von Grünkohl und Pinkel ist intensiv. Ich schließe hinter mir, ziehe die Stiefel an und gehe. Den Kaba müssen sie selbst trinken.


Klara ist ein Motor in Sachen Referat. Seit dem Sonntag in Bonn bin ich Treibgut im Stillen Ozean. Das bedeutet, sie kommt zu mir, denn ich bin so gut wie gelähmt. Mit Mutter hat sie sich in Windeseile angefreundet, beide reden wie alte Kolleginnen, und nach zehn Minuten Tratsch inklusive Gelächter gehen wir ins Zimmer. Sie diktiert und ich tippe auf meiner Triumph-Adler die endgültige Fassung. Die Vorgaben seitens der Schule sind streng. Linker und rechter Rand, Zeilenabstand, Seitenzahl, Quellenverzeichnis. Langsam wird es und das Ganze hat noch einen anderen Vorteil. Klara lenkt mich ab. Sie erinnert mich ab und zu an die Zicklein im Kinderzoo, die wie Kugelschreiberfedern zwischen den alten und mürrischen Ziegen umherspringen und das Leben genießen.
Um sich zu konzentrieren, zieht Klara die rote Pudelmütze auf. Darunter muss ein besonderes Milieu entstehen, eine Art Konzentrationswolke. Im Zimmer auf und ab laufend, liest sie die Notizen zwei oder drei Mal, dann formt sie einen fertigen Text, den ich nur noch tippen muss. Und weil ich gut bin in Rechtschreibung und mir die kompliziertesten Fremdworte leicht von der Hand gehen, sind wir schnell. Nach ein paar Tagen und vielen Pausen weiß sie über mein ganzes Leben Bescheid. Sie fragt einfach. Ihre Neugier ist nicht zu bändigen. Aber ich fühle mich nicht ausgefragt. Klara interessiert sich für die Menschen. Eine besondere Eigenschaft an ihr. Ganz besonders schätze ich, dass sie nur zuhört. Ein Urteil bleibt aus. So rückt die Stunde der Wahrheit unaufhaltsam näher. Der Abgabetag ist am 18. Dezember, einem Freitag. Das halbe Kollegium liest das Wochenende durch und benotet. Die besten bekommen Auszeichnungen, aber präsentiert werden alle Arbeiten am Montag drauf. Klara und ich sitzen am Sonntagnachmittag mit Mutter am Esstisch, eine Kopie unseres Werkes neben dem Apfelkuchen, der gerade frisch aus dem Backofen gekommen ist.
»Ein gelungenes Werk«, lobt Mutter.
»Danke, Frau Konstantin.«
Ich schneide den Kuchen an, gebe uns je ein Stück. Klara gießt sich Kaba in die Tasse. »Ohne Karla hätte ich das nicht geschafft«, gebe ich zu. »Das mit Katharina bremst mich aus.«
»Ach was«, wiegelt Klara ab.
»Genießen wir lieber das gute Stück hier«, schlägt Mutter vor. Beide stechen ein Stück des dampfenden Apfelkuchens ab und probieren vorsichtig.
»Mh, das ist ja lecker«, stellt Klara mit großen Augen fest. »Übrigens, ich werde gleich abgeholt von meiner Freundin.« Mutter horcht auf.
