Die Hände über uns
Ein leises Klopfen. Erst hielt ich es für ein Arbeitsgeräusch irgendwo aus dem Boot und kontrollierte die Leuchtanzeige. Freitag, 26. April 2148, kurz vor sieben Uhr morgens. Seit sechs Tagen durchquerten wir den Pazifik. Jelena war seit fünf Uhr im Dienst, wie sie sagte. Takuno hatte sich entschlossen, sie offiziell als Anwärterin im Marinen Polizeidienst aufzunehmen; und zwar im Sonarraum. Das bedeutete aber auch die Integration in den regulären Dienstplan. Ihr gefiel es. Sie war Feuer und Flamme. Was wiederum mir Freude bereitete. Wieder das Geräusch. Es war tatsächlich ein Klopfen.
»Herein?«
Kazumi öffnete langsam und spähte durch den Spalt. »Chatrina?«
»Kazumi … was gibt es?«
Sie trat ein, verschloss leise die Tür und setzte sich aufs Bett. Ich legte das Pad weg, klappte die Metalldose zu, inzwischen wieder voll mit Takunos synthetisierten Tabletten.
»Kenzaburo hat dir neue gemacht?«
»Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen«, betonte ich. Kazumis Haare standen wild in alle Richtungen. »Was ist passiert? Hast du was auf dem Herzen?«
»Steven …«, sagte sie leise. »Ich mache mir Sorgen um ihn.«
Das bestätigte meine Beobachtungen der letzten Tage seit dem Zwischenfall in der Koreastraße. »Seit wann hast du diese Sorgen?« Kazumi überlegte lange, den Blick nach innen gerichtet. Die Wunde an der Schläfe war gut verheilt. Wie es um ihr Inneres stand, konnte ich weniger beurteilen. Sie saß meist schweigsam in der Messe oder zog sich in ihre Kabine zurück. Jelena sah nach ihr wie sie Zeit hatte und wurde hoffentlich eine Art Freundin; obwohl zehn Jahre jünger. Jemand mit einem Draht zu Kazumis empfindlichem Inneren.
»Als wir das Atlantik-Konglomerat verließen, du dich geweigert hast, Kano, mich und Bijan auf Sankt Helena abzusetzen …«
Kazumi besaß wohl feinere Antennen als ich. Steven war der Verschlossenste unter uns zehn … als wir noch zehn waren. Je mehr von uns starben, desto mehr hielt er sich zurück. »Steven war schon immer introvertiert«, gab ich meine Beobachtungen wieder. »Nicht wirklich gesprächig. Er hat Familie auf Insel 34. Sein Vater und zwei Schwestern. So steht es zumindest in den Akten. Viel erzählt hat er nie über sich und die Familie.«
»Ich weiß nicht …«, murmelte Kazumi, »ich hatte nie den Eindruck, dass er seine Familie vermisste, eher das Gefühl, wir seien seine Familie.«
Ich nickte. »Und die existiert nun auch kaum mehr. Zudem müssen wir vor allem fliehen, was bisher ein Zuhause war. Es gibt nirgendwo einen Platz, an dem wir sicher sind …«
Mit dem Zeigefinger malte Kazumi Linien auf den Tisch. »Das macht uns allen zu schaffen, Chatrina. Wären wir nicht in diesem Boot, dann … ich weiß auch nicht …« Ich setzte mich neben sie, legte den linken Arm auf die Tischplatte und zog den Ärmel zurück. Kazumi entdeckte die frische Narbe.
»Was ist da passiert?«
»Takunos Sanitäter hat das Implantat aus dem Arm geschnitten. Narbe Nummer vierzig, wenn mich nicht alles täuscht. Ich habe mich entschlossen, nicht mehr im Atlantik zu leben, nicht im Pazifik oder dem Indischen Ozean. Mal davon abgesehen, dass uns alle drei Konglomerate auf der Stelle töten würden, werde ich Insel 64 suchen. Und finden. Vielleicht gibt es dort einen Platz, der ein Zuhause werden kann. Mehr weiß ich im Moment auch nicht, Kazumi …«
Sie lehnte sich an mich. Die wild abstehenden schwarzen Haare kitzelten meine Wange. Langsam legte ich den Arm um sie und knetete vorsichtig die schmale Schulter. Vielleicht war ich inzwischen doch so was wie eine Mutter geworden. »Steven hat sich innerlich verabschiedet … glaube ich«, flüsterte sie. »Seit gestern Morgen habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich habe Angst um ihn. Vielleicht kannst du mal mit ihm reden?«
»Natürlich. Ich werde duschen, mich mit Takuno und Max besprechen, dann sehe ich nach ihm.« Kazumi schwieg, machte keine Anstalten zu gehen.
»Komm, bleib einfach hier. Bin gleich fertig. Leg dich hin.« Vorsichtig stand ich auf und hob ihre Beine aufs Bett, drückte sie aufs Kissen. Dann stellte ich mich unter den Wasserstrahl, zählte alle meine Narben. War ich wirklich schon bei vierzig angekommen? Ich cremte jede einzelne ein und versuchte mich zu erinnern, woher ich sie hatte. Aber ich spürte, dass es mir nicht gut tat. Leise verließ ich die Nasszelle. Kazumi war verschwunden, das Bett sorgfältig zurechtgemacht. Entsprechend der Vorschriften. Das Gefühl, schon mehr verloren zu haben als ich wahrhaben wollte, drückte sich immer prägnanter in mein Bewusstsein.
Max führte Takuno diverse Gerätschaften vor. Platinen, Kabel, Stecker, Klemmen. erzählte, zeigte hier und dort Besonderheiten. Takunos Blick nach zu urteilen, erwartete er mich bereits sehnsüchtig.
»Max … alle Achtung! Wie ich sehe, hast du ganze Arbeit geleistet!«, begrüßte ich ihn, setzte mich neben Takuno und strich unterm Tisch über seinen Oberschenkel. Sein Bein zuckte. Ich grinste ihn an.
»Das hat mich ein paar Tage gekostet«, erwähnte Max. »Aber ich denke, sie werden es nicht so schnell entdecken oder die Fluktuationen für Schwankungen in der Stromversorgung halten.« Der Tisch war voll mit elektronischem Kram. Max deutete meinen Blick richtig. »Das packe ich alles in eine Box, inklusive der Entschlüsselung. Lediglich die Spannungsversorgung und das Übertragungsmodul sind außerhalb. Ich werde es an eine Drohnenbatterie anschließen und diese wiederum über eine Induktionsspule an die Spannungsversorgung der Feststation. Eine Reihe Kondensatoren dämpft so die …«
»Max?«
»Ja?«
»Funktioniert es?«
Er breitete die Hände über allem aus. »Ähm, ja, zweifellos. Reichweite zweihundert Kilometer.«
»Was ist, wenn die Verschlüsselungen geändert werden?«
Max grinste. »Der Algorithmus wird regelmäßig geändert. Deshalb kann ich das Krypto-Modul mit aktualisierter Software updaten. Der aktuelle Tagesschlüssel wird grundsätzlich mit übertragen. Sie müssten schon das ganze System umstellen, um uns auszusperren.«
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber schließlich war er der Spezialist in diesen Dingen. »Und du hast zwei von diesen … Boxen?«
»Galapagos und Osterinsel.«
Ich sah Takuno an, dann Max. »Ich bin beeindruckt. Erstklassige Arbeit!«
»Danke, Chatrina.« Er lehnte sich zurück und lächelte in sich hinein.
»Kenzaburo … wann beginnen wir mit der Aktion?«
»Zwei Stunden vor Sonnenuntergang. Der große Vorteil der Galapagos-Inseln ist der unmittelbare Abbruch in die Tiefe. Die Feststation ist auf der Isla Floreana, südlich der Hauptinsel. Kurz vor der Abbruchkante tauchen wir auf, setzen eine Drohne ab, verschwinden wieder nach unten. Über die Telemetrie-Boje steuern wir die Drohne über die ganze Insel, um Überraschungen zu vermeiden. Dann warten wir bis zur Dunkelheit und entscheiden, wer mit Max geht. Wir haben Seegang bis Windstärke sieben, Wellenhöhen vier bis fünf Meter. Morgen früh frischt es noch weiter auf, bleibt also …« Takunos Pad piepte. Er beantwortete es mit einem Seufzer. »Was gibt es?«
»Geräusch über uns.« Jelenas Stimme. Ein Schmunzeln konnte ich mir nicht verkneifen.
»Entfernung?«
»Ich … äh, weiß nicht genau.«
Takuno warf mir einen undefinierbaren Blick zu. »Und was sagt Eleftheria?«
»Ich soll dich informieren …«
Takuno rieb sein Kinn. Seit drei oder vier Tagen rasierte er sich nicht mehr. Es waren deutliche Schabgeräusche zu hören. »Gut. Ich komme und schau mir das an.« Er stand auf, zog die Uniform glatt. Ich erhob mich ebenfalls.
»Max, tu mir bitte noch einen Gefallen …«
»Klar.«
»Die Inseln kommunizieren mittels einer eigenen Frequenz untereinander. Kaum Reichweite. Such in den Unterlagen nach der internen Frequenz von Gruppe 25.« Seinen fragenden Blick ignorierte ich und folgte Takuno in den Sonarraum. Wir setzten uns Kopfhörer auf und spielten die Aufnahme ab. Ich hörte das dumpfe Aufschlagen eines Gegenstandes auf Wasser. In der Polizeiausbildung lernten wir das Tauchen in großen Tiefen. Sprang jemand ins Becken, während wir unter Wasser waren, klang das ähnlich. Takuno spielte es wieder und wieder. Bald erkannte ich eine Art Widerhall, mehrmals, mit Verzögerung, schwächer werdend nach jedem erneuten Auftreten. Ich zog den Kopfhörer ab. Eleftheria und Takuno wischten über Messskalen, aktivierten Filter, dann nahm auch er den Kopfhörer ab. »Du hast recht, Jelena. Man muss schon sehr genau hinhören, um es zu bemerken. Aber es ist da.« Er setzte sich hinter sie und drehte ihren Stuhl.
»Wie tief sind wir?«
Sie kontrollierte mit einem Blick. »Eintausend Meter.«
»Von welchen Sonarsegmenten wurde es empfangen?«
»Vertikale Turmsegmente, zwölf Uhr und drei Uhr.«
»Also war es im Bereich 0 bis 45 Grad über uns …«
Sie nickte und hob zu einem Satz an. Takuno schüttelte den Kopf. »Was hast du noch gehört?«
»Es kehrte wieder, drei oder vier Mal, jeweils schwächer.«
»In unterschiedlichen Abständen?« Sie sah ihn mit geweiteten Augen an, zog den Kopfhörer auf und lauschte. Ein zweites, dann ein drittes Mal und nickte, hob eine Muschel vom Ohr. »Und was heißt das nun, Jelena?«
»Das Geräusch läuft gegen Felsen und wird reflektiert, und das mehrmals. Wenn wir es in eintausend Meter Tiefe hören, dann war es in einem Winkel nach unten gerichtet, um reflektieren zu können.« Sie sah ihn gespannt an.
»Exzellente Arbeit«, lobte Takuno, stand auf und klopfte beiden die Schulter. »Gibt es Schraubengeräusche, Tauchzellenausstoß? Irgendwas?«
»Nichts«, verneinte Eleftheria.
»Jelena … könnte es ein Hangabrutsch gewesen sein, etwa ein Felsbrocken?«
»Nein … ich glaube, dafür war es zu kurz.« Takuno nickte und hob den Zeigefinger vor die Lippen.
»Dann war es?«, flüsterte er.
»… ein Boot?«
»Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Und wenn Yoon Da-Hee nicht in Rekordzeit einen geräuschlosen Antrieb gebaut hat, war es nicht ihr Boot.« War es nicht ihr Boot? Hatte Takuno das gerade wirklich gesagt? Jelena hob die Hand.
»Aber wie können wir dann etwas hören?«
»Ich schätze, in diesem Boot ist etwas umgefallen oder es hat eine Luke geöffnet, etwa um eine Drohne oder eine Boje aufsteigen zu lassen.« Takuno griff zum Mikrofon. »Kommandant hier«, sprach er so leise wie nötig. »Akustischer Alarm. Ich will nichts hören. Wahrscheinlich Boot über uns.« Er stand langsam auf.
»Du bist eine gute Lehrerin, Eleftheria … wir stellen uns erst mal tot. Lasst es mich wissen, wenn sich was tut.« Sachte schob er mich aus dem Sonarraum.
Ich zog die Schuhe aus, lief auf Socken durch die Zentrale, erreichte das Mannschaftssegment und wechselte in die parallele Röhre zu den Gastkabinen. Kazumi saß vor Stevens Tür auf dem Boden, die Augen geschlossen, Stirn auf die Knie gelegt. Als sie mich hörte, schaute sie her. Die Augen gerötet. Ich ziehe sie hoch.
»Er öffnet nicht«, berichtete sie mit gebrochener Stimme, »reagiert nicht auf seinen Namen oder sonst etwas. Es ist, als wäre da niemand drin …«
»Lass mich mal probieren …« Vorsichtig tippte ich mit dem Zeigefinger an die Tür. »Steven … mach bitte auf. Ich bin’s, Chatrina.« Nichts. Das Drücken der Türklinke führte ebenfalls zu nichts. Verschlossen.
»Kazumi, geh zu Takuno. Es muss einen Generalschlüssel geben oder so was …«
Takuno kam, entriegelte eine Blende auf der rechten Seite in der Wand und zog eine Sicherung. Es klackte im Türschloss. Ich hielt den Atem an. Er nickte mir zu. Ich öffnete. Niemand im Raum, abgedimmtes Licht. Zwei auf drei Meter sind auf einen Blick erfassbar. Das Bett korrekt gemacht, Uniform faltenfrei obenauf gelegt. Die Schuhe parallel dazu auf dem Boden. Stevens Sanitäterausrüstung auf dem Tisch, sein Pad, Atemschutz, Kampfanzug … Namensschild, nur das Tablet auf dem Stuhl. Das Display leuchtete. Ich nahm es hoch und las leise vor, was da in wenigen Worten geschrieben stand.
„Ich kann nicht weg, weil sie mich dann verhören und töten. Hier kann ich auch nicht bleiben, denn wir töten uns selbst.“
Meine Knie gaben nach. Takuno fing mich auf, drückte mich auf den Stuhl, öffnete die Tür zur Nasszelle. Nur ein paar Sekunden verharrte sein Blick darin, dann schloss er sie wieder, packte Kazumis Hand und zog sie hinter sich her nach draußen.
»Was … was ist denn …«, hörte ich sie, dann verschwand ihre Stimme. Mühsam stand ich auf und blickte in den kleinen Raum. »Steven Williams …«, flüsterte ich. »Du Idiot!« Aus einem Reflex heraus versuchte ich seine Lider zuzudrücken, aber die Totenstarre machte das unmöglich. Ich wollte etwas sagen und hoffte, er würde es hören, dort wo er nun weilte. Aber vielleicht war er einfach nur tot. Anouk käme jetzt mit einer Weisheit, dass Steven nun bei seinen Ahnen sei, um erst mal richtig zu essen, Geschichten zu hören und vom Leben zu erzählen. Ich zog die Lippen ein. Es gab nichts mehr zu tun. Noch nicht mal das Verständigen seiner Familie, wenn es sie überhaupt interessierte. Schließlich waren wir alle abtrünnig und eine nach dem anderen ließen wir unser Leben für … für was? Ich verließ die Kabine und traf auf Takuno, der mich auf die Seite nahm.
»Ich habe Kazumi in die Sanitätsstation geschleppt und ihr ein starkes Sedativum geben lassen …«, teilte er sichtlich erschüttert mit. »Ich schätze, ansonsten wären die Nerven mit ihr durchgegangen. Sie wird erst mal schlafen.« Antworten war mir nicht möglich. Ich nickte einfach nur, unentwegt, es hörte gar nicht mehr auf, bis Takunos Hand mein Kinn packte und zu sich drehte.
»Du musst es Max und Bijan sagen. Ich werde mit einem meiner Leute Steven in den Torpedoraum bringen. Ich sage es nur ungern, aber wir dürfen ihn nicht an Bord lassen. Wenn du willst, können wir eine offizielle Seebestattung durchführen.« Was hatte Takuno da gerade gesagt? Eine Seebestattung? Ich wusste im Moment noch nicht mal, wo oben und unten waren.
»Okay«, willigte ich ein. »Heute Abend dann … und was ist mit Kazumi?« Er zuckte mit den Schultern. Sie nicht daran teilnehmen zu lassen, würde sie mir nie verzeihen. Und eine Teilnahme wäre in der Lage, ihre eh schon angeschlagene Gefühlswelt vollends ins Chaos zu stürzen. Aber Abschied nehmen war nun mal wichtig. »Es wäre falsch, sie außen vor zu lassen«, entschied ich. Takuno nickte.
Wir übergeben deinen Körper der See, waren Takunos Worte als er auf ein Display tippte und Stevens Leichnam ins tiefblaue Wasser beförderte. Max und ich hielten Kazumi zwischen uns. Bijan und Jelena saßen in der Messe. Ich musste nicht mehr durchzählen oder einen großen Tisch für uns suchen. Die Polizeieinheit 12, ehemals so erfolgreich, hörte für mich in diesem Moment auf zu existieren. Ich verwarf die Bilder meiner Erinnerung. Aus der Torpedoröhre Nummer vier drückte die Pressluft nicht nur einen toten Körper, sondern alles, was aus den letzten zwanzig Jahren an Polizeigefühl in mir war. »Es ist vorbei«, sagte ich. Kazumi starrte auf den Boden. Vielleicht hatte sie es gar nicht gehört.
»Wir sollten uns fertig machen«, erinnerte Max an unser Vorhaben. Takuno nahm Kazumi an die Hand, Max und ich gingen hinunter zum Maschinendeck in die Taucherschleuse, quälten uns in die Anzüge, kontrollierten die Scooter und zogen die Überlebenseinheit auf den Rücken. Sauerstoff, Filtration, Head-up-Display, Kommunikation, Waffen.
»Alles in Ordnung«, meldete Max. Ich nickte. Wir stiegen in die Schleuse, das Schott schloss sich über uns. Dann strömte Wasser ein. Grünes Licht. Druckausgleich. Wir machten uns auf den Weg. Der Tiefenmesser zeigte sechzig Meter. Tief genug für Windstärke sieben und dem Wellengang. Sechs Kilometer bis zur Bucht von Velazco Ibarra. Das Kompassraster im Display markierte die Richtung. Lautlos setzte sich die Neptun über uns in Bewegung, verschwand, als wäre sie nur eine Einbildung. Wir waren allein, drei Meter voneinander getrennt. Das dumpfe Rauschen brechender Wellenkämme, schaumige Gischt, bis hier unten spürte ich den Wind. Das Licht der Lampen reichte wenige Meter, bevor es sich im Blau auflöste. Auf Knopfdruck setzten die Scooter sich in Bewegung und zogen uns mit zehn Knoten Richtung Insel. Meter um Meter. Schnell. Max trug die Box, ich die Waffen. Kurz kam mir der Gedanke, dass etwas schiefgehen könnte, aber dann verschwand er zwischen den Erinnerungen an die letzten Monate. Was konnte noch schiefgehen? Ich könnte sterben, dachte ich und meinte einen Felsen unter mir zu sehen. Dann lachte ich. Bevor das Glas beschlug, regulierte das Display die Temperatur. Anouk fiel mir ein, der von einem Ozean voller Leben erzählte, Wale, fast so groß wie Boote, Fische, so weit das Auge reichte. Wir waren allein.
Das Display markierte einen Kurswechsel. Max und ich korrigierten nach. Mehr Felsen unter uns, eine Kante, geformt wie ein ‚S‘, dann gerieten wir in Strömung. Wind aus Süd. Er drückte das Wasser aus der Bucht und die Scooter mussten dagegen ankämpfen. Wir erhöhten die Leistung. Plötzlich ein Abbruch vor uns, wie eine Wand. Schnell drückten wir die Scooter nach oben und stiegen auf. Vierzig Meter, dreißig Meter, zwanzig und über die Kante. Grundwellen packten und bewegten uns rhythmisch auf die Seite. Kurskorrektur auf dem Display. Rechts halten. Der Meeresboden kam uns schnell entgegen. Eine Art Öffnung schälte sich aus dem hellen Blau, ähnlich einem Topf. Wir passierten den Durchgang und schlagartig wurde es ruhig um uns. Wir tauchten auf, regulierten die Geschwindigkeit fast auf null. Rechts der sandige Ausläufer in dieser kleinen Einbuchtung war das Ziel. Mühsam zogen wir die Scooter über den Sand und versteckten sie in einer großen Spalte, zogen die Displays ab. Die Luft war frisch und salzig. Kühl. Eine Wohltat. Max sah mich an und lächelte. Kurz meinte ich, eine Träne zu sehen, feuchte Augen, doch bevor ich mir sicher war, legte er die Überlebenseinheit ab und zog die Box über.
»Bitte meine Waffe, Chatrina.«
Ich nickte und reichte sie ihm, drehte den Kompass auf 120 Grad, rastete das Ziel ein.
»Masken werden wir keine brauchen«, mutmaßte er. »Auf der Insel ist niemand.«
»Nein, keine Masken. Stell die Verbindung zur Drohne her, Infrarotbild.«
»Okay … Verbindung steht.«
»Na dann … vier Kilometer bis zum Sender.«
Wir marschierten los.
Die Drohne meldete nicht nur die Insel als komplett frei von Wärmesignaturen, auch die See blieb im Display kühl und ohne Leben. Der erloschene Vulkan, auf dessen Spitze die Sendeanlage stand, war weithin sichtbar. Zwischen niederem Buschwerk und dürren Kakteen lag schwarzes Eruptivgestein in allen Größen und Formen, Flechten darauf oder ganz überwuchert. Leben existierte noch auf dieser Insel, wenngleich es keine Tiere mehr gab. Der weiße Sand wurde zunehmend dunkler. Max führte und ich dachte an Kazumi. Dass sie womöglich das nächste Opfer sein würde, die nächste Tote. Zwischen den Böen hörte ich Max‘ Schritte, ein feines Knirschen, gleichmäßig. Immer wieder trieb der Wind Sand in meine Augen. »Wir sollten die Displays aufsetzen«, schlug ich vor. »Der viele Sand in den Augen ist nicht sehr angenehm.«
Max reagierte, indem er den Helm aufsetzte. Ich tat es ihm gleich, aktivierte das Komm-Gerät und hörte ihn atmen. Er stellte das Bild der Drohne auf mein Helmvisier durch. Die zwei Signaturen unter ihrem Auge waren wir beide. Ums uns herum nichts als braun-graue Fläche.
»Es tut richtig gut, hier zu laufen«, sagte er leise. »Den Wind spüren, der Sand prickelt auf dem Anzug …«
»Max? Darf ich dich mal was fragen?«
»Gerne.«
»Wo fühlst du dich zuhause? Auf einer Insel? Oder hier auf dem Land?«
»Land ist okay. Hier zu laufen, fühlt sich toll an. Aber wenn du auf dem Land bist, läufst du ja nicht immer. Du hättest ein Haus, einen fixen Wohnort mit Mauern, vielleicht in einem Gebirge, einer Landschaft mit vielen Hügeln … keine Sicht auf den weiten Horizont … das wäre auf Dauer nichts für mich. Das Meer ist irgendwie endlos weit und geheimnisvoll tief. Das mag ich.« Da dachte Max wohl anders als ich. Routinemäßig kontrollierte ich das Display. Nichts. »Mein Vater wollte nicht, dass ich zur Polizei gehe«, begann er unvermittelt zu erzählen. »Ich sollte Elektronikingenieur werden, wie er. Auf Spitzbergen in der Platinenfertigung arbeiten …«
»Aber du bist doch bei uns gelandet …«
»… und habe es nicht bereut. In der Ausbildung hieß es immer, wenn man etwas erleben wolle, müsse man in die PU12, zu Obfrau Sutter …«
Ich blickte auf seinen Rücken, die geschulterte Box und lachte. »Wirklich?«
»Ich wurde nicht enttäuscht. In den letzten zwei Jahren war es keinen Tag langweilig.«
»Na, den einen oder anderen schon«, erwiderte ich.
»Du weißt, was ich meine, Chatrina.«
Ich antwortete nichts. Ja, ich wusste, was er meinte. »Dafür haben wir jetzt den Salat«, rutschte mir plötzlich raus.
»Den Salat?«
»Hab ich von Anouk«, erklärte ich. »Das bedeutet, wir sitzen in der Scheiße.« Max kicherte, hustete dabei. Es klang seltsam. Eine Böe erfasste uns. Fast wäre ich gestolpert. Der Wind nahm langsam zu. »Wie geht es dir mit dem, was heute passiert ist?« Eine lange Zeit schwieg er. Wir umrundeten einen größeren Felsen, wichen dichtem Busch aus. Kleinere Äste knackten, brachen, als wir uns vorbei drückten.
