Insel 64 | Kapitel 7

Renegaten

»Obfrau Sutter …« Yoon Da-Hees Gesicht zeigte keine Regung. Die schmalen Lippen bildeten einen dünnen Strich, blieben fast starr. »Sie haben Chuzpe, mich zu kontaktieren.«
»Wir haben nicht viel Zeit. Ich will nicht, dass man uns lokalisiert«, erklärte ich ihr knapp. »Deswegen fasse ich mich so kurz wie möglich.« Ein kaum merkliches Nicken bedeutete mir fortzufahren. »Jonna Andersen hat mich beauftragt, den Teil meines Teams zu töten, der das Atlantik-Konglomerat verlassen will und um die Fähigkeiten des neuen Bootes weiß. Obmann Takuno und ich haben uns anders entschieden und Sankt Helena nicht angelaufen …«
»Sie haben einen direkten Befehl verweigert …«, stellte sie tonlos fest. »Was möchten Sie nun von mir?«
»Jonna hat die Boote von allem abgeschirmt bauen lassen. Das ist ein erheblicher taktischer Nachteil Ihrerseits. Denken Sie an meinen ursprünglichen Auftrag: die unbekannten U-Boote finden … wir haben mit hoher Wahrscheinlichkeit die Werft gefunden …« Yoons Augen weiteten sich ein wenig. »Takuno und ich werden diese Werft ausheben, versuchen die Pläne oder ein Boot zu organisieren und ihnen übergeben.«
Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Langsam beugte sie sich zur Optik. »Kürzen Sie es ab … übergeben Sie uns einfach ihr Boot«, äußerte sie kühl.
»Nein. Denn dieses Boot mit seinen Möglichkeiten werde ich danach für die Suche nach Insel 64 benötigen.«
Yoon Da-Hee schüttelte den Kopf. »Wen interessiert Insel 64? Gestern hat Jonna Andersen vier Inseln mit auswanderungswilligen Polizeieinheiten versenkt.«
»Ich nehme an, Sie haben Kidane Tesfamariam nicht danach gefragt, ob sie sterben will oder für was?«
Sie schwieg, drückte den Rücken durch, zog die Schultern nach oben. »Wir bekommen die Pläne oder ein Boot … und Sie?« Ich musste die Katze weitestgehend aus dem Sack lassen.
»Jonna weiß, dass wir zum Amur wollen. Sie wird versuchen, uns dort abzufangen oder zu eliminieren. Um rechtzeitig dorthin zu kommen, kann sie nur von Norden durch die Beringstraße laufen. Hier also mein Vorschlag: Machen Sie die Beringstraße dicht. Gestaffelte Sonarnetze, Copter mit Sonarbojen, Grundminen und zwei oder drei Reihen Boote. In den flachen Gewässern dort können die neuen U-Boote ihre Fähigkeiten nur zum Teil ausspielen.«
Yoon verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Jonna hat noch mehr von diesen Dingern?«
»Eine unbekannte Zahl.«
Sie deaktivierte das Mikrofon, redete mit einer oder mehreren Personen im Raum, die außerhalb der Bilderfassung blieben. Nach einigen Momenten wackelte das Bild, als hätte jemand mit der Faust auf den Tisch gehauen. Yoon Da-Hee kratzte sich am Ohr. Die Gesichtszüge erstarrten wieder. Dann erneut ihre Stimme. »Warum helfen Sie uns? Diese Insel könnten Sie auch jetzt suchen und uns alle vergessen …«
Ich nickte und drehte das Pad. Mein Team, Takuno und seine Besatzung wurden von der Kamera erfasst.
»Wir alle lehnen die Trennung der Menschheit ab. Unser Weg kann nur ein gemeinsamer sein. Wenn Sie es nicht schaffen, das hinzubekommen, dann gibt es keinen Grund mehr zu bleiben. Aber vielleicht können wir zumindest einen Krieg verhindern, indem wir Waffengleichheit herstellen. Was Sie damit machen, ist Ihre Angelegenheit.«
Yoon schaltete auf stumm, stand auf, verließ kurz die Bilderfassung. Khaled Hamza erschien auf dem Display, setzte sich und aktivierte das Mikro. »Wir sind einverstanden. Unter einer Bedingung …«
»Die wäre?«
»Sie werden eine Minimalbesatzung an Bord nehmen, die eines dieser U-Boote übernehmen kann.«
»Es wird so ablaufen, wie wir es vorgeben, Khaled. Nicht anders.«
Er verdrehte die Augen. »Sie trauen uns nicht. Gut. Also, wie?«
»Zunächst einmal sollten Sie so schnell wie möglich die Beringstraße blockieren und hoffen, dass Jonna keinen Wutanfall bekommt. Sichern Sie ihre Gruppen! Schicken Sie einen Versorger in die nördliche Bucht der Insel Rebun. Koordinaten folgen. Die Besatzung wird den Versorger und die Insel verlassen. Eine Liste mit Material füge ich den Koordinaten bei. Ich bin einverstanden, zwei Leute mitzunehmen. Sie können die beiden auf dem Versorger warten lassen.«
Yoon trat hinter Hamza. »Wie erfahren wir, was passiert und ob es funktioniert hat?«
»Sie werden von mir hören, wenn es so weit ist, Yoon.«
»Wir könnten Sie auf dem Versorger festsetzen …«
»Damit würden Sie mir bei einem weiteren Vorhaben in die Quere kommen«, unterbrach ich sie.
»Und das wäre?«
Ich zog das Pad vor mein Gesicht. »Jonna zu töten.«
Yoons Augenbrauen gingen ein kleines Stück nach oben. »Das nehme ich Ihnen sogar ab«, entgegnete sie nickend.
»Ich melde mich«, erwiderte ich und unterbrach die Verbindung.
»Bennani, gehen Sie auf alten Kurs, 700 Meter, siebzig Knoten«, hörte ich Takunos Stimme hinter mir.


»Bennani … wie ist der Stand unserer Vorräte?«
»Noch für vierzehn Tage frische Lebensmittel, Proteine für den Drucker reichen noch vier Wochen. Wasserkreislauf arbeitet mit hundert Prozent und … äh, Teeautomaten sind zur Hälfte voll.«
»Sehr gut«, sagte Takuno. »Führen Sie eine volle Kontrolle der Defensivsysteme durch.«
»Jawohl, Obmann Takuno.« Bennani verschwand durch das vordere Schott.
»Er ist nicht Sato … und wird es auch nie«, seufzte Takuno und blickte mich an. »Wie hast du geschlafen?«
»Neben dir ruhig und traumlos …«
»Das freut mich, Chatrina«, meinte er lächelnd und tippte auf die Karte. »Wir nähern uns Rebun von Westen, stoppen zehn Kilometer vor dem Hafen in Periskoptiefe«, ein violetter Punkt blinkte an seiner Fingerspitze, »setzen Kano, Aljona, Bennani und vier meiner Leute durch die Taucherschleuse ab und machen Augen und Ohren auf so gut es geht. Zusätzlich starten wir zwei Multidrohnen.«
»Können fünf Leute einen Versorger fahren?«
»Ja. Kein Problem. Bennani läuft einhundert Kilometer auf genauem Westkurs. Dann gehen wir längsseits, laden um. Die Copter fliegen nördlich nach Nel’ma und warten dort auf uns. Wir werden dreieinhalb Stunden später ankommen.«
»Wäre ich Yoon Da-Hee, würde ich meine zwei Leute, den Versorger und die Copter mit einem Sender versehen. Du nicht?«
Er sah mich an. »In der Tat, das klingt logisch … hm, den Versorger versenken wir, öffnen die Tauchzellen bei geöffnetem Turmluk.« Er kaute auf der Unterlippe.
»Yoons Leute schicken wir in den Scanner«, ergänzte ich.
»Aber der Rest …«
»Vielleicht fällt Max etwas dazu ein«, überlegte ich laut und sah auf die Leuchtanzeige. Mittwoch, 17. April 2148, kurz nach neun Uhr abends. »Wann sind wir da?«
»In knapp einer Stunde.«
»Gut, Kenzaburo. Gehen wir in den Besprechungsraum.«
»Schon mal längere Strecken getaucht?«, wollte Aljona von Bennani wissen. Der sah sie unsicher an.
»In der Ausbildung …«
»Ausbildung …«, winkte sie ab. »Im Hafenbecken …« Sie grinste, streckte sich noch ein wenig mehr. Bennani war einen Kopf kleiner. »Halt dich an mich«, empfahl sie ihm und er nickte leicht eingeschüchtert.
Takuno räusperte sich laut. »Habt ihr alles verstanden?«
»Hinschwimmen, Versorger holen. Umladen. Fertig«, bestätigte Aljona.
»So in etwa. Eine kleine Besonderheit noch …« Ich stellte mich vor die Karte. »Max und Kazumi werden zwei Multidrohnen vorschicken, Versorger und mögliche Ziele lokalisieren. Aljona, du wirst nicht an Bord gehen. Je nach dem von wo aus sich die beste Sichtlinie ergibt, wirst du dich dort positionieren und aufpassen. Bei Gefahr, schaltest du alles aus, was die Mission behindert.«
»Werde ich, Chatrina.«
»Kazumi wird die Waffendrohne fliegen und ständig über euch kreisen. Wenn ich sage, ihr sollt ins Wasser springen, egal wann oder wo, dann tut ihr es. Sucht das Weite!«
»Warum?«, wunderte sich Kano.
»Wenn Grobzeug anrückt, werden wir von hier aus eingreifen.«
»Wie?«, fragte Aljona irritiert.
»Das Boot führt …«, ich drehte mich zu Takuno. »Wie nennt man die Dinger?«
»Marschflugkörper.«
»Genau. Damit können wir euch unterstützen, falls nötig.«
Kano sah zu Aljona. »Ich verlasse mich lieber auf ihre Waffe«, verkündete er.
»Danke, Bruder.«
Bennani hob vorsichtig die Hand. »Ehm, wie kommen wir zurück?«
»Nun, zuerst einmal müssen wir hinkommen. Mit den Coptern benötigen wir ab Nel’ma anderthalb Stunden für die 650 Kilometer. Wir landen am östlichen Ufer des Amur vor einer kleinen Hügelkette …«, ich markierte den Punkt auf der Karte. »Von dort aus verschaffen wir uns mit Drohnen einen möglichst genauen Überblick. Entweder wir übergeben ein komplettes Boot oder wir finden Konstruktionsunterlagen, vielleicht Ingenieure …«
»Und wenn da absolut nichts ist?«, wendete Bennani ein.
»Dann fliegen wir den Amur ab und sehen, ob ein Boot im Strom unterwegs ist.« Er wiegte den Kopf hin und her. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Bennani und auch das ist im Bereich des Möglichen, dass wir nichts finden …« Ich zuckte mit den Schultern. »Dann setzen wir uns 75 Kilometer nach Süden ab. Dort gibt es eine kleine Bucht. Takuno wird uns da erwarten.« Bennani schwieg und spielte wohl in Gedanken durch, was alles schiefgehen könnte. Es war sein erster Außeneinsatz und nicht unter den besten Bedingungen. »Halten Sie sich an Kano und Aljona, Bennani. Vertrauen Sie ihnen zu einhundert Prozent und tun Sie das, was gesagt wird, dann minimieren Sie das Risiko zu sterben. Okay?«
»Das Risiko zu sterben?«, wiederholte er.
»Aber ja«, nickte ich. »Wir dürfen uns da nichts vormachen. Was uns am Amur erwartet, lässt sich nicht voraussagen und infolgedessen nur grob planen. Wir werden spontane Entscheidungen treffen müssen.« Bennani zog beide Augenbrauen nach oben. »Eines nach dem anderen, Bennani. Erst holen wir uns den Versorger.«
»Mach euch bereit«, kam Takunos Ansage. »Die Tauchscooter sind komplett aufgeladen und bringen euch in einer Stunde ans Ziel.«


Jemand hatte mit einem harten Gegenstand das ‚Boot 20001‘ weitestgehend abgekratzt und ‚Neptun‘ darunter geschrieben. Mehr schlecht als recht. Die neuen Boote besaßen eine Operationszentrale für Außeneinsätze. Klein, aber mit allem ausgestattet, was nötig war. Max und Kazumi steuerten schweigend die beiden Drohnen als ich den Raum betrat und mich auf den erhöhten Hocker hinter sie setzte. Das dritte Display darüber zeigte die sich bewegenden Lichtpunkte der Tauchscooter. Rechts von uns murmelte Takuno zwei jungen Männern, die Horizontal- und Höhenradar bedienten, etwas ins Ohr.
»Wir nähern uns der Bucht, passieren Umijima«, teilte Kazumi leise mit. »Aktivieren Infrarot-Sicht.«
Die Bucht war wie ein Hufeisen geformt mit einer etwas längeren Westseite.
»Kazumi, schwenk nach Süden und folge dieser Hufeisenform der Bucht bis zum östlichen Punkt. Wir müssen wissen, ob an Land Scharfschützen oder andere Personen sind. Max, du suchst den Versorger.« Die Bilder veränderten sich. Das leicht bräunliche Grau der Infrarotsicht offenbarte Felsen, zerfallene Straßen, ab und zu Reste von Häusern. Kazumi reduzierte die Geschwindigkeit. Langsam tastete sie einen zweihundert Meter breiten Streifen vom Wasser ins Landesinnere ab.
»Der Versorger«, flüsterte Max. »Östliche Buchtseite. Liegt an der äußeren Mole.« Das Display regelte die Empfindlichkeit herab. Drei blendend helle Lichtquellen irritierten die Infrarotkamera.
»Schalt um auf Nachtsicht, markier die Lichtquellen und rechne sie raus.« Das Bild wechselte zu Grün, die Scheinwerfer dunkelten ab. Der Versorger wurde sichtbar.
»Kontakt«, meldete Kazumi. »Zwei Personen auf einem Hausdach, vor einem Oberlicht. Das größte Gebäude im Ort … Stadtbezirksamt ist auf der Karte vermerkt.«
»Scharfschützen-Team?«
»Mit Sicherheit. Sie liegen unter einer Wärmeisolierung.«
»Markieren und auf Aljonas Pad.«
Max flog eine große Runde um den Versorger. Zwei Personen standen auf dem Vordeck. Kano und Aljona erreichten die kleine Insel vor der Bucht, tauchten langsam daran vorbei.
»Zweiter Kontakt«, sagte Kazumi. »So wie es aussieht ein Schrein. Höchster Punkt in der Stadt. Östlich des Versorgers. Eine Person und Wärmeisolierung. Markiert und an Aljona gesendet.«
Ich sah über die Schulter zu Takuno. »Irgendwas über oder unter Wasser?«
Er schüttelte den Kopf. Auf die Rückseite seines Käppis hatte er ‚Neptun‘ in weißer Farbe aufgetragen. Ich schmunzelte.
»Nummer vier und fünf«, stellte Kazumi fest. »Nördliche Mole, zwischen erstem und zweitem Gebäude. Eine Person mit einem tragbaren Werfer.«
»Markiert?«
»Alles markiert, Chatrina.«
»Sehr gute Arbeit.«
Ich drückte beiden die Schulter und hob das Pad vors Gesicht. »Kano und Takunos Team. Auf dem Display der Scooter ist der Versorger markiert. Nicht auftauchen. Ich wiederhole: Nicht auftauchen! Bewegt euch unter ihn und wartet ab.«
Kano bestätigte.
»Aljona, ich markiere einen Punkt, wo du an Land gehst. Östlich der ersten beiden Ziele ist ein Hügel von dem aus du eine klare Schusslinie hast.«
Aljona bestätigte. Ich spürte Takunos Blick, drehte den Stuhl und begegnete seinem Blick. Er lächelte leicht. Ich nickte ihm zu und verfolgte die Lichtpunkte. Aljona trennte sich von der Gruppe. Takuno tippte auf meine Schulter. »Es gibt einen Überwasserkontakt. Relativ zu uns zwölf Kilometer, zwei Kilometer nordöstlich der Bucht. Der Signatur entsprechend würde ich auf zwei dicht beieinander liegende Boote tippen. Vermutlich gerade aufgetaucht.«
»Solange sie sich nicht bewegen, soll uns das egal sein«, erwiderte ich. »Vermutlich haben sie die Besatzung des Versorgers aufgenommen und warten nun ab, was passiert.«
»Bin an Land gegangen und mache mich auf den Weg«, kündigte Aljona an. Ich gab das Okay-Signal ins Pad ein. Auf dem linken Schirm leuchteten die fünf entdeckten Wärmesignaturen. Polizistinnen und Polizisten.
»Ich möchte eure Meinung«, platzte ich heraus. »Wenn wir sie ausschalten, töten wir unsere Kolleginnen und Kollegen …«
»Yoon Da-Hee hat sie dort postiert. Nicht wir …«, warf Max ein.
»Ich weiß. Und wir sollten ihr die Möglichkeit geben, das zu überdenken.«
Er drehte den Stuhl und sah mich an. »Du willst sie kontaktieren?«
»Wir senden ihr eine Textnachricht, kein Gespräch.«
»Bin einverstanden«, sagte Kazumi.
»Takuno?«
Er drehte sich und nickte.
»Max?«
»Okay.«
Ich klopfte ihm einige Male auf die Schulter. »Danke. Gut … schreib bitte: Yoon Da-Hee. Personen lokalisiert. Unsere Kolleginnen und Kollegen. Warum tun Sie das? Es gibt kein Zurück nach Gefecht. Sie haben fünf Minuten für Rückzug.«
Max tippte hastig. »Gesendet«, meldete er. »Und nun?«
»Hat die Gegenseite bestätigt?«
»Bestätigungsprotokoll ist eingegangen.«
»Wir warten fünf Minuten. Ab jetzt.«


»Ziele vier und fünf im Visier«, meldete Aljona.
»Ziele eins und zwei im Visier«, hörte ich Kazumis leise Stimme vor mir. Die Drohne schwebte dreihundert Meter über dem Dach, das Fadenkreuz lag völlig ruhig über beiden Wärmesignaturen.
»Max?«
»Ziel drei ist im Visier«
»Okay, warten …«, erwiderte ich und sah auf die Uhr. Sekunden bis zu meinem selbst gesetzten Zeitlimit. Ich wollte nicht, dass diese Anzeige umsprang. Wäre sie doch stehengeblieben … ich schloss die Augen und wartete auf Erlösung.
»Chatrina?« Takunos Stimme. Aus der Realität.
»Schaltet sie aus!«
Wir hörten nichts. Sahen nur die ruckartige Bewegung der Körper. Das langsame Ausblenden der Wärmesignaturen. Abkühlende Tote.
»Verflucht …«, rutschte mir raus. Vielleicht sollte ich auch Yoon Da-Hee töten? Gleich nach Jonna. Ich sog die etwas abgestandene Luft ein. »Kano! Auftauchen und an Bord gehen! Aljona, mach dass du auf den Versorger kommst!« Ich rutschte unruhig hin und her. Dieser erhöhte Sitz war nicht wirklich bequem …
»Sie haben bestätigt«, informierte mich Kazumi. »Ich sehe Kano und die anderen. Eine Person vom Vordeck lässt ein Fallreep runter.«
»Was machen die Überwasserkontakte, Takuno?«
»Unverändert.«
»Unterwassersignale?«
»Keine Geräusche, Chatrina.«
Ich drehte mich zu ihm. »Bekämen wir es mit, wenn sie auf Schleichfahrt sind?«
Er presste für einen Augenblick fest die Lippen zusammen. »Fallen Sie unter zwei Kilometer Abstand, dann ja …«
»Gibt es eine Möglichkeit, solche Boote vorher zu finden?«
»Gibt es«, bestätigte er, »Wir können einen Suchläufer auf den Weg bringen.«
»Tu es bitte.«
Takuno nickte. Ich sah wie das Fallreep hochgezogen wurde und das Team durchs Schott im Inneren des Versorgers verschwand. Auf diesem Stuhl sitzen zu müssen, nicht vor Ort sein zu können, das machte mich ganz krank. Ich flehte Kano in Gedanken an, so schnell als möglich die Kommunikation zu besetzen, um Klarheit zu bekommen. Im Hintergrund hörte ich Takuno das Wort ‚Suchläufer‘ sagen und den Auftrag durchgeben, diesen Suchläufer einen Zickzackkurs ablaufen zu lassen. Dann spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. Er drückte ein wenig, massierte den Nacken hinauf. Ich legte den Kopf nach hinten und rieb meine Haare an seinem Handrücken.
»Aljona ist ebenfalls an Bord«, teilte Max mit.
Aus dem Bug des Bootes kam ein leises Geräusch. Ein Zischen. »Torpedo ist unterwegs und nimmt den vorprogrammierten Kurs auf«, erklärte Takuno. »Er ist in zwölf Minuten vor Ort. Sobald er ein Geräusch oder eine große Metallmasse ausmacht, werden wir benachrichtigt.«
»Der Versorger setzt sich in Bewegung«, rief Kazumi wie elektrisiert.
»Kann der Torpedo irrtümlich den Versorger melden?«
»Nein, Chatrina, er läuft weiter nördlich, Richtung der Überwasserkontakte.«
Ich rieb die Stirn, lehnte mich an, versuchte konzentriert zu bleiben. »Kazumi? Wie ist die Batteriereserve der Drohne?«
»85 Prozent.«
»85 … dann setz sie in Bewegung Richtung Überwasserkontakte. Ich will sehen, wer da wartet. Bleib auf Abstand und umrunde die Boote. Max! Du bleibst über dem Versorger. Steig höher und geh auf Infrarot.«
Sie murmelten, nickten. Die Bilder veränderten sich. Ich dachte an die toten Polizistinnen und Polizisten. »Wir haben schon wieder eine Grenze überschritten …«, flüsterte ich. Ob es jemand gehört hatte, wusste ich nicht … ein schlagendes Geräusch traf uns. Wie ein Hammerschlag gegen eine Metallwand.
»Ein Ping!«, rief Takuno und rannte hinaus. Keinen Atemzug später spürte ich Vibrationen im Boden.
»Weiter beobachten«, trug ich Kazumi und Max auf, rannte hinter Takuno her in die Zentrale, blieb wie festgeklebt am Schott stehen, hörte seine Befehle.
»Verschlusszustand! Alarmtauchen! Wassertiefe?«
»700 Meter!«
»Auf 600 Meter! 70 Knoten! Kurs 270 Grad! Los! Los! Los!«
»Zwei Torpedos! Entfernung 3.400 Meter! Nähern sich schnell!« Hinter mir im Schott klackte es auf allen Seiten. Die Abteilungen wurden gegeneinander dicht gemacht. Das Boot neigte sich schnell zur Seite und nach vorne. Ich schaffte es gerade noch, die Schotteinfassungen zu packen. Gegenstände fielen auf den Boden. Jemand schaltete auf Rotlicht. Von überall her kamen gurgelnde Geräusche, es knackte unter meinen Füßen.
»Hundert Meter!«
»Aufschlag in einer Minute und fünfzig Sekunden!«
Jelena fiel mir ein! Wie musste sie sich fühlen!
»Einhundertfünfzig Meter!«
»Täuschkörperausstoß vorbereiten!«, ordnete Takuno an. Er hatte das Käppi nicht auf dem Kopf. Der Winkel war so steil, dass ich mich nur mit Mühe festhalten konnte und Schmerzen wie kleine Nadeln durch meinen Oberarm zuckten.
»220 Meter! Geschwindigkeit fünfzig Knoten!«
»Täuschkörper ausstoßen … jetzt!«
In die Kakophonie aller Geräusche mischte sich ein helles Zischen.
»Täuschkörper ausgestoßen!«
»Kurs 220 Grad!« rief Takuno und drehte sich nach allen Seiten. Unter Wasser zu sterben wäre sicher kein schöner Tod, nahm ich an. Dann traf uns ein enormer Schlag, eine Druckwelle und dumpfes Grollen. Mir wurde schwindelig, immer wieder schwarz vor Augen. Waren wir getroffen? Nein, nein, das war etwas anderes!
»Vierhundert Meter! 70 Knoten!«
»Geräusche bleiben zurück. Torpedos haben ein alternatives Ziel aufgenommen … die Täuschkörper!«
»Anstellwinkel, Kurs und Geschwindigkeit beibehalten«, wies Takuno seine Leute an. Ich spürte starke Schmerzen im Arm, mein Mund war ausgetrocknet. »Wassertiefe?«
»Tausend Meter und stark fallend. Passieren thermische Schicht.«
Takuno hustete leicht. »Vorne dreißig, hinten zwanzig. Wir gehen auf neunhundert Meter. Dann voller Stopp.«
Langsam flachte der Winkel ab und ich ließ mich gegen die Brüstung des Kartentisches fallen, fing mich mehr schlecht als recht ab. Ein zischender Laut durch die geschlossenen Lippen, das linke Auge zugekniffen. Takuno sah mich an, stemmte sich gegen den Tauchwinkel und schaffte es zu mir. Ich entdeckte seine Tränen.
»Takuno? Was ist …«
»Keine Schraubengeräusche mehr. Torpedos haben Ziel verloren«, kam es aus dem Sonarraum.
»Danke, Sonar! Sehr gute Arbeit!«
Mühsam streckte ich die rechte Hand aus und wischte mit dem Daumen ein paar Tränen von seiner Wange.
»Die Explosion …«
Erst wusste ich nicht, was er meinte, alles ging so schnell und war offenbar doch schon so weit weg, als hätte ich es vor vielen Jahren erlebt … dann fiel es mir schlagartig ein. Die Druckwelle!
»Das kann nur der Versorger gewesen sein«, flüsterte er.
Ich sank auf den kühlen Boden und lehnte mich an.


Mitternacht war vorbei. Donnerstag, 18. April 2148, kurz vor eins.
»Unser Torpedoschuss könnte den Ausschlag gegeben haben«, erläuterte Takuno sichtlich erschöpft.
»Wie das?«, wunderte ich mich.
»Auch einen Druckwasser-Ausstoß kann man hören …«
Jelena saß neben Kazumi und presste Zellstoff auf eine Platzwunde an deren Stirn, die sie sich während des Abtauchens zugezogen hatte.
»Dann war es also mein Fehler …«, murmelte ich und legte den Kopf auf beide Hände, spürte das kühle Metall des Tisches unter meiner Nasenspitze.
»Nein«, widersprach Takuno. »Es war mein Fehler, dich nicht auf diese Möglichkeit hingewiesen zu haben … aber es hätte noch viel mehr passieren können, denn Yoon Da-Hee hat diese Falle gut aufgebaut.«
»Wir müssten Verbindung zu den Drohnen bekommen, um uns einen Überblick zu verschaffen«, schlug Max vor.
»Wir bleiben noch eine Stunde hier unten«, erwiderte Takuno. »Wie lange sind die Drohnen noch aktiv?«
»Ohne Kontakt gehen sie in den Standby und schweben … ich würde sagen, noch zwei Stunden.«
Ich hörte nur noch zu. Durch meinen Kopf rauschten die Gesichter von Kano und Aljona … Aljona und Kano … ich konnte das nicht mehr! »Ich kann nicht mehr«, sagte eine Stimme, die sich entfernt nach mir anhörte. »Ich will nicht mehr …«
»Kazumi und Max, geht schlafen«, sagte Takuno bestimmt. »Jelena, kümmere dich bitte um Kazumi. Bleib bei ihr. Bijan und Steven, setzt euch an die Schirme für die Drohnen. Ich gebe euch Bescheid, wenn wir nach oben gehen.«
Meine Tochter, fast hätte ich sie ebenso umgebracht, wie alle anderen auf diesem Boot. Die Menschen um mich herum standen auf, rutschen von der Bank, schweigend. Vielleicht hörte ich aber auch nicht mehr, was sie sagten. Takuno war noch anwesend. Seinen Duft nahm ich wahr. Er kam näher, rückte an mich heran, legte den Arm um meine Schulter, den Kopf neben meinen. Ich spürte seinen Atem am linken Ohr. Warm und ein wenig feucht. Gleichmäßig. Dann begann er mich zu kraulen, in kleinen Kreisen. Kano, Aljona, Hilario, Reto und Abiola. Nach unbestimmter Zeit zog er mich hoch, drückte mich aufrecht an die Lehne und setzte sich gegenüber.
»Warum hat Yoon das getan?« Er fixierte mich. »Welchen Sinn hatte das?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Da wird es mehrere Gründe geben, Kenzaburo. Hauptsächlich sieht sie uns oder mich als unberechenbaren Faktor, dem sie nicht trauen kann. Also muss sie uns schwächen, wo sie kann. Sie weiß, dass wir nicht so viele sind. Und nun noch weniger.«
»Und hat zwei, nein, sieben ihrer Leute mit draufgehen lassen?«
»Sie ist wie Jonna, nur auf der anderen Seite … und ich habe ihr noch die Idee mit der Blockade gegeben und den Amur erwähnt …« Takuno nickte abwesend. »Sie wird ab Mündung stromaufwärts nach den Booten suchen lassen«, fuhr ich fort. »Natürlich haben sie dieselben Unterlagen wie alle. Dass es in Komsomolsk eine Werft gab, steht ja in alten Archiven. Wir sind nur Konkurrenz, Mitwisser…«
Er schüttelte den Kopf.
»Wir haben ihr vertraut …«
»Nein, wir waren naiv.«
Takuno drückte den Knopf der internen Kommunikation. »Sonar! Lassen Sie sechs Horchbojen aufsteigen. Unterschiedliche Tiefen. Danke.«
»Was hast du vor?«
»Zunächst verschaffen wir uns einen Überblick da oben …«, er nahm sein Pad, lud eine Datei und wischte das Bild an die Wand, »dann fahren wir bis zu diesem Punkt hier …«, sein Finger zeigte auf eine ehemalige Siedlung namens Svetlaya, »starten die Tragflächendrohne und lenken sie nach Komsomolsk. Sie wird uns die exakten Koordinaten der Werft und eventueller Boote liefern. Hat sie das erledigt, lassen wir sie dem Amur folgen und suchen nach weiteren Booten …«
Ich verstand nicht so ganz, was er mir mitteilen wollte. »Und dann?«
»Dann müssen wir dafür sorgen, dass Yoon nichts mehr mit der Werft anfangen kann.« Sein auffordernder Blick sollte mich wohl motivieren. Aber dahinter lag noch etwas weniger Sichtbares, ein Flackern.
»Bist du sicher, dass es nicht einfach nur Rache ist?«
Er starrte mich entgeistert an. »Chatrina, sie töten uns, wo sie können! Auch Jelena ist in dauernder Gefahr!«
»Ich weiß, Kenzaburo …«
»Wo sollen wir denn hin? Weißt du, was sie mit den Familien meiner Besatzung machen? Was sie ihnen für Lügen über ihre Söhne und Töchter erzählen? Ich weiß es nicht, kann mir aber vorstellen, dass es nicht die Wahrheit sein wird …« Sein Kopf sackte weg, auf die gefalteten Hände, die Stirn gegen die aufgerichteten Daumen gedrückt. Was konnte ich ihm sagen? Oder allen anderen? Jelena kam zur Tür herein, sah uns, setzte sich schweigend neben mich. Wir umfassten Takunos Hände fest.
»Kazumi schläft«, murmelte sie.


Jelena weckte mich. Offenbar war ich eingedöst. Mein Nacken schmerzte. »Mama, Takuno ist in die Zentrale.« Die Uhr zeigte kurz nach drei. Mitten in der Nacht.
»Bist du nicht müde, Jelena? Leg dich doch hin …«
»Nein, ich kann nicht schlafen. Weißt du …«
Sie legte den Kopf auf meinen Arm.
»Was?«
»Johanna Peymann ist mit Kano und Aljona …«
»Das wusste ich nicht.«
»Ich mochte sie.«
Ich erwartete Tränen, eine weinende Jelena; und verlangte von mir dasselbe. Tränen. Waren wir zu erschöpft, um zu weinen? Sie drückte sich an meine Brust, schlang die Hände um mich. Unbewusst begann ich ihren Kopf zu kraulen, den Rücken zu streicheln, ganz so, als wäre ich ihr schon vierzehn Jahre die beste Mutter, hätte sie von der Hebamme in Empfang genommen. Noch ein wenig mitgenommen vom Schmerz der Geburt und doch voller Glück. Klein, schreiend, bald auf zwei kleinen Beinchen durch das Zimmer wankend. Was war noch ihr erstes Wort? Mama? Ich weiß es nicht … musste meine Tablette nehmen! Die Träume wurden langsam zur Realität, sickerten ein in die Welt um mich herum, krochen wie zäher Schlamm durch mein Leben und waren im Begriff, das Wenige zu zerstören, das ich als bedeutungsvoll empfand. Der Tisch vibrierte, die Bank, es kitzelte in meinem Hintern. Das Boot bewegte sich, kippte sanft auf die Seite, dann nach hinten.
»Jelena?«
»Hm?«
»Ich muss zu Takuno. Ich glaube, er macht Blödsinn.«
»Blödsinn?«
»Dieses Boot ist eine Waffe, Jelena. Und ich befürchte, er könnte die Kontrolle über sich verlieren.«
»Warum?«
»Aus Verzweiflung.«
»Bist du nicht verzweifelt?« Ihr Kopf kam hoch, sie richtete sich auf und drehte den Körper zu mir. Suchte meinen Blick.
»Doch. Im Moment habe ich das Gefühl, wieder in Genua zu sein, in halbdunklen Löchern voller Gewalt. Zusammen mit meinen Schwestern …«
»Ist es nicht richtig, wenn Kenzaburo sich rächen will?«
»Nein«, erwiderte ich fest. »Nein, es ist nicht richtig. Es macht uns blind für andere Möglichkeiten.«
»Aber was sollen wir denn tun? Wohin können wir? Irgendwann haben wir ja auch nichts mehr zu essen …«
»Das ist richtig. Ich werde mir was überlegen … versprochen. Jetzt geh zu Kazumi und ruh dich aus. Ich wecke dich, wenn wir eine Entscheidung getroffen haben.«
»Hast du mich lieb?«
Die Frage traf mich wie ein Geschoss. Mit Wucht. Riss mich fast von den Füßen. Verlegen kratzte ich die Narbe am Hals. »Sehr, Jelena.«
»Ich dich auch, Mama.«
Sie drückte mir einen schnellen Kuss auf den Mund, stand auf und verschwand. Ließ mich zurück mit der Stille und dem vibrierenden Boden. Langsam holte ich die Metallschachtel aus der Hosentasche und nahm eine der blauen Pillen.


»Keine Geräusche«, meldete der Sonarraum. Ich stellte mich neben Takuno. Trat leise von hinten an ihn heran und legte die Hand auf seine Schulter. »Siebenhundert Meter!«
»Führen Sie eine magnetische Erfassung durch«, ordnete er an. »Vielleicht sind Minen über uns.«
»Kenzaburo …«
»Kurs 330 Grad, 20 Knoten.«
Seine Schulter war wie festgeschraubt, steif. Ich rüttelte ihn. »Kenzaburo …«
»Kurs liegt an, Geschwindigkeit 20 Knoten«, bestätigte der Steuerstand.
»600 Meter«, meldete die Navigation. Ich beschloss zu warten und beobachtete die Anzeige des Tiefenmessers. Wir erreichten die Fünfhundert.
»500 Meter! Wassertiefe nimmt ab. Jetzt achthundert Meter.«
Takuno ließ nicht stoppen.
»Kenzaburo … wir brauchen Vorräte«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Lass uns nicht noch einen Fehler machen. Wir sind blind vor Wut und Enttäuschung. Sollen Yoon Da-Hee und Jonna doch Krieg führen. Wir können es offenbar nicht ändern. Bitte, Kenzaburo … ich liebe dich und will dich nicht verlieren …«
»400 Meter!«
Takuno drückte das Kreuz durch und atmete hörbar ein. Dann schüttelte er sachte den Kopf. »Voller Stopp! Boot auspendeln. Tiefe halten«, ordnete er an und drückte den Schalter der Bordkommunikation. »Akustischen Notfall herstellen. Ich will für eine Stunde keine Geräusche im Boot hören! Eine Telemetrie-Boje nach oben lassen.« Dann drehte er sich zu mir, griff meine Hand und drückte sie. »Komm, gehen wir zu Bijan und Steven in den Operationsraum.«
Ich nickte und folgte ihm.

Die Bildschirme liefen, zeigten das bräunliche Bild des kühlen Meeres. Takuno presste das Kommgerät ins Ohr und lauschte.
»Boje ist oben«, teilte er mit.
»Wie ist der Batteriezustand der Drohnen?«, war meine erste Frage.
»Knapp dreißig Prozent bei beiden«, antwortete Steven. Ich setzte mich hinter sie. Dreihundert Meter Höhe war auf der Anzeige abzulesen. Am nördlichen Ausgang der Bucht.
»Habt ihr schon nach … nach …«
»Nach dem Versorger gesucht«, vollendete Bijan den Satz.
»Ja.«
Er setzte die Drohne in Bewegung, Richtung Westen. Nach einem Kilometer leuchteten erste Wärmesignaturen auf. »Batterien«, erklärte er und ging tiefer. Trümmer wurden sichtbar. »Fünfundzwanzig Meter Wassertiefe. Im Falschfarbenspektrum kann man alle Trümmer erkennen. Ich behaupte, der Versorger wurde von innen heraus gesprengt.«
»Wie kommst du darauf«, wollte Takuno wissen.
Bijan zeigte mit dem Finger auf den Schirm, beschrieb einen recht großen Kreis. »Alle Teile sind mehr oder weniger innerhalb eines ziemlich kreisrunden Explosionsradius‘. Die größeren innen, die kleineren außen. Eindeutig kein Torpedotreffer.«
»Und keine Überlebenden«, murmelte ich.
»Nein, mit Sicherheit nicht. Wollt ihr die Aufzeichnung der Drohnen sehen?« Ich sah Takuno an. Wollte ich das sehen? Ich schloss die Augen. Kano und Aljona, sinnlos geopfert durch meinen Fehler …
»Gibt es denn Besonderheiten?«, hörte ich Takunos Stimme.
»Besonderheiten, nein … so weit wir erkennen konnten, tauchten acht Boote im näheren Umkreis auf, die nach der Explosion ins Zielgebiet liefen. Man hat die Trümmer untersucht, aber nichts mitgenommen. Vor einer Stunde sind alle abgezogen.«
»Yoon hat die gesamte Umgebung abgeriegelt«, mutmaßte Takuno. »Sie wollte auf Nummer sicher gehen …«
»Sie hat uns nicht«, wendete ich ein und öffnete die Augen. »Aber sie will uns. Denn wir sind eine Gefahr. Wir müssen hier weg!«
Bijan und Steven drehten sich um. »Was machen wir mit den Drohnen?«
»Nichts, Steven. Sie bleiben, wo sie sind. Wenn wir sie holen oder zu unserer Position fliegen und aufnehmen, werden wir wieder entdeckt. Vergesst also die Drohnen.« Stille. Ich versuchte mir in den Trümmern die Körper von Kano und Aljona vorzustellen. »Warum ist eigentlich nie Zeit für letzte Worte, die Chance auf einen Abschied?«, warf ich die Frage in den Raum. Niemand antwortete, weil es keine Antwort gab. Nie wirklich Zeit, um darüber nachzudenken. Am Ende drückten wir uns wohl davor. Mein Versprechen an Jelena kam mir in den Sinn.
»Wir brauchen Vorräte«, stellte ich fest. »Schalt die Bildschirme ab. Kenzaburo, bitte lass die Boje einholen … und es würde mich beruhigen, außer Reichweite ihrer Torpedos zu sein.« Er nickte und gab die Order durch. Die Displays wurden dunkel. Meine Finger krampften. Als müsste ich Kano und Aljona in einem dunklen Loch zurücklassen, lebendig begraben. Ein Loch wie das, in dem ich einmal saß und glaubte, niemals wieder das Licht zu sehen.
»Wir laufen südlich in eintausend Meter Tiefe mit zehn Knoten vor die japanische Küste. In diesen vierundzwanzig Stunden werden wir uns erholen. Danach geht es zwischen Honshu und Hokkaido in den Pazifik.«
»Danke, Kenzaburo.« Ich drückte Steven und Bijan die Schulter. »Legt euch hin. Ruhepause bis morgen früh um 0500. Duschen, schlafen, essen.«


Ich hatte mir von Takunos Sanitäter eine Schlaftablette geben lassen und wurde kaum wach. Schlaftrunken rannte ich gegen den Tisch, fluchte, stakste weiter und stieß mit den Zehen gegen den Türrahmen zur Duschkabine. Ich blickte zu Jelena, aber die hörte nichts, atmete still vor sich hin. Vielleicht reagierte die Schlaftablette mit den Psychopharmaka … Ich schaffte es in die Dusche und versuchte an den Schlaf zu denken. Nichts. Kein Traum. Obwohl ich die Bilder spürte, direkt hinter einer undurchsichtigen, aber dünnen Wand. Das war meine letzte Schlaftablette, nahm ich mir vor und stellte das Wasser an. Ich hatte noch eine Stunde Zeit.

