Insel 64 | Kapitel 6

Exodus

Die Wirkung der Tabletten hatte stetig zugenommen, dämpfte die Melancholie, das Abrutschen in die dunklen Täler. Dafür träumte ich wieder. Was war schlimmer? Ich wusste es nicht, aber das eines Tages Jelena erzählen zu müssen, empfand ich als große Last und doch als meine Pflicht. Dieser Tag war in nicht sehr weiter Ferne. Da war ich mir sicher. Ich blickte zur Leuchtanzeige. Samstag, 6. April 2148, drei Uhr zwanzig. Mitten in der Nacht. Schlafen war nicht möglich. Wieder und wieder versuchte ich es, aber die kreisenden Gedanken waren laute Kreaturen, die keine Rücksicht auf meine Bedürfnisse nahmen. In den Statuten der Polizei wühlte ich nach Regelungen, Dienstanordnungen, die offenbarten, dass Jonna richtig gehandelt hatte. Aber nichts. Auch in der UN-Charta fanden sich nur Allgemeinplätze. Bei der Gründung der Inselgruppen gab man sich eine Art Satzung, ein Regelwerk. Da die ersten Inseln vor der US-amerikanischen Küste positioniert wurden, galt deren Recht. 2045 schuf man aus einem Mix unterschiedlicher Verfassungen eine Grundlage, die nur im Falle höchster Not eine Übertragung der Macht auf eine oder wenige Personen vorsah. So geschehen im Krieg 2052 – 2055. Kontrollinstanzen, dachte ich. Wer kontrolliert eigentlich die Polizei? Der Gruppenrat. Und wenn der die Macht auf die Chefin der Polizei überträgt? Ein verdammter Zirkelschluss!
Das Pad summte. Die Nummer einer Polizeieinheit … 236. Das war Tesfamariams Truppe. Ich aktivierte und blickte in Kidanes überraschtes Gesicht. »Das ging aber schnell …«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Ich dachte schon, ich werde mir jetzt einen Rüffel holen«, mutmaßte sie. Hinter Tesfamariam konnte ich das Meer sehen, einen orangefarbenen Himmel. Sie schwitzte.
»Wo bist du?«
»San Francisco.« Mit einem Kameraschwenk zeigte sie mir die zu zwei Drittel abgerissene Golden-Gate-Brücke. »Und hier gehen merkwürdige Dinge vor …«
»Inwiefern?«
»Warst du schon einmal hier?«
»Nein.«
Das Kamerabild schwankte hin und her. Offenbar ging sie umher, setzte sich auf einen Betonpoller oder etwas in der Art. Ihr dunkles Gesicht tauchte wieder auf. »Ich kenne den örtlichen Händler, Brendon O’Hara. Er und seine Familie, sein Clan, haben die großen Häfen in San Francisco, Los Angeles, San Diego und Bremerton unter sich. Eine unserer ressourcenreichsten Quellen. Nun«, Kidane blinzelte gegen die Sonne, »vor fünf Jahren erhielt O’Hara eine Anfrage per verschlüsselter Message über unseren Kanal. Es ging um Schiffsstahl für Oahu, eine besondere Art von Stahl …«
»Eine besondere Art?«
»Nichtmagnetischer Stahl. O’Hara hat mir seine Quellen gezeigt: Es sind U-Boote. Alte U-Boote der ehemaligen US-Navy. Nichtmagnetischer Stahl lässt sich kaum orten über Magnetfeldmessungen …«
Ich horchte auf. Vor fünf Jahren? Tesfamariam registrierte wohl die Veränderung in meinem Gesicht.
»Interessant, nicht wahr? O’Hara ist ein Pedant. Wir melden uns bei ihm wie bei allen anderen immer per Videoruf. Niemals per verschlüsselter Textnachricht.«
»Und das hat ihn stutzig gemacht …«
»So ist es«, nickte Tesfamariam bestätigend, »Er hakte nach und stellte fest, dass davon niemand etwas wusste in der Ressourcen-Verwaltung. Er dachte, ein Konkurrent hätte sich auf die Art seine Ware beschaffen wollen und ignorierte es.«
»Plausibel …«, murmelte ich. »Um wie viele Tonnen hat es sich gehandelt?«
»Einige tausend Tonnen, die jedoch erst hätten zerlegt werden müssen. Die Boote liegen oder lagen alle in San Diego …«
»Lagen?«
Tesfamariam wischte sich mit dem Handrücken eine Menge Schweiß ab und runzelte die Stirn. »Es gab eine Anfrage aus Spitzbergen. Ganz offiziell. Allerdings wurden die Boote am Stück abgeholt; mit Dockinseln. Nun, O’Hara war es egal. Er bekam mehr als üblich und war zufrieden.«
»Wann war das?«
»Vor etwa drei Jahren.«
Verwirrt rieb ich die Narbe auf meinem Schädel. Ich war mir sicher, dass diese Information sich irgendwie in das entstehende Bild fügte, hatte aber keinen blassen Schimmer wie.
»Kidane, wenn O’Hara auf diese Art kontaktiert wurde, dann andere vielleicht auch. Nimm bitte Verbindung zu allen Einheiten auf und frag nach, ob es ähnliche Fälle gibt und …«, ich dachte an den besonderen Stahl, dass man ihn für U-Boote verwendete. Vielleicht gab es noch mehr besondere Materialien, die wir in der Regel nicht benötigten, »… konzentrier dich nicht nur auf diesen Stahl sondern auf alle außergewöhnlichen Materialien oder Mengen. Schick es bitte erst mal nur an mich.«
Kidane nickte, drehte dann den Kopf auf die Seite. Jemand sagte etwas zu ihr im Hintergrund.
»Lass dir von O’Hara die verschlüsselte Nachrichten-Datei geben. Wenn er sie noch hat, leite sie umgehend an mich weiter. Biete ihm was Wertvolles dafür, meinetwegen Medikamente auf Lebenszeit. Hauptsache wir bekommen das Ding …«, ich hielt für einen Moment inne, war mir nicht sicher bei einem neuen Gedanken, entschied mich aber dafür. »Und Kidane? Besorg mir von O’Hara auch die Anfrage aus Spitzbergen. Ich will wissen, wer das war.«
»Mach ich, Chatrina.«
Ich zwinkerte ihr zu, schaltete ab und stand auf. Mein Blick fiel auf die Tür zum Nebenraum. Ich ging hin und öffnete vorsichtig. Auf Jelenas Gesicht breitete sich schwacher Lichtschein aus, fahl wie ihre Haut. Vorsichtig schlich ich hinein, setzte mich vors Bett, den Rücken ihr zugewandt. Sollte ich mich an den Körper anlehnen? Ich hatte keine Ahnung. Tat eine Mutter das?

Ich tat es, legte den Kopf auf ihrem Oberschenkel ab und spürte dessen Wärme. Eine beruhigende Wärme, wie ich feststellte. Sehr beruhigend. Das war eine der Wirkungen, die Jelena auf mich hatte. Bald kündigte sich beginnender Schlaf an. Ich wollte mich ihm unbedingt ergeben, froh, endlich eintreten zu können, obwohl klar war, dass die Zeit nicht mehr ausreichte. Also döste ich, lauschte auf Jelenas Atmen. Eine mir unbekannte Zeitspanne verging. War es ein Traum, als ich die Hand an meinem Hals bemerkte? Nein, kein Traum, dachte ich und schlug die Augen auf. Jelenas Wange drückte sich an meine.
»Hast du auf mich aufgepasst, Mama?«
»Ich glaube, es war eher so, dass du auf mich aufgepasst hast.«
»Während ich schlief?«
»So habe ich mich zumindest gefühlt.« Was für eine Hitze in ihr steckte. Ich drehte mich und sah sie an. »Ich muss sagen, deine Haare wachsen wie verrückt, oder?«
»Ja. Ich find’s wunderbar. Endlich wieder Haare.« Das Lächeln verschwand. »Meinst du, der Krebs ist endgültig weg?«
Ich hoffte, meine Verlegenheit verstecken zu können. Einen Atemzug zu lange geschwiegen. Das würde sie vielleicht als ein Zweifeln registrieren. »Ich schätze, das kann niemand auf diesem Planeten korrekt beantworten. Was ich aber weiß ist, dass du nun meine Tochter bist, ich deine Mama, wir nicht nur rechtlich zusammengehören, auch«, hilflos bewegte ich die Hände, deutete auf mich, »innerlich gehören wir zusammen.« Sie nickte, Wange an Wange mit mir.
»Ja, das fühle ich auch so. Als wärst du meine Schwester.«
»Deine Schwester?« Das Bild zerrte mich schlagartig auf die Beine. Jelena wich zurück. Ein Zittern rollte durch mich hindurch und die Beine versagten. Ich schaffte es gerade noch, mich wieder zu setzen, bevor Schlimmeres passierte.
»Mama?! Was ist denn los?«
Benebelt starrte ich auf den Boden. Weit entfernt von ihrer Stimme.
»Mama?«
Ein Gesicht näherte sich meinem inneren Auge, wurde zusehends deutlicher, detaillierter und auf einmal erkannte ich es. Meine Schwester. Es war meine Schwester! Die Augen ohne Leben, schon eingetrübt durch die Verwesung. Ich bedeckte ihren toten Körper. Es waren keine Tränen mehr in mir, also drehte mich um und machte, dass ich fortkam. Das Pad piepte. Takunos Rufzeichen. Was sollte ich mit Jelena tun? Sie alleine lassen war keine Option. Ich stand auf und reichte ihr die Hand.
»Willst du mit uns fahren? Es geht nach Süden.«


Die Transportraupe entfernte sich vom Pier. Der Morgen war kühl, die Nacht noch lange nicht vorbei. Wir standen vor dem mattschwarzen U-Boot mit all unserer Ausrüstung. Takunos Leute begannen mit dem Verladen. Über den Steg erreichten wir das Vordeck und stiegen durch einen Einstieg hinab ins Boot. Keine Seitenschleusen mehr. Auf einer kleinen Messingtafel stand ‚Boot 20001‘. Wieder kein Name, dachte ich und folgte einem Besatzungsmitglied zu den Quartieren, Jelena hinter mir, die aus dem Staunen nicht herauskam. »Das ist ja ein ganz neues Boot …«, stellte sie überschwänglich fest. »Bestimmt darf ich wieder am Sonar sitzen.«
»Dann kann uns ja nichts mehr passieren«, kommentierte Aljona lachend. Ich musste schmunzeln, trotz meiner Angst um sie. Die Gefahren nahmen zu. Ob es Jonna überhaupt interessierte, was ich mit Jelena tat? In Gedanken versunken lief ich auf Kazumi auf. Ein Schmerz zuckte durch die Nierengegend.
»Verflucht«, rutschte mir raus.
»Hast du dir weh getan, Chatrina?«
»Nein, Kazumi. War mein Fehler …« Durch ein Schott weiter vorne trat Takuno, entdeckte uns, teilte einem jungen Mann etwas mit und winkte mich zu sich.
»Kazumi, bringst du Jelena bitte in die Kabine? Ich komme gleich wieder.« Sie nickte. Spontan drückte ich Jelena einen Kuss auf die Stirn und eilte zu Takuno. Kurz bevor ich ihn erreichte, drehte er sich um und bedeutete mir ihm zu folgen. Über eine schmale Treppe gelangten wir auf ein darunterliegendes Deck und von dort in einen Besprechungsraum. Er verschloss die Tür. »Willkommen an …«
Kurzentschlossen packte ich seine Schultern, zog ihn zu mir, küsste den schmerzlich vermissten Mund, betrachtete das Gesicht, wühlte mich in volle schwarze Haare. Dann hielt ich ihn nur noch fest. Auch in diesem Raum gab es eine Leuchtanzeige. Die Zeit schritt voran, unaufhaltsam. Seine Hand fuhr über die Narbe auf meinem Kopf, die kahle Stelle, meinen Rücken hinab. »Du hast ein neues Boot«, flüsterte ich.
»Hm.«
»Zum ersten Mal denke ich daran, irgendwo ein anderes Leben zu beginnen. Du, Jelena und ich …« Die Wärme seines Gesichts beruhigte, ordnete meine Gedanken. Und erinnerte mich daran, dass ich noch meine Medizin nehmen musste. Widerwillig löste ich mich aus seiner Umarmung, griff in die Hosentasche und zog die Metallbox hervor.
»Hast du noch genug? Soll ich wieder welche herstellen lassen?«
»Für diese Woche genügt es noch …«
»Dann lasse ich übermorgen neue synthetisieren.«
»Danke, Kenzaburo. Was würde ich nur ohne dich machen in solchen Zeiten …«, ich senkte den Blick und dachte an Jonna.
»Was ist?« Er schob mich auf einen Stuhl, setzte sich gegenüber und nahm aus einem versenkten Fach im Tisch einen Becher Elektrolyt. Versenkte Ablagen? Das war neu. Zügig schluckte ich die Tablette, trank einen Schluck und sah ihn an.
»Jonna weiß Bescheid über diese Tabletten und dass ich sie selbst herstelle.«
»Und?«
»Was weißt du über die aktuelle Situation im Gruppenrat?«
Er machte ein überraschtes Gesicht. »Momentan sind wir alle ohne Führung. Für diesen Fall übernimmt ein Ausschuss die Führung, bis eine neue Person gewählt ist. Standardverfahren …«
»So war es bisher«, unterbrach ich ihn. »Der Gruppenrat hat Jonna mit einer Art alleiniger Interimsführung beauftragt, aufgrund einer aktuellen Bedrohungssituation.«
»Interimsführung?«
»Mit Sonderbefugnissen«, ergänzte ich. Kenzaburo kratzte sein Kinn und zog das Käppi aus der Gesäßtasche, drehte es nach allen Seiten und setzte es auf. »Der Gruppenrat kontrolliert die Polizei«, erklärte ich weiter. »Nun beschließt er, dass die Polizei die Führung über das kontrollierende Organ übernimmt. Jonna kontrolliert sich quasi selbst … das habe ich hinterfragt als Kano und ich bei ihr waren …«
»Und?«
»Sie begründete diesen Schritt mit der prekären Lage, in der sich das System der Inseln momentan befände. Die Angst davor, dass alles auseinanderfällt …« Kraftlos ließ er sich nach hinten fallen. Die Lehne federte es ab. Mir kam ein Gedanke. Er elektrisierte mich förmlich. Mein Rücken spannte sich und ich rutschte an die Stuhlkante.
»Das alles wird immer undurchsichtiger …«, seufzte er.
»Sag mal, Kenzaburo«, unterbrach ich ihn, »… ist dieses Boot aus nichtmagnetischem Stahl?« Er zog die Augenbrauen hoch.
»Woher weißt du das, Chatrina?«
Mit wenigen Worten berichtete ich vom Gespräch mit Tesfamariam. Als ich endete, zog er das Käppi ab, legte es vor sich auf den Tisch. Sein Pad piepte, aktivierte sich, eine mir fremde Stimme war zu hören.
»Wir sind auslaufbereit, Obmann Takuno.«
»Danke, Rachid. Bringen Sie uns mit fünfzehn Knoten aus dem Fjord zu 78 Nord und 12 Ost. Dann voller Stopp.«
»Wird gemacht, Obmann.«
Es knackte kurz, Takuno zog das Pad hervor und stellte es auf stumm. »Satos Ersatz?«
»Ja, Rachid Bennani. Direkt von der Marineschule. Komm! Ich zeige dir, was aus den vielen Tonnen nichtmagnetischen Stahls hergestellt wurde.« Er stand auf, reichte mir die Hand. Ich griff zu, zog mich daran hoch, blieb aber stehen.
»Kenzaburo … inzwischen denke ich, dass Insel 64 etwas ausgelöst hat, was sowieso gekommen wäre. Etwas, das schon seit geraumer Zeit einigen Leuten durch den Kopf geht … das mit uns allen zu tun hat.« Er schluckte deutlich sichtbar. »Aber nicht nur Menschen auf Insel 64 ahnten oder wussten etwas. Semjonowa ebenso, unsere unbekannten Gegner, vielleicht sogar die Gruppen, deren Obfrauen und Obmänner wir nun verhaften sollen … und Jonna ebenso.«
»Ja«, sagte er sichtlich geknickt. »Ich zeige dir jetzt das Boot. Und du wirst feststellen, dass es nur einem Zweck dient: Krieg zu führen – oder abzuschrecken.« Ich blickte zu ihm auf und dachte an Kazumis Worte, dass alles nach einem beginnenden Krieg aussähe. »Komm, Chatrina.«


Jelena schlief. Wir saßen mit Takuno in der kleinen Messe. Alle schwiegen, starrten betreten auf den Tisch, an die Decke oder bewegten die Finger auf rätselhafte Weise. Selbst die schlagfertige, vorlaute Aljona wusste oder traute sich nicht. Ich schlürfte besonders wohlschmeckenden, heißen Algentee. Einen hervorragenden Automat hatten die Ingenieure eingebaut. Wenn ich auch diese Ingenieure nicht kannte, noch nicht mal wusste, wo die Werft lag. Takuno hatte das Boot im Sund übernommen. Kein Stapellauf, kein Ausrüstungsdock. Es war einfach da. Gebaut aus dem nichtmagnetischen Stahl, den Tesfamariam erwähnte. Da war ich mir sicher.
»Wirst du Jonna fragen, wo die Werft ist, die solche Boote baut?«, brach Takuno das Schweigen. Damit war der Bann gebrochen.
»Ja, das würde mich auch interessieren«, merkte Aljona an.
»Der ganze Aufwand, die vielen Boote im Fjord, Copter, Mannschaften, nun das U-Boot hier … ich hatte recht. Nicht wahr? Es wird Krieg geben.« Kazumi saß wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl. Kano legte einen Arm um sie. Was sollte ich ihr antworten?
»Ich weiß es nicht, Kazumi. Wirklich … ich wünschte, uns eine Antwort darauf geben zu können«, hörte ich mich sagen.
»Mit wem sollte es Krieg geben?, warf Steven ein. »Das ist doch Blödsinn. Wir müssen uns lediglich gegen diese Unbekannten wappnen …«
»Wir wissen nicht, welche Gruppen sich absondern«, stellte Kano fest. »Es sind fünfundsiebzig Inseln. Wenn …«, er stockte. »Wenn auf einer dieser Inseln Verwandte von mir sind, daran will ich nicht denken … also nein! Wenn diese Menschen sich entschieden haben, ein Leben an Land zu wagen, dann werde ich meinen Dienst quittieren«, machte er mit fester Stimme seine Position klar. »Ich werde nicht auf Personen schießen, nur weil sie von etwas Neuem träumen.«
»Kano hat recht«, stimmte Max zu. »Wir sind Polizisten und ermitteln im Falle eines Verbrechens, helfen bei der Ressourcenbeschaffung und untersuchen das Verschwinden von Inseln …«
»So ist es«, pflichtete Bijan bei. »In den Statuten der Charta steht nichts von Sezession. Es ist kein Verbrechen, sich ein anderes Leben aufbauen zu wollen …«
»Wenn du das mit Eigentum der Inselkonglomerate machst, dann schon …«, wies Aljona ihn zurecht.

Ich hob die Hand und atmete tief ein. Zu tief. Das Netz um meine Lungen drückte dagegen. Ein schmerzverzerrtes Zucken im Gesicht ließ sich nicht vermeiden, was immerhin Ruhe an den Tisch brachte. Der Reihe nach sah ich alle an. »All eure Argumente, Bedenken, Einwände verspüre ich ebenso. Ich habe Sympathien für einen solchen Traum, weiß aber auch, dass die Inseln unsere stahlgewordenen Hoffnungen sind, um nicht durch die radikalen Veränderungen von diesem Planeten gefegt zu werden. Wir können die Inseln nicht einfach so aus dem Hut zaubern. Selbst auf die entlegene Antarktis werden die Viren früher oder später gelangen. Unser aller Überleben hängt davon ab, ob wir es schaffen, eine Einheit zu bleiben.« Kano setzte zu einer Antwort an. Ich schüttelte den Kopf. »Ich verspreche euch, dass wir die Menschen nach ihren Motiven fragen und sie anhören werden, bevor irgendetwas anderes geschieht. Zuerst aber müssen wir sie finden. Bis dahin machen wir unsere Arbeit.« Kano nickte mit zusammengepressten Lippen. Ich fixierte Takuno.
»Wann erreichen wir die Antarktis?«
Er beugte sich vor, aktivierte das Whiteboard. Eine rote Linie leuchtete auf. »Wir werden auf dem Weg dorthin noch einige Tests mit dem Boot durchführen. Läuft alles nach Plan, sind wir in acht Tagen im Weddell-Meer, umfahren den Südkontinent westlich bis zum Rossmeer. Dort versuchen wir Kontakt aufzunehmen.«
»Also gehen wir mal von zehn Tagen aus.«
»Zehn Tage dürfte hinkommen.«
Kano erhob sich, schaute in die Runde. Kazumi tat es ihm nach. Ich spürte eine Erschütterung zwischen uns, obwohl alle ruhig waren und der Antrieb des Bootes nur ein dumpfes Rauschen im Hintergrund. Ich durfte sie nicht so gehen lassen.
»Max und Steven, nehmt Kontakt zu den einzelnen Polizeieinheiten auf. Lasst euch einen Zwischenbericht geben. Achtet auf außergewöhnliche Werkstoffe und Mengen. Bijan und Kazumi … ich will wissen, was bei den Untersuchungen der beiden Boote herauskam. So langsam sollten die Ingenieure in Tromsø so weit sein. Kano und Aljona, ich möchte, dass Ihr alle Aussagen von Gruppe 25 und den Baby-Akten noch einmal durchgeht. Achtet auf Träumer, Träume oder Hinweise auf beschriebene Verhaltens- und Wesensänderungen, Trennungen, Scheidungen, Anträge für einen Umzug. Alles, was das Leben nicht mehr normal erscheinen lässt. Sucht einen Nenner.« Ich schwieg, zog das Pad hervor, trank einen Schluck Algentee. Still verließen alle den Raum. Bis auf Takuno. Er stand auf, schloss die Tür und setzte sich wieder.
»Es hat bereits begonnen«, kommentierte er die letzten Minuten. Für einen Moment war ich verwirrt.
»Was?« Dann dämmerte mir, was er meinte und hoffte gleichzeitig, es möge sich alles in Wohlgefallen auflösen. »Ja, ich weiß, was du meinst, Kenzaburo …«
»Es war richtig, Aufgaben zu verteilen. Du bist eine gute Kommandantin, aber …«, er neigte den Kopf, »ich schätze, was vor uns liegt, wird zerstörerischer sein als jeder Zusammenhalt.« Ich wollte dagegen halten. Stattdessen schwieg ich. »Wir gehen in die Zentrale«, forderte er mich auf. »Die erste Wegmarke ist erreicht.«


»Bennani, gehen Sie auf dreißig Meter, Geschwindigkeit dreißig Knoten, Kurs 240 Grad.«
»Jawohl, Obmann Takuno.«
Ich verfolgte Bennanis Befehle an die beiden Steuerleute, horchte auf die Geräusche, die uns umgaben, die beginnende Neigung des Kartentischs, freute mich an Takunos Käppi. Ein grüner Lichtpunkt markierte unsere Position im Hologramm.
»Sonar! Wassertiefe?«, wollte Takuno wissen.
»Zweihundertfünfzig Meter. Gleichbleibend.«
»Boot pendelt aus bei dreißig Meter«, meldete Bennani.
Takuno warf mir einen kurzen Blick zu, kontrollierte die Zeit auf der Leuchtanzeige. Ich meinte, die Andeutung eines Grinsens zu erkennen und ergriff vorsichtshalber mit beiden Händen die Reling des Kartentisches.
»Gehen Sie auf einhundert Meter, dreißig Grad vorlastig!« Sein Vize zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann reagierte er, setzte an … »Korrektur!«, rief Takuno. »Zweihundert Meter, Geschwindigkeit erhöhen auf vierzig Knoten!«
»Ja …«, war alles, was Bennani rausbrachte.
»Rotlicht!«, befahl Takuno. »Vordere Mündungsklappen öffnen!« Jemand schaltete die reguläre Beleuchtung aus, das rote Licht an. Seltsam schattenlos, aus zahllosen LED-Flächen an der Decke. Ein mehrfaches dumpfes Klacken.
»Mündungsklappen geöffnet!«
»Sonar! Achtergerät aussetzen! Geben Sie hundert Meter Leine!« Das Boot vibrierte leicht. Die Karte piepte. Ich zog mich die Schräge hoch und stellte die Füße fest vor die Stirnseite des Tisches, um mich anlehnen zu können.
»Zweihundert Meter! Wir pendeln aus …« Bennanis Stimme ging fast unter.
»Sonar! Wassertiefe?«
»Fünfhundert Meter! Schnell fallend. Wir verlassen den Festlandsockel!«
»Bennani! Gehen Sie auf vierhundert Meter!«
»Ja, Obmann …«
»Vordere Luken schließen und Rohre belüften!« Der Boden neigte sich erneut. Takuno hielt sich an einem Griff über sich fest, kontrollierte die Anzeigen, lächelte der Frau an der Waffenkontrolle zu, die sich nervös umblickte. Ich musste gestehen, nicht nur sie war nervös. Mein Pad piepte. Mühsam zog ich es hervor. Aljona blickte mich wütend an.
»Takuno könnte Bescheid sagen, bevor er solche Manöver durchzieht. Dann könnte frau es sich überlegen, ob frau auf Klo geht oder nicht!« Sie schaltete ab und ich schaffte es, nicht zu lachen.
»Bewässern der Achtertorpedos, Mündungsklappen öffnen. Sonar? Was hören wir?«
»Vier Boote nördlich von uns, etwa zehn Kilometer … neue Boote, Kurs 270 Grad, sich entfernend. Eine Insel auf Fahrt, fast über uns, Kurs … 190 Grad, sich entfernend …«
»Wassertiefe?«
»1.500 Meter und fallend.«
»Sonar! Achten Sie auf schließende Luken und Entlüftungsgeräusche! Hintere Luken schließen und entlüften!« Bennani wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Frau an der Waffenkontrolle bestätigte dass Schließen und Entlüften.
»Keine eindeutigen Geräusche«, meldete das Sonar.
»Externes Sonar einholen!« Wieder beobachtete er seine Mannschaft, registrierte jede nervöse Zuckung, da war ich mir sicher. »Gut«, lächelte er und legte einen Schalter über sich um. »Kommandant hier. Verschlusszustand herstellen. Melden sie Auffälligkeiten. Beachten Sie den bootsinternen Druckausgleich. Bei Alarm begeben Sie sich sofort in die Notkapseln ihrer jeweiligen Abteilung. Kommandant Ende.« Ich schluckte trocken, fast schmerzhaft. Was war ein Verschlusszustand?
»Wassertiefe und Position?«
»Zweitausend Meter und fallend. Position achtundsiebzig Grad Nord zu acht Grad Ost. Externes Gerät wieder gesichert.« Takuno nickte. Dann sah er mich an. Am liebsten wäre ich ihm jetzt um den Hals gefallen, hätte ihn ins Bett geworfen und mich auf ihn gesetzt.
»Kurs 180 Grad! Zehn Grad vorlastig! Geschwindigkeit zehn Knoten. Wir gehen auf 1.200 Meter.«
1.200 Meter? Ich spürte einen Kloß im Hals entstehen. Takuno winkte Bennani an den Kartentisch. Der beeilte sich zu kommen. »Sehen Sie diesen Graben, Rachid?«
»Ja, Obmann Takuno.«
Das Hologramm zeigte eine schmale, dunkelblaue Untiefe, die einige Kilometer vor der Insel Jan Mayen an einem Quergraben endete.
»Wir folgen exakt diesem Graben bis hier«, sein Zeigefinger hinterließ einen orangefarbenen Lichtpunkt. »Wir wollen herausfinden, was der neue Antrieb kann, oder?«
»Ja, gewiss, Obmann Takuno …«
Der grüne Lichtpunkt begann in das Hologramm zu sinken. Meter um Meter in die dunkelblaue Tiefe hinab. Das Koordinatensystem um unseren Eigenreflex kletterte gemächlich an uns vorbei. Bennani schwitzte zusehends mehr. Die Schweißperlen entstanden direkt auf seiner Stirn, drückten sich aus den Poren. Takuno zog das Käppi ab und drehte es mit einer Hand beständig im Kreis.
»Sechshundert Meter.«
»Sonar! Hindernisse?«
»Alles frei.«
Ich schloss die Augen und versuchte, Bennani oder Takuno an ihren Gerüchen zu erkennen. Die schlafende Jelena tauchte in meinem Kopf auf, ihr fahles Gesicht. Dann fielen plötzlich meine Ohren zu. Ein unangenehmer Druck presste Richtung Trommelfell.
»Siebenhundert Meter.«
»Druckausgleich anpassen«, sagte Takuno. Ich öffnete den Mund und versuchte mit Schlucken die Ohren wieder freizubekommen. Über mir vernahm ich ein Knacken, öffnete die Augen und sah mich um. Alle ignorierten es oder waren vielleicht taub?
»Achthundert Meter.«
»Druckausgleich erneut anpassen. Bennani, fragen Sie in den Abteilungen nach Besonderheiten oder Ausfällen.«
»Ja, Obmann Takuno …« Bennanis Uniform bekam feuchte Flecken. Er kratzte sich ausgiebig hinter dem Ohr, während von den Abteilungen die Meldungen eintrudelten.
»Neunhundert Meter.«
Nun knackte es laut und vernehmlich unter unseren Füßen. »Nur keine Panik«, kommentierte Takuno. »Alles innerhalb der Toleranz.« Ich fragte mich, ob er das selbst glaubte. Schließlich hatte er das Boot ja nicht gebaut und musste sich auf irgendwelche Ingenieure und Mechaniker einer uns unbekannten Werft verlassen.
»Eintausend Meter.«
»Wir tauchen in eine dichtere Schicht«, meldete das Sonar. Das Boot schwankte sachte hin und her. Die dreidimensional dargestellte Seekarte verortete uns in einem tiefen Graben, weitere zweitausend Meter unter uns, fast zwanzig Kilometer breit.
»Richtung Erdmittelpunkt«, murmelte ich. Bennani sah mich entsetzt an und wischte sich mit einer zwecklosen Geste erneut über die Stirn.
»Tausendeinhundert Meter.«
Takunos Gesicht sah ich nur von der Seite. Er grinste. Offenbar machte ihm das Spaß. Er drehte sich zum Maschinenstand. »Maschine? Wie ist die Lage?«
»Belüftung einwandfrei, Welle läuft im Toleranzbereich, Akkumulatoren bei achtundneunzig Prozent.«
»Wie ist der Druck?«
»Gleichbleibend bei einem bar. Das System regelt korrekt nach.« Die Leuchtanzeige näherte sich der 1200, erreichte sie endlich.
»Auspendeln«, sagte Takuno. »Voller Stopp.«
»Voller Stopp«, wiederholte der Steuerstand. Mein Herz klopfte. 1.200 Meter Wasser ruhte über uns. Das war einhundertzwanzig Mal der Druck, der auf der Oberfläche herrschte. Um uns herum nichts als vollkommene Schwärze. Wir wenigen Menschen in einer lächerlichen Metallröhre, ein paar rote LED-Felder spendeten unserer kleinen Welt etwas Licht. Takuno kippte den Schalter.
»Kommandant an Besatzung. Wir haben 1.200 Meter erreicht. Das war sehr gute Arbeit, Leute. Ich bin stolz auf Euch. Der Verschlusszustand bleibt bestehen. Wir werden den letzten Test durchführen. Achtet auf Besonderheiten, auf Euch und eure Kameradinnen und Kameraden. Kommandant Ende.« Den letzten Test? Auf einmal kam mir die Luft ein wenig abgestanden vor. Ich musste mich setzen und klappte den Notsitz aus der Kartentischeingrenzung.
»Steuermann, öffnen Sie die Klappen des hydrodynamischen Antriebes.«
Ein dumpfes Schleifen vor und hinter uns. »Klappen sind geöffnet.«
»Maschine! Schraube aus!«
»Schraube aus!«
»Geben Sie Energie auf die Magnetspulen. Zwanzig Prozent.«
Nun begann ich ebenfalls zu schwitzen. So eine Art feines, hochfrequentes Pfeifen drängte sich aus unbestimmter Richtung in meine Ohren.
»Zehn Knoten … fünfzehn … zwanzig …«
»Erhöhen Sie auf vierzig Prozent«, ordnete Takuno an. Sich seiner Sache offenbar völlig sicher. Jelena fiel mir ein. Wäre ich doch jetzt bloß bei ihr.
»Vierzig Prozent erreicht! Dreißig Knoten … vierzig Knoten … fünfzig Knoten … dreiundfünfzig Knoten und … gleichbleibend.«
»Sehr gut«, sagte Takuno nickend. »Geschwindigkeit und Kurs für dreißig Minuten halten. Danach gehen wir zurück auf vierhundert Meter.«
»Ja, Obmann …«, hauchte Bennani sichtlich erleichtert.

Traumsequenz, Chatrina Sutter

Das Boot sank? Nein, etwas rüttelte an mir … »Mama? He! Mama! Wach auf! Bitte …«
»Wie?« Ein kühles Vlies. Offenbar auf meiner Stirn. Die Leuchtanzeige über der Tür. Hatte ich sie nicht gerade eben in meinem Traum gesehen?
»Jelena? Was ist denn?« Blitzartig schlang sie die Arme um meinen Hals, quetschte mir fast die Luft ab.
»Ich hatte Angst um dich!«
Der Traum, dachte ich. Meine Schwester … wohin hatte ich sie gebracht? »Jelena, tut mir leid. Ich mach es sauber …«
»Was denn?«
»Ich hab mich doch übergeben …« Ihre Wange rieb heftig an meiner. Sie schüttelte den Kopf.
»Aber nein, du hast dich nicht übergeben … nur gerufen. Einen Namen …«
»Einen Namen?«
»Marcella.«
»Marcella …«, wiederholte ich leise. »Marcella und Catarina …« Jelena setzte sich aufrecht, schaltete die kleine Lampe an und starrte mir in die Augen.
»Catarina? Das bist du, oder?« Ich benötigte etwas Abkühlung, regelte die Ventilation am Panel über dem Kopfteil, stemmte mich hoch und lehnte an der kühlen Metallwand. Jelena drückte sich neben mich, den Kopf auf meiner Schulter. Aus einem Lüftungsgitter strömte angenehm frische Luft.
»Was meinst du, Jelena … bist du alt genug für eine Geschichte?«
»Deine Geschichte?«
»Mh.«
Sie schwieg einen Moment, suchte mit den Fingern meine Hand, drückte fest zu. Aus dieser Hand um meine Finger kroch etwas in mich hinein, in mein Herz, meinen Kopf. Ein Kribbeln … »Ich weiß nicht … aber ich möchte sie hören.« Wieder wuchs ein Kloß in meinem Hals. Ich hatte den Schritt getan. Raus aus dem Käfig. In eine neue Welt. Wie viel von mir konnte ich hinüberretten? Ich holte Luft …
»Ein Polizist namens Beat Sutter nahm mich bei einem Einsatz im Jahr 2122 mit nach Spitzbergen. Mein Vorname ist wohl das italienische Catarina, also hieß ich ab da Chatrina Sutter.« Ich lauschte meiner Stimme, den verklingenden Worten im Kopf. Wie einem selten gehörten Echo aus vergangenen Tagen. »Ich wurde auch nicht am 6. Januar 2110 geboren. Keine Ahnung, wann ich auf diese Welt kam«, sagte ich schulterzuckend. »Eine Knochenuntersuchung ergab damals ein ungefähres Alter von zwölf Jahren …«
»Jünger als ich …«, murmelte Jelena.
»Ja. Beat entschied, dass ich am 6. Januar 2110 auf die Welt gekommen sei und ließ das in den Papieren eintragen.«
»Und wann ist Beat gestorben?«
»Im Herbst 2027, kurz nachdem ich das Haus verließ, um Polizistin zu werden.« Jelena sagte nichts mehr, blieb still. Vielleicht dachte sie an ihre wirklichen Eltern. Die blauen Leuchtziffern zählten unaufhaltsam vorwärts.
»Wer ist Marcella?«, fragte sie plötzlich.
Ich atmete tief ein. War … nicht ist, dachte ich. Marcella … »Ich glaube, sie war meine Schwester, denn schon in meinen ersten Erinnerungen kommt sie vor und ich fühlte mich zu ihr hingezogen, ihr so nahe. Wir und noch einige andere Mädchen wuchsen in Genua auf, waren alle Eigentum eines Clans, einer Familie von Händlern. Putzen, Essen kochen, dienen und … Dinge tun, die kein Kind erleben sollte … das …«, meine Stimme versagte für einen Augenblick, als fände die Luft in meinen Lungen keinen Weg nach draußen. Jelena sprang auf, setzte sich auf meinen Schoss und sah mir direkt in die Augen. Entdeckte sie Tränen? Ich wusste es nicht. Konnte es noch Tränen geben? »… ich glaube, Marcella war die Begehrteste von uns allen, vielleicht ein wenig jünger als ich. Sie wurde herumgereicht wie eine Flasche Schnaps. Eines Tages hörte ich sie wieder wimmern, schreien. An diesem Tag war es jedoch anders. Etwas in mir war anders. Ich stand in der Küche, kochte mit weiteren Mädchen das Essen und ertrug es auf einmal nicht mehr. Wie fremdgesteuert schnappte ich das große Messer, ging nach nebenan und trieb dem Kerl die Klinge in den Hals. Als ich das Blut sah, konnte ich …«
»Konntest du … was?« Jelenas große Augen erinnerten mich an Marcella, mit ihren langen, zotteligen Haaren, schwarz, rotbraun, hellgrau, eine Mischung aus Dreck und unmöglichen Farben.
»Ich konnte nicht mehr an mich halten, Jelena. Ich stach immer wieder zu. Jeder Hieb war ein Tag in unser beider Leben, so viele Tage. Marcellas Peiniger war Händler eines verbündeten Clans …« Es dauerte, bis die Erkenntnis dessen, was ich gerade beichtete, in Jelenas Augen sichtbar wurde, ein Schleier, den man vorsichtig von einem Gegenstand zog.
»Du hast auch Marcella getötet?!«, fragte sie erschrocken. Ich schloss die Augen und nickte. Immerzu. Es war mir unmöglich, damit aufzuhören, bis Jelenas Hände mich daran hinderten.
»Das Messser ging durch seinen Hals hindurch. In ihren. Ich kam in einen Keller für Tage oder Wochen? Ich weiß nicht mehr. Die Zeit existiert nicht in der Dunkelheit.«
»Und dann?«
»Sie wollten mich dem befreundeten Clan übergeben, weil deren Mitglieder sauer waren. Bei einem der Tauschgeschäfte mit einem Ressourcenteam gab es Streitigkeiten und Beats Polizeieinheit tötete die meisten Clanmitglieder. Er tauschte mich und einige andere Mädchen für zwei Container Medizin ein. So kam ich nach Spitzbergen.« Sie setzte sich auf meine Knie. Das Grübeln konnte ich ihr deutlich ansehen. Die Kurzform war nun raus. Ob es die ganze Erzählung brauchte, war mir nicht klar. Ich hoffte, es ließe sich vermeiden. Langsam streckte sich mir ihr rechter Zeigefinger entgegen, strich über die lange Narbe am meinem Hals.

»Du bist eine Immune, nicht wahr?«
»Ja. Aber frag mich nicht, warum. Dafür gibt es keine Erklärungen.« Mir fiel Beat ein. Der Tag, an dem ich ihn verließ. Weg wollte. Aus einem Haus, dass Zuhause war, aber keine Heimat. Durch meine Gedanken hindurch tauchte Jelenas fragender Blick auf.
»Ja … und die Schule? Du bist doch nie zur Schule dort in Genua.«
»Das stimmt. Aber ich konnte lesen und schreiben. Eine alte Frau des Genueser Clans brachte es mir nach und nach bei. Und Beat ließ sich in die Polizeischule versetzen. Anouk wurde dort quasi mein Privatlehrer. Du hast ihn kennengelernt …«
»Er ist toll«, fiel sie mir ins Wort.
»Ja, ich lernte in fünf Jahren eine Menge und war so ehrgeizig, dass ich 2027 die Prüfung zum Polizeidienst mit ‚sehr gut‘ bestand.« Ich strich über ihren Kopf, die nicht mehr so kurzen Haare. »Wenn Beat das bei mir tun wollte, wehrte ich immer seine Hand ab. All die Jahre hindurch. Niemand durfte mich berühren. Wurde manchmal richtig wütend und schrie ihn an, warf ihm die widerlichsten Worte an den Kopf. Dann starrte er jedes Mal auf den Boden, entschuldigte sich, entsetzt, mit traurigen Augen schlurfte er davon, der traurige Beat.«
Verzweifelt unterdrückte ich die Tränen. Jelena beugte sich vor und legte ihren Kopf auf meine Brust. »Ich hätte das nicht geschafft …«, mutmaßte sie. »Wie konntest du nach all dem ein ganz anderes Leben führen? Das muss doch schwer gewesen sein?«
»Es gibt Ecken im Inneren, in denen man Furchtbares wegschließen kann …«
»Kann man vergessen?«, fragte sie leise. Ihr Duft stieg in meine Nase. Ein bisschen wie Algentee.
»Fast. Die Träume sind geblieben. Sie sind eine große Last. Ich fühle mich schuldig. Marcella starb durch mich, dabei wollte ich sie retten, oder …« Ich fühlte, nun am Kern zu sein. Dort, wo die Träume endeten.
»Oder?«
»Vielleicht wollte ich sie gar nicht retten. Nur mich rächen. Ohne an sie zu denken. Ich nahm ihren Tod in Kauf, blind vor Wut.«
»Das glaube ich nicht …«
»Das sage ich mir auch, Jelena, und zweifle doch daran. Ich spüre den Hunger nach Rache noch heute. Eine Wut, die in mir brennt. Heiß wie die Sonne. Wenn sie empor kriecht, kribbelt es und ich bekomme Angst vor mir selbst …« Kurz vor sechs Uhr. Ein Pfiff kam aus dem Bordlautsprecher. Wachwechsel auf Takunos Boot.
»Was tust du gegen die Wut?«
Ich deutete auf die Metallschachtel über uns im Regal. »Tabletten. Erst kommen Depressionen, dann die Wut. Das ist nicht sehr förderlich bei meiner Arbeit. Ich brauche die …«
»… Kontrolle«, vollendete sie den Satz. Ich nickte schweigend. Jelena griff über sich ins Regal nach der Dose, öffnete sie und nahm eine blaue Pille raus. Vom Tisch holte sie das Elektrolyt, steckte mir das Medikament in den Mund und reichte die Flasche.
»Jeden Tag eine?«
»Jeden Tag eine«, bestätigte ich und trank einen großen Schluck.
»Ich glaube, ich habe dich sehr lieb … Mama. Aber ich weiß nicht genau, wie sich das anfühlt … so wie bei meiner richtigen Mama vielleicht, ich erinnere mich kaum …«, sie stockte. »Bist du mir böse, wenn ich „richtige Mama“ sage?«
»Nein, natürlich nicht. Sie hat dich bestimmt geliebt. Und ich tue das auch …«
»Wirklich?!«
»Von ganzem Herzen …«


Die Messe auf diesem Boot war ein langgestreckter Raum. Ich saß an der thekenabgewandten Stirnseite als Takuno in Begleitung einer jungen Frau eintrat und auf mich zukam.
»Guten Morgen, Obfrau Sutter«, begrüßte er mich förmlich, setzte sich und deutete auf die junge Frau, die sich bemühte, eine gerade Haltung einzunehmen und zu schweigen. »Das ist Anwärterin Peymann. Frisch von der Marineschule. Jahrgangsbeste.« Er grinste. Ich zog eine Augenbraue hoch und nickte wohlwollend. War das ein Spiel? »Anwärterin Peymann ist eine hervorragende Lehrerin in den meisten Fächern, möchte ich mal weissagen, nicht wahr, Peymann?«
Schweigendes Nicken.
»Jelena ist noch schulpflichtig«, fuhr er fort, »und Anwärterin Peymann hat sich bereit erklärt, sie zu unterrichten. Täglich fünf Stunden in den Hauptfächern.« Ich verdrehte die Augen. Takuno hatte an etwas gedacht, was mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen war; Jelenas Schulpflicht! Ich räusperte mich, schluckte die Verlegenheit runter.
»Ich bin einverstanden«, erwiderte ich knapp und zog das Pad. »Obmann Takuno, wie ist unsere Tauchtiefe? Kann ich kommunizieren?«
Takuno grinste. »Kommunikationstiefe.«
»Gut. Vielen Dank. Jelena ist in der Kabine. Sie wird sich bestimmt freuen.« Er gab der Jahrgangsbesten einen Wink. Sie grüßte und schlich davon. Schulpflicht, dachte ich. Wie konnte ich das nur vergessen?
»… du geschlafen?« Gedankenversunken hörte ich nur die letzten Worte und reimte mir den Rest zusammen.
»Träume«, antwortete ich.
»Verstehe … meinst du, Jelena kann heute Nacht alleine in eurer Kabine schlafen? Ich habe Sehnsucht nach dir.« Ich sah ihn an.
»Ich frage sie. Schließlich habe ich auch Sehnsucht nach dir.« Mit einem Kuss auf den Lippen stand er auf, holte zwei Algentee aus dem Automat und ich das Pad aus der Brusttasche, aktivierte den Schlüssel am Implantat und rief Jonna. Ihr Gesichtsausdruck war nicht weniger gehetzt als am Tag unserer Abfahrt.
»Ihr solltet täglich auf Kommunikationstiefe gehen. Mindestens einmal«, begrüßte sie mich mürrisch, drehte das Gesicht auf die Seite und murmelte etwas zu einer nicht sichtbaren Person. Dann folgte die Optik. Ich entdeckte Khaled Hamza und Yoon Da-Hee. Beide hoben die Hand, grüßten still, mit distanziertem Blick. Jonna trat in den Bildbereich. Takuno setzte sich neben mich, außerhalb der Bilderfassung.
»Khaled Hamza und Yoon Da-Hee haben mich heute Morgen in meiner Eigenschaft als vom gesamten Gruppenrat eingesetzte Administratorin mit Sonderbefugnissen aufgesucht, um eine Erklärung abzugeben«, teilte eine sichtlich genervte Jonna mit. »Vielleicht können sie es noch mal wiederholen, damit du die Neuigkeit ebenfalls erfährst, denn das betrifft unmittelbar die Arbeit aller Polizeieinheiten.« Mit einer auffordernden Handbewegung drehte sie sich zu Hamza und Yoon, die einander anblickten als sei Jonnas Bitte der letzte nötige Beweis ihrer Unzurechnungsfähigkeit. Und ich erstarrte vor Angst, vergaß zu atmen. Etwas war passiert. Yoon Da-Hee hielt die schmale Faust vor den Mund, räusperte sich.
»Die Gruppenräte im Pazifischen und Indischen Ozean sind übereingekommen, auf eigenständigen Füßen stehen zu wollen. Diese Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen. In unserer Bevölkerung werden jedoch immer mehr Stimmen laut, eine Wiederbesiedelung des Festlandes anzustreben …«
»Was aber nichts mit der Sezession der drei sich auf dem Weg zur Antarktis befindlichen Gruppen zu tun hat«, beeilte sich Khaled Hamza zu erläutern.
»Richtig«, bestätigte Yoon. »Trotz allem ist die Antarktis ebenfalls unser Ziel. Ein dauerhaftes Leben auf dem Meer steht der Fortentwicklung menschlicher Gesellschaft entgegen; in allen Bereichen.« Ich schwieg. Was sollte ich dazu sagen? »Natürlich steht es den Bürgerinnen und Bürgern frei, sich für das jeweilige Konglomerat zu entscheiden. Entsprechend werden wir Inseln vorhalten, die ausbürgerungswillige Menschen sammeln. Diese Inseln werden sich dann auf den Weg ins Atlantikkonglomerat machen …«
»… ausbürgerungswillig?«, wunderte ich mich lautstark. Yoon seufzte und schürzte die Lippen. Vielleicht, weil sie alles noch mal erklären musste.
»Pazifischer und Indischer Ozean haben sich entschieden, jeweils eine eigene neue Staatsform zugrundezulegen, Bürgerrechte entsprechend neu definieren und die nötigen Staatsorgane zu schaffen.«
»Was ist mit der Polizei?«, fiel mir spontan ein.
»Khaled und ich sprechen für unsere Gruppenräte, wenn wir vorschlagen, dass die Polizistinnen und Polizisten sich natürlich für eines der drei Konglomerate entscheiden dürfen, so dass wir schnellstens neue Einheiten aufstellen können …«
»Sie wollen die Einheiten auseinanderreißen?« Yoon hob beschwichtigend die Hand.
»Obfrau Sutter, in Ihrer Einheit gibt es zwei Menschen aus dem ehemaligen Japan, geboren im Pazifik. Wenn sie sich für den Pazifik entscheiden, aufgrund von Verwandtschaft oder weil ihnen ebenso an der Wiederbesiedelung gelegen ist, werden wir sie natürlich aufnehmen. Sollten sie bleiben wollen, dann steht es ihnen frei. Wir zwingen niemanden.« Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und fühlte mich auf einem anderen Planeten. Takunos Hand legte sich auf meinen Oberschenkel.
»Chatrina?«
Jonnas eindringliche Stimme. Ich setzte mich aufrecht und schüttelte den Kopf. »Das ist doch Wahnsinn«, platzte ich heraus, »und bedeutet, dass wir uns in Zukunft um die knappen Ressourcen streiten.« Wut stieg in mir auf. »Anouk hat mich Geschichte gelehrt und ich habe aufgepasst! Wir werden dieselbe Situation wie vor 130 Jahren haben! Alle prügeln sich um alles! Und meinen Sie vielleicht, die Viren werden vor dem Südkontinent Halt machen?!«
Ich schmiss das Pad quer durch die Messe. »Scheiß doch drauf!«, schrie ich, rammte den Tisch beim Aufstehen, die Becher kippten um. Schnurstracks lief ich aus der Messe, schlug auf dem Gang gegen die Wand und … wo wollte ich eigentlich hin? Wo konnte ich in einem getauchten U-Boot meine Wut rauslassen? Verzweifelt sank ich auf den Boden, lehnte an die Wand, Stirn auf die Knie, die Arme darum gelegt. »Was für eine Scheiße!«, fluchte ich leise.


»Seegras könnte eine Veränderung bewirken«, sagte Kazumi als ich in den Besprechungsraum trat, die Tür verschloss und mich umblickte.
»Takuno kommt später«, raunte ich, nahm Platz auf einem der Stühle und zog eine Elektrolyt-Flasche aus der Tischvertiefung. Niemand sprach mehr. Es machte den Eindruck, als hätte sich mein Wutausbruch herumgesprochen. »Ich bin nicht stolz drauf und das war’s dann auch mit dem Vorfall«, stellte ich vorsorglich fest. »Mein Pad ist kaputt«, ergänzte ich.
»War sicher dem ganzen Stress nicht gewachsen«, spottete Bijan. Ich ignorierte seine Bemerkung, aktivierte das Hologramm des Besprechungsraumes und rief die noch inoffizielle Mitteilung des Gruppenrates ab, die für den 1. Mai 2148 geplant war. Das Hologramm formte die Köpfe von Jonna, Yoon und Khaled.
»Was ist das?«, fragte Kano und drehte sich zu den anderen, als wüssten die, was nun käme. Gebannt lauschten sie der Erklärung, Separation der beiden Konglomerate, eigene Staaten, Besiedelung des Südkontinents. Interessiert beobachtete ich ein Gesicht nach dem anderen. Kazumi wurde aschfahl. Bei Kano war ich mir sicher, dass es ihn am tiefsten traf. Lediglich Aljona und Steven sahen unbeteiligt aus. Yoon endete mit dem Angebot, die Pazifikgeborenen mögen ins dortige Konglomerat umsiedeln und Hamza betonte, es könne keinen Streit geben in der Ressourcenbeschaffung und Verteilung, da genug davon vorhanden sei.
Der blau leuchtende Kubus verschwand. Niemand sagte etwas. Ich trank einen Schluck und wartete ab. Betont langsam drehte ich die Flasche in der Hand. Gleiche Geschwindigkeit, Runde um Runde. Es war kurz vor vier Uhr am Nachmittag. Als die Leuchtanzeige auf 16 Uhr sprang, verlor Kazumi die Nerven, rieb sich die Stirn mit der flachen Hand …
»Warum hast du uns das gezeigt, Chatrina?«
Kano nickte still.
»Gute Frage. Das würde mich auch interessieren«, kommentierte Bijan.
Ich verschloss die Flasche, drückte den Rücken durch. Die Nieren taten mir weh. »Ihr wisst, wer ich bin und kennt mich genau. Für mich zählt unsere Arbeit, unser Auftrag – und ihr natürlich. Mehr als ihr euch vielleicht vorstellen mögt. Ich vertraue euch zu einhundert Prozent. Wir sind ein Teil des Ganzen«, langsam stand ich auf, schritt um den Tisch herum, blieb hinter Kano stehen. »aber jetzt zerfällt das Ganze in drei Teile; und womöglich in noch weitere. Ich dachte, wir seien Eins. Jetzt werden wir aufgefordert, uns für dieses oder jenes zu entscheiden …«
»Nur, wenn wir wollen«, warf Max ein.
»… nur wenn wir wollen, stimmt. Doch schon der gesprochene Satz zeigt, sie möchten, dass wir wollen – oder es gibt Menschen wie Yoon Da-Hee, die das wollen. Eins zu werden hat geholfen zu überleben. Das ist jetzt vorbei.« Ich wanderte zu Steven, dann zu Max und setzte mich wieder. »Ich lehne das komplett ab. Aus meiner persönlichen Sicht das Unsinnigste, was wir im Moment tun können. Und ich will von Euch wissen, wo ihr steht. Was ihr tun werdet?«
Sie erschraken nicht, wirkten gefasst. Alle hatten schon zuvor diese Gedanken. Da war ich mir sicher. Vielleicht zuerst unbewusst, kleine Zweifel, Fragen über Sinn und Unsinn dessen, was wir taten. Der Verrat Semjonowas, der Verlust unserer Leute, mein fünfwöchiges Koma, ohne Führung, die Unsicherheit und Angst …
»Ich …« Kano hob die Hand, blickte aber nicht vom Tisch auf. »Ich werde gehen …«
»Was?!«, rief Aljona, schob ruckartig den Stuhl weg und stand auf. »Spinnst du?!«
»Ich ebenso«, flüsterte Kazumi.«
Entsetzt riss Aljona den Kopf nach rechts und starrte Kazumi an. Dann rannte sie wortlos aus dem Raum, knallte die Metalltür zu.
»Warum?«, nuschelte Max. Siedend heiß durchzuckten mich Takunos Worte: ‚Es hat bereits begonnen‘. Er hatte recht.
»Jonnas Entscheidung, die Überlebenden dem sicheren Tod preiszugeben, war falsch, ebenso Semjonowa zu exekutieren …«, Kano schüttelte den Kopf. »Schon damals hatte ich Zweifel an unserem Tun. Und wenn es jetzt schlimm kommt, kann ich meine Eltern und meine Geschwister vielleicht nicht mehr besuchen oder … sterbe auf der falschen Seite.« Seine Verzweiflung stand ihm deutlich sichtbar im Gesicht. Er quälte sich, vermied es, mich anzusehen. Ich stand auf, setzte mich neben ihn und legte die Hand auf seine Schulter. Im Augenwinkel sah ich Kazumi den Raum verlassen. Bijan murmelte, dass er das nicht mitmache und folgte ihr. Ich verkniff die aufkommenden Tränen, atmete lieber tief ein.
»Kano … ich liebe dich wie meinen Bruder. Das weißt du«, flüsterte ich in sein Ohr. »Was dein Herz entscheidet, werde ich respektieren. Wenn es dich nach Oahu zieht, kann ich das gut verstehen. Es ist deine Heimat. Ich werde dich also nicht aufhalten.« Er rührte sich nicht. Atmete flach und starrte nur auf die Tischplatte. Sachte fuhr ich durch seine dichten Haare und stand auf.
»Steven? Max?« Steven sah mich mit leeren Augen an.
»Warum sollten wir gehen, Chatrina? Unsere Eltern leben im Nordatlantik«, stellte Max klar. »Trotzdem verstehe ich es nicht! Nichts mehr wird übrig bleiben.«
»Wir werden sehen, was passiert …«, hielt ich dagegen. »Wenn Takuno kommt, sagt ihm, ich käme später in die Zentrale. Ich gehe zu Kazumi«, ließ ich beide wissen und machte mich auf den Weg.


Sie öffnete auch nach mehrmaligem Klopfen nicht, also trat ich ein und fand sie auf dem Bett liegend vor, den Kopf ins Kissen vergraben, schluchzend. Ihr schmaler Körper bebte in Abständen, wie heranrollende Dünung. Ich setzte mich neben sie, kraulte den schlanken Nacken, strich den Haaransatz hoch zum Scheitel und langsam wieder hinab. »Ich glaube, ich weiß, warum du ebenfalls gehen möchtest, obwohl du in deiner Akte als Waise geführt wirst. Und es freut mich für dich, dass du diese Entscheidung triffst. Gleichzeitig schmerzt es. Denn ich … ich habe mich ein wenig wie deine Mutter gefühlt. Aber was ich fühle ist nicht wichtig. Wichtig ist nur das, was du für Kano empfindest. Nicht wahr?«
Sie drehte sich auf den Rücken und starrte mich mit geschwollenen Augen an. »Woher weißt du das?«
»Kano merkt so was ja nicht. Ich schon.« Sie schniefte, zog aus der Tasche ein Vlies und schnäuzte hinein. »Aber dann solltest du es ihm auch sagen, findest du nicht?« Ein zerknirschter Gesichtsausdruck folgte.
»Ich verstehe nicht, warum das jetzt alles so plötzlich kommt, Chatrina. Vor einem halben Jahr war noch alles in Ordnung …«
»Das täuscht«, unterbrach ich sie. »Wir haben es nur nicht gesehen … oder wollten es nicht sehen. Warte ab. Bald wirst du dich an Situationen, Gespräche, Gesichtsausdrücke ganz anders erinnern. Du wirst plötzlich die Töne dazwischen erkennen …«
»So wie du erkannt hast, dass ich Kano liebe?«
»Mh.«
»Ich will aber doch gar nicht weg!«, betonte sie trotzig.
»Du willst in meiner Nähe bleiben. Und ich hätte dich ebenso gerne in meiner Nähe, in meinem Team. Du bist eine sehr gute Polizistin, aber …«, ich schluckte heftig. »Kano wird seinem Herzen folgen. Oahu ist seine Heimat, dort ist Familie. Und du solltest auch deinem Herzen folgen. Du würdest es dir sonst ewig vorwerfen.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß ja noch nicht mal, ob er was für mich empfindet.« Ich grinste.
»Dann sag es ihm. Ich glaube, du musst dir keine Sorgen machen.« Kazumi schwieg lange und ließ die Augen nicht von mir.
»Wenn Kano und ich dort Teil einer Polizeieinheit werden, nichts anderes können wir ja, und es zu einem … einem Konflikt kommt zwischen den Konglomeraten, dann …«
Ich legte ihr den Finger auf die Lippen. »Ach was! Wenn du und Kano Urlaub machen, besucht ihr uns einfach. Melde dich vorher, dann nehmen Takuno, Jelena und ich uns ebenfalls ein paar Tage frei. Oder wir besuchen euch. Wär das was?«
Kazumi nickte, aber ich sah, dass sie tief drinnen nicht daran glaubte. Mir erging es nicht anders. Doch ich lächelte und zog Kazumi hoch, nahm sie fest in die Arme. Ebenso wie Abiola verdankte ich auch ihr mein Leben. Keine Tränen mehr, Chatrina, hoffte ich.


»Hier … ich habe es auf dich codieren lassen.« Takuno legte ein neues Pad auf den Kartentisch.
»Danke.«
»Keine Ursache. Dein altes habe ich geschreddert.« Er musterte mich durchdringend. Dieser Blick gab mir immer das Gefühl, kein Geheimnis sei vor seiner Wahrnehmung sicher, läge es auch noch so tief verborgen.
»Ja«, gab ich zu. »Kano und Kazumi werden uns verlassen.«
»Das war zu vermuten. Aus meiner Besatzung haben sich elf Mitglieder gemeldet. Ich habe sie freigestellt. Wir werden morgen früh Sankt Helena anlaufen …«
»Sankt Helena?«
Er nickte und zog das Hologramm aus dem Kartentisch, vergrößerte die Insel. »Jamestown. Dort werden alle von Bord gehen, die zum Indischen oder Pazifischen Konglomerat wechseln möchten.« Ich erschrak. Schon am nächsten Tag wäre der Abschied?
»Ich wusste nicht, dass Sankt Helena ein Anlaufpunkt ist …«
»Ich auch nicht. Jonna macht Nägel mit Köpfen, wie man so schön sagt. Alle Atlantikinseln werden als Stützpunkte ausgebaut.«
Da lag das neue Pad. Als hätte es von mir Notiz genommen, begann es zu summen. Unbekannter Anrufer. Ich wischte übers Display.
»Ähm … Putkaradze?« Das Gesicht des Meteorologen schwenkte ins Bild, dann wieder nach links. Er murmelte Unverständliches, zog die Optik vors Gesicht.
»Hallo? Obfrau Sutter?«
»Ich bin es.«
»Gut, in diesem Durcheinander hier … äh, ich habe was für Sie«, erklärte er.
»Gute Nachrichten empfände ich als angenehm.«
»Zumindest habe ich Nachrichten. Ob sie gut sind, wird sich herausstellen …« Er verschwand aus dem Bild. Ich suchte Takunos Blick und verdrehte die Augen. Jemand wie Putkaradze war imstande, mich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen. Mein Pad piepte zweimal und quittierte den Empfang einer Datei. Sein Gesicht tauchte wieder auf. »Hab Ihnen die Datei übertragen. Der Satellit hat alle Koordinaten in den letzten Wochen drei Mal überflogen. Das macht man, um Differenzen zu erkennen. Ist alles markiert. Mein Tipp: Achten Sie auf den Oberlauf und die Mündung des Amur …« Erneut verschwand sein Gesicht. Jemand rief: »Ich komme!«, dann wurde das Display dunkel.
»Komischer Kerl«, murmelte ich zu Takuno. »Der würde mich wahnsinnig machen!«
»Das wäre fatal«, grinste er. »Schieb die Datei in den Kartentisch. Wir wollen sehen, was er gefunden hat.« Das tat ich und das Hologramm blähte sich zu einer Halbkugel auf. Die Erde. Takuno las die Daten und drehte die Hand so, dass der Nordpazifik vergrößert wurde.
»Ich war nicht so gut in Geographie, Kenzaburo … was ist Amur?«
»Ein breiter Strom im ehemaligen Russland und gleichzeitig auf einem Teilstück der Grenzfluss zu China. Er mündet gegenüber Sachalin in die Tatarenstraße.«
»Ein Fluss?«
Er lächelte milde. »Ein Strom«, verbesserte er mich und schob den Finger tief in das Hologramm. Ein Ort wurde sichtbar. Nein, eine größere Stadt. »Komsomolsk«, sagte er.
»Und was gibt es in Komsomolsk?«
»Warte … wir gehen in den Besprechungsraum. Komm!«
Ich folgte ihm. Steven und Max redeten sich die Köpfe heiß über die Konsequenzen einer Separation. Takuno wischte das Bild an die Wand und sie verstummten. Ein Hafen im Strom, oder eher eine Werft. Über das Satellitenbild legte Takuno die Infrarotdaten. In den Becken tauchten drei Wärmequellen auf. »Und jetzt die nächste Runde …«, informierte er. Eine der Quellen war verschwunden. »Nun die dritte Runde.« Vier Quellen und eine weitere in einer langen Halle. Max erhob sich und ging langsam zur Wand.
»Was ist das?«
»Das ist die Stadt Komsomolsk in Ostsibirien. Aufgegeben im Jahr 2055«, erläuterte Takuno. »Dort war eine U-Boot-Werft. In Sowjetzeiten und noch danach. Die Wärmebilder wurden in den letzten sechs Wochen gemacht …« Takuno zoomte heraus und folgte dem Amur nach Norden. Aufnahme eins und Aufnahme drei zeigten Wärmepunkte im Oberlauf. Mein Herz klopfte. Sollten wir gerade die von uns gesuchte Werft entdeckt haben?
»Gibt es Informationen über eine U-Boot-Werft unsererseits in einem Strom?«, stellte ich die Frage in den Raum. Alle schüttelten den Kopf.
»Auf keinen Fall«, antwortete Takuno. Die Pegelstände der meisten Flüsse unterliegen inzwischen sehr großen Schwankungen. Manche sind fast komplett zu Rinnsalen verkommen. Nur dort wo die Tide das Wasser in die Mündungen drückt, sind sie befahrbar.«
»Takuno, wie weit ist es von der Mündung zur Werft?«
»Moment … etwa 580 Kilometer.«
»Was?! 580 Kilometer?! Da fährt jemand so weit ins Land hinein?«, wunderte sich Steven.
»Nur, um nicht gefunden zu werden …«, stellte Max fest.
»Nur, um nicht gefunden zu werden …«, wiederholte ich. »Takuno, wenn wir morgen früh Sankt Helena verlassen, setzen wir direkten Kurs auf die Amur-Mündung. Ich schätze, dass sich unsere Aufgabe zur Verhaftung der abtrünnigen Inselräte sowieso erledigt hat.« Max und Steven blickten erstaunt.
»Sankt Helena?«, wunderten sie sich wie aus einem Mund.


»Ich lese gerade im Protokoll, dass dein Pad zerstört wurde und du ein neues hast«, merkte Jonna süffisant an. Ich ging nicht darauf ein.
»Wo ist die Werft, auf der die neuen U-Boote gebaut werden?« Ihre Augenbrauen wanderten zusammen. Das Gesicht wurde noch kantiger. Nur in den Pupillen war zu erkennen, dass sie mit sich kämpfte.
»In Resolute Bay auf Cornwallis Island. Eine kleinere Insel in der Nordwest-Passage.«
Ich hatte nicht vor, locker zu lassen. »Seit wann werden die Boote dort gebaut?«
»Vor zwei Jahren haben wir angefangen …«
»Und warum?«
Jonna seufzte. »Was wird das? Ein Verhör?«
»In der Tat. Leider bin ich zu weit weg, um dich zu zwingen …«
Sie presste die Lippen zusammen. »Verstehe. Du bist wütend auf mich.«
»Das bin ich. Aber zuerst einmal fühle ich mich benutzt.«
»Auch das verstehe ich, Chatrina. