Paul und die Jungs | Kapitel 11

Wo bin ich

»Mit wem hast du telefoniert, Heinrich?«
Mutter geht vorbei und wirft mir einen missbilligenden Blick zu.
»Was ist? Hab ich was vergessen?«
»Ja«, sagt sie. »Aber jetzt essen wir.« Noch ein Blick aufs Telefon. Soll ich Katharina anrufen? Seit zwei Wochen drehe ich Däumchen, gebe ihr Zeit, wie Mutter mir riet. Bald ist Dezember und der Hammer fällt im Januar. Auf was wartet sie bloß? Ich kann nicht ewig in diesem Schwebezustand hängen, in der Schule sitzen und träumen. Das Halbjahreszeugnis wird deutlich schlechter ausfallen …
»Heinrich! Kommst du?« Seufzend folge ich dem Ruf. Das Seufzen ist inzwischen an der Tagesordnung. Also ab ins Esszimmer. Der Tisch ist schon gedeckt, Mutter sitzt und hat die linke Augenbraue hoch gezogen. Das bedeutet Ärger. »Gefällt mir übrigens sehr gut, deine Frisur. Das macht dich richtig männlich. Da bist du gleich noch mal drei Jahre älter.« Ich bin überrascht. Doch keine Standpauke? Dann fällt es mir ein. Ich sollte Bad, Flur und Wohnzimmer saugen. Besser ich erwähne es nicht.
»Na ja, der Scherz ging voll daneben. Kurz ist Nazi und war hocherfreut. 250 Mark umsonst ausgegeben.«
»Du hättest dich als Bob Marley verkleiden sollen«, meint sie. Ich wusste nicht, dass meine Mutter Bob Marley kennt. In den Töpfen sehe ich Sauerbraten, Klöße und Rotkohl.
»Soll ich dir auftun, Mama?« Ein verschmitztes Grinsen folgt.
»Du hast also gemerkt, dass ich sauer bin und möchtest dem Donnerwetter durch Aufmerksamkeit zuvorkommen. Gut. Ich nehme einen Kloß und eine Scheibe vom Braten. Zwei Löffel Sauce, bitte und ein Löffel vom Rotkohl.«
»Kommt sofort.«
»Und dann legst du die Karten auf den Tisch … alle«, setzt sie nach. Ich stoppe in der Bewegung, Mutters Kloß auf der Gabel. Langsam rutscht er in den Topf zurück. Dann fällt er und zittert nach. Zweiter Versuch. »Danke, Heinrich. Schöpf dir und lass uns essen. Paul kommt auch in ein paar Minuten. Offenbar ist eine Erkältung oder Grippe im Anmarsch. Dein Vater bringt ihn demnächst.« Mehr als Nicken will ich nicht. Wir essen. Es schmeckt vorzüglich, aber wirklich genießen klappt nicht. Ich kann nicht halten, was ich verliere. Und ist mir das vielleicht schon egal? Wie kann einfach alles egal werden? Ich hole eine zweite Scheibe vom Braten. Das Türschloss klickt vernehmlich. Paul kommt. Er ruft ein heiseres ‚Hallo‘ und verschwindet gleich ins Zimmer. Mutter sieht mich an, steht auf und geht in die Küche. Mit einer dampfenden Schüssel und einer Thermoskanne samt Tasse kommt sie zurück.
»Hühnerbrühe und Erkältungstee«, sagt sie im Vorbeigehen.
»Warte! Ich mache das.« Sie sieht mich für einen Moment an und stellt alles auf dem Tisch ab.
»Na gut. Dann reden wir, wenn du fertig bist.« Ich schlucke.
»Okay.«

Paul liegt im Bett. Die Decke bis über beide Ohren gezogen. Es ist viel zu warm im Zimmer. »Hi, Paul. Wie geht’s dir?«
»Mh.«
»Ist zu warm hier. Ich drehe die Heizung runter und lass mal frische Luft rein.«
»Mh.«
Schüssel und Tee stelle ich auf den Schreibtisch, regle im Flur die Fußbodenheizung runter und öffne das Fenster. Dann lege ich die Hand auf Pauls Stirn. Heiß wie eine Herdplatte.
»Du hast Fieber. Willst du was essen?« Er sieht mich an.
»Nee, nur schlafen, bitte.«
»Okay, dann lasse ich den Rollladen ein Stück herab. Ich schätze, Mama sieht gleich nach dir.«
»Mh.«
Sein Blick heftet sich an mich. Die schwarzen Augen. Paul hat sich schon wieder verändert. Mit jedem Monat wirkt er ein Stück erwachsener, mehr wie eine Mischung aus Mann und Frau denn als Junge. Auf eine besondere Weise voller Schönheit. Etwas sehr Komplexes umgibt ihn. Wie ein Käfig oder eine Rüstung. In einem dieser Mittelalter-Märchen wäre er der Zauberlehrling. »Ruh dich aus«, sage ich, die Hand auf der Decke.
»Mh.«
Den Rollladen lasse ich zu zwei Drittel runter. Das verbleibende Licht reicht, um etwas zu sehen, blendet ihn aber nicht. Zufrieden lächle ich Paul zu und schleiche hinaus, ein Grummeln im Bauch. Ich weiß nicht, was Mutter von mir will. Was soll ich erzählen? Sie ist ein paar Astronomische Einheiten von meinen Problemen entfernt. Den Kopf auf einen Handrücken gestützt, sitzt sie am Tisch.
»Wie geht es Paul?«
»Er will nur schlafen. Hab die Heizung runtergedreht, Fenster gekippt und etwas dunkler gemacht. Er hat ziemlich Fieber.«
»Schnupfen?«
»Ich denke nicht.«
»Es wird eine Grippe sein, keine Erkältung. Und essen möchte er nichts?«
»Keinen Hunger.« Sie steht auf.
»Räum bitte den Tisch ab und spül das Geschirr. Ich gehe Fieber messen.«
»Mach ich.« Mutter verschwindet. Aufschub. Schnell alles erledigen und dann an die Hausaufgaben setzen. Das wird die Wogen merklich glätten. Und später vielleicht bei Katharina anrufen.


»Fast vierzig Grad. Noch mal einen halben Grad dazu für die Achselmessung, das ist ordentlich«, sagt Mutter hinter mir. Wie konnte sie sich unbemerkt anschleichen? Ich stelle den letzten Topf in den Geschirrkorb, lasse das Wasser ab und trockne die Hände. »Es ist besser, Wadenwickel zu machen. Ich bereite alles vor und du legst Paul die Wickel an …«
»Ich? Warum ich?« Mutter sieht mich überrascht an.
»Er ist in mich verliebt, Mama! Er mag Jungs und hat die Schule deswegen verlassen …«
»Du bist sein Freund. Ich eine fremde Frau, der das vielleicht nicht zusteht.« Kopfschüttelnd verlasse ich die Küche und setze mich an den Esstisch. Die Sinalco steht noch ungeöffnet an meinem Platz.
»Du bist keine fremde Frau für ihn, Mama. Er vertraut dir«, sage ich eindringlich als sie neben mir Platz nimmt. »Du bist wie eine Mama für Paul. Seine Mutter ist bestimmt eine gute Mutter, wenn sie Zeit hätte für ihn. Hat sie aber nicht. Sie kümmert sich um die Kohle, zieht sich aus und treibt es mit Männern, die sicher nicht die besten Exemplare ihrer Art sind …« Eine so schnelle Ohrfeige habe ich schon lange nicht mehr von ihr bekommen. Es brennt ordentlich auf der Wange.
»Du urteilst, Heinrich! Weißt du, warum sie das tut? Warum sie nicht dort wegkommt? Von was oder welchen Leuten sie abhängig ist?«
»Nein«, murmele ich, drehe mein Glas mit den Fingern.
»Dann geh zu ihr, frag sie, aber urteile nicht über etwas, von dem du keine Ahnung hast. Das habe ich dir nicht beigebracht.« Es wird still. Was soll ich sagen? »Du tust den Menschen Unrecht, Heinrich. Nichts geschieht ohne Grund.«
»Ja, du hast ja recht. Ich bin ein bisschen …«
»Du weißt nicht, wo dir der Kopf steht. Das zieht oft schnelles Urteilen nach sich. Dein Blick verengt sich. Wie Scheuklappen bei Rennpferden.« Meine Augen bleiben auf der Sinalco-Flasche hängen, dem knalligen Gelb mit der roten Aufschrift. »Weißt du was? Ich richte jetzt die Schüssel mit Wasser, zwei Handtüchern und ein dickes Leinentuch für drunter. Wir können ein anderes Mal reden. Okay?« Was hat sie gesagt? Habe ich schon genickt? Oder geantwortet? Ich weiß es nicht, schenke mir stattdessen das Glas voll mit Sinalco und trinke langsam leer. Mutter kommt mit einer Schüssel nicht zu kalten Wassers wieder, legt zwei Handtücher und ein dickes Bügeltuch auf den Tisch.
»Du weißt ja, wie das funktioniert. Um die Unterschenkel wickeln, vom Fuß bis zur Kniekehle. Nach zehn Minuten wieder runter. Fünf Minuten Pause und noch mal. Ich komme in einer halben Stunde, um zu messen.«