Freitag, 19. April 2148. Fünf Uhr. Außer der Notwache waren alle auf dem Boot in der großen Messe versammelt. Takunos Leute ebenso wie meine. Ich gähnte ausgiebig und trank einen großen Schluck Algentee, stellte mich hinter die Kühltheke und blickte in den Raum. Neunundzwanzig junge Menschen. Bis auf Takuno und mich, die sich sehr alt vorkam.
»Wir alle haben gemeinsame Bedarfe und Bedürfnisse«, begann ich. »Nennt mir mal gemeinsame Bedarfe, bitte.«
»Lebensmittel, Trinkwasser«, sagte ein junger Mann. Ich nickte. »Duschen, frische Luft«, ein anderer. »Ausreichend Schlaf«, ein Dritter.
»Und Bedürfnisse?«
Es dauerte einige Momente.
»Meine Familie.« Ich entdeckte den noch sehr jungen Mann hinter Max.
»Da stimme ich dir ganz zu. Ihr wisst alle, was Jonna Andersen für diejenigen plante, die das Boot verlassen wollten, um zu ihren Familien zu gelangen. Und was Yoon Da-Hee mit unseren Kameradinnen und Kameraden getan hat, als wir ihr helfen wollten, das zu geben, was sie braucht, um Jonna ebenbürtig zu sein. Beide führen Krieg oder haben zumindest damit angefangen, gegenseitig Inseln und Boote zu versenken.« Ich ließ einige Sekunden verstreichen. »Ich werde jederzeit und gerne die Verantwortung für alle hier übernehmen und versuchen, mein Bestes zu geben, um uns aus dieser Lage zu bringen. Wer uns jedoch verlassen möchte, kann das tun. Sie oder er muss wissen, dass es keine einfache Heimkehr geben wird. Ich bin mir sicher, dass Jonna oder Yoon bereits warten, um alles an Informationen herauszuquetschen; egal wie. Und ich wette, die Familien sind auch unter Beobachtung. Da dürfen wir uns nichts vormachen. Wer trotzdem von Bord möchte, wird das im Laufe der nächsten Stunden tun können und darf sich bei Takuno melden.«
Ich ging um die Kühltheke herum und stellte mich direkt vor die Gruppe, sah in die Gesichter. »Für den Rest von uns bleibt nicht viel. Wir können momentan nirgendwo hin. Deswegen liegt unser primäres Ziel auf dem Organisieren von Vorräten. Dazu werden wir einen Händler aufsuchen, der etwas außerhalb der Routen liegt. Ich bin sicher, wir finden etwas im entsprechenden Zeitrahmen. Über das weitere Ziel werde ich euch informieren, sobald Takuno und ich mehr Informationen haben.«
Ich nickte allen zu.
»Und jetzt möchte ich mich noch bei euch bedanken. Dem Angriff auf uns zu entkommen, war sehr gute Arbeit. Ich bin stolz darauf, mit euch unterwegs zu sein. Jetzt geht bitte wieder an eure Arbeit.« Ich drehte mich zur Theke, trank den Teebecher leer, aß zwei Algenrollen. Gemurmel hinter mir. Türenklappern. Dann Ruhe. Nur noch Takuno und meine Leute waren im Raum.
»Max, darf ich bitte die Karte an der Wand sehen?«, hörte ich Takuno sagen und war gespannt, ob er ein paar Ideen hatte, die unsere Lage verbesserten. Auf der Seitenwand der Messe leuchtete die Karte des Seegebietes auf, in dem wir uns befanden. Takuno stellte sich davor.
»Mir ist etwas sehr Unangenehmes aufgefallen, und wäre ich Yoon, täte ich genau das.«
»Was?«, wollte Steven wissen. Mit dem Finger zeigte Takuno uns fünf Punkte.
»Das Japanische Meer hat fünf Ausgänge. Im Norden die Tatarenstraße. Zu flach, um sicher durchzufahren. Dann zwischen Sachalin und Hokkaido. Dort sind wir in die Falle gegangen. Im Süden die Koreastraße, bis einhundert Meter Wassertiefe, aber zweihundert Kilometer breit. Dann zwei kleinere Durchfahrten. Zwischen Honshu und Hokkaido, unterschiedliche Wassertiefen, aber nie unter 250 Meter. Zwanzig Kilometer breit. Und als letzte Möglichkeit die Kammon-Straße bei Kitakyūshū. Dort sitzt einer der größten Handelsclans im Pazifik. Für einen guten Deal würde er sicher eine Menge Torpedonetze spannen.«
Bijan sprang auf, stellte sich neben Takuno und starrte auf die Karte. »Du willst sagen, wir kommen nicht mehr hier raus?«
»Ich will sagen, dass wir mit Schwierigkeiten rechnen müssen.«
Wir schwiegen, sahen uns an. Vielleicht sogar verlegen, weil niemand imstande war, eine funktionierende Lösung aus dem Hut zu zaubern. Ich stellte den leeren Becher in den Automat und drückte einen zweiten Algentee, etwas stärker dieses Mal. Vorsichtig trug ich ihn zu Takuno und Bijan, schlürfte von dem heißen Getränk. »Takuno … dieses Boot ist nicht zu orten, hast du gesagt. Weder mit magnetischer Erfassung noch über Schraubengeräusche, da es hydrodynamisch fahren kann. Die einzige Möglichkeit uns zu finden, ist es, wenn wir Lärm machen und der Gegner mit einem aktiven Sonar pingt, nicht wahr?«
»So ist es, Chatrina. Nach dem Torpedoschuss erfolgte der Ping.«
»Wie viele Kilometer sind es bis zum tieferen Pazifik?«
Er deutete mit dem Finger einen ungefähren Kurs an.
»Vom Abbruch des Festlandsockels … durch die Koreastraße und die Inselgruppe südlich von Kyushu … etwa eintausend Kilometer.«
Ich nickte, blickte zu Steven, Max, dann zu Kazumi auf der Bank, die mit dem Finger über ihr Pflaster auf der Stirn strich.
»Das Boot schafft siebzig Knoten …«, stellte ich für mich fest und rechnete. Takuno war schneller.
»In acht Stunden sind wir in der Philippinensee«, kam er mir zuvor. »Allerdings darf uns bei siebzig Knoten nichts im Weg stehen. Je schneller, desto mehr Strecke benötigen wir für eine Kursänderung. Das Boot ist nicht gerade klein …«
»Ja«, gab ich ihm recht, nahm einen großen Schluck und wunderte mich über den guten Geschmack. »Wir werden ein wenig Glück brauchen. Also auf, nichts wie los! Vielleicht braucht Yoon die meisten Boote doch, um gegen Jonna vorzugehen …«
Alle nickten. Takuno verließ schweigend die Messe. Ihm war nicht wohl bei diesem Vorgehen, das wusste ich. Und ich konnte nicht behaupten, keine Angst zu haben. »Wir müssen hier weg. Je schneller, desto besser. Das Boot und Takunos Erfahrung sind unsere beste Chance«, beendete ich laut meine Gedanken, setzte mich zu Kazumi an den Tisch.
»Jetzt machen wir einen Plan, um an Vorräte und Informationen zu kommen.« Im Boden waren deutliche Vibrationen zu spüren. Wir nahmen Geschwindigkeit auf, legten uns leicht auf die Seite. Der Teebecher neigte sich. »Was uns am meisten Probleme bereitet, sind fehlende Informationen. Wir wissen nicht wirklich, was vor sich geht …«, stellte ich fest. »Besonders seit der Trennung der Konglomerate. Die Nachrichten sind verschlüsselt.« In meinem Ohr juckte es und ich kratzte mich, spürte die kleine Narbe darin. »Große Probleme können uns Unfälle oder Krankheiten bereiten. Von ausgebildetem medizinischen Personal sind wir komplett abgeschnitten. Aber denken wir zuerst an Informationsbeschaffung. Bisher haben wir unsere Informationen immer aus Spitzbergen bekommen …«
»Das könnten wir auch weiterhin«, unterbrach Max. »Der Nachrichtenaustausch zwischen Inseln und Gruppen stünde uns zur Verfügung, wir müssen sie nur abgreifen.«
»Unter Wasser?«, merkte Steven zweifelnd an.
»Nur, wenn die Nachricht an uns gerichtet wäre. Aber die Kommunikation läuft nach einem gewissen Schema ab. Wir können alles abfangen, wenn wir eine Feststation anzapfen. Dann lassen wir eine Boje nach oben, rufen die Informationen ab und sind wieder weg«, erläuterte Max.
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, weil es bisher völlig uninteressant war, nebensächlich. Max hatte recht. Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Gute Idee, Max! Es gibt Inseln mit automatisierter Kommunikation. Sie machen nichts anderes, als eingehende Signale zu verstärken und weiterzuleiten. Erstellt uns bitte eine Liste dieser Inseln.«
Kazumi hob die Hand. Ich nickte ihr zu, versuchte in ihrem Blick so etwas wie Trauer zu entdecken. Ob sie Kano gestanden hatte, was für Gefühle in ihr steckten, wusste ich nicht. Sie war schweigsam, wesentlich schweigsamer als üblich. In Kazumi brannte es. Da war ich mir sicher. Aber wie konnte ich ihr helfen?
»Handelsposten«, sagte sie mit einem Wort. »Reto hat einmal von Valparaíso erzählt. Der dortige Handelsclan verhielt sich immer feindlich. Es gäbe wohl nur noch wenige Male im Jahr Besuche der Ressourcenbeschaffung. Ein Versuch ist es wert …«
»Was meinst du genau mit ‚Versuch‘?«, wollte ich wissen.
»Wir nehmen Kontakt auf, bieten etwas sehr Wertvolles an. Sie nennen uns den Tag, an dem das Ressourcenteam kommt. Das kapern wir dann.«
Wir sahen uns an. Reto und Valparaíso … ich erinnerte mich. »Ja, ich erinnere mich. Reto und ich wurden damals in eine neue Einheit integriert und waren zuständig für die süd- und mittelamerikanischen Häfen … sind ja nicht so viele. Javier Gabriel Gimenez hieß der Clanchef … ein unangenehmer Mensch.«
»Wie lange ist das her, Chatrina?«, fragte Steven vorsichtig. »Wer weiß, ob es diesen Kerl noch gibt?«
»Wir werden sehen. Gut gemacht, Kazumi. Eventuell erfahren wir durch Abhören der Kommunikation etwas mehr, ansonsten fragen wir ihn direkt.« Ich stand auf und stellte mich neben den Tisch. »Kommt mal bitte zu mir.« Steven, Max, Bijan, Kazumi … ich hob die Arme, streckte die Hände aus, sie taten es mir gleich und bildeten einen Kreis.