»Schwer zu sagen, Chatrina. Aber du musst dir um mich keine Sorgen machen. Ich bin genau da, wo ich sein möchte. Und für Steven galt das ebenso … nur aus anderen Gründen.«
»Wie meinst du das?«
»Ich bin hier, weil es Spaß macht. Für Steven waren wir aber eine Familie. Ich glaube, daheim hatte er sich nie wohlgefühlt. Bei uns gab es Kano, so ein richtiger Vatertyp, und du … unsere …«
»Jetzt sag nicht ‚Mutter‘«
»Doch, das warst du. Quatsch, das bist du immer noch«, verbesserte er sich. Ich deaktivierte das Mikro und seufzte. »Nach unserem Einsatz in Durban gestand er Kazumi und mir, dass er in Reto, Kano und dir so was wie Eltern sieht. Menschen, zu denen er aufblicken kann. Die ihn respektierten.«
Vor uns begann eine leichte Anhöhe, das Gestrüpp wurde dichter, knorriger, erreichte schon Brusthöhe. Im Westen wuchs eine Wand aus mächtigen Wolken, verdeckte den Horizont fast auf ganzer Breite. Am liebsten wollte ich schweigen, aber vielleicht hatte ich das zu lange getan? All die Jahre nur Einsätze, Planungen, Ermittlungen, Befehle, nur selten ein paar Gedanken über die Menschen, mit denen man Jahre verbrachte … schweren Herzens schaltete ich das Mikro wieder ein.
»Wie geht es denn dir damit, Chatrina?«, überraschte mich Max‘ Frage. Und traf mich mitten in der Brust. Sofort blieb ich stehen. Der Boden unter mir drehte sich leicht, verschwamm. Ich japste nach Luft, riss den Helm samt Display vom Gesicht. Kühler Wind, prasselnder Sand wie Nadelstiche auf der Haut. Max hielt an und drehte sich um. »Alles okay?« Er kam die wenigen Schritte zurück, nahm meine Hand und zog mich weiter.
»Ich habe wohl versagt«, brachte ich heraus. Max ließ nicht los, schwieg, zog mich einfach weiter, von ihm geführt wie ein Kind vom Vater. Es wurde dunkler. Gefährlich dunkel. Plötzlich stolperte ich. Die Klarheit kehrte zurück in meine Gedanken. Unser Vorhaben vor Augen blieb ich stehen.
»Wir schalten um auf Nachtsicht«, sagte ich, zog die Hand zurück, Helm und Visier über und aktivierte den Nachtsichtmodus. Max nickte. Wir setzten unseren Weg fort, der langsam steiler wurde. Kleine Nadelbäume, drei oder vier Meter hoch, die Äste kreuz und quer in alle Richtungen stehend, versperrten mehr und mehr den Weg.
Nach einer dreiviertel Stunde schweigenden Marsches erreichten wir endlich die Basis des Vulkankegels. Der Aufstieg begann. Je höher wir kamen, desto spärlicher wurde die Vegetation. Sechshundert Meter zeigte das Display, als wir oben ankamen. Bei Tageslicht und gutem Wetter sicher ein fantastischer Ausblick. Max zeigte nach links. Keine dreißig Meter entfernt hatte jemand ein Plateau in den Kraterkegel gegraben. Dort stand die Sendestation.
»Ich muss die Drohne einholen«, sagte Max. »Es wird zu windig. Ein ruhiges Bild bekommen wir jetzt nicht mehr.«
»Einverstanden. Lass sie dort vorne an der Station landen.«
Vorsichtig näherten wir uns dem großen Metallcontainer, erhöht gebaut, auf Erdankern, die man in den Untergrund getrieben hatte. Es summte über uns, dann landete die Drohne links von mir. Ich hob sie auf, klappte die Ausleger ein. Max drückte das Pad ans elektronische Schloss. Die Tür schwang auf und wir stiegen die vier Stufen hinauf. Vorsichtig spähte er durch die dunkle Öffnung. »Keine Kameras, keine Aufzeichnung. Wir können.« Sachte verriegelte ich die Tür. Es wurde schlagartig still. Mit zwei Schritten war Max hinter der Bedienkonsole. »Kannst du bitte leuchten?«
»Ja.«
Ich stellte mich seitlich neben ihn, fokussierte die Lampe auf eine kleine Fläche vor seinem Gesicht. Die Verblendung war mit Klappsplinten gesichert, die Max löste. Offenbar hatte diese Platte ein erhebliches Gewicht, er presste ein wenig Luft durch geschlossene Lippen. Es machte ein dumpfes Geräusch, als er sie abstellte. Das Licht meiner Lampe erhellte ein verwirrendes Geflecht von Kabeln und kleinen Platinen. Max setzte sich, kreuzte die Füße und starrte in den Kasten. Nichts passierte. Verschaffte er sich eine Übersicht? Dann zog er den Helm ab.
»Scheiße«, murmelte er.
»Was ist? Geht es nicht?«
»Doch, mit Sicherheit, aber …«
»Aber?«
»Vor uns war schon jemand hier und hatte dieselbe Idee.«
Ich starrte ihn an. Der Schein der Lampe traf seine Augen. »He! Vorsicht, Chatrina!«
»Entschuldigung …«
Aus einem Reflex heraus nahm ich die Waffe vom Rücken und entsicherte sie.
»Ich glaube nicht, dass noch jemand hier ist«, beruhigte er mich. »Es gab doch die vermutete Bootsichtung heute Morgen … das könnten sie gewesen sein.«
Er leuchtete in das Gewirr. »Hier liegen noch abgeknipste Kabelenden, das Kupfer ist nicht matt. Alles noch recht frisch.«
»Wo ist dieses Ding?«
Seine Finger schoben Kabelbäume auf die Seite, fuhren an schwarzen Polymerschläuchen vorbei. »Da … funktioniert anders als meine Konstruktion. Die Hauptzuführung zur Antenne ist durchtrennt, die Box dazwischen gesetzt. Nachteil ist, Sendeleistung geht verloren.«
»Was denkst du, wer das war?«
»Naja, das ist keine offizielle Arbeit. Diesen Leuten geht es wohl so wie uns.«
»Also theoretisch Verbündete …« Max nickte und brachte die Box in Position. »Was machst du?«
»Ich rekonstruiere die Hauptzuführung mit Hilfe der anderen Box und schalte meine parallel. Dann werden wir beide Nachrichtenströme abhören.« Er verklemmte seinen Helm so mit dem Kabelgeflecht, dass die Lampe alles ausleuchtete.
»Ich gehe raus«, sagte ich leise, aber er hörte es wohl nicht mehr, also schlich ich davon. Hinaus in den böigen Wind, die kühle, salzige Luft. Kräftiges Wetterleuchten in den Wolkenformationen kündeten von einem starken Gewitter. Ich hoffte inständig, es würde keine Extremzelle draus werden. Noch einmal wollte ich das nicht erleben. Ein zweites Mal hätte ich vielleicht nicht so viel Glück. Die Ahnen passen auf dich auf, sagte Anouk vor vielen Jahren zu mir. Da gab es jedoch keine Ahnen in meinem Leben. Als hätte man mich in die Welt geworfen, direkt aus der Dunkelheit heraus. Ich zog den Helm auf, setzte Maske und Visier davor, um den Sand abzuhalten. Das grüne Bild der Nachtsichtlandschaft sah friedlich aus. Doch jemand war hier gewesen. Spuren entdeckte ich nicht, der Flugsand ebnete jeden Abdruck innerhalb von Sekunden ein. Warum hier? Das Motiv konnte nur ähnlich dem unseren liegen: Abgeschiedenheit, abseits der Routen. Im Norden San Diego, Panama im Osten. Südlich von Panama lag nur noch ein aktiver Handelsort, Valparaíso. Die nächste Inselgruppe war 600 Kilometer westlich.
Ich setzte mich auf die Metalltreppe, nutzte die Tür als Rückenlehne und ließ das Display nach Takuno suchen. Sein Weg führte ihn einmal um die Insel, das war der Plan. Es war noch keine Meldung eingegangen. Die dürren Kakteen an der Kante des Platzes bogen sich immer mehr. Der erste fahle Blitz suchte sich einen Weg entlang des Horizonts. Ich aktivierte den Helligkeitsfilter und schloss die Augen. Nach kurzer Zeit döste ich ein und schrak auf, als ich nach hinten fiel und Max über mir sah.
»Chatrina? Bist du eingenickt?« Er half mir auf. Es vergingen einige Atemzüge, bis meine Orientierung zurückkehrte.
»Fertig?«
»Fertig«, bestätigte er. »Lass uns verschwinden.« Er übernahm wieder die Führung. Dafür war ich dankbar. Vorsichtig folgte ich seinem Schatten, immer wieder erhellt von Blitzen. Auf die Landschaft hatte ich kaum Acht, konzentrierte mich auf die Füße vor mir. Erschreckt stellte ich fest, dass ich nicht mehr die Chatrina war, die sich keine Gedanken über das machte, was sie tat. Ich konnte einfach nicht mehr. Wollte nicht mehr diese Rolle. Ich wollte leben. Max atmete gleichmäßig. Mit einem Griff zog ich den Gurt aus der Hüftrolle und hängte den Karabiner an seine Rückenschlaufe. »Was dagegen, Max?«
»Nein, Chatrina. Alles in Ordnung.«
»Der Sturm wird zu stark«, rief ich. Das Display zeigte Windgeschwindigkeiten bis zu einhundert Kilometer pro Stunde. Wir saßen geduckt hinter einem Felsen, die Tauchscooter vor uns. Das Fauchen der Böen beeinträchtigte die Kommunikation. Hatte Max mich gehört? Ich tippte auf seine Schulter, deutete auf das Meer und zeigte nach unten. Wir mussten sofort aufbrechen. Er nickte und schnappte sich den Scooter. Langsam gegen den Wind lehnend, stapften wir ins Wasser, das aus der Bucht gedrückt wurde. Als wir bis zur Hüfte drin standen, erfasste uns ein Sog. Wir gaben ihm nach, folgten seiner Kraft hinab in die Tiefe. Mindestens siebzig Meter waren erforderlich, um den Wellenbewegungen zu entgehen. Die Schwärze war vollkommen. Ein lichtloses Universum. Das Display formte stetig einen neuen Meeresboden. Dann die Abbruchkante. Die Temperatur fiel auf elf Grad. Eine kalte Strömung erwischte unsere unscheinbaren Körper, die Scooter summten laut, Max hakte sich bei mir ein, die Lichtleiste über seiner Stirn. Unsere Gesichter erhellt von blauem LED-Schein. Keine vierzig Zentimeter voneinander entfernt. Ich versuchte zu lächeln. Max hatte Tränen in den Augen. Er weinte Salzwasser in einem Ozean. Was konnte ich tun? Siebzig Meter zeigte das Display. Einfach weiter hinab? Bis der Druck alles Leben aus uns pressen würde? Ich löste den Transponder aus, ein schwaches Signal, nicht weiter als einhundert Meter im Umkreis zu orten. Takuno, dachte ich intensiv, lass mich nicht allein.
»Keine Angst, Max … ich bin bei dir.« Nicht einmal den Schatten des Bootes würden wir sehen. Schon die Hände verschwanden im Nichts. »Keine Angst, Max …« Sein Visier beschlug. Langsam. Von oben nach unten. Das Licht wurde milchig. Verwundert spürte ich zwei Hände um meinen Körper und erschrak. Wo war sein Scooter? Ich drehte uns gegen meinen Antrieb, packte den zweiten Griff und klemmte Max zwischen mich und dem Gehäuse ein. Mein Display wechselte auf gelbe Anzeige. Fünfundsiebzig Meter! »Max! Regel den Auftrieb nach! Ich brauche meine Hände für den Scooter … Max!« Keine Reaktion. Die Schwärze zerquetschte meine Vernunft langsam zwischen aufkommender Panik. Achtzig Meter und fallend. War Max‘ Anzug etwa nicht in Ordnung? Bei dem Wellengang konnten wir nicht an die Oberfläche. So nah an einer Küste könnte uns das Wasser gegen die Felsen schmettern. Sollte ich den Scooter loslassen und nachsehen, was bei Max nicht stimmt? Auf keinen Fall. Die Strömung würde uns wer weiß wohin bringen. »Max!« Schütteln war schwierig im Wasser. Ich schubste ihn hin und her. »Max! Ich will noch nicht sterben! Drück Pressluft in deine Auftriebskammern!«
Hinter dem milchig gewordenen Glas erkannte ich nichts. Wir sanken weiter und das Display wechselte auf Rot. Neunzig Meter! War sterben einfach? Sterben zu wollen und tatsächlich zu sterben oder sterben zu müssen … wo befand ich mich? Und Max? Nein, Max wollte nicht sterben. Nicht mit seinen vierundzwanzig Jahren. Auch wenn die Zukunft so lichtlos war wie der Ozean um uns herum. Mit den Fingern suchte ich den Schalter des Scooter, beschleunigte. Langsam zog er uns nach oben. Ab zur Oberfläche, dachte ich, egal wie hoch die Wellen sind. Meter um Meter. Im schwachen Schein der Helmlampe tauchte wie aus dem Nichts eine glatte Fläche auf. Der Scooter stieß dagegen, prallte ab. Er glitt mir aus den Händen. Etwas griff nach meinem Rückengurt und zog. Ein Schatten schwebte rechts, packte Max. Aus der Dunkelheit offenbarte sich uns ein Kreis aus Licht. Wir tauchten darin ein.
»Der Anzug war defekt«, versicherte Takuno über das Display. »Die CO²-Filter funktionierten nicht korrekt, der Druckausgleich so gut wie nicht …« Er runzelte die Stirn. »Allerdings haben wir den Anzug vorher überprüft. Wie wir ihn immer überprüfen. Vor und nach jedem Tauchgang.«
Einen Tag mussten wir in die Druckkammer. Max mit einer Sauerstoffmaske im Gesicht und ich im Kreis laufend. Untätig. Besorgt registrierte ich, dass er in unregelmäßigen Abständen müde wurde, sich hinlegen musste. Keinen Arzt an Bord zu haben, keine medizinische Station anlaufen zu können, war ein enormes Manko. All die Inseln und keine würde uns empfangen wollen. Zumindest nicht, ohne sich Ärger einzuhandeln. Das wollten wir nicht riskieren. Also hieß es warten. Nur auf was? Ich legte die Finger auf den Bildschirm. Takunos Gesicht so flach.
»Wir empfangen Nachrichten«, teilte er mit. »Das Modul arbeitet zuverlässig. Die Entschlüsselung funktioniert …«, er stockte, presste die Lippen fest zusammen und blickte auf einen Punkt vor sich.
»Kenzaburo … alles in Ordnung?«
»Ich vermisse dich.«
»Nur noch ein paar Stunden. Wie geht es Jelena?«
»Jelena arbeitet gerade im Funkraum und lernt alles über Frequenzen, Amplituden und Trägerwellen. Sie ist wie ein Schwamm, der nie gesättigt ist«, beschrieb er sie. Dann hielt er sein Pad vor die Optik. »Ich schicke dir eine Datei in die Kammer. Die Boje empfängt periodisch ein Signal. Identische Länge, identische Abstände. Es ist so schwach, dass es außerhalb eines Radius von zehn Kilometern nicht mehr messbar ist.«
»Jemand möchte uns etwas mitteilen …«
»Das denke ich auch.« Er atmetet tief ein und aus. »Die Nachrichten, Chatrina … Jonna ist wie von Sinnen«, brachte er mühsam heraus.
»Wie meinst du das?«
»Ihre Boote haben die Kerguelen angegriffen. Werften, Platinenherstellung, Waffenbau, Batteriefertigung … was mit Verteidigung zu tun hat, radiert sie aus. Es ist ihr völlig egal, wie viele Leute dabei sterben. Lediglich medizinische Einrichtungen verschont sie, Nahrungsmittel … und sie setzt die Handelsposten unter Druck …«
Ich hob die Hand. »Ich will es nicht hören. Nicht hier drin. Sonst renne ich noch mit dem Kopf gegen die Wand. Aber …« Wie konnte ich sagen, was mir durch den Kopf ging? Lag das in meiner Verantwortung? Durfte ich Takuno und all die anderen mit hineinziehen? Wollten sie das? Ich beschloss, es auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben. »Was haben deine Leute gesagt? Gibt es welche, die vom Boot möchten? Sich um ihre Familien sorgen?«
»Natürlich«, nickte er heftig. »Alle mit Familie möchten wissen, wie es Eltern oder Geschwistern geht … aber niemand möchte in der Welt leben, die offenbar im Moment entsteht. Infizierte von den Inseln weghalten ist die eine Sache. Sich gegenseitig töten eine ganz andere. Ehrlich gesagt …«, er blinzelte und sah auf die Seite. Dann wieder in die Kamera. Takuno weinte. »Ehrlich gesagt, will ich, dass es aufhört. Und meine Leute auch …« Sein Kopf sackte nach vorne. Ich blickte auf all das schwarze Haar. Ob dies jemals aufhörte oder der Anfang von etwas war, das die Menschen ablehnten aber in Kauf nahmen, konnte ich ihm nicht beantworten.
»Kenzaburo?«
»Hm?«
»Haben wir die aktuelle Lage da oben erfasst?«
Er nickte. »Wie lange reichen die Vorräte noch?«
»Etwa sieben Tage.«
»Gut, dann wecke ich Max und versuche zu entdecken, was es mit der Nachricht auf sich hat. Wir laufen Valparaíso an und besorgen uns alles Notwendige.«
»Okay, Chatrina.«
Beide drückten wir die Hand aufs kühle Display.
»Max?« Er war wach. Verfolgte mich mit den Augen, so gut es ging, hörte sicher auch unser Gespräch. Der fehlerhafte Anzug ging mir nicht aus dem Kopf. Auf dem Hinweg ohne Fehlfunktionen, zurück jedoch fast ein Totalausfall. »Du hast zugehört?«
Er nickte schwach.
»Wie geht es dir?« Vorsichtig nahm er die Maske vom Gesicht.
»Geht schon. Zeig mir die empfangene Nachricht …« Ich half ihm, sich aufzurichten, Elektrolyt zu trinken. Dann wischte ich die Datei an die Wand gegenüber. Ich erkannte nichts – außer Zahlenreihen.
»Hilf mir bitte auf die Füße.« Max machte Anstalten, von der Liege zu rutschen. Ich legte seinen Arm um meine Schulter, packte seine Hüfte und wir gingen langsam auf die verwirrenden Zahlenkolonnen zu. Mit jedem Moment wurde er stabiler. Als wäre das dort an der Wand ein Heilmittel. Bald drückte er sich von mir ab, stand alleine und legte zwei Finger auf die oberste Zahlenreihe, fuhr an ihr entlang, stoppte. Wiederholte das bis zu diesem Paar und murmelte dabei Unverständliches. »Das sind einfach nur Koordinaten von Bildpunkten«, erklärte er nach einigen Sekunden.
»Koordinaten von Bildpunkten?«
»Nimm das Bild vor uns. Links oben ist die Koordinate null zu null. Seit dem Beginn des Computerzeitalters werden die zweidimensionalen Koordinaten für Bildschirme so definiert. Ist ganz einfach. 14 zu 100, also in Reihe 14, Spalte 100 ist der Wert eines Farbpunktes eingetragen. So setzt sich ein Bild aus vielen tausend Farbpunkten zu einem Gesicht zusammen.«
»Verstehe … also ergäben diese Zahlen ein Bild.«
»Jede Wette … gib mir dein Pad.«
Ich reichte es ihm und starrte auf die Zahlenreihen. Max projizierte eine Tastatur an die Wand. Reihe um Reihe übertrug er die Koordinaten auf ein darüber liegendes Wandbild. Ich war gespannt, aber mit jeder fertigen Zeile wurde das Ergebnis konfuser. Als er fertig war, betrachteten wir, was er da gezaubert hatte und sahen uns an.
»Was soll das sein?«
Max nahm zwei tiefe Züge aus der Maske und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, Chatrina. Sieht aus, als hätte jemand eine Landschaft durch ein beschlagenes Glas fotografiert. Nichts als verschwommene Konturen, kaum Flächen gleicher Helligkeit.«
»Aber der- oder diejenige muss sich etwas dabei gedacht haben. Ein solcher, nicht ungefährlicher Aufwand für eine Nebellandschaft?«
»Hm …« Max löschte die Bilder, ging zur Liege und setzte sich. »Ich brauche Zugriff auf den Kommunikationsraum. Mit dem Pad geht das nicht.«
»Moment …« Ich rief Takuno.
»Chatrina?«
»Kannst du uns durch die Versorgungsschleuse ein Tablet bringen mit Verbindung zu den Rechnern der Kommunikation?«
»Kein Problem.«
Momente später klopfte Bijan ans Glas, hob die Hand und lächelte herein. Ein grünes Licht bestätigte den Druckausgleich und ich entnahm der Schleuse ein Tablet inklusive Seetang-Pfannkuchen und Algentee. Max tauchte hinter mir auf, kaum dass er Pfannkuchen und Tee sah. Er stopfte einen nach dem anderen in sich hinein und spülte mit einem großen Schluck Tee hinunter. Der Teller war leer. »Entschuldigung, Chatrina!«
»Hauptsache du wirst gesund …«
Mit dem Tablet in der Hand setzte er sich auf die Liege und begann zu tippen. »Das Bild ist die Mitteilung, da bin ich sicher«, behauptete er. »Wir wissen nur nicht, wie wir an den Kern der Nachricht kommen … den Schlüssel …« Ich antwortete nicht, denn Max redete mehr zu sich selbst. Also wartete ich, setzte mich auf einen Notfallsitz, atmete tief ein, schloss die Augen und dachte an all die Menschen da draußen. Wie wenige noch existierten. Und dass diese Wenigen sich jetzt gegenseitig das Leben schwer machten. Jonna fiel mir ein. Groß, schlank, mit feuerrotem Haar und voller Energie. Mehr als zehn Jahre arbeiteten wir zusammen. Zehn Jahre …
»Der Stahl«, murmelte ich. Max war vertieft in die Zahlen und Buchstaben. Wenn jemand sich vor fünf Jahren den besonderen Stahl besorgen wollte, musste er wissen, für was man ihn benutzte. Also besaß er schon zu dieser Zeit Pläne, ein Ziel. Um den Stahl zu einem fertigen Produkt zu formen, waren Verarbeitungstechniken und eine Werft notwendig, samt der dazugehörigen Ausrüstungen. Das Ganze begann schon lange vorher. Und auch Jonna konnte nach dem Abgreifen des Stahls kein Boot aus dem Ärmel zaubern. Für sie galten identische Voraussetzungen. Auch sie musste schon wesentlich länger geplant und umgesetzt haben. Wie weit würde es zurückreichen? Die Stille setzte mir zu. Die Gedanken an die Realität da draußen umflossen mich wie ein Strom aus Melancholie und Trägheit. Sanft wechselte ich in eine Welt aus Traum und Max‘ beständigem Murmeln.
Aus dem Traum wurde endgültig Erinnerung. Ich tötete nicht nur den Mann und Marcella unter ihm. Beide nun vereint in einem Meer aus Blut. Auf das Messer schauend wendete ich mich zur Tür, ließ die Toten hinter mir, ging die Treppe hinab und geradewegs auf den Mann zu, der wie jeden Tag am Küchentisch saß, alles in sich hineinstopfte, was wir mühsam kochten. Ich erinnerte mich an seine Stummheit, die fehlende Zunge, zertrümmerte Ohren, vor Fett triefende Finger, seine zu einem lautlosen Lachen verzogenen Lippen, das kein Lachen war. Lediglich der Versuch, uns anzutreiben, zu beschimpfen. So ging ich an ihm vorbei und schnitt seinen Rücken auf, von der linken zur rechten Niere. Das Kratzen der Klinge auf dem Rückgrat spürte ich deutlich in meinen Fingern. Er kippte nach hinten, das Fleisch eines Hundeknochens im Mund. Mit dem Messergriff stopfte ich es tief in dessen Schlund, öffnete seine Kehle und da war das Fleisch zu sehen. Wie erstaunt ich doch war. Und wie alle wegrannten, die anderen Mädchen … dabei waren es doch nur ihre Peiniger, die dort lagen. So ging ich hinterher, um sie aufzuhalten, sie zu bitten, mit mir zu fliehen, Schwestern, die wir ja seien. Aber da war nichts als Angst. Dann traf mich etwas am Hals und ich spürte ein warmes Pulsieren, fühlte das kühle Ende kommen. Das Leben quoll nur so aus mir heraus. Es wurde Nacht. Dunkelheit. Als ich mir meiner bewusst wurde, das Atmen spürte, die Augen aufschlug, wich die Dunkelheit nicht. Bis auf einen schmalen Schlitz, der sich einmal am Tag öffnete, um mir Essen zu geben. So wartete ich …
»Chatrina?« Die Futterluke öffnete sich und ließ Licht herein … doch ich saß in der Druckkammer. Nicht in der Dunkelheit. Nicht mit frisch geklammerter Wunde am Hals. Mit zwei Fingern tastete ich nach der Erhebung. Rau und trocken.
»Hm?«
»Was ist mit dir? Du schaukelst hin und her, murmelst komisches Zeug …«
»Verzeihung, Max. Ich habe meine Tabletten noch nicht genommen.«
Er sah mich erstaunt an. »Und das kommt dabei raus?«
Ich nickte. »So fängt es an.«
Bevor er etwas erwidern konnte, stand ich auf und hob die Hand. »Hast du etwas herausgefunden?«
»Ich denke schon.« An der Wand hinter mir leuchtete das Nebelbild auf, links daneben eine noch verwirrendere Ansammlung aller möglichen Zeichen. »Das ist der dazugehörige Datei-Header. In diesem Header gibt es eine Routine …«
»Eine was?«
»So was wie ein kleines Programm.«
»Und was macht es?«
Er schürzte kurz die Lippen. »Gar nichts, wenn wir ihm nicht sagen, was es machen soll. Der Routine fehlt der ausführende Code. Wenn ich die Routine in einer Laufzeitumgebung öffne, dann passiert das …« Es passierte nichts. Nein, zuerst passierte nichts. Mehr als langsam veränderte sich das Bild. »Es dauert sehr lange. Jeder Bildpunkt bekommt einen anderen Farbwert, dann wird das Bild neu aufgebaut und es beginnt von vorne. Wenn der Prozess unterbrochen wird, setzt er sich auf null zurück und verändert die Farbwerte nicht mehr in der gleichen Weise. Man muss wieder mit dem Original beginnen.«
»Also lassen wir es durchlaufen, oder?«
»Mehr bleibt uns nicht.«
Ich bat Bijan um eine weitere Portion Essen, dazu zwei Flaschen Elektrolyt. Seetang-Pfannkuchen und Tablet zwischen uns, warteten wir auf die Fertigstellung des Bildes, die Umwandlung des Nebels in Klarheit.
»Sag mal, Max …«
»Hm?«
Ich hielt inne. Durfte ich ihn das fragen? Wollte ich ihn das überhaupt fragen? »Als wir aufbrachen, war dein Anzug in Ordnung. Takuno hängt keine kaputten Anzüge in die Schleuse. Du und ich taten das Gleiche auf der Insel …« Plötzlich hielt ich inne. Nein, taten wir nicht! »Du warst alleine dort in dem Container … hast du deinen Anzug manipuliert? Um … um zu sterben?« Max blickte an die Wand, zeigte mit dem Finger auf einen deutlich sichtbaren Satz. ‚Wir wollen beides haben, Licht und Tod.‘ »Anouk«, flüsterte ich.
»Anouk?«, staunte Max. »Wie kommst du da drauf?«
»Die Schöpfungsgeschichte der Inuit …«
Im Bild formte sich eine schwarze Fläche. Ein Prompt blinkte.
»Scheiße«, sagte Max, stand auf und stellte sich direkt vor die Wand, fuhr mit der Hand über den ausgeleuchteten Stahl. »Wir müssen etwas eingeben …«
»Die Ahnen stehen hinter uns, ihre Hände sind über uns, ihr Blut unter uns …«
»Was? Das soll ich eingeben?«
»Nein«, schüttelte ich den Kopf. »Anouk hat mich nicht nur ausgebildet, er war auch mein Lehrer als ich mit zwölf Jahren nach Spitzbergen kam. Die Geschichte seines Volkes erzählte er tagaus, tagein, rauf und runter. Ich kenne sie auswendig …«
Max sah mich mit großen Augen an. »Du meinst …«
»Ich meine, dass Anouk versucht, mich zu kontaktieren, in der Hoffnung, wir alle leben noch. Die Hoffnung kommt von den Ahnen, die hinter ihm stehen …«
»Na gut, aber was sollen wir jetzt hier eingeben?«
Ich stand auf und legte den Arm auf seine Schulter. »Tulugaq.«
Max blickte mich von der Seite an. »Wie schreibt man das?«
»T-U-L-U-G-A-Q.«
»Was ist ein ‚Tulugaq‘?«
»Der Rabe, der den Inuit das Licht brachte.«
Max tippte langsam. Buchstabe für Buchstabe laut vorsagend. Das Bild verschwand in derselben Sekunde und eine Positionsangabe leuchtete auf. Süd 23 Grad, 29 Minuten, 59 Sekunden und West 70 Grad, 29 Minuten, 12 Sekunden mit einer Datumsangabe. Ich rief Takuno.
»Wie geht es euch?«, wollte er wissen.
»Gut. Die Nachricht war eine Positions- und Datumsangabe. Ich übertrage sie jetzt.« Takunos Gesicht verschwand. Ein paar Stimmen murmelten etwas im Hintergrund. Dann kehrte er wieder zurück.
»Das ist die Bucht von Antofagasta … anderthalb Tage von hier. Was ist dort?«
»Wenn die Ahnen hinter uns stehen, dann wartet dort Anouk.«
»Anouk?!«
Takunos Augen leuchteten. Er biss sich auf die Lippen.
»Wir werden sehen.«
»Woher wusstest du, dass dieses Wort korrekt ist?«
Takuno saß auf dem Bett, Jelena an sich gelehnt, die mit dem blauen Käppi spielte, drehte und schließlich daran roch. »Ui!«, platzte es aus ihr heraus und hielt es weit von sich. »Das musst du mal waschen …«
Er nahm es ihr ab. »Auf keinen Fall. Wir hätten kein Glück mehr.«
»Du meinst, unser Glück hängt von diesem Geruch ab?«
Takuno seufzte und rutschte mit dem Rücken an die Wand. »Man darf nicht die vielen Erfahrungen heraus waschen, das bringt Unglück.« Ich lachte über die beiden. Ein Lachen, das alles mit sich riss, was an mir klebte. Das Bild eines kleinen Zuhauses nahm immer konkretere Formen an. Einen Tisch in der Küche, an dem Takuno kochte, denn ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Topf anzufassen. Jelena würde sich beschweren über zu viel Salz, Takuno ihr einen beleidigten Blick zuwerfen. Ich wollte dieses Zuhause finden.
»Chatrina?«
»Hm?«
»Noch unter uns?«
»Ja, natürlich … ich dachte gerade an ein Haus für uns drei. Du am Herd …«
»Kann Kenzaburo kochen?«, fragte Jelena überrascht.
»Ja, Kenzaburo kann ein bisschen kochen«, bestätigte er schnippisch. Ich hustete. Ein Druck auf der Lunge, als begrenze etwas mein Einatmen. Vielleicht das stützende Netz? Ein Arzt musste her. Unbedingt.
»Du bist abwesend, Chatrina. Was ist mir dir?«
»Ja«, stimmte Jelena zu. »Erzähl uns von diesem Wort.«
Sie hatten recht. »So nannte mich Anouk. Durch all die Jahre hindurch. Selbst in der Ausbildung rief er mich so. Der Rabe Tulugaq flog nach Hause und ab und zu brach er etwas vom Licht ab und ließ es fallen. So entstanden die Tage. Bis dahin herrschte bei den Inuit ewige Dunkelheit. Nur in ihren Hütten besaßen sie Licht.«
»Kann es nicht sein, dass jemand ebenfalls dieses Wissen besitzt und es nun ausnutzt?«, gab Takuno zu bedenken.
»Er muss dann auch wissen, dass der Rabe mit mir in Verbindung zu bringen ist.«
Takuno schwieg und sah mich an. Es war klar, welcher Gedanke ihm durch den Kopf ging. Dass Anouk von Jonna geschickt wurde, weil sie wusste, wie nah wir uns standen.
»Man könnte grad meinen, Aljona säße mir gegenüber. Die ewige Pessimistin …«
»Hatte sie nicht mitunter recht?«, fragte Takuno vorsichtig.
»Doch«, nickte ich. »Öfter als mir lieb war …«
»Vermisst du Aljona und Kano?«
Jelenas Frage versetzte mir einen Tiefschlag. Ich beugte mich vornüber, stand auf und legte mich aufs Bett, den Kopf auf Takunos Schoss, Jelenas Gesicht über mir. »Ich habe heute Morgen meine Tablette nicht genommen sondern eben erst. Deswegen bin ich nicht ganz so stabil … und das mit Max macht mir zu schaffen. Ich glaube, er hat seinen Anzug manipuliert als ich außerhalb der Station auf ihn gewartet habe. Ich möchte also jetzt glauben, dass dies Anouk ist und sonst niemand.«
Takuno und Jelena sahen sich an.
Ich klopfte an Kazumis Tür. Keine Reaktion. Also öffnete ich und trat ein. Sie lag auf dem Bett. Sagte nichts. Reagierte nicht. Was konnte ich tun? Vorsichtig schob ich sie an die Wand und legte mich daneben, drehte mich ihr zu, abgestützt auf den Ellenbogen und musterte diese junge Frau. Ein Jahr älter als Max und auch ein Jahr länger in meiner Einheit. Verliebt in den zehn Jahre älteren Kano Watanabe, der nicht mehr unter uns weilte. Besonders sein Tod hatte eine enorme Lücke in mein Herz geschlagen. Und in Kazumis Herz.
»Ich habe keine Lösung für den Schmerz, Kazumi.« Sie hörte mich, zeigte aber keine Regung. »Niemand hat das«, seufzte ich und legte mich wieder hin. Starrte an die Decke, die Lichtleiste. Kazumis Blick war auf dem Weg in eine ferne Vergangenheit, nicht hier in dieser kleinen Kabine. Ich stellte ihn mir vor wie eine Schlange, die den Pazifik durchquerte, auf der Suche nach einem festen Platz. Einem Zuhause. Etwas Bekanntem, Vertrautem. Tausende Kilometer Wasser in alle Richtungen. Tief und dunkel wie das Universum. Wo sollte dieses Zuhause sein? »Was kann ich tun, um dich nicht zu verlieren? Oder … ist das etwa schon geschehen? Vielleicht war es zu spät. Nicht nur für Kazumi.
»Wir sind alle ohne Wurzeln …«, flüsterte sie. Ich drehte mich auf die Seite, betrachtete das schmale Gesicht, die dunklen Augen.
»Du hast recht …«
»Ich habe es Kano gesagt, vor dem Einsatz in der Japansee …«
»Dass du in ihn verliebt bist?«
»Hm.«
»Was hat er gesagt?«
Endlich reagierte sie, drehte sich, sah mir direkt in die Augen.
»Er fühlte sich geschmeichelt. Aber der Tod könne jeden Tag kommen, da würde eine Beziehung nur schmerzhaft werden, sagte er.«
Ich nickte mit zusammengepressten Lippen. »Er sei dein Freund und werde es bis zum Tod sein …«
»Das hat er gesagt?«
»Ja.«
»Scheiße …«
Mit Wucht verschwamm mein Blick. Die Tränen liefen. Es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Kazumis Oberkörper rückte heran, dicht vor mein Gesicht, deckte mein Schluchzen ab. Ihre Hand auf meinem Rücken, meine Hand auf ihrem Kopf. Wer weinte nun wegen was? Doch tief unten in mir lag nicht nur die Quelle der Tränen … ich spürte das andere deutlich kommen. Wie in den Träumen. Etwas wurde aus ihnen geboren und wuchs in meine Realität hinein, täglich größer werdend. Mächtiger. Abiola, Reto, Kano, alle die starben, sterben mussten, wurden Nahrung für das, was in mir an Stärke gewann. Ohnmächtige, kalte Wut, wie in meinen Träumen.
Zeit verging. Vielleicht Stunden? Oder nur Minuten? »Dein Blick macht mir Angst, Chatrina«, sagte Kazumi. Ich schwieg und war froh, nicht in meine Augen sehen zu können. Was ich fühlte waren Steine im Bauch, ein Gerumpel und Getöse von kleinen und großen Brocken aus ferner Vergangenheit. Türen und Tore standen weit offen. Niemand konnte ihnen Einhalt gebieten.
»Für das, was kommen wird, brauche ich dich, Kazumi. Deine Fähigkeiten.«
»Was wird kommen?«
»Die uns das angetan haben, sollten nicht länger unter uns sein. Sie machen alles kaputt, was noch übrig ist.« Kazumi erschrak nicht. Sie nickte unmerklich.
»Du kannst auf mich zählen.«
Dienstag, 30. April 2148, kurz vor fünf Uhr am Morgen. Achtzig Kilometer vor der Küste des ehemaligen Chile in eintausend Meter Tiefe. »Ein Seebeben käme uns jetzt sehr gelegen«, erläuterte Takuno, »aber das kann ich nicht herzaubern. Und aktives Sonar einsetzen werden wir auf keinen Fall.«
»Einen Torpedo im Suchlauf«, schlug Max vor.
»Dann müssten wir näher an die Küste ran. Er hat lediglich eine Reichweite von zwanzig Kilometern.«
»Wir setzen die Tragflächendrohne ein. Auftauchen, starten und wieder nach unten«, führte ich aus. »Sie hat alles, was wir brauchen. Vor allem Infrarot.«
»Damit ist sie aber verloren«, warf Bijan ein.
»Ja«, nickte ich ihm zu. »Falls es eine Falle ist, müssen wir die Drohne abschreiben. Aber dann wird sie uns als Markierungseinheit von Nutzen sein, um einen Marschflugkörper ins Ziel zu lenken.« Niemand widersprach. Ich schielte zu Kazumi. Sie war ein wenig abwesend, aber nickte. Bijan hob den Daumen. Max war wie immer. Auf ihn würde ich ein Auge haben.
»Wir wenden das Boot. Bug nach Westen. Sobald etwas aus dem Ruder läuft, starten wir die Waffe und verschwinden. Im Nu sind wir auf 1300 Meter«, ergänzte Takuno, zog das Käppi ab und hielt es für eine Sekunde an die Nase. Ich musste grinsen.
»Gehen wir in die Zentrale, Chatrina.«
Ich nickte Takuno zu und stand auf. Schon beim Betreten der Zentrale zog er das Käppi wieder auf. »Maschine! Zehn Knoten!« Er setzte sich auf den erhöhten Stuhl des Kommandanten. »Steuerstand! Fahren Sie einen Kreiskurs, Radius fünfhundert Meter!«
»Zehn Knoten!«
»Kurs liegt an!«
Takuno nickte, blickte auf jede Anzeige. »Sonar! Achtergerät absetzen! Einhundert Meter Abstand! Wenn irgendwo eine Teetasse umfällt, will ich das wissen.« Das Boot neigte sich auf die Seite. Ich setzte mich auf den Notsitz des Kartentischs. Takuno kippte den Schalter für die Bordkommunikation. »Kommandant an Besatzung! Akustischer Alarm.«
»Achtergerät draußen …«
»Gut …«
Wir fuhren im Kreis.
»Langsames Auftauchen«, flüsterte Takuno. »Vorne und hinten zehn.«
Wie eine Schraube drehten wir uns aus dem Wasser. Das hintere Sonargerät war nur bei Fahrt nutzbar. So konnte Takuno jedes erreichte Niveau abhorchen. Am Periskop vorbei entdeckte ich Jelena, Kopfhörer auf den Ohren, konzentriert lauschte sie in den Ozean hinaus. Ich atmete tief ein und dachte an Anouk, den Raben Tulugaq, von dem er nur mir erzählt hatte. Niemand interessiert sich für uns Inuit, sagte er einmal. Nur ich würde zuhören. Ich hörte deshalb zu, weil er der erste und einzige Mensch war, der mir je Geschichten erzählt hatte. Geschichten aus einer Zeit, in der die Welt aus der Dunkelheit geholt wurde – durch den Raben. Vielleicht hoffte Anouk, den Raben zu finden, um die beginnende Dunkelheit abwehren zu können.
»Achthundert Meter«, hörte ich von der Seite.
»Kein Geräusch.«
Ich schloss die Augen. Seit meinem Tauchgang mit Max verspürte ich eine undefinierbare Angst in diesem Boot – oder mit diesem Boot im Wasser. Die Tabletten befreiten mich bisher in gewisser Weise von der Angst. Deshalb dachte ich darüber nach, zwei oder wenigstens anderthalb zu nehmen. Aber letztendlich war die Angst vor möglichen Nebenwirkungen noch größer. Mein Leben bestand aus Angst. Die Träume offenbarten mehr und mehr Erinnerungen. Ich lehnte mich an, versuchte zu dösen, die wenigen Geräusche zu ignorieren, mich ganz auf mein Inneres zu konzentrieren. Auf die Wut. Wann hatte ich beschlossen, Jonna zu töten? Auf diese Liste setzte ich nun Yoon Da-Hee und Khaled Hamza. Und den ganzen Rest, wenn es nötig wurde.
»Sechshundert Meter.«
»Kein Geräusch.«
Kein Geräusch, wiederholte ich in Gedanken. Kazumis Gesicht drückte sich vor mein inneres Auge. Die Angst, die sie empfand, als sie mich anblickte. Das Brodeln in mir sah. Rache. Mein Wunsch nach Rache. Mein Wunsch? Nein, mein Sehnen. Aber vielleicht konnte ich das kanalisieren … indem ich Männer, wie ich sie dort in Genua tötete, in meine Rache mit einbezog. Sie für mich arbeiten ließ. Ihre Fähigkeiten zur Grausamkeit nutzte. Die Rohheit ihrer Taten. Diesem Bild gab ich mich ganz hin, driftete ab in einen Zustand, der Erinnerung und mein Jetzt war, Genua und Pazifik, Fantasie und Wunsch …
»Periskoptiefe«, sagte Takuno. »Sonar?«
»Kein Geräusch.«
»Achtergerät einholen. Wettermast und Radar nach oben.«
Die Stimmen und ein Summen schubsten mich aus einer Art Halbschlaf. Ich blinzelte, holte mit dem kleinen Finger ein Sandkorn aus dem rechten Auge.
»Wettermast oben … Daten kommen …«
Fünfzehn Meter leuchtete auf der Anzeige. Voller Stillstand.
»Achtergerät an Bord.«
»Wind zwei Knoten, vierzehn Grad, 1026 Hektopascal.«
»Bestes Wetter«, kommentierte Takuno und betätigte einen Schalter. Aus dem Boden vor ihm glitt das Periskop nach oben. Er setzte das Käppi ab und drückte sein Gesicht vor den Blendschutz. Mitsamt Sitz und Periskop drehte er sich einmal um dessen Achse. »Spiegelglatte See … weit und breit nichts zu sehen … Sonar?«
»Kein Geräusch.«
»Magnetfeldmessung?«
»Alles innerhalb normaler Parameter.«
»Radar?«
»Keine Signale.«
»Auftauchen«, ordnete er an. Leises Blubbern, dann folgte ein sanfter Schubser von unten.
»Aufgetaucht.«
Takuno sah mich an, setzte das Käppi auf und tippte eine Taste auf dem Periskop. Auf einer Displayreihe erschien die Umgebung des Bootes. Gradangaben wurden eingeblendet. Eine Rundumsicht. »Drohnenluke öffnen.« Er deutete auf eines der Displays. Ich erkannte den großen, eiförmigen Behälter auf dem hinteren Seitenruder; das Achtergerät. Davor auf dem Deck öffnete sich eine große Luke. Aus ihrem Inneren hob sich die Startrampe mit der aufsitzenden Drohne. Die Tragflächen schwenkten aus dem Drohnenbehälter und der Propeller begann sich zu drehen. Wir waren dabei, etwas Wichtiges zu opfern, ohne genau zu wissen, ob es zum Erfolg führte.
»Druck ist aufgebaut. Drohne ist startbereit.«
»Na dann … Start!«
Die Außenmikrophone waren deaktiviert. Lautlos drückte Pressluft die Drohne über die Startvorrichtung. Sie gewann schnell an Höhe. »Luke zu! Auf 45 Meter gehen! Komm, Chatrina. Gehen wir in den Steuerraum.«
Max und Kazumi saßen vor den Displays. »Die Telemetrie ist oben. Drohne auf Kurs«, teilte Kazumi mit.
»Wie lange ist sie unterwegs?«, wollte ich wissen.
»Sie ist in zehn Minuten über Antofagasta. Ich lasse sie von Norden kommen, vom Festland«, erklärte Max.
Auf den Displays schillerte das Meer in tiefem Dunkelblau. Die Sonne war gerade aufgegangen hinter den entfernten Andengipfeln. Ich war versucht zu sagen, dass es ein wunderschöner Anblick sei, verkniff es mir aber. Max steuerte deutlich nach links.
»Ich aktiviere Infrarot und Falschfarben«, ließ uns Kazumi wissen. Langsam drehte ich den erhöhten Stuhl hinter ihnen, gab Takuno einen Kuss und setzte mich, legte meine Hände auf die Schultern von Max und Kazumi, drückte sie ein wenig. Fünfhundert Kilometer pro Stunde in eintausend Meter Höhe bei bester Sicht.
»Östlich Antofagasta zieht sich eine Hügelkette in Nord-Süd-Richtung«, Max deutete auf eine Karte. »Es gibt eine Art Tal. Dort fliege ich entlang und auf Höhe Antofagasta drehe ich nach Nordwest. So können wir die ganze Bucht einsehen und überfliegen.«
»Sehr gut, Max.«
Eine lange, hellbraune Küstenlinie kam in Sicht und sehr schnell näher. Nur sanft auslaufende Wellen, etwas Gischt, dann zerfallene Häuser, eine alte, größtenteils zerstörte Straße. Die Drohne war über dem Festland, keine zehn Sekunden später überflog sie von Wasser erodierte Steilhänge, staubtrockene Flächen.
»Die Atacama-Wüste«, flüsterte Takuno mir ins Ohr.
Max wendete nach Süden. »Ich gehe tiefer. Nur wenig über Kammhöhe.« Die Drohne senkte sich deutlich tiefer und flog entlang einer Hügelkette über eine Art Flusstal.
»Kazumi, bitte die Zieleinrichtung.«
»Mach ich.«
»Reduziere die Geschwindigkeit auf 400, drehe nach Nordwest.« Wieder änderte sich die Landschaft. Aufgrund der niedrigen Flughöhe blieb nicht viel Zeit, um Details zu betrachten. Der Ausgang eines schmalen Tales kam in Sicht. Häuserreihen, das Meer. »Antofagasta …«, sagte Max. »Die Bucht ist etwa 20 Kilometer breit.«
»Vergrößere auf das Meer mit der Frontkamera.«
»Okay.«
»Da!«, rief Takuno. »Vor der roten Klippe! Der innerste Teil der Bucht, im Radarschatten …«
»Max, ein Vorbeiflug. Kein Überflug.« Die Drohne schwenkte leicht nach rechts. »Bodenkameras …«
»Zwei … nein! Drei Boote direkt nebeneinander!« Takuno hielt es nicht auf seinem Platz. Er beugte sich über Kazumis Schulter. »Läuft die Aufzeichnung?!«
»Natürlich«, erwiderte Max.
»Auf dem Vordeck steht jemand … deutliche Wärmesignatur«, stellte Kazumi fest. Die Drohne war fast bei den Booten. Zwei vom Neptun-Typ, das hintere breiter, länger und mit einem langgezogenen, wuchtigen Kasten auf dem Achterdeck.
»Zoom und Autolock auf die Person, Kazumi.« Schlagartig vergrößerte sich das Bild des Menschen auf dem Vordeck. Als die Drohne auf gleicher Höhe war, hob er die Hand und winkte. »Anouk …«, flüsterte ich.
»Und jetzt?«, fragte Max.
»Ein zweiter Überflug.«
Aber es blieb Anouk.
»Ich fahre alleine.«
»Nein! Tust du nicht!«, protestierte Takuno. Fast hatte ich den Eindruck, er wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Stattdessen warf er sein Käppi in die Ecke. »Scheiße!«, rief er und verließ den Raum. Ich atmete tief ein.
»Max, mach bitte das Boot klar.« Er zögerte.
»Max … es ist Anouk. Er hat die Drohne gesehen, gewunken … nichts wird passieren.«
»Warum laufen wir nicht mit dem Boot in die Bucht, wenn du dir so sicher bist?«
»Weil es eben keine endgültige Sicherheit gibt. Lasst die Drohne über mir kreisen, dann könnt ihr verfolgen, was passiert …«
»Solange du an Deck bist«, gab er zu bedenken.
»Verkabel mich.« Selten hatte ich einen so ernsten Gesichtsausdruck an ihm bemerkt.
»Okay. Ich verkabel dich. Kazumi wird das mittlere der drei U-Boote mit einer Lasermarkierung versehen …«
»Wir brauchen Vorräte, Medizin, einen Arzt, Ersatzgeräte … das ist bisher die beste Chance.«
»Ich mache das Boot klar«, sagte Bijan und ging hinaus.
»Geh nach oben«, bat Max. »Ich hole den Sender.«
Der Gang war leer. Takuno vielleicht in der Zentrale. Ich stieg über die Leiter aufs Achterdeck. Was für ein wunderschöner Tag, dachte ich und stellte mich neben Bijan, der das Boot aus der Bucht zog, montierte und über den Stahlkörper der Neptun ins Wasser ließ. Max kam aus der Einstiegsluke.
»Entschuldigung, du musst den Oberkörper frei machen. Ich klebe dir das Zeug direkt auf die Haut. Die Kamera kommt in den Rucksack, Mikrofon auf die Brust, Sender auf den Rücken.«
Ich zog den Reißverschluss auf, schlüpfte aus den Ärmeln. Max räusperte sich. »Du hast mehr Narben als ich Jahre auf dem Buckel …« Ich lachte. Er stellte sich vor mich und vermied verzweifelt, nicht auf meine Brust zu sehen.
»Max?«
»Hm?«
»Wenn du noch einmal deinen Anzug manipulierst, um narkotisiert aus dem Leben zu treten, wirst du mich kennenlernen.« Er wurde rot. Das erste Mal in all den Jahren. »Du wirst rot …«
»Na, weil du so vor mir stehst …«
»Max?«
»Ja?«
»Ich hatte Angst um dich.«
Er klebte, nickte, drehte mich um und befestigte den Sender. Dann zog ich den Overall zu, die Jacke über samt Rucksack und stieg ins Boot. Nur leichte Dünung. Bijan stieß mich mit der Stange ab.
»Viel Glück, Chatrina.«
Ich winkte, schaltete den Antrieb ein und machte mich auf den Weg. Kurz drehte ich den Kopf. Die Neptun tauchte unter. Nichts als der weite Pazifik dehnte sich hinter mir aus.
Der Windmesser zeigte, dass ich mit vierzig Knoten auf die Küste zufuhr. Die Felsen der kleinen Halbinsel wurden größer. Ich hob den Kopf, suchte den blauen Himmel ab und entdeckte die Drohne rechts meiner Position. Sie zog ihre Kreise. Nach einigen Minuten erreichte ich die Spitze der Halbinsel. Sie knickte nach Norden ab und ich folgte dem Verlauf. Die roten Klippen tauchten auf und mit ihnen die drei U-Boote. Aus dem Fach vor mir griff ich nach der Optik und setzte sie an. Kein Zweifel. Identische Bauweise. Ich wusste, dass Takunos Boot etwas über 120 Meter lang war. Das hintere der drei U-Boote übertraf dieses Maß um einiges. Und besonders misstrauisch machte mich der lange Höcker auf dem Achterdeck. Er ging über in einen voluminösen Turm. Vielleicht eine Art Versorger. Meter um Meter kam ich näher. Der Mann … nein, Anouk, stand immer noch auf dem Deck des ersten Bootes. Kurz vor dem Seitenruder schaltete ich ab und ließ mich auf die Außenhülle treiben. Es knirschte. Anouk hob eine Stange auf, zog mich längsseits, warf ein Seil herunter, an dem ich auf das Achterdeck stieg. Dann richtete ich mich auf.
»Tulugaq», sagte er.
»Kamerad Taqtu …«
Wir sahen uns lange an. Ich rechnete mit allem. Einem Schuss, der mich tötete, hervorspringenden Polizeieinheiten, Jonna Andersen in der Einstiegsluke, aber nicht mit Anouks Tränen, deren Existenz bisher von allen ernstzunehmenden Menschen angezweifelt wurden. Anouk griff in seine Innentasche, mein Puls schnellte hoch, dann sah ich die Flasche. Weinend stapfte er auf mich zu, fiel mir um die Brust, während ich seine schwarzen Haare musterte. Nach zwei Atemzügen warf ich mein Misstrauen endgültig über Bord und hielt ihn ebenso fest. Sicher waren nicht wenige Kameras auf uns gerichtet. Anouk schluchzte. »Tulugaq«, wiederholte er.
»Der Rabe bringt das Licht«, entgegnete ich.
»Ich wusste, du bist am Leben.« Er schniefte, drückte sich von mir ab, rieb den Jackenärmel über die Nase und trank die Flasche auf einen Zug aus. »Entschuldigung, Chatrina … das musste jetzt sein …« Ich nickte und schaute nach oben. Anouk folgte meinem Blick.
»Du hast uns markiert?«
»Natürlich. Der Marschflugkörper bräuchte nur eine Minute.«
»Du bist eine gute Polizistin«, merkte er lächelnd an. »Gut, dass du die anderen drei Boote nicht entdeckt hast, die um uns herum liegen.« Anouk atmete tief ein, breitete die Arme aus. Mit einem langgezogenen ‚Aaaah‘ genoss er die Situation. Die anderen drei Boote … ich schmunzelte.
»Darf ich dir die Kommandantin vorstellen?« Ich nickte und drehte mich zur Luke. Sato stieg heraus, zog die Uniform straff, kam auf uns zu und grüßte.
»Obfrau Su …«
Ich überwand den Meter in einem Schritt, drückte sie an mich so fest ich konnte und hob Sato in die Luft. »Sakura Sato …« Nun kamen mir die Tränen.
Das warme Wasser versiegte, trotzdem blieb ich stehen, sah auf meine Hände. Kein Zittern. Noch nicht. Irgendwann vielleicht, aber noch hatte ich Zeit. Langsam trocknete ich mich in der Heißluft, cremte die Narben ein und zählte. Immer noch vierzig. Dann stieg ich in die Borduniform, zog den Reißverschluss zu, ging zu Takunos Friseur, setzte mich und sagte ihm, er solle die Haare entfernen. Komplett. Als er fertig war, beugte ich mich vor.
»Zufrieden?«, fragte er.
»Unnötige Frage, aber ja, ich bin zufrieden. Danke.«
Auf dem Weg in die Messe sah ich in der Zentrale vorbei. Alles ruhig. Jelena saß im Kommunikationsraum und redete mit ihrem Mentor. Ein paar Sekunden lang ruhte mein Blick auf ihr, die quirligen Hände, dann deutete sie auf ein Display, runzelte die Stirn. Ich setzte meinen Weg fort und betrat die Messe der Neptun. Sie war brechend voll. Takuno lehnte an einer Stahlstütze und machte den Eindruck eines völlig zufriedenen Mannes, der schon bald Großvater werden würde. Alles erreicht im Leben. Neben ihm Jorge Rodriguez, Le Duc Tho und Philip Barlier, der nun ehemalige Obmann der Werften auf Spitzbergen, dahinter Sato, Kazumi, Bijan und Max mit Polizistinnen und Polizisten aus ehemaligen Einheiten. Hinter allen saß Anouk auf einem Stuhl und lugte sichtlich beunruhigt in seine Flasche. Für einen Augenblick begriff ich nicht, was überhaupt vor sich ging, schob es aber beiseite und stellte mich vor die Theke. Ich nahm einen der Becher, trank einen Schluck Algentee und räusperte mich lautstark. Die Menschen sahen her, verdutzt, erstaunt. Es wurde still.
»Chatrina …«, flüsterte Takuno, offenbar verwirrt über mein Aussehen. Mit der Hand strich ich über den Kopf. Es fühlte sich geschmeidig an. Wundervoll.
»Ich möchte mich bei euch bedanken im Namen aller auf der Neptun. Alle Vorräte sind aufgefüllt«, sprach ich laut. »Ich habe auch erfahren, dass ihr lange nach uns gesucht habt. Galapagos und Osterinsel waren eure letzten Ziele, um Transponder zu hinterlegen, in der Hoffnung uns zu finden; lebend. Und ich weiß, dank euch, dass es noch mehr gibt, die nicht einverstanden sind mit dem was und wie es passiert«. Ich schob meinen Ärmel zurück und deutet auf die Narbe. »Alle, die so ein Implantat haben, sollen es sich entfernen lassen. Es ist eine Verbindung zu Jonna Andersen und möglicherweise eine Art Transponder. Dann nickte ich Max zu. »Zeig uns bitte die Karte.«
Der Tag, an dem wir auf Sankt Helena zuliefen. Ab da wollte ich beginnen. Fast zwei Stunden dauerte der Bericht. Mit allen Toten, Plänen, Missgeschicken, Beinahe-Katastrophen. Aber vor allem mit unseren gemeinsam erarbeiteten Schlussfolgerungen zu der Gesamtsituation, ihren möglichen Ursachen und den wahrscheinlichen Zeitrahmen. Langes Schweigen folgte. In nicht wenigen Gesichtern entdeckte ich so etwas wie Scham, peinliches Berührtsein, aber auch Angst.
Anouk drückte sich durch die Menge. Ich fragte mich immer noch, wie er es durch die Einstiegsluken in die Boote schaffte. Ein Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen. Mit wenigen Schritten war er neben mir und hob die kleine Flasche über sich. »Auf uns«, sagte er, setzte an, aber es kam nichts raus. Alle lachten. Ich sah zu ihm herunter. Anouk wusste, was man tun musste, um die Menschen abzulenken, ihnen leichtere Gedanken zu vermitteln. Kurz nur drehte er den Kopf und blickte mich von unten an. Er wusste, wie ich dachte. Was Anouk und die anderen berichtet hatten, war keinesfalls dazu geeignet, unsere Stimmung zu heben, uns hoffen zu lassen, es würde abebben; sich als ein kurzfristiges Phänomen erweisen. »Denk dran, Tulugaq, der Rabe bringt das Licht«, murmelte er mir zu und stellte sich zwischen alle anderen. Die wiederum schwiegen. Ich holte tief Luft.
»Ihr habt mir erzählt, dass Jonna Andersen keine Grenzen kennt. Sie will Macht. Und das muss sie schon sehr lange planen.« Ich versuchte, jeden Blick aufzufangen. »Unsere Inseln sind Orte, die uns vor den Infizierten schützen, dem extremen Wetter trotzen. Unser Zuhause. Und sie haben uns auch zusammengeführt, nicht wahr? Trennung nach Hautfarbe, Religion, Ideologie, das mussten wir hinter uns lassen, sonst hätten die Menschen es nicht geschafft.« Langsam ging ich zu Takuno. »110 Jahre lang haben wir verbessert, was uns bei diesem Leben unterstützt hat. Inseln, Boote, Energie, Nahrung. Vielleicht sieht diese Welt ja mal wieder so aus, wie in den Geschichtsbüchern beschrieben. Aber das geht nur, wenn wir alle zu einer Hand werden, einem Arm, einem Körper, einem Geist. Wir können das. Nicht eine Einzelne, die sich in ihrer Macht wohlfühlt.«
Ich setzte meinen Weg fort zu Kazumi, Bijan, Max.
»Gegen den Wunsch, Land zu besiedeln, ist nichts einzuwenden, jedoch hätten wir alle das entscheiden müssen. Nicht Yoon Da-Hee, Khaled Hamza oder Jonna Andersen. Natürlich gibt es Ursachen. Unzufriedene, Machthungrige, aber auch technische Möglichkeiten. Eine davon vermuten wir auf Insel 64, da mache ich jede Wette. Deswegen will ich sie finden. Es gibt aber jetzt noch einen anderen Grund. Viele von euch haben ihre Familien an Bord. Für sie müssen wir eine Heimat finden. Haben wir das erreicht, werde ich Jonna Andersen von ihrem Platz entfernen, Yoon Da-Hee und Khaled Hamza zur Verantwortung ziehen.« Ich schwieg, blickte von Gesicht zu Gesicht. »Das Schlimmste in all der Zeit, war das Gefühl, alleine zu sein auf dieser Welt. Das ist nun vorbei. Ich schlage für die nächste Stunde eine Besprechung vor, um alle zu hören, Vorschläge aufzugreifen und Entscheidungen zu treffen. Danke, dass ihr mir zugehört habt.« Ich nickte allen zu, tastete mit der Hand nach der Glatze. Das Schweigen ließ mich an meinen Worten zweifeln. Ich verließ die Messe und ging zurück in meine Kabine, legte mich aufs Bett und starrte an die Decke.
Nicht lange danach klopfte es. Seufzend stand ich auf und setzte mich auf die Bank.
»Nur herein …«
Takuno, Anouk und Sato traten ein. Anouk ließ sich aufs Bett fallen. »Ich hoffe, du verzeihst, Kameradin Sutter. Ich habe noch nicht geduscht«, raunte er, eine bequeme Sitzstellung suchend. Takuno setzte sich neben mich, Sato auf den Stuhl.
»Da sind wir wieder vereint«, lächelte ich und wunderte mich über die ernsten Gesichter. »Sind wir sicher, Kenzaburo?«
Er legte beruhigend die Hand auf meinen Unterarm. »Ja, neunzig Kilometer vor der Küste in 1200 Meter Tiefe. Nichts kann uns passieren.«
Ich zwinkerte ihm zu. »Was ist mit den anderen drei Booten?«
»Liegen still in dreißig Kilometer Entfernung um uns herum, haben Sonarbojen ausgesetzt und passen auf«, erläuterte Takuno.