Paul schläft tief und fest. Die Bettdecke zurückgeschlagen, kann ich mit seinen Beinen anstellen, was ich will. Sie sind ziemlich flexibel. Ich muss grinsen und an das jahrelange Hüpfen und Springen denken. Das war einmal. Warum sind die Beine so glatt? Ich erinnere mich an den Schulsport oder den Schwimmunterricht und an die Haare auf Pauls Beinen. Wie bei den meisten von uns Jungs. Langsam streiche ich über das linke Schienbein. Es fühlt sich an wie mein Kinn nach einer vergessenen Rasur. Ich gehe näher heran. Da sind tatsächlich Stoppeln. Paul rasiert sich die Beine? Warum das? Noch einmal fahre ich mit der Hand über die Haut, dieses Mal die Waden. Es fühlt sich an wie das Gleiten auf Katharinas Rücken. Glatt und widerstandslos. Eine unheimliche Hitze strahlt mir entgegen. Es muss einen Grund haben, dass er sich rasiert. Aber das ist jetzt nicht wichtig.
Sorgfältig tunke ich die Handtücher ins Wasser, wringe eines aus, umwickle beide Unterschenkel, breite das Bügeltuch aus, klappe es um und decke die Beine damit zu. Dann lasse ich die Decke folgen und schaue auf Pauls Wecker. Zehn Minuten warten. Leise rücke ich den Stuhl auf die Höhe seines Kopfes, setze mich leise und mustere das halb verdeckte Gesicht. Er schwitzt. Nicht wenige Schweißperlen glänzen auf der Stirn. Im Halbdunkel deutlich zu sehen. Aus dem Badezimmer hole ich einen Waschlumpen, mache ihn feucht und tupfe Pauls Stirn trocken, seine Schläfe, dann die Wange. Schmatzend zieht er die Luft ein, murmelt undeutlich ein Wort. Ein Blick auf den Wecker. Noch Zeit. Ich frage mich, was wohl bisher passierte, wenn er krank war, Fieber oder eine Magen-Darm-Grippe ihn geplagt haben. Ob jemand an seinem Bett saß und über ihn gewacht hat? Seine Mutter? Keine Zeit. Sein Vater? Keine Lust, weil viel zu lästig. Mich beschleicht das Gefühl, dass unter dieser Decke ein Bergmassiv an Einsamkeit liegt. Und dass niemand dieses Massiv würde erklimmen können, weil es schon viel zu alt und zu schroff geworden ist. Ich spüre Tränen kommen, aber sehe lieber aus dem offenen Spalt zum Nachbarhaus. Tief durchatmen. Mutter kann jederzeit ins Zimmer kommen und die zehn Minuten sind gleich um.


Nach dem zweiten Mal Wickeln kommt Mutter und misst das Fieber. Wie kann man nur so tief schlafen? Ich wäre schon längst aufgewacht.
»Plus das halbe Grad unter der Achsel sind es knapp 39. Sehr gut. Wir haben es gesenkt. Jetzt machen wir eine Pause, denn zu schnelles Absenken kann kritisch werden. Ich rufe Doktor Brunner an. Er soll mir ein Rezept für Fieberzäpfchen geben. Außerdem kaufe ich noch Lindenblüten-Tee. Du bleibst hier und misst jede halbe Stunde. Verstanden?« Ihr Blick lässt keine Zweifel aufkommen. Meine Aufgabe ist fest umrissen.
»Klar. Verstanden.«
»Vielleicht kannst du ja seine Mutter anrufen und ihr sagen, dass er krank ist und falls sie vorbeikommen möchte, kann sie das gerne tun.«
»Sie wird noch schlafen.« Mutter nickt.
»Natürlich, aber ihr Sohn ist krank und er liegt bei uns im Bett, wir versorgen ihn, obwohl das ihre Aufgabe wäre. Da ist mir nicht ganz wohl, wenn ich ehrlich bin. Sie muss es wissen.«
»Ich versuche, sie zu erreichen.«
»Tu das«, sagt sie, legt die Hand auf meine Schulter und macht sich auf den Weg, schließt leise die Tür. Gleich darauf höre ich ihre Stimme. Offenbar telefoniert sie mit dem Arzt, und kurze Zeit später klackt das Schloss der Wohnungstür. Mit einer Hand ziehe ich den Stuhl zum Bett und setze mich direkt neben Pauls Kopf. Vielleicht sollte ich noch mal das Wasser wechseln, kälteres einlassen, aber nur, wenn die Temperatur wieder steigt. Und was meinte Mutter mit ‚kann kritisch werden‘?
Durch das gekippte Fenster kommt ein kühler Luftzug. Ich hole die kleine Decke aus dem Bettkasten, lege sie um meine Schultern, lehne mich an und schließe die Augen. Da sind ja noch die Hausaufgaben zu machen. Und das verdammte Referat! Ich muss unbedingt Jürgen besuchen. Schon alleine wegen der Wohnung. Durch all die Worte im Kopf drückt sich Katharinas Bild, das sich mehr und mehr in einen Nebel verwandelt, unscharf wird. Ich kann mir vorstellen, was in ihr vorgeht. Um es nicht noch schlimmer zu machen, ist es besser, sich gar nicht mehr zu sehen. Jetzt schon so tun, als wären wir 500 Kilometer auseinander, auf unterschiedlichen Planeten. Dann tauchen die grünen Augen auf, gleich einem U-Boot aus den blauen Tiefen des Ozeans; glänzender, schwarzer Stahl. So funkeln mich die Pupillen an. Etwas greift nach meiner Hand.

»Paul?« Die Finger ruhen auf meinem Handrücken. Offenbar ist auch sein Bewusstsein wieder aufgetaucht aus tiefem Schlaf. Unvermittelt streicheln diese Finger. Ich will die Hand wegziehen, aber Pauls Blick ist nicht der eines Feindes, die Hand nicht der Körper einer Spinne. Es ist nicht schlimm. Ich muss keine Angst haben.
»Ich fühle mich wie schon mal gegessen«, sagt er.
»Kein Wunder. Dein Fieber ist hoch und war sogar höher. Ich habe dir Wadenwickel gemacht.«
»Echt?«
»Meine Mutter hat’s angeordnet. Sie ist der Chef, wenn wir krank werden.«
»Und jetzt ist es besser?«
»Ja. Bisschen besser. Sie holt in der Apotheke Fieberzäpfchen. Außerdem soll ich deiner Mama Bescheid sagen, dass du krank bist. Vielleicht kommt sie ja …«
»Bitte tu das nicht«, unterbricht er.
»Warum nicht?«
»Sie soll sich keine Sorgen machen. Ist doch nur Fieber. Grippe, hab mich irgendwo angesteckt. Komm ja viel rum mit deinem Papa.«
»Ja, aber …«
»Heinrich?«
»Hm?«
»Gibt es ein Zäpfchen dagegen, dich zu lieben?« Die Fragen und Antworten schwirren durch meinen Kopf wie ein Bienenvolk auf der Suche nach einer neuen Heimat. Aber nichts kommt raus. Kein Sterbenswörtchen. Dabei will ich etwas sagen. Ich will jetzt sofort alle Probleme dieser Welt lösen. Mit einem Schlag. Und Paul retten. Katharina an mich binden. Andis Vater die Flasche wegnehmen. »Tut mir leid«, sagt er mit leiser Stimme. »Ich will dich nicht unter Druck setzen.« Es hält mich nicht auf dem Stuhl. Mit den Schenkeln schiebe ich ihn an den Tisch und knie mich direkt vors Bett. Keine dreißig Zentimeter vor Pauls Gesicht, seine Hand hält mich noch immer.
»Ich stecke dich an.«
»Ja, kann schon sein.«
Paul dreht sich auf den Rücken und zieht meine Hand unter die Decke. Auf seinen Bauch. Am kleinen Finger spüre ich das Gummiband der Unterhose. Er dreht den Kopf auf die Seite. Es fühlt sich unter der Decke an wie in einem Hochofen. »Sei mir nicht böse«, sagt er. Ohne zu wissen, was er meint, ohne eine Antwort abzuwarten, drückt er meine Hand auf seinen Penis, der fast sofort steif wird, aus der Unterhose herauswächst. Pauls Augen sehen mich an. Niemand wird jemals in diesen schwarzen Pupillen etwas lesen können. Er zieht seine Hand zurück und ich weiß, dass er mich nun freigibt. Ab hier kann ich entscheiden. Die Pupillen. Zwei Monolithen, ohne die Erlaubnis, eintreten zu dürfen, die warten, was ich jetzt tue.
»Du bist ziemlich einsam, stimmt’s?« Sein Mund formt ein Lächeln. Ein Lächeln ohne Sinn dahinter. Meine Hand schiebt die Unterhose auf die Oberschenkel und legt sich auf Pauls Glied. Beide sehen wir uns an. Ich weiß gar nicht, ob wir atmen. Die Stille ist absolut. Das Glied ist hart und hat doch so etwas wie einen weichen Mantel. Ich stelle mir die Haut vor, schließe meine Hand und fahre langsam auf und ab. Ich erinnere mich an meines und was ich damit tue, wenn ich träumen möchte. Langsam auf und ab. Immer fester greifen, bald tiefer hinab, bald bis über die Eichel. Weder denke ich an Mutter noch an sonst irgendwas und dann öffnen sich die Monolithen, Pauls Blick ändert sich und wandert in ein Land, das nur er sieht. Ein warmer Strahl ergießt sich über meine Hand, seinen Bauch. Er will nicht enden, Paul zuckt und krampft. Mit offenen Augen. Dann wird es still. Wir bleiben so. Er unter der Decke, ich vor dem Bett kniend, mit dem Gefühl, wir sind eins.
»Bist du mir böse?«, murmelt er irgendwann.
»Nein. Gar nicht.«


Zwei Tage später. In meinem Kopf hämmern die Gedanken an die Hitze unter der Decke. Alles war zum Zerreißen gespannt in diesen Minuten. Auch meine Hose. Ich war erregt wie lange nicht mehr. Ist es das nun? Bin ich durch eine Tür auf die andere Seite getreten? Liebe ich jetzt Jungs? Versetzt mich ein Penis in Hochspannung? Es ist zum Verrücktwerden. Beinahe verpasse ich das Aussteigen.
»He!«, ruft der Busfahrer und dann bin ich endlich aus dem Bus raus. Paul ist noch daheim im Bett. Mutter sagt, dass eine richtige Grippe gut und gern zwei Wochen dauern kann. Und Andi hat es seit gestern auch erwischt. In der Aula gehe ich zur Projekttafel. Vielleicht reiße ich den Zettel einfach ab, kassiere ein Ungenügend und fertig. Viel schlechter als jetzt, kann es ja nicht werden. Viele tolle Themen stehen da. Paragraph 218, Rote Armee Fraktion, Auswirkungen des Vietnamkriegs, Ölkrise, NATO-Doppelbeschluss, feines Zeug. Da hätte ich sicherlich einiges zu schreiben gehabt.
»Du bist doch Heinrich.«
»Wie?« Ich kenne das Mädchen neben mir, kann es aber nicht zuordnen. Sie ist mehr als einen Kopf kleiner und gehört zu den Unscheinbaren, die durch jede Lücke schlüpfen. Man sieht sie nicht.
»Ich bin die Klara Rabenacker aus der ‚11a‘. Und ich habe gesehen, was du für ein Thema notiert hast. Und, äh …« Sie wird rot und stumm. Soll ich annehmen, dass Klara in das Projekt einsteigen will? Sonst würde sie mich ja nicht drauf ansprechen. Sei kein Idiot, Heinrich!
»Okay, Klara, du bist eingestellt.«
Sie stutzt. »Woher weißt du, dass ich mitmachen möchte?«
»Bauchgefühl.«
Sie lächelt ein sehr breites Lächeln. »Da täuscht dich dein Bauchgefühl nicht. Ich will mitmachen. Und wie machen wir das? Ist ja nicht mehr lang bis zum Projekttag.«
»Das kriegen wir schon, Klara. Nach der Schule gehen wir in die Ehrenstraße. Da hab ich einen Kumpel, der uns helfen wird. Hab ihn gestern angerufen.«
»Echt?«
»Absolut.«
Es bimmelt zur ersten Stunde. Klara sieht mich an, dann hält sie mir die Hand vor die Brust. Ich schüttle sie. »Also dann«, sagt sie und schreibt ihren Namen auf die Themenkarte. »Nach der Schule am Haupteingang.«

Sie wartet tatsächlich neben der Glastür, setzt eine rote Pudelmütze auf, hängt die Tasche über die Schulter und grinst mich an.
»Hallo, Heinrich.«
»Hallo, Klara. Wie war der Unterricht?«
»Scheiße.«
Ich lache laut auf. »Wie bei mir. Kaum aus der Tür, schon wieder alles vergessen.« Sie nickt und wir machen uns auf den Weg zur Haltestelle.
»Das mit der Uniform war super. Aber ich dachte immer, Kurz ist ein Nazi.«
»Er ist ein Nazi. Deswegen war die Aktion ein Reinfall.« Ich gehe sehr zügig und höre sie schneller atmen.
»Aber die Frisur steht dir wirklich gut«, hechelt sie. Ich bleibe stehen und schaue in die Schultasche, krame ohne ein Ziel. Sie braucht Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Dann gehe ich weiter, mit halber Geschwindigkeit.
»Das sollte mir zu denken geben, wenn den Leuten so ne Nazifrisur gefällt.« Sie sagt nichts mehr bis wir im Bus sind. Im Takt von Klaras Atmung beschlägt die Scheibe. Ich denke über sie nach. Es gibt fünf Parallelklassen, eine Menge Jungs und Mädchen. Finde ich Klara darunter? Außer einigen kurzen Momenten der zufälligen Begegnung, fällt mir nichts zu ihr ein. Gesehen ja, aber das war’s dann.
»Sag mal, Klara, mich würde interessieren, wieso du bei diesem Thema mitmachen willst. Heute Morgen wollte ich schon den Zettel von der Wand reißen und die Sechs in Kauf nehmen.« Klara hat mich gehört, schaut aber weiterhin aus dem Fenster, durch das man inzwischen gar nichts mehr sieht. Das Kondenswasser läuft in breiten Bahnen in die Gummilamelle. Sie knetet die Finger, dreht dann schnell den Kopf, als würde sie kontrollieren, wer in welchem Abstand noch um uns ist und zuhören kann.
»Ich dachte immer, ich stehe auf Jungs.« Klara bekommt knallrote Wangen. »Jungs wie du etwa, groß und sportlich. Aber auf einmal hab ich mich in ein Mädchen verliebt. Und sie sich in mich.« Ich starre sie wohl zu lange an. Ihr Blick wird kritisch, drei tiefe Falten bilden sich auf der Stirn. »Was ist? Findest du mich jetzt komisch?«
»Nein. Auf keinen Fall.« Wie sage ich das? Mir fehlen die Worte. »Ich bewundere deine Ehrlichkeit. Das Thema betrifft dich also direkt.«
»Dich nicht?« Jetzt werde ich rot und schau mich kurz um.
»Wenn ich ehrlich sein soll, dann ist es wohl so, dass ich auf beides stehe. Mädels und Jungs. Ich habe eine Freundin und ich mag einen Jungen.« Sie legt den Kopf zurück, stößt an die Scheibe. Die rote Pudelmütze verrutscht.
»Echt?«
»Ja. Echt.«
»Mh. Aber das ist nicht minder verwerflich in den Augen der Spießer. Die sagen bestimmt, das ist nicht normal.« Mein Blick wandert an ihr vorbei. Zu Paul.
»Was ist schon normal?«
»Na, das, was Spießer, Kirche und Jägerzaun-Besitzer festlegen.« Klara nickt zur Bestätigung. Sie legt die Hand auf meine und schaut mich lange an. »Also deswegen das Thema?«, fragt sie nach einer Weile.
»Ja. Ich sehe nicht, was an uns verwerflich sein soll. Deswegen.« Klara muss aufstehen, um an meine Wange zu kommen. Sie gibt mir zügig einen Schmatz und setzt sich wieder.


Auf Jürgens Tisch liegt ein Stapel Bücher. Daneben Magazine, Eigendruck und Selbstverlage aus Köln, Frankfurt und West-Berlin.
»Wie war dein Name?«
»Klara.«
Er nickt, stellt zwei Flaschen Cola und zwei Reissdorf auf den Tisch. Der Vorhang ist zu und der Laden ist noch bis zwei geschlossen. »Bedient Euch.« Klara nimmt ein Reissdorf, ich die Cola. »Einleitung, Hauptteil, Fazit. Ist das noch so?«, fragt er und lässt sich in den Drehstuhl fallen.
»Ja, ist noch so«, bestätigt Klara.
»Dann mache ich einen Vorschlag.« Er beugt sich vor.
»Wir sind ganz Ohr, Jürgen.«
Er zieht ein Blatt Papier aus der Gesäßtasche, faltet es auf und schaut drauf. »Als Einleitung würde ich den Paragraph 175 zitieren, seit wann es ihn gibt, dass er ein Werkzeug zur Unterdrückung von Menschen ist. Im Hauptteil dann die Geschichte der Homosexualität in der Antike, Griechen, Römer, Tabuisierung durch die Kirche bis ins Kaiserreich. In Weimar blüht dann die homosexuelle Szene auf, sogar die Gesetze sollen aufgeweicht werden. Dann kommen die Nazis und machen daraus eine fiese Daumenschraube. Und das gilt quasi noch bis heute. Als Fazit dann, dass es einer freien Gesellschaft nicht würdig ist. Die Würde ist unantastbar. Das war ja schließlich eine der Lehren aus der Nazizeit. Und doch sagt die Gesellschaft, einer Hetero-Person gestehen wir Würde zu, der homosexuellen Person dagegen nicht. Mit allen sich daraus ergebenden Nachteilen. Dass nicht wenige Politiker, Staatsanwälte, Richter, Polizisten homosexuell sind, interessiert niemanden. Nach außen passen sie sich an.«
Er lehnt sich zurück, trinkt das Reissdorf leer und ich sehe einen Berg Arbeit auf uns zukommen. Das ist ja ein Thema für eine Semesterarbeit im Soziologiestudium. Mir wird ganz übel. Klara dagegen ist Feuer und Flamme, nimmt Jürgen den Zettel ab und liest die Notizen. »Super«, sagt sie dann und er grinst.
»Alles, was ihr wissen müsst, steht in dem Berg Material hier.« Er deutet auf den Tisch. Ich ahne, dass wir schon heute damit anfangen müssen, um noch rechtzeitig fertig zu werden. »Ich gehe mal vorne aufschließen.« Jürgen steht auf und schlüpft zwischen den Vorhanghälften hindurch.
»Toller Mensch, dein Kumpel«, sagt sie. »Wo ist eigentlich die Toilette?«
»Hier die Tür, dann rechts.«
Als sie weg ist, kommt Jürgen zurück, schaut sich um.
»Ist auf dem Klo.«
»Okay. Hier.« Er reicht mir einen Zettel. »Ruf bei dieser Nummer an. Da könnte es klappen mit nem Zimmer für Paul.« Ich starre ihn an. Fast will ich ihm um den Hals fallen. Er ahnt, was mir durch den Kopf geht. »Schon gut, Heinrich. Wenn er mal dort wohnt, laden wir uns auf ein Bier ein.«
»Danke! Vielen Dank …«
Die Tür zum hinteren Lager öffnet sich. Klara kommt pfeifend herein.
»Hört mal zu, ihr beiden«, setzt Jürgen an. »Es gibt noch etwas, das ich euch unbedingt sagen möchte; sagen muss.«
Klara verzieht den Mund. »Das klingt jetzt aber spannend«, meint sie, setzt sich neben mich, nimmt eine weitere Flasche Reissdorf und zieht den Kronkorken mit einer Schere vom Flaschenhals. Ich muss staunen.
»Wenn ihr das Referat schreibt und es vortragt, also öffentlich macht, werdet Ihr euch exponieren. Mitten ins Rampenlicht stellen. Man wird euch für homosexuell halten. Euch das vorwerfen, unterstellen, über euch tuscheln. Ich hab das erlebt an der Uni. Das wird Euch zusetzen.« Jürgen sieht uns erwartungsvoll an. Erst Klara, dann mich. »Habt Ihr das verstanden? Verinnerlicht? Ihr werdet entwürdigt, gedemütigt. Offiziell gilt es als Krankheit. Man wird euch demzufolge für krank halten und dass Ihr noch nicht volljährig seid, macht es nicht einfacher.« Klara trinkt einen großen Schluck und stößt mit geschlossenem Mund auf. Dann wirft sie mir einen Seitenblick zu. Ich nicke.
»Ja, das ham wir verstanden«, erklärt sie.
»Heinrich! Du auch?«
»Hab ich, Jürgen.«
Er atmet tief ein und pustet die Luft langsam wieder aus. »Okay. Und noch eine Bitte: das Infomaterial, die Magazine, das ist nicht von mir. Habt Ihr nicht in diesem Laden bekommen. Das sollte komplett auf eurem Mist gewachsen sein.«
Ich habe ihn noch sie so ernst gesehen. Er hat Angst. Klara stellt die leere Flasche auf den Tisch und boxt gegen meinen Oberarm.
»Wir werden schweigen bis zum letzten Atemzug«, versichert sie. »Stimmt’s Heinrich?«
»Zweifelsohne.« Jürgen lächelt schwach.
»Apropos besondere Menschen, Heinrich. Am Sonntag ist Adventssingen in Sankt Marien. Ich bin am Flügel und Sabine singt. Du erinnerst dich an sie?« Beim Denken an Sabine zieht ein Kribbeln meinen Rücken hinab.
»Klar. Wie könnte ich sie vergessen. Ich werde dort sein.« Jetzt grinst er tatsächlich. Es bimmelt an der Ladentür. Klara beginnt, Bücher und Magazine einzupacken.
»Ich komme!«, ruft Jürgen.