»Kommunikation nur mit den Headsets«, ertönte Takunos Stimme aus den Bordlautsprechern. »Geht durch das Boot und sichert alles, was herumsteht. Ich will nichts fallen hören. Macht klar Schiff! Ihr habt dreißig Minuten! Danach nur noch Notbesatzung in der Zentrale, alle anderen in die Kabinen. Verhaltet euch still bis ich Entwarnung gebe. Werden wir getroffen, sucht die Rettungskapsel in eurer Abteilung auf und achtet immer auf eure Nebenleute! Takuno Ende.«
Ich lehnte mich an die Wand, zog Jelena vor mich und klemmte sie zwischen meine Beine. Dann arretierte ich den seitlichen Rahmen.
»Du vertraust Kenzaburo voll und ganz, nicht wahr?«
Ich pustete in ihre blonden Haare, musterte den Wirbel. Sie wurden immer länger, sicher schon zehn oder zwölf Zentimeter …
»Mama?«
»Hm?«
»Hast du gehört, was ich gefragt habe?«
»Pst, leise. Nur Flüstern. Ja, ich habe es gehört … du hast recht. Er ist der beste U-Boot-Kommandant, den ich in zwanzig Jahren getroffen habe …«
»… und du liebst ihn.«
»Und ich liebe ihn.« Durfte ich ihr Ohr kraulen? War das angemessen? Wäre ich doch nur jemals Mutter geworden …
»An was denkst du?«
»Ich hatte plötzlich den Drang, dein Ohr zu streicheln, aber ich weiß nicht, ob das nicht ein Schritt zu weit geht …«
»Was meinst du mit ‚ein Schritt zu weit‘?«
Das Boot stieg steil nach oben. Die Schwerkraft drückte uns gegen die Wand. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meiner rechten Schulter aus. »Ich weiß nicht genau … du wirst bald fünfzehn, siehst schon aus wie eine erwachsene Frau und verwechselst vielleicht die Formen von Zärtlichkeit, die es gibt …« Jelena boxte ihren Hinterkopf zwei Mal gegen mein Brustbein und kicherte.
»Ich verstehe. Du hast Angst, dass ich mich in dich verliebe oder du dich in mich …«
»Hm.«
»Hast du dich schon mal in eine Frau verliebt?«
Ich räusperte mich so leise wie möglich. Mutter sein war in der Tat nicht einfach.
»Du bist es nicht gewohnt, dass dir jemand solche Fragen stellt. Ich sehe schon …«
Scheiß drauf, dachte ich und fuhr mit dem Daumen über den Rand ihres linken Ohrs. »In einige Frauen. Vielleicht vier oder fünf, aber meistens war es mehr eine Affäre …«
»Also Sex?«
Ich drückte den Mund in ihren Blondschopf und atmete tief ein. Da war Neid in mir auf Jelenas wirkliche Mutter. Sie geboren zu haben, musste wunderbar gewesen sein. »Das klingt zu technisch. Nein, nicht nur Sex. Gefühle, Jelena. Ich war süchtig nach diesen Gefühlen. Nach Menschen, die mich liebten, respektierten, befriedigten und küssten. Nicht nur benutzten und achtlos in der Ecke liegen ließen …« Es war deutlich zu spüren, wie das Boot an Geschwindigkeit zunahm. Selbst durch die Matratze hindurch. Jelena schwieg. Sicher erinnerte sie sich an meine Erzählung. »Nur eine Frau habe ich wirklich geliebt, Abiola Igbinedion, eine Afrikanerin. Du hast sie nicht kennengelernt … leider. Sie starb mit den vielen Menschen auf Gruppe 25.«
»Wie war sie?«
»Hm … wie war Abiola? Sie war sehr klug, groß, schlank und sehr schwarz mit intensiven, weißen Augäpfeln und … ich glaube, das Schwarz ihrer Pupillen war noch eine Ecke dunkler als ihre Haut. Sie war für mich so was wie ein Sehnsuchtsort … und das war auch das Problem.«
»Das musst du mir erklären.«
»Ich habe geklammert. Wollte sie nicht mehr loslassen. Abiolas zweiter Vorname aber war ‚Freiheit‘. Ich glaube, deswegen wurde sie auch unser Ghost …«
»Euer was?«
»In jeder Polizeieinheit gibt es eine Kundschafterin oder einen Kundschafter. Losziehen, alles aufklären und dabei nicht gesehen werden, wie ein Geist … und Abiola war die Meisterin.«
Jelena legte ihre Hände auf meine Knie. »Du vermisst sie, stimmt’s?«
Ich schluckte die Tränen hinunter. Wo kamen die so schnell her? »Jeden Tag, Jelena. Und alle anderen auch. Manchmal meine ich, verrückt zu werden. Ich will sie wieder haben. Sie sind meine Familie …«
»Pst, Mama, leise reden, denk dran. Und nimm mal das andere Ohr. Das hat es auch nötig.« Ich musste grinsen, kichern wie … wie eine Freundin? Oder eine Schwester? Achtunddreißig Jahre war ich alt und hatte so wenig Ahnung vom wirklichen Leben.
»Ich würde auch verrückt, wenn ich dich nicht mehr hätte. Und Takuno … und Kazumi, na, und all die anderen …« Ich küsste vorsichtig ihren blonden Haarwirbel. Ein dröhnender Hammerschlag traf das Boot, drückte sich durch die ganze Kabine. Jelena wurde steif wie ein Stück Metall. Ein zweiter Schlag, von der anderen Seite.
»Was …!«
Aus einem Reflex heraus presste ich die Hand auf ihren Mund. Sie redete trotzdem weiter, drehte den Kopf und sah mich mit aufgerissenen Augen an. »Aktiver Sonar«, flüsterte ich und dachte an Takuno. Ein eigenartiges Rumoren kam von vorne. Die Kabinen lagen im Vorschiff. Das Boot kippte stark zur Seite, richtete sich wieder auf. Fast meinte ich, wir gingen nach oben. Zumindest gluckerte es ähnlich. Ich deckte Jelena und mich zu, sah ihr in die Augen, streichelte Schläfe, Gesicht, sprach dauernd auf sie ein und meinte auch mich. Takuno, ja, Takuno würde das Richtige tun! Er war besser als alle anderen und dieses Boot ein Wunder … das Geräusch einer Hydraulik, wie ein Schott. Dann ein lautes, anschwellendes Rauschen, fast explosionsartig. Jelena schrie. Dasselbe noch mal, ein Ruck drückte das Boot für einen Atemzug nach unten.
»Mama!«, rief Jelena.
Noch ein Hydraulikschott? Wieder der Ruck, das explosionsartige Rauschen. Ein weiterer Ping traf uns. Von vorne? Nein, ein Dauerpingen, alle paar Sekunden. Er kam näher … ein Torpedo auf der Suche! Das Boot kippte nach vorne. Inmitten der Kakophonie dachte ich an Kano und Aljona, ihre toten Körper in der Japansee. Dann fiel der Ping zurück, wurde leiser … und erneut ein Ruck, das fauchende Geräusch. Etwas verließ den Bootskörper rasend schnell. Ich wusste plötzlich, was es war. Takuno feuerte Marschflugkörper ab. Ich drückte Jelena an mich, hielt die Luft an. Wie heiß es unter der Decke wurde. Eine mächtige Faust riss uns von der Matratze, gegen den Rahmen. Ein zweites Mal. So gut es ging, klammerte ich die Hände um diesen schmalen Körper, ignorierte den Schmerz im Handgelenk. Das konnten nur zwei Explosionen gewesen sein. Die dritte kam. Mit einer ungeheuren Lautstärke und einem rasanten Kurswechsel. Als wäre die Welt in einer neuen Schräglage, drückte uns diese massive Kraft an die Wand. Dann senkte sich der Bug deutlich nach unten. In die Tiefe. Ich sehnte mich nach der Tiefe. Vor der ich solche Angst hatte und die hoffentlich unsere Rettung würde.


Ich zwang mich zu einer Bewegung. Finger, eine Hand, den Fuß. Irgendetwas. Nur bewegen wollte ich mich. Jelena atmete abgehackt, ungleichmäßig. Wie ich. Die Panik im Kopf, im Bauch. Langsam ließ die Lähmung nach, die Stille war unheimlich.
»Ist es vorbei?«, hörte ich sie flüstern.
»Ich weiß nicht. Lass mich nachsehen …« Mit einem Griff senkte ich den Gitterrahmen, schob einen Fuß über die Kante. Jäh wurde er zurückgerissen. Jelenas Beine klammerten.
»Lass mich nicht alleine, Mama …«
»Komm einfach mit. Wir gehen zusammen.«
Ihr Kopf rieb an meiner Brust. Ein Nicken. Wir standen auf. Alles noch so, wie ich es in Erinnerung hatte. Keine Löcher in den Wänden, kein Wasser … wir lebten!
»Komm, Kleines …«
Nur zwei Meter bis zur Tür, die sich problemlos öffnen ließ … Natürlich, du Idiotin, schalt ich mich selbst. Niemand auf dem Gang. Rechts das Schott, ein grünes Licht an der Kontrolltafel. Kein Verschluss mehr. Ein Klick gegenüber. Kazumis Tür schwang langsam auf. Ein Häufchen Elend stand im Rahmen. Zitternd. Jelena drückte sich an mir vorbei, umschlang Kazumi, deren Beine im selben Moment nachgaben.
»Schnell! Mama!«
Ich packte beide und zog sie auf den Gang, stützte links, Jelena rechts. Seitwärts gehend stolperten wir zum Schott, das sich auf Knopfdruck öffnete, zischend in die Wand fuhr. Am Sonarraum vorbei, zwei Menschen darin, der junge Mann murmelte, die Frau angelehnt, den Blick starr nach oben. Kommunikation rechts, niemand drin. Dann die Zentrale. Takuno stützte sich am Periskop ab. Steuerstand und Navigation leer, nein, Füße auf dem Boden. Als wir uns näherten, entdeckten wir, dass niemand mehr stand oder auf einem der Sitze saß sondern auf dem Boden lag, manche an die Konsolen gelehnt. Wie fortgespült aus ihren Positionen. Takuno hörte uns, drehte sich. Sein Blick so still wie die Zentrale. Lichter, Anzeigetafeln, Hologramme und endlich öffneten sich meine Ohren für andere Geräusche. Ein Piepen, kurz und schnell, zweimal etwas wie ein ‚Klick‘, jemand hustete. Schluchzte?
»Da weint jemand«, sagte Jelena. »Ich sehe mal nach …«
Sie verschwand an den Steuerstand. Vorsichtig setzte ich Kazumi auf einen Reservesitz am Kartentisch und mich auf den zweiten daneben. Takunos Augen folgten uns. Wir hörten Jelena flüstern. Sie tröstete. Ich drückte Kazumi an mich, kraulte ihre Haare. Ich lächelte als Kenzaburo das Käppi abnahm. Auf der Tiefenanzeige des Steuerstands blinkte eine Zahl. 1300 Meter. Geschwindigkeit dreißig Knoten. Kurs angelegt auf 110 Grad. Mit den Lippen formte ich einen Kuss und schickte ihn zu Takuno.


»1.300 Meter sind in der Tat kein Problem für dieses U-Boot«, sagte Takuno voller Bewunderung. »Man kann von Jonna halten, was man will, aber da hat sie ein technisches Meisterwerk geschaffen. Ich bezweifle, dass die unbekannten Boote all diese Möglichkeiten haben …« Seine Augen leuchteten wie zwei Scheinwerfer im Nebel. Durch und durch ein Seemann, amüsierte ich mich. Betrachtete man es nüchterner, schälte sich ein anderes Vorhaben heraus.
»Es ist für einen bestimmten Zweck gebaut, Kenzaburo. Überlegenheit. Und zwar nicht über die Handelsclans oder die armen infizierten Teufel auf dem Festland …«
»Ich weiß ja«, nickte er, atmete tief ein und setzte sich gegenüber. Ich nahm die Tablette und trank einen Schluck Elektrolyt.
»Wie viele hast du noch?«
»Nur noch eine.«
Er rieb die Nase. »Okay, ich lasse nach der Pause neue synthetisieren.«
»Danke.«
Wir schwiegen und sahen uns an. Der Zweck ging mir nicht aus dem Kopf. Überlegenheit, wie ich es nannte. Überlegenheit … über was? Yoon Da-Hee? Khaled Hamza? Die zwei anderen Konglomerate? Über die Menschen?
»Kenzaburo?«
»Hm?«
»Nach der Besprechung möchte ich, dass das Implantat aus meinem Unterarm entfernt wird. Sag deiner Sanitäterin Bescheid.«
Er musterte mich mit einem Stirnrunzeln. »Kein Problem. Aber verrat mir, was dir im Kopf rumgeht.«
»Ist nur so ein Gefühl …«
»Dass man dich über das Implantat orten kann?«
»Das nebenbei auch, nein … ich meine etwas anderes.«
»Jetzt bin ich aber gespannt.«
Ich versuchte die Gedanken zu fassen. Der Tisch vor mir wurde durchsichtig, mein Blick glitt in eine Ferne, die doch in meinem Inneren lag. Als wandelte ich auf meiner eigenen Oberfläche. »Ich glaube, vor einigen Jahren, entstanden unterschiedliche Gruppierungen. Unabhängig voneinander. Es gab da jene, die wieder aufs Festland wollten, aber nichts voneinander wussten. Eine Gruppe besaß Wissen über technisch-genetische Möglichkeiten, um etwa die Nahrungsmittelproduktion zu gewährleisten …«
»Du denkst an das Institut und deren Forschungen …«
»Genau. Semjonowa gehörte vielleicht zu dieser Gruppe oder führte sie sogar an.«
Er rieb sein Kinn. »Hm, es ging also dann nicht um Leben im Ozean sondern auf einer eigentlich lebensfeindlichen Umgebung wie der Antarktis. Nur Felsen, kein nutzbarer Boden … dann vielleicht in unterirdischen Anlagen wie auf Spitzbergen?«
»Zum Beispiel«, nickte ich. »So kann man extremen Wetterbedingungen trotzen und muss nicht dauernd ab- und auftauchen. Die Ressourcen für eine Insel kann man sinnvoller in unterirdischen Anlagen verwenden …«
»Die man aber erst mal in den Fels sprengen müsste …«, gab er zu bedenken. »Und die Boote? Die Werft am Amur?«, hakte er nach.
»Ich denke, dass die Antwort auf Insel 64 zu finden ist.«
Takuno runzelte die Stirn.
»Wie kommst du da drauf?«
»Auf dieser Insel muss etwas sein, das es woanders nicht gibt. Gruppe 25 zähle ich inzwischen weitgehend zu Semjonowas Leuten und die Babys als Opfer einer über Jahre irgendwo stattfindenden Suche nach reproduzierbarer Immunisierung oder genetischer Anpassung an ein extremes Leben auf dem Festland …«
»Ist ja furchtbar.« Er schüttelte sich.
»Oder beides. Dann jedoch passierte auf Insel 64 etwas. Im Laufe der Monate sonderten sich die Menschen ab, auch verwandtschaftlich. Sie planten ihren Exodus. Diese unbekannten Boote waren nicht einverstanden mit dem was auf Gruppe 25 passierte, hofften aber ebenso auf Insel 64, aber nachdem die verschwand, mussten alle Mitwisser auf den Meeresgrund …«
Takuno kratzte sich am Kopf. »Und Jonna?«
»Jonna hat einen guten Riecher. Sie bekam früh Wind von diesen Abtrünnigen, vielleicht auch vom Besorgen alter U-Boot-Pläne und Gentechnik. Sie gab uns Hinweise, um für sie die Suche durchzuführen. Schon länger aber rüstete sie insgeheim auf, wohlwissend, dass ein Zeitpunkt der Entscheidung unweigerlich kommen wird. Ich glaube auch nicht, dass ihre Spionagetruppe nur aus zehn Leuten bestand oder besteht. So naiv und unvorsichtig ist sie nicht.«
»Das Implantat?«
Ich musste grinsen. »Ja, das Implantat besitzen nur die Leiterinnen und Leiter der Polizeieinheiten. Augen und Ohren überall …« Ich legte beide Arme auf die Lehne der Bank und streckte mich. »… aber vor allem war ihr klar, dass nur technische Überlegenheit sich auszahlte in dieser reduzierten Welt. Und wenn ich es mir recht überlege …« Ich schwieg. Der Gedanke war fürchterlich. So weit weg von meiner Realität und doch in Jonnas Logik naheliegend.
»Meine Güte, Chatrina, du wirst ja ganz bleich …«
»Jonna war besorgt um die nicht kontrollierten und auch nicht vernichteten Atomwaffen, von denen wir aber annahmen, sie wären sowieso nicht nutzbar für die Infizierten, die gerade genug damit zu tun haben, einen weiteren Tag zu überleben. Und die Handelsclans sind auf unsere Medizin angewiesen. Irgendwann ließ man diese Gefahr einfach da, wo sie in aller Ruhe vor sich hin rostete. Jonna teilte mir in einem Nebensatz mit, dass sie Polizeieinheiten zur Vernichtung der noch verfügbaren Waffen abstellte …«
Takuno bekam große Augen. »Und du meinst …«
»Ich traue ihr das zu. Stell dir vor, ein Gefechtskopf auf einem Marschflugkörper …«
Takuno richtete sich auf, zog das Käppi ab und warf es auf die Tischplatte.
»Scheiße«, fluchte er.
»Das Wort habe ich bisher noch nie von dir gehört.«
»Diese Dinger haben uns das Leben gerettet …«
Ich legte die Hand auf sein Handgelenk, fuhr mit den Fingern in den Ärmel der Uniform, kraulte den Unterarm. Er seufzte, schloss die Augen. Ich dachte an die vergangenen Monate. Wir mussten Insel 64 finden. »Sag mal Kenzaburo, was ist das Wichtigste in unserem Leben? Was brauchen alle Inseln, alle Konglomerate, was kann uns das Leben retten und uns sterben lassen, wenn wir es nicht haben?«
Er atmete tief ein, ließ die Augen zu. »Das ist nicht schwer zu beantworten. Trinkwasser, Sauerstoff. Ohne Trinkwasser sind wir in drei Tagen tot.«
»Und wie machen wir das Trinkwasser?«
»Recycling, Filtration, Entsalzung.«
»Wie machen wir Sauerstoff im Boot?«
»Elektrolyse.«
Ich nickte langsam. »Und was benötigen wir, um beides am Laufen zu halten?«
Er stutzte, öffnete ein Auge, kniff das andere mehr schlecht als recht zusammen.
»Energie …«


Ich stand zum ersten Mal im Maschinenraum eines U-Bootes. Takuno zeigte mir eine Schemazeichnung. Innerhalb einer doppelwandigen Außenhülle, deren innere Struktur wabenförmig aufgebaut war, lagen drei Röhren. Zwei oben, eine darunter. Das Maschinen- und Batteriedeck.
»Das Boot wartete ja nicht in der Werft, sondern auf Reede«, erwähnte er beim Schottdurchgang in den nächsten Raum. »Einen Stapellauf habe ich bei diesem nicht mitgemacht …«
»Wir wissen ja, warum. Weil es in Resolute Bay gebaut wurde.«
»Ja … aber wie bei Boot 12651 gibt es auch hier keine Techniker mehr, keine Maschinenführer. Lediglich auf der Brücke existiert noch ein Leitstand. Antrieb und Stromversorgung laufen autark …«
»Und was ist der Grund für die Bauweise?«
Er bückte sich unter einem Kabelbaum durch.
»Die Lebensrettung … wir sprengen die Antriebseinheit ab, die einzelnen Röhren sind segmentiert und dienen als Rettungskapseln. Batterien und Antrieb sind unnötig …«
»Dein altes Boot besaß wie Insel 64 und die neuen Copter eine neue Art Batterie …«
»Feststoffbatterien aus Natrium …«
»Wie werden diese Batterien wieder aufgeladen?«
»Durch Hochleistungsgeneratoren in den Tauchzellen …«
»Kann man die Eintrittsöffnungen an der Bordwand erkennen?«
»Ja, natürlich. Man muss sie ja auch reinigen können, falls Algen sie zusetzen. Denk an Brest …«
»Und hat die Neptun auch diese Ladetechnik?« Beim Erwähnen des Bootsnamens musste er lächeln.
»Also auf dem Leitstand sehe ich den Ladezustand der Batterien und den Ladestrom. Alles wie immer … aber, wie gesagt, das ist ein autarkes System.«
»Wenn wir das nächste Mal auftauchen und die Ruhe haben, werden wir das kontrollieren.«
»Okay, wie du meinst, aber ich verstehe nicht so wirklich, auf was du hinaus willst …«
»Ich habe bisher nur gehört, dass man dir dieses Boot übergeben hat, du eingewiesen wurdest in seine Fähigkeiten, aber dein Wissen über die Stromversorgung ist noch vom alten Boot …«
Er überlegte eine Weile und zog kurz eine Schnute. Ich musste ihn küssen, löste mich aber sofort wieder. »Ähm, ja, das Wichtigste waren Tauchtiefe und Geschwindigkeit … und der Einsatz der Marschflugkörper. Der Rest ist wie gehabt.«
»Tauchtiefe wird durch die Konstruktion und die Materialien ermöglicht, Marschflugkörper erklären sich von selbst, denn das ist Technik des 20sten und 21sten Jahrhunderts. Bleibt die Geschwindigkeit … ein magnetohydrodynamischer Antrieb sagtest du …«
»Die Funktionsweise kann ich dir nicht genau erklären, aber Strom erzeugt Ionen die mit einem Magnetfeld ausgestoßen werden. Es arbeitet mit widerstandsfreien Supraleitern.«
»Das braucht sicher jede Menge Strom, vor allem bei diesen Geschwindigkeiten.«
»Hm, ich weiß, auf was du hinaus willst … dass es hier im Boot noch eine andere Stromquelle geben muss, nicht wahr?«
»Möglich … jedenfalls müssen wir diese Gemeinsamkeit finden, nach der alle suchen und dafür massenweise töten. Jetzt aber planen wir zuerst die weiteren Schritte.« Bevor ich mich in den Gang drehen konnte, zog er mich an sich. Neben einem Kabelbaum, einem singenden Metallblock und schrecklich grellen LED-Lampen spürte ich seine Lippen an meinem Hals, auf der Narbe, deren Herkunft mich fast das Leben gekostet hätte.


»Ich würde gerne wissen, was passiert ist«, erklärte Steven.
»Warum? Wir sind …«
Ich hob die Hand. Bijan schwieg. »Schon gut, Bijan. Ich kann Steven verstehen. Vielleicht hilft es uns. Ich zumindest hatte eine fast schon unmenschliche Angst … gefangen in so einer Stahlröhre, kein Entkommen möglich …«
Takuno verstand den Wink und berichtete in kurzen Worten vom Zusammentreffen mit einer Gruppe Boote, Versorger dabei, wohl auf dem Rückweg von einer Ressourcenbeschaffung in Korea. Zufall oder Schicksal, wie auch immer. Zwei weitere Versorgergruppen und drei Dockinseln folgten in kurzem Abstand.
»Sie waren ebenso überrascht wie wir«, vermutete Takuno. »Trotzdem waren es sechs torpedofähige Boote, die eine Angriffsformation bildeten, und das von vorne. Wir fuhren in Periskoptiefe, keine achtzig Meter Wasser unter uns. Eine sehr unangenehme Situation.«
»Und diese Marschflugkörper?« Ich versuchte in Stevens Gesicht eine Regung zu erkennen, denn in seinem Ton schwang etwas Aggressives mit, ein Nichteinverständnis mit dem, was passiert war.
»Ich …«, Takuno stockte, »… ich habe noch nie eine solche Waffe abgefeuert. Bisher existierte sie nicht in unserem Arsenal. Mein Ziel war es, abzulenken und sie wissen zu lassen, dass wir nicht kampflos aufgeben werden …«
Max beugte sich vor zu Stevens Nacken. »Was ist mit den Torpedos, die sie auf uns abgefeuert haben? Wäre es dir lieber gewesen, getroffen zu werden?«
Steven drehte den Kopf, starrte Max an, stand ruckartig auf und trat zur Seite raus. »Ich will nur wissen, was passiert ist! Ob es keine andere Möglichkeit gab …«
Takuno zog das Pad, wischte eine Aufnahmesequenz an die Wand. Die Neptun bewegte sich einige Meter unter der Wasseroberfläche. Auf dem Vordeck öffnete sich eine Klappe. »Ich bin nicht stolz darauf«, murmelte er, »Im Kopf sitzen eine 180-Grad-Kamera, Infrarot und Bodenradar. Wir können sehen, was der Marschflugkörper sieht.«
Das Bild wurde schlagartig grell, dann hellrot, aus dem blauen Wasser wurde weiße Gischt. Das Bild hob sich aus dem Schacht empor und stand für einen winzigen Moment still. Ein zweiter Feuerball blähte sich auf und es ging rasant in die Höhe, dann in eine Kurvenbahn. Nach sekundenlangem Flug blickten wir auf eine kleine Dockinsel. Der Flugkörper senkte sich Richtung des irrwitzig schnell näherkommenden Zieles. Es wurde größer und größer … der letzte Feuerball folgte und zerstörte in derselben Zehntelsekunde die Kamera.
»Scheiße …«, entfuhr es Steven. Er verließ den Raum. Bijan war im Begriff aufzustehen. Ich bedeutete ihm mit dem Kopf, sich wieder zu setzen.
»Du hast drei Mal gefeuert? Alle drei Inseln?«, fragte ich.
Takuno setzte sich. »Alle drei … ich habe einen Fehler gemacht«, gestand er. »Die Marschflugkörper sitzen zu dritt in einem Wechselrahmen und dieser in einem Startzylinder. Es gibt einen Start pro Zylinder oder einen pro Flugkörper. Ich hab den Zylinder ausgelöst.«
»Und wie suchen sie die Ziele aus?«
»Unterschiedlich«, sagte er mit schwacher Stimme. »Eine fixe Koordinate, ein Vergleichsbild oder – wie in diesem Fall – gelenkt, aber die anderen folgen der ersten ohne erneute Eingabe. Fällt das Ziel weg, folgt ein Alternativziel, in dem Fall gemäß des Vergleichsbildes. Eine Dockinsel gleicht der nächsten.«
»Was ist mit den Inseln?«
Takuno schüttelte den Kopf und steckte das Pad ein.
»Wie viele Startzylinder gibt es?«
»Sechzehn.«
Wir schwiegen und sahen uns an. Ich rieb mit beiden Händen das Gesicht, dann den ganzen Kopf. Yoon Da-Hee wusste nun immerhin Bescheid zu was dieses Boot noch in der Lage war. Das konnte ein Vorteil sein. Takuno knetete die Finger. Max nahm sich ein Herz, erhob sich und ging vor zum Whiteboard. Dafür war ich ihm dankbar.
»Die Liste der Inseln …«, begann er. Nicht nur ich war froh, an etwas anderes zu denken. Nach vorne zu sehen, eine neue Aufgabe. Aus dem Augenwinkel sah ich Kazumi. Ich zog sie an meine Schulter, hielt sie im Arm. Sachte legte sie die Wange auf. Alle konnten es sehen, niemand sagte etwas. Ich legte meinen Kopf an Kazumis und Max räusperte sich.
»Also, zwei Drittel der Inselgruppen befinden sich im westlichen Pazifik beziehungsweise im Nördlichen Stillen Ozean, nördlich der Linie Hawaii – Taiwan. Ein weiteres Drittel im westlichen Südpazifik, zwischen Neuseeland, Neukaledonien und den Fidschis. Da muss man nicht lange nach Verstärkern suchen. Da gibt es jede Menge Land in Inselform. Allerdings ist die Gefahr der Entdeckung recht groß …«
Er wischte die Karte nach links. Südamerika erschien auf der Wand.
»Die Ostseite des Pazifiks ist so gut wie leer. Im Norden die Galapagos, von Westen die Pitcairn-Inseln und fast auf demselben Breitengrad die Osterinsel. Um als Boot östlich sicher durch die Drake-Passage zu kommen, benötigt man auf der Isla Hornos vor Kap Hoorn das Funkfeuer …« Max grinste. »Und ab da beginnt wieder Jonnas Atlantik-Konglomerat.«
»Die Erde ist eindeutig zu klein«, stellte Bijan fest.
Max klopfte mit den Knöcheln an die Wand. »Der Nachrichtentransport geht nördlich über die Galapagos, südlich über die Osterinseln und – zumindest bisher – über das Funkfeuer in den Atlantik auf die Falklands. Ich nehme mal an, nun nicht mehr. Die Drake-Passage ist sicherlich von beiden Seiten sehr gut überwacht.« Er vergrößerte die Karte. »600 Kilometer vor dem chilenischen Festland ist San Juan Bautista. Bis vor zwanzig Jahren lagen dort Versorger. Nachdem die südamerikanischen Pazifikhäfen so gut wie geplündert waren, hat man sie abgezogen. Einen Besuch wäre es jedoch wert.«
»Danke, Max. Saubere Arbeit«, lobte ich ihn. »Ist es uns denn möglich, diese Nachrichten abzufangen und an uns zu senden, ohne dass jemand etwas mitbekommt?«
Er zog kurz die Nase hoch.
»Ein Sender ist wie eine Batterie. Ist ein Verbraucher angeschlossen, kann man das messen. Und ein auf dem Wasser fahrender Empfänger ist im Prinzip ein Verbraucher. Man kann ihn anpeilen, wenn man weiß, wonach man sucht. Außerdem fahren wir normal nicht an der Oberfläche, dadurch bekommen wir sicher neunzig Prozent aller Nachrichten gar nicht mit. Einen Empfang kann man gewährleisten bis etwa einhundert Meter mit Langwelle und Dichte des Mediums. Aus diesem Grund müssen wir die Informationen speichern bis zum nächsten Abruf. Zweites Problem ist, den Leistungsverlust auszugleichen. Wenn ich ein Kabel anzapfe, erhöht sich der Widerstand und die Sendeleistung sinkt. Das kann man messen. Also muss ich die Leistung zeitgleich ausgleichen. Klar?«
»Nein«, gestand Bijan. Ich schwieg, um mir nicht die Blöße zu geben, von Elektrik absolut keine Ahnung zu haben.
»Kannst du das Problem lösen?«, war die für mich relevante Frage.
»Ja, das Problem kann ich lösen. Die Mittel dazu finden wir an Bord, allerdings …«
»Allerdings?«
»Die Reichweite sollte nicht der Reichweite des jeweiligen Senders entsprechen. Ich rate zur Hälfte …«
»Welche Entfernung zum Abrufen wäre aus deiner Sicht sicher?«
Max drehte sich zur Karte, verkleinerte sie um einiges. »Nicht näher als einhundert Kilometer. Nicht weiter als vierhundert. Haben wir Elektrizität in der Atmosphäre, Gewitter, Extremzellen, wird der Empfang sehr schnell ganz mies.« Die Weite des Pazifiks, so groß auf dem Whiteboard dargestellt, erdrückte mich. Hundert oder vierhundert Kilometer waren nichts.
»Wir müssen also jedes Mal an so eine Insel ran, eine Boje nach oben schicken, um die Infos abzurufen …«
Max nickte. »Leider.«
»Okay, Max, bereite alles vor. Wir laufen Galapagos an und dann die Osterinsel. Geht was essen, treibt Sport, ruht euch aus.« Kazumi richtete sich auf, sagte nichts, nur ein kurzer Blick. Ihr Denken an Kano sah man förmlich hinter der Stirn und nun selbst fast den Tod vor Augen … »Tu mir einen Gefallen, Kazumi. Geh zu Jelena und leg dich bei ihr in die Kabine. Ich möchte nicht, dass du alleine bist. Okay?«
Sie nickte und verließ als letzte den Besprechungsraum. Nur noch Takuno saß wie ein Sterbender am Tisch gegenüber.


»Kenzaburo?« Nichts als ein Starren auf knetende Finger, den Tisch, bestimmt das Bild der zerstörten Inseln und tote Menschen in seinem Kopf. Ich setzte mich neben ihn. »Du hast getan, was ein Boot-Kommandant tut, wenn er um das Leben seiner Besatzung kämpft. Dieser Tag musste kommen …« Ich nahm den Stuhl und setzte mich ihm direkt gegenüber. Knie an Knie. »Wir müssen nach Galapagos, dann auf die Osterinsel und dann suchen wir Insel 64. Komm, ich möchte dir etwas zeigen, was mir vorhin auffiel und dich an etwas erinnern.« Mühsam zog ich ihn hoch und vor die Karte.
»Weißt du noch, als wir uns Richtung Brest auf den Weg machten und an Norwegen vorbeiliefen?« Ich legte seine Hände um mich, gefaltet auf meinem Bauch. »Damals sagte ich, dass wenn ich mich irgendwo verstecken würde, dann in den unzähligen Fjorden Norwegens. Erinnerst du dich?« Ich spürte sein Nicken an meinem Hinterkopf. »Und jetzt schau mal hier …« Mit zwei Fingern vergrößerte ich die südamerikanische Küste, ab Kap Hoorn bis hinauf zu einem Ort namens Puerto Montt. »1.600 Kilometer Fjorde. Und jetzt sieh dir das hier an …« Zweimal wischen nach rechts, ein rotes Kreuz. Ich tippte darauf. Gruppe 25 in roten Lettern stand darunter.
»Gruppe 25 taucht ein paar Tage ab aufgrund einer Schlechtwetterfront«, begann ich meinen Gedankengang. »Und Insel 64 macht sich im selben Augenblick auf den Weg. Sie schaffen getaucht etwa zehn Knoten. In zwölf Tagen sind sie etwa hier«, vermutete ich und zeigte auf die Isla Wellington. »Sie bringen die Insel in einen Fjord, so tief wie möglich – das werden sie zur Genüge geplant haben – und gehen von Bord. Jetzt beginnen sie das Ding zu zerlegen, bauen etwas wie ein Zuhause, und hoffen, dass man sie in Frieden dort leben lässt.«
»Und nie findet«, murmelte Takuno, löste sich und nahm erneut Platz auf dem Stuhl. Mit großen Augen blickte er auf die Wand, folgte meinen gezeichneten Linien, nickte unmerklich, dann immer schneller. Schnell hockte ich mich auf seine Oberschenkel. »Ich möchte jetzt dieses Implantat loswerden und mit dir schlafen. Vorher sag ich Jelena Bescheid, dass sie sich um Kazumi kümmern soll.« Takuno musterte mich, als wäre ich der erste Mensch in seinem Leben, dem er begegnete und ihn dabei anlächelte. Also lächelte ich ihn an.

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