»Sie kann hochkommen und ein Stück Kuchen essen.«
»Nee, Frau Konstantin. Das ist doch Ihr Sonntag …«
»Keine Widerrede«, wischt sie Klaras Einwand beiseite. »Wer soll das alles essen?« Ich lese den Titel wieder und wieder. ‚Kriminalisierung der Homosexualität‘, ein ‚Referat von Klara Rabenacker und Heinrich Konstantin‘. Selbst Jürgen und Dieter sind begeistert. Was kann da schon schiefgehen? In meinen Schwarztee drücke ich einen Schuss Kondensmilch, rühre um und schlürfe. Es klingelt und Klara schreckt auf. Mutter geht zur Tür. Gleich darauf plappert eine Stimme wild drauf los, entschuldigt sich vielmals für die Störung. Mutter lacht. Die Stimme kommt herein und ich hebe die Hand. »Hallo.«
Das Mädchen stürzt sich auf Klara, umarmt sie, fast meine ich, dass die Arme gewürgt wird. Dann küssen sich beide ziemlich intensiv. Mutter setzt sich grinsend und stellt einen weiteren Teller auf den Tisch. »Also, ähm …«
»Sylvia.«
»Also, Sylvia, wie wär es mit einem Stück Apfelkuchen? Noch warm.«
»Oh! Ja, gerne!«
Klara holt eine Tasse aus der Küche, schenkt Sylvia Kaba ein und Mutter schiebt Kuchen auf den Teller. Sie wäre früh dran, sagt Klaras Freundin, schaut Mutter an und fragt sie frei weg, ob der lange Kuss gestört hätte. Sie freue sich, wenn es beiden gut geht und sie sollen sich keine Gedanken machen, ist Mutters Antwort. Ich lehne mich zurück. Schon wieder habe ich den Eindruck, ein Regenschirm im Abtropfständer zu sein. Ab und zu nicke ich oder gebe ein ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ von mir. Aber das war es. Die drei Frauen unterhalten sich prächtig. Ich schließe die Augen und denke an morgen. Der Tag der Präsentation. Gleich danach folgt das Bild von Katharinas Hand auf meiner. Unsere letzte Berührung. Dicht drauf kommt Paul, dann seine Mutter in ihrem wundervollen Gang. Das ist alles sehr verwirrend. Wohin soll ich blicken?
»Ihr beide liebt euch wirklich, nicht wahr?«, höre ich Mutter fragen.
»Und wie«, antworten sie aus einem Mund.


»Du hättest die Wehrmachtsuniform anziehen sollen«, erwähnt Andi und läuft weiterhin im Kreis um die Sitzgruppe im Foyer. »Dann hätten wir noch ein wenig Spaß haben können. Diese Klamotten hält doch keiner länger als eine halbe Stunde aus.« Er zieht an der Krawatte und nun sitzt sie endgültig schief. Klara steht auf und richtet sie wieder aus. »Mal nicht so nervös. Das wird schon«, beruhigt sie ihn. Ich hocke nur da und starre mehr oder weniger an die gelochte Decke. Alle teilnehmenden Gruppen warten hier auf den Einlass. Niemand weiß, wie es in der Aula aussieht. Andi zählt auf: »Also erst die Benotung, dann kommen die Eltern und wir stehen vor unseren Präsentationstafeln, nicht wahr?«
»He, Heinrich! Sag mal, haben sie euer Referat überhaupt angenommen?«
Klara dreht sich um. »Natürlich haben sie’s angenommen«, erwidert sie.
»Die Spinner aus der ‚d‘«, sagt Andi und strafft sein Jackett. Ich reagiere nicht. Auf meinem rechten Schuh fällt mir ein Fleck auf. Dabei hatte ich heute Morgen so viel Wert aufs Putzen gelegt.
»Habt Ihr rosafarbenes Papier genommen, oder?«
»Sie haben noch ein paar Lümmeltüten eingeklebt und mit ‚Falscher Eingang‘ betitelt.« Gelächter hinter mir. Ich weiß, wer zu den Stimmen gehört. Andi tut einen Schritt in meine Richtung. Ich schüttle den Kopf. Klara zieht eine Instamatic heraus und fotografiert die Spinner. »Sag mal, Dirk, wenn die Rabenacker da mitmacht, dann bedeutet es doch, dass sie …«
»Genau, dass unser Klärchen auf Frauen steht.« Das Kichern erinnert mich an Wicki und die starken Männer. Andi kocht und Klara notiert etwas in eine Kladde. »Was schreibst du da, Klärchen«, fragt einer der drei.
»Ich notiere das Geschwafel. Hab ja genug Zeugen hier.«
»Fühlst dich wohl sicher«, sagt der Spinner Dirk. »Aber irgendwann musst du …« Es sind drei. Ich stehe auf, stelle mich direkt vor sie. Meine Nasenspitze berührt Dirks Stirn.
»Soll euer Tag nicht im Krankenhaus enden, empfehle ich taktischen Rückzug«, flüstere ich gepresst. Mein Blick sucht Dirks Augen. Er weicht aus. Der linke Kerl tritt einen halben Schritt zurück. Eine Hand greift in meinen hinteren Hosenbund.