Klara ist eine unter Hochdruck stehende Dampfmaschine. Als ich sie frage, wie weit sie mit The Wild Boys von Burroughs ist, behauptet sie, es schon gelesen zu haben und teilt mir gleich ein Resümee mit; inklusive vieler Notizen. Das will ich erst nicht glauben, merke aber schnell, dass ihre Fähigkeiten, sich Dinge zu merken und zu erfassen, weit oberhalb des Durchschnitts liegen. Ich dagegen arbeite mich durch eine Auflistung von Gerichtsurteilen aus den 50ern bis zum heutigen Tag. Irgendjemand macht sich die Mühe, die Liste auf dem Laufenden zu halten und regelmäßig neu herauszugeben. In einer parallelen Spalte stehen handgeschriebene, juristische Kommentare zu den Urteilen. Klara zieht mir davon jeden Krümel aus der Nase, macht sich Notizen und dann fassen wir es in Textform. Unser Referat wächst. Für Montag hat uns Jürgen bei sich daheim einen Filmabend versprochen.
Jetzt aber ist Sonntagmorgen und nicht nur Mutter und Paul gehen mit in die Kirche, sogar Vater hat sich überreden lassen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit meinen Eltern in der Kirche gewesen zu sein. Zwar ist Mutter sehr religiös, aber das macht sie mit sich im Stillen aus. Wir fahren mit der Sechzehn von der Schönhauser Str. in die Florastraße und laufen die paar Meter zur Kirche. Es ist abzusehen, dass eine Menge Zuschauer kommen und finden ziemlich weit vorne Platz, nehmen das Programmblatt auf und setzen uns. Links vom Altar steht ein schwarzer Yamaha-Flügel. Von Jürgen ist nichts zu sehen. Dafür gibt es Sitzkissen. Nicht allzu dick, aber sie halten den Hintern etwas warm. Kurz vor zehn Uhr kommt der Pfarrer und kündigt das Konzert an, das etwa eine Stunde dauern wird. Danach soll es den handelsüblichen Gottesdienst geben. Mutter liest, was auf dem Hinweisblatt steht. Mendelssohn-Bartholdy, Bach, naja, Namen, die ich schon gehört habe, aber das war’s.
»Du kennst diese Sabine Dernbach wirklich?«, will Mutter zu mir gebeugt wissen.
»Von dem Konzert, zu dem mich Jürgen mitgenommen hat.«
»Der Mann dort?« Tatsächlich. Jürgen kommt von links, setzt sich an den Flügel und knetet die Finger.
»Ja, das ist Jürgen.«
Von hinten an uns vorbei, durch den Mittelgang, kommt Sabine. Sieht nicht so aus, als ob ihre Füße den Boden berühren. In einem schwarzen Kleid, dessen Ende sie hinter sich herzieht, könnte es auch eine Art schweben sein. Die Menschen werden still. Das liegt eindeutig an ihr. Der lange Hals steckt in einem grauen, seidenen Schal, die Haare kurz wie an diesem Partyabend. So muss es im Colosseum gewesen sein, als Vespasian oder Trajan ihren Platz einnahmen. Gebannte Stille. Fast ehrfürchtig. Sogar Vaters Blick brennt sich in Sabines Gestalt, mit halboffenem Mund verfolgt er jede ihrer Bewegungen. Sie verbeugt sich, gibt Jürgen ein Handzeichen. Wie unter anderen Schwerkraftverhältnissen drückt er die Finger auf die Klaviatur. Es geht los. Sabine erhebt die Stimme. Mezzosopran steht auf dem Blatt. Wir schweigen.

Ist es möglich, dass wir Menschen von Anfang an alles falsch gemacht haben? Mit geschlossenen Augen und leicht gesenktem Kopf höre ich und denke dazu die absonderlichsten Gedanken. Mutter stupst mich sachte an. Ich sehe nach. Ein Tempotaschentuch liegt auf meinen Knien. Sie hat bemerkt, dass mir Tränen kommen. Als ich vorsichtig nach rechts blicke, erkenne ich, dass es ihr ebenso geht. Und den Menschen rechts von uns. Langsam schaue ich auf die andere Seite. Dort ebenfalls. Viele weinen still und leise, schniefen sachte, Taschentücher in den Händen. Ich habe recht. Mutter lächelt und sieht nach vorne. Nicht Wut und Krieg ist das, was unser Innerstes ausmacht. Nein, die Kunst ist stark in uns, verbindet die Herzen. Die Kunst, etwas so zu können, wie Sabine es tut. Zu malen, zu komponieren, zu schreiben, aus einem Millionen Jahre alten Felsklotz etwas zu schaffen, was uns innehalten lässt. Paul hat die Hände gefaltet und den Kopf zurückgelegt. Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass hier drin Menschen sind, die Homosexuelle verfluchen und wir trotzdem zusammen dieser mächtigen Stimme vertrauen? Warum überwältigt uns alle eine zutiefst ehrliche Schönheit genau jetzt und morgen früh klagen wir uns wieder an? Ich verstehe es nicht und werde das wohl nie tun. Katharina fällt mir ein. Ich will auf der Stelle schreien, hinausrennen, direkt nach Bonn. Mit ihr ans Ende des Universums fliehen. Und auf diesem Weg das grausam Schöne allen Lichts aufsaugen. Ich muss schneller atmen. Mit offenem Mund. Mutters Hand packt meine und drückt fest zu. Sie weiß, was in mir wütet. Hoffentlich ist das hier bald zu Ende.

Auf dem Weg nach draußen wird es eng. Die meisten Menschen verlassen die Kirche. Offenbar sind sie nur des Konzerts wegen gekommen und ersparen sich den Gottesdienst. Kurz vor der breiten Holztür erreicht uns der Ausruf einer Frau, die schon draußen steht, dass es schneit. Und tatsächlich. Es hat zu schneien begonnen. Das Grau des Himmels ist völlig gleichförmig. Noch sind die Flocken klein, aber es wird spürbar kälter und der Schneefall stärker.
»Hurra«, stellt Vater lakonisch fest. »Wenn es hier schneit, brauche ich im Sauerland morgen Ketten.« Paul ist still. Seit unserem gemeinsamen Erlebnis hat er sich weit zurückgezogen. Er hofft inständig auf eine Wohnung oder ein Zimmer in einer WG. Der Mann, den ich über Jürgens Nummer erreicht habe, versprach mir, wahrscheinlich am Sonntag zurückzurufen. Also heute.
»Das war wirklich beeindruckend«, schwärmt Mutter und zieht den Kragen ihres Mantels hoch. »Du hättest mir ruhig erzählen können, dass du eine derart gute Sopranistin kennst.«
»Ja«, bestätigt Vater. »Unser Sohn schleppt uns am Sonntagmorgen in eine Katholische Kirche zu einem Adventskonzert. Das ist wirklich eine Überraschung.«
»Aber es hat sich gelohnt, Rudolf. Und den Gottesdienst habe ich dir erspart.«
»In der Tat. Dafür bin ich dankbar.« Ich grinse und Paul tritt von einem Fuß auf den anderen. Mutter schaut sich um und deutet auf ein Eckhaus.
»Das sieht aus wie ein Café. Vielleicht bekommen wir da ein zweites Frühstück. Und aufwärmen wäre auch nicht schlecht.«


»Heinrich! Telefon!« Wer ruft denn zur Schimanski-Zeit an? Thanner schlägt die Tür seines Büros ein paar Mal zu und will endlich Ruhe haben. Vater und Paul amüsieren sich. Ich gehe in den Flur und nehme ihr den Hörer ab.
»Ein Herr wegen einer Wohnung.«
»Endlich.« Mutter lächelt und geht ins Wohnzimmer.
»Konstantin?«
»Es geht um ein Zimmer, habe ich erfahren.«
»Ja. Für einen Freund. Er wohnt mit Erlaubnis seiner Mutter momentan bei uns.«
»Wie alt ist er?«
»Sechzehn, wird demnächst siebzehn.«
»Warum wohnt er nicht bei seiner Mutter?« Ich erzähle, wie es ist.
»Hm.« Für einen Moment ist Schweigen in der Leitung. »Er arbeitet?«
»Ja, in der Firma meines Vaters. Momentan als Aushilfe, die Lehre beginnt am zweiten Januar. Seine Mutter ist einverstanden, ich kann Ihnen aber die Telefonnummer geben, dann können Sie Rücksprache halten.«
»Nehme ich.« Langsam lese ich die Nummer vor und wiederhole sie einmal.
»Okay. Ihr Freund weiß, dass wir auf dünnem Eis unterwegs sind, falls es mal von irgendwo Nachfragen gibt? Das Ganze bleibt also besser im kleinen Kreis.«
»Meine Eltern und Pauls Mutter wissen das und wir stehen voll dahinter.«
»Ja, okay. Also, ich werde bei unserem gemeinsamen Freund im Laden eine Adresse hinterlegen. Sie wissen, das Alter ist das Problem?«
»Ja, wir haben über das alles geredet.«
»Okay. Holen Sie die Adresse. Dort ist auch ein Terminvorschlag zum Kennenlernen hinterlegt. Und das bitte mit der Mutter.«
»Verstanden.«
»Dann bis bald.«
»Ja, vielen Dank. Wiederhören.«
Er legt auf. Ich halte den Hörer noch eine Weile in der Hand und komme mir vor wie James Bond in einem Moskauer Hotel. Nicht zu fassen. Das ist also die vielgerühmte Freiheit. Als ich auflege, höre ich Schimanski brüllen und Thanner fluchen. Vater lacht. Kurzentschlossen wähle ich Katharinas Nummer. Es klingelt die vorgegebene Anzahl, dann unterbricht die Post. Kein Anrufbeantworter. Niemand hat abgehoben. Ich lasse Schimanski links liegen und gehe in mein Zimmer, das Licht bleibt aus. Auf der Straße wächst die Schneedecke. Die Flocken sind dick und fallen in großer Zahl. Langsam werden aus den Autos weiße Hügel. Auf dem Tisch liegt die Kladde mit den vielen Notizen und Entwürfen zum Referat. Ich blättere zur letzten Seite, drehe die Kladde um und nehme den Bleistift. Das Licht der Straßenlaternen genügt, um etwas zu schreiben. Aber was? Was soll ich schreiben? Es soll sein wie ein Foto. Auslöser drücken, ein Fünfhundertstel bei Blende 2,8. Alles vorne und hinten ist unscharf. Nur meine Gedanken sind erkennbar. Also schreibe ich sie auf.

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