»Ebenfalls neue Boote?«
»Ja«, bestätigte Takuno. »Callahan, Konstantin und Konneh …«
Konneh … vor drei Jahren hatte ich sie bei einem Einsatz in Suez kennengelernt. Wie viele Kommandanten und Kommandantinnen es da draußen noch geben musste, die insgeheim auf unserer Seite waren? »Also, Anouk, Sakura, was gibt es?«
»Morgen ist der 1. Mai«, begann Sato. »Die Konglomerate hatten für diesen Tag die offizielle Bekanntgabe der Trennung vorgesehen. Das wird nicht passieren. Stattdessen wird Jonna Andersen Pazifik und Indischen Ozean bitten, sich wieder anzuschließen unter ihrer Führung. Sie gewährt vierzehn Tage Bedenkzeit. Danach folgen entsprechende Maßnahmen, zum Schutz und Erhalt der Menschheit …«
»… sagt sie«, beendete Anouk Satos Satz.
»Deswegen sind wir aber nicht gekommen«, stellte Takuno klar.
»Sondern wegen was?«
»Wegen dem, was wir entwendet haben …«, deutete Anouk an.
Ich streckte mich. Nun war ich neugierig geworden. »Raus mit der Sprache.«
»Das große Boot …«, Sato suchte nach Worten. »Es ist eine Art Waffenträger. Jonna hat mehr als ein Jahr daran bauen lassen. Die Bestückung mit den dafür vorgesehenen Waffen ist nicht abgeschlossen. Nur zwei der geplanten vierundzwanzig Systeme sind einsatzfähig an Bord. Ein zweites Boot ist in Bau. Das Problem ist, wir wissen nicht, wann das zweite Boot samt Waffen einsatzbereit sind und …«
»Welche Waffen?«, unterbrach ich Satos Ausführungen. Mein Puls beschleunigte.
»Ballistische Raketen mit nuklearem Sprengkopf.«
Ich senkte den Blick und musste tief Luft holen. Mir wurde schwummrig, ein leichter Schwindelanfall.
»Chatrina …« Takunos Finger drückten meinen Unterarm und zogen ihn zu sich. Ich widersetzte mich seinem Bemühen und sah alle der Reihe nach an.
»Jonna ist unter Druck«, erläuterte ich meine Sicht der Dinge. »Die Bedenkzeit muss sie zugestehen, weil das neue Boot noch nicht fertig ist. Die angedrohten Maßnahmen sind identisch mit der Drohung, dieses Waffensystem einzusetzen; also ist klar, dass sie in zwei Wochen einsatzbereit sind. Jonnas Drohungen basieren grundsätzlich auf verfügbaren Möglichkeiten, nie auf einem Bluff. Druck, weil sie weiß, dass abtrünnige Polizeieinheiten ebenfalls ein solches Waffensystem haben. Druck, weil es möglich ist, dass dieses Waffensystem Yoon Da-Hee in die Hände fällt. Und sie ist extrem wütend, weil sie – aus ihrer Sicht – hintergangen wurde …« Ich schüttelte den Kopf. In was für einer verfahrenen Situation wir da steckten, musste uns allen möglichst schnell klar werden. »Wenn Jonna Andersen derart unter Druck steht, emotional wie physisch, dann wird sie zu einem sehr instabilen Sprengstoff, der bei der kleinsten Erschütterung hochgeht«, versicherte ich den Dreien. »Erschwerend dazu kommt, dass sie völlig skrupellos ist und intelligenter als die meisten.«
»Wahre Worte, Tulugaq«, stellte Anouk lapidar fest. »Es war klug, die Suche nach dir nicht aufzugeben. Die Frage ist, ob wir die beginnende Dunkelheit noch aufhalten können. Und wie?«
»Indem wir begreifen, was passiert ist«, erwiderte ich. Er musterte mich.
»Hast du es begriffen?«
»Ja, Anouk. Ich glaube, ich habe es begriffen.«
Dieses Mal waren weniger Menschen in der Messe. Die Bootkommandanten Takuno, Rodriguez, Le Duc Tho und Sato. Anouk neben Philip Barlier und als gewählte Vertreterin der Mobilen Polizei Benedetta Russo, die in Kidane Tesfamariams Einheit 236 diente. Im Glas der Theke spiegelte sich das Emblem der Polizeieinheiten auf dem Kragen. Ob das noch irgendeine Bedeutung besaß? Bevor ich meine Sicht der Ereignisse ausführte, aß ich zwei Seetang-Rollen; als hätte ich alle Ruhe der Welt. Ich bat Takuno, die Karte an die Wand zu projizieren, stellte mich daneben und deutete auf die Koordinaten von Gruppe 25.
»Insel 64 taucht hier mit Gruppe 25 ab, um einer Sturmfront auszuweichen. Ab einer bestimmten Tiefe begibt sie sich auf Fahrt zu einem unbekannten Ziel. Die neuen Inseln sind schnell. In zehn Tagen schafft es Insel 64 getaucht an diese Küste …« Mit dem Finger fuhr ich den Teil der Küste Südamerikas ab, der voller Fjorde war. »Die Westküste Südamerikas wird nicht mehr von uns angefahren. Keine Ressourcen mehr. Lediglich Valparaíso ist noch aktiv. Der Teil westlich der Anden ist sicherlich so gut wie menschenleer. Besonders die schon zuvor sehr rauen und kaum bewohnten Gebiete der Fjorde. Insel 64 bugsiert sich in einen dieser Fjorde. Sie zerlegen die Insel und bauen eine neue Existenz auf, denn alles was sie brauchen, bietet die Insel. Neue Batterietechnik, Photovoltaik, selbst die Strömungsgeneratoren können sie nutzen in den Fjorden …«
Ich legte eine Pause ein, um auf Fragen zu reagieren, aber es kamen keine. Also fuhr ich fort.
»Das Unternehmen war von langer Hand geplant. Die Menschen, die Bescheid wussten, ließen sich nach 64 versetzen. Andere zogen erst gar nicht weg. Es gab keine Relationen mehr zur Gruppe oder woanders hin. Bleibt aber noch die Frage, warum 64 überhaupt das Wagnis auf sich nahm. Denn wenn die Energieerzeugung Ersatzteile benötigt, Sturm sie an Land beschädigt oder zerstört, dann wird es schwierig. Eine Dockinsel kann man dann nicht rufen … egal was passiert: Energie ist die Basis unseres Lebens. Auch auf Insel 64.«
»Auf was willst du hinaus?«, kam die Frage von Barlier.
»Dass es auf der Insel eine Energiequelle gibt, die eine Menge Probleme lösen kann.«
Barlier runzelte die Stirn. »Na, ich weiß nicht«, zweifelte er, »das mag ja sein, auf Inseln wird geforscht, gerade was die Energieversorgung betrifft, aber dann hätten sie es Gruppe eins zur Verfügung gestellt und ich wüsste davon …« Ich sah ihn an. Als ehemaligen Leiter der Werften auf Spitzbergen empfand ich seine Gedanken als etwas naiv.
»Philip … wie wurde Takunos Boot 12651 angetrieben?«
»Elektroantrieb, Natriumzellen und Impeller.«
»Und die neuen Boote?« Für zwei Sekunden war er still.
»Jonna hat uns mitgeteilt, dass sie ein externes Bootbau-Programm aufgelegt hatte. Sie betonte, Ort und Personalstärke müssten geheim bleiben, da wir einen Verräter vermuteten …« Barliers Augen weiteten sich. »Du selbst hast uns auf Gruppe eins mitgeteilt, dass es einen Verräter geben muss!«
Ich nickte. »Du hast recht, denn was sonst hätten wir vermuten können? Es blieb nur der Verrat oder das Abhören von Kommunikation …« Er lehnte sich schlagartig an und wurde bleich. »Noch mal, Philip … welchen Antrieb haben Jonnas neue Boote?«
»Magnetohydrodynamischer Antrieb.«
»Kannst du mir erklären, wie er funktioniert?«
»Im Prinzip schon. Wir probieren das seit zwanzig Jahren, haben aber versagt. Und Jonna hat das neue Boot auf dieser Werft bauen lassen und es funktioniert, weil …«
»… weil dafür plötzlich genug Energie vorhanden ist«, beendete ich seinen Satz. »Eine neue Energiequelle von Insel 64. Diese Energiequelle existierte schon vor mindestens fünf Jahren, denn damals begann die Suche nach nichtmagnetischem Stahl. Die Menschen auf Insel 64 wussten, dass ihr Leben gefährdet war. Und auch Jonna wurde klar, dass ihr Plan auffliegen konnte …«
»Moment …«, fiel mir Anouk ins Wort. »Du willst … nein …«
»Doch Anouk, das will ich. Ich behaupte, nach Jonnas Plänen musste Insel 64 verschwinden. Plötzlich aber kommen ihr diese Menschen zuvor. Das Protokoll muss eingehalten werden, also ruft man uns. Und wir hätten Insel 64 garantiert gefunden. Jonna erzeugt logischerweise eine weitaus größere Tragik: Gruppe 25 wird ausgelöscht und Insel 64 wird dadurch erst mal bedeutungslos. Alles bestens. Das Märchen von den großen Unbekannten ist äußerst glaubwürdig und dazu geeignet, uns herumirren zu lassen und Zeit zu gewinnen.«
Alle starrten mich an als stünde ein kosmisches Wesen vor ihnen.
»Zeit für was?«, hörte ich Russos Stimme.
»Zeit für den Bau von Booten, sie mit Mannschaften zu versehen, alles vorzubereiten.«
»Und die Werft am Amur?«, wollte Takuno wissen.
»Das ist Yoon Da-Hees Werft. Wir nahmen an, es wäre die Werft nach der wir suchten. Falsch. Yoon wusste, was Jonna tat und versuchte ebenfalls Boote zu bauen. Deswegen hat man unser Hilfsangebot mit allen Mitteln verhindert. Ich verwette meinen Kopf, dass einer oder mehrere aus Jonnas Geheimtruppe die Seiten gewechselt hat. Leider zu spät, denn Yoon ist mit dem Bootsbau noch lange nicht so weit wie Jonna.«
Großes Schweigen. Die tiefe Stille des Pazifiks besaß offenbar genug Kraft, in diesen Raum einzudringen. Nicht mal das Atmen der Menschen vor mir war zu hören. Meine Worte sanken in ihre Gedanken ein. Jede und jeder formte daraus ein Bild und versuchte es mit seiner Welt in Einklang zu bringen.
»Alles fügt sich zusammen«, murmelte Anouk. »Die Ahnen stehen hinter uns, ihre Hände schweben über uns, ihr Blut fließt unter uns …«
»Und Semjonowa?«, hakte Russo nach.
»Ich denke, Semjonowa, Eldren, Patronas und noch einige andere wussten, was auf Insel 64 vor sich ging, wurden vielleicht sogar gefragt, ob sie mit auf die Reise wollten oder befürworteten zumindest das Verschwinden, versuchten es zu verdecken … aber das ist nicht mehr wichtig, denn sie sind tot. Und auch die Überlebenden von Gruppe 25 auf dem Festland werden es früher oder später sein.«
»Dann ist Jonna auch für Kidanes Tod verantwortlich«, folgerte Russo.
Ich nickte. »Ja, und für Khatri, Lehtonen, Zhang und all die anderen.«
Rodriguez stand ruckartig auf, rannte hinaus. Die Tür krachte ins Schloss. Takuno zwinkerte mir zu und folgte ihm. Le Duc Tho hob die Hand.
»Eines ist mir noch nicht klar … warum hat Insel 64 die Energiequelle nicht öffentlich gemacht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kann nur mutmaßen, Tho, aber wir werden sie fragen. Meine Vermutung ist jedoch die, dass sehr viele Menschen für Jonna arbeiteten, denn ihr Vorhaben lässt sich nicht ohne lange Planung und Vorarbeit umsetzen. Auch auf Gruppe 25 gab es sicher einen von ihnen – oder eine. Über diese Person kam Jonna an die Energiequelle. Dann meldete sich das Gewissen? Ich weiß es nicht … aber ich denke, ab da informierte diese Person die Insel über Jonnas Pläne und der Insel war klar, dass sie fliehen musste. Wir erinnern uns, dass Takuno sicher war, die Boote würden die Insel suchen …«
Er presste die Lippen zusammen. »Ich werde jetzt zu meinem Schrein gehen und beten«, erklärte Le Duc Tho, stand auf und verließ den Raum. Anouk seufzte.
»Ich hätte mehr Schnaps mitnehmen sollen.«