»Komm«, sagt Klara. »Lass sie. Haben wir nicht nötig.« Die Lautstärke im Foyer nimmt ab. Klara zieht erneut an mir, aber ich bleibe stehen. Mit jeder Sekunde sinkt meine Laune. Ich weiß, dass es falsch ist. Aber egal. Eine zweite Hand hängt sich ein.
»Komm, Heinrich. Schon wieder drei Schwerverletzte wie beim Zappa-Konzert. Das macht sich nicht gut im Führungszeugnis.«
»Wie? Drei Schwerverletzte?« Klaras Stimme klingt verwundert. Sie lässt locker.
»Die haben ihn angemacht und wurden dann rausgetragen«, berichtet Andi.
»Ich hätte das zur Not alleine geschafft. Bin schließlich seit vier Jahren im Jiu-Jitsu«, klärt sie uns auf. »Aber nur der Friede führt auf einen glücklichen Weg.«
Einer der drei Spinner, ich meine, er heißt Stephan, verlässt den Ort des Unheils. »Kommt, wir gehen. Die haben doch alle einen Schuss.«
»Die drei Deppen wissen ihr Glück gar nicht zu schätzen«, sagt Andi und setzt sich. Ich bleibe stehen und weiß nicht, wohin mit dem Dampf im Kochtopf. Dann sehe ich die Blicke aller anderen im Foyer. An mir vorbei. Offenbar kommt jemand Besonderes.
»Klara, Heinrich …«
»Hallo Frau Michalski«, sagt Klara mit freudiger Stimme.
»Können wir mal ins Lehrerzimmer gehen?« Klara nimmt meine Hand.
»Klar, Frau Michalski. Komm, Heinrich!« Ich folge einfach. Irgendwas wird jetzt geschehen.

»Wir sind unter Zeitdruck«, eröffnet Frau Michalski das Gespräch. »Deswegen kürze ich ab.« Wir reagieren nicht, was sie offenbar erwartet hat. »Also gut, Ihr beiden. Das Referat war ganz toll. Nicht wenige von uns waren sehr erstaunt über die Details, den gut recherchierten, geschichtlichen Verlauf, das Auf und Ab der gesellschaftlichen Akzeptanz, besonders die Verfolgung im Dritten Reich«, sie breitet die Hände aus und verdreht exaltiert die Augen. »Ja, auch wie das heute noch wirkt. Ganz toll. Man merkt, dass Ihr euch Mühe gegeben habt. Deswegen haben wir beschlossen, dir Klara und dir Heinrich, eine Zwei zu geben.« Frau Michalski nimmt die Faust vor den Mund und räuspert sich. Klaras Grinsen geht von Ohr zu Ohr.
»Toll! Danke, Frau Michalski.«
»Und warum müssen wir dafür ins Lehrerzimmer?«, will ich wissen. Sie zuckt ein paar Mal mit der rechten Schulter. Vielleicht ein Tic?
»Naja, wisst Ihr, das Thema ist sehr heikel. Und Herr Zwerenz, der ja auch im Elternbeirat ist, wegen seines Sohnes in der Unterstufe, der hat angeregt, das Referat nicht zu präsentieren, weil vielleicht das eine oder andere Gefühl verletzt werden könnte … versteht Ihr?«
»Das eine oder andere Gefühl?«
»Und das wurde angenommen?«, hakt Klara nach.
»Ja, leider, Kinder. Das wurde so beschlossen. Also, Ihr dürft gerne bei der Vorstellung dabei sein, aber …« Sie wird still. Unsere Gesichtsausdrücke sind wohl der Grund dafür. »Aber seht mal, die Note habt Ihr doch. Eine gute Note. Wirklich«, setzt sie motiviert nach und sieht uns auffordernd an. »Jetzt gehen wir mit allen anderen und staunen, was da so an den Projektwänden hängt.« Frau Michalski macht kehrt. Wir bleiben stehen und sehen uns an. Sie stoppt. »Was ist? Kommt Ihr?«
»Sie können uns mal«, erwidert Klara.
»Dem stimme ich zu«, bestätige ich. Klaras und meine Hand finden einander. An uns gefasst, gehen wir aus dem Lehrerzimmer, durch das Foyer auf den Vorplatz. Irgendjemand ruft unsere Namen. Die Welt ist schon sehr weit weg. Draußen stehen Eltern. Wir entdecken Andis Mutter neben meiner.
»Heinrich! Wie ist es gelaufen?«
»Lass uns gehen«, sage ich und mit Klara an der Hand marschiere ich Richtung Haltestelle.
»Heinrich!«
»Sie wollen uns nicht«, ruft Klara in den kühlen Dezemberwind.
»Was?!« Mutter holt auf. Mein Blick entdeckt die im Beet liegenden Grauwackebrocken unter den Bodendeckern.
»Wartet mal kurz«, bitte ich beide, lasse Klaras Hand los, wuchte einen Stein hoch und befördere ihn direkt durchs Fenster hinter dem Beet. Es ist das Musikzimmer. Natürlich leer.
»Heinrich!« Mutters Schrei ist wie ein Aufwachen.


Klara findet, dass unser Referat sich von den meisten abhebt und würdig ist, präsentiert zu werden. Eine imaginierte Präsentation sozusagen. Allerdings war sie die letzten beiden Tage vor den Winterferien in der Schule und musste die Häme ertragen. Ich hingegen saß mit Vater lediglich eine Stunde bei Rektor Kurz. Die Papiere der Haftpflichtversicherung ausfüllen. Da liefen zwei oder drei große Ratten unterhalb der Fensterreihe und in meiner Panik ging der Steinbrocken wohl daneben. Kann man ja verstehen, beim Anblick solcher Viecher. So ist zumindest die Bezahlung gesichert. Die letzten beiden Schultage bekam ich Sonderferien inklusive der Auflage, mein Aggressionspotenzial bei einem Fachmann auszuloten. Der einzige Kommentar meines Vaters war, dass es unklug gewesen sei, diesen Brocken im Beisein von Mutter durch die Scheibe zu pfeffern. Die wird sich jetzt einen Monat Gedanken um dich machen, seufzte er auf der Rückfahrt. Und Weihnachten stünde vor der Tür. Aber Weihnachten haben wir gut über die Bühne gebracht und ich stehe bei Paul vor der Haustür. Es gibt ein Telefon, aber die Nummer wird nicht nach draußen gegeben. Steht im Mietvertrag. Ich gehe davon aus, dass Paul noch im Bett liegt. Er hat zwischen den Jahren Urlaub und es ist Mittwochmorgen. Ein Tag vor Silvester. Also die oberste Klingel drücken. Prompt summt es.

Ein junger Mann steht im Türrahmen. Weder Paul noch der mir bekannte Martin. »Du musst Rainer sein«, sage ich auf der letzten Stufe.
»Stimmt. Und du?«
»Heinrich. Ein Freund von Paul.«
»Komm rein.« Er hat sich schon umgedreht und ist im langen Flur verschwunden als ich eintrete, die Schuhe ausziehe. Einige Hausschuhe stehen unbenutzt herum. »Kann ich mir von den Hausschuhen ein Paar nehmen?!« Nicht sicher, ob er mich gehört hat, schlupfe ich trotzdem ins größte Paar. Sie passen. Langsam folge ich dem Flur bis zur Küche. Rainer sitzt am Tisch, liest den Stadtanzeiger und schlürft Kaffee. »Auch einen?«
»Gerne.«
Sehr behutsam stellt er einen Becher vor mich, gießt aus einer Porzellankanne ein und deutet auf Milch und Zucker.
»Nimm dir.«
»Vielen Dank.«
Dann widmet er sich wieder dem Lokalteil. Einen Schluck Milch, zwei Löffel Zucker. Ich probiere vorsichtig, denn die Milch hat es kaum geschafft, das Gebräu aufzuhellen. Er ist sehr stark und erinnert mich an den einzigen Espresso in meinem kurzen Leben. »Junge, der weckt ja Tote.«
»Ich hatte Nachtschicht, hab drei Stunden geschlafen und muss bald weg.« Ich erinnere mich.
»Du arbeitest am Flughafen.«
»Ja. Gepäckabfertigung.«
»Also den Mallorca-Touris die Koffer ins Flugzeug wuchten?«
Er sieht auf. Eine langsame Bewegung. Rainer hat hellblaue Augen, glänzend, fast wässrig. Wie schillerndes Wasser am Südseestrand. Zwei kleine Sehnsuchtsorte. Und er schweigt.
»Schläft Paul noch?« Er schüttelt den Kopf.
»Ist gar nicht da. Hat wohl bei seinem Stecher übernachtet.« Mein überraschtes Gesicht lässt seine Augenbrauen nach oben wandern. Alle seine Bewegungen sind langsam. Reduziert. »Du wirkst überrascht. Hast du’s nicht gewusst?«
»Nein. Das ist mir neu.«
»Martin und Paul waren vorgestern auf ner Party. Da hat ihn wohl Amors Pfeil getroffen.« Rainer beugt sich vor. »Muss aber nix heißen«, setzt er nach. »Ich kenne den Typ. Der steht auf Jungs wie Paul. Nach einem gleißenden Strohfeuer folgt kalte Winternacht.«
»Sehr poetisch«, entgegne ich und trinke einen großen Schluck Wachmacher. Augenblicklich erhöht sich mein Puls. Rainer nickt.
»Du siehst mir aus, als könntest du ein wenig Zärtlichkeit vertragen. Bisschen einsam und verloren. Wie wär’s?« Rainer fackelt nicht lange. Abgesehen von den Augen, die einen besonderen Reiz auf mich ausüben, sieht er gut aus. Wie eine kleine Version von Gary Cooper. Drahtig und muskulös.
»Sei mir nicht böse, aber seit einiger Zeit fühle ich mich wie der Ball in einem Fußballspiel. Und für Zärtlichkeit brauche ich einen freien Kopf, sonst läuft da nix.«
»Du bist also ein Grübler.«
»Das bin ich.«
»Das sind mir die liebsten Geschöpfe auf dem Planeten.« Er grinst breit.
»Warum?«
»Man kann mit ihnen in die Tiefen tauchen«, erklärt er und widmet sich wieder dem Lokalteil. Ich schau in den Becher, täusche drei große Schlucke vor und stehe auf. Trinken kann ich das Gebräu nicht mehr. An der Spüle lasse ich Wasser rein und säubere den Becher mit etwas Pril.
»Vorbildlich«, kommentiert Rainer. »Du gehst wieder?«
»Ja. Wenn du Paul siehst, sag ihm bitte, er soll mich anrufen. Wenn er möchte, kann er morgen Abend zu uns kommen, Silvester feiern. Es gibt Raclette.« Ich trockne den Becher und höre Rainers Stuhl über den Boden schleifen. Wärme ist plötzlich hinter mir. Sein Atem.
»Du bist groß. Das gefällt mir. Ich werde es Paul sagen.« Dann setzt er sich wieder. Ich atme tief ein und aus. Da ist eine Beule in meiner Hose und stupst gegen die Arbeitsplatte. Ohne mich umzudrehen, mache ich mich auf den Weg zur Wohnungstür. Schuhe an. Mit einem ‚Tschüss, Rainer‘ bin ich draußen. Was jetzt? Wieder nach Hause. Mutter bei den Vorbereitungen helfen. An Paul denken und Katharina vergessen. Als ich die Haustür aufmache und gerade die Straßenbahn sehe, habe ich Rainers Augen im Kopf. Ich werde noch mal herkommen müssen.


»Und? Hast du Paul angetroffen?«
»Nein, Mama. Niemand da.« Sie nickt und macht weiter mit dem Schneiden der Wirsingblätter in kleine Streifen.
»Dass die ihre Telefonnummer nicht herausgeben, kann ich ja verstehen. Dieser Herr Schramm hat sicher eine Geheimnummer beantragt.«
»Geheimnummer?« Mutter deutet auf einen Topf voller Kartoffeln. Was bedeutet, ich soll sie schälen.
»Man kann bei der Post eine Geheimnummer beantragen. Die steht nicht im Telefonbuch und über die Auskunft findet man sie ebenfalls nicht. Es gibt ja immer Menschen, die bedroht werden. Dafür ist so was gut.«
»Aha, also wenn der Buchhalter der Mafia sich absetzt und eine neue Existenz braucht, bekommt er ne Geheimnummer.«
Sie lächelt. Ich fange an, die Kartoffeln zu schälen. Mutter summt ein Lied. Der Wirsing ist komplett geschnitten und ich schäle schneller. Vor dem Küchenfenster ist ein Kommen und Gehen. Tütenweise tragen die Menschen ihre Einkäufe ins Haus. Kisten mit Bier, Wein und anderen Spirituosen, Kartons voller Raketen und Böller. »Ich hasse Silvester«, sage ich und lasse eine geschälte Kartoffel ins Wasser plumpsen.
»Was macht Andi?«
»Hat sich nicht gemeldet. Der ist morgen Abend mit Michaela auf einer Party.«
»Und du musst hier mit deinen Eltern die Langeweile totschlagen, was?« Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter und starre aus dem Fenster. »Heinrich?«
»Hm?«
»Komm, wir setzen uns an den Tisch. Ich muss was trinken und die Kartoffeln laufen nicht weg.«
Was ist mit Mutter? Der Ton ihrer Stimme ist gedämpft, wie durch eine Tür. Als müsste sie sich anstrengen, die paar Worte zu sprechen. Ich drehe mich zu ihr und sehe den schmalen Körper schwanken. Schnell bin ich vor ihr, greife unter beide Arme und trage sie zu einem Stuhl, lasse sie langsam ab. Sie klammert sich um meinen Hals. Vorsichtig löse ich die Hände und hole ein Glas Wasser.
»Hier, Mama. Geht’s mit dem Sitzen? Oder soll ich dich ins Bett bringen?«
»Geht schon, Heinrich«, erwidert sie kaum hörbar. Mein Herz ist in die Hose gerutscht. Sollte ich besser den Arzt rufen? Lieber Vater. Er kann sie ins Krankenhaus bringen …
»Hör mal zu, Heinrich. Setz dich mal vor mich hin.« Das tue ich. Mit dem Stuhl direkt vor ihre Beine, klemme ihre Knie zwischen meine. Sie trinkt und stellt das Glas auf den Tisch. Versucht es zumindest. Gegen das Zittern kommt ihre Kraft nicht an. Ich erledige das. Wir sehen uns in die Augen. Ich erkenne all die Jahre mit ihr in diesem Blick. Diese sommersprossigen Hände über mir, mein Schutz. »Ich geh auf die vierzig zu, Sohnemann. Weißt du ja.«
»Klar, aber das ist doch kein Alter …«
Ihre linke Augenbraue hebt sich. Ich muss schweigen. »Für eine werdende Mutter schon.« Ich will was sagen. Ja, was eigentlich? Wie war das? Eine werdende Mutter? Sie ist doch schon eine Mutter. »Na? Ist der Groschen gefallen, mein Großer?«
»Du meinst …«
»Ja, das meine ich.«
»Oh.«
Mutter lehnt sich an, atmet tief ein und aus. Mein Blick fällt auf ihren nicht vorhandenen Bauch. Keine Rundung. Dann greift ihre Hand nach meiner und legt sie auf den Pullover, kurz über dem Gürtel. »Genau da«, sagt sie. Da ist aber nichts zu spüren. Und doch ist es in ihr.
»Wie alt ist es denn? Weißt du schon, was es ist?«
»Sieben Wochen. Ich dachte, ich würde nicht mehr schwanger werden und ein einziges Mal haben dein Vater und ich auf das Kondom verzichtet. Da siehst du mal …«, sagt sie nickend.
»Bekommt man immer einen Schwächeanfall, wenn man schwanger ist?«
Sie lacht. »Nein, aber je älter eine Frau ist, desto mehr kann der Körper Zicken machen. Die hormonelle Umstellung, das kann dich schon aus dem Gleichgewicht bringen. Und meine letzte Schwangerschaft ist knapp siebzehn Jahre her.«
»Stimmt. Das bin ja ich.«
»Ja«, sagt sie gedehnt. »Und da ist noch was …«
»Was denn?«
»Ich weiß nicht, ob ich glücklich oder traurig sein soll. Da sind so viele Fragen. Wird es gesund? Schaffe ich das noch körperlich? Und will ich, dass es ohne dich aufwächst?«
»Ohne mich?«
»Du wirst deinen Weg gehen, mein Großer. Sehr bald schon.« Ich lehne mich an, Kopf im Nacken. Die weiße Decke. Von dort fällt ein massiver Felsen auf mich herunter, begräbt mich unter Katharina, Paul und einem kleinen Wurm im Bauch meiner Mutter. Jetzt muss ich auch noch weinen. Verdammtes Silvester.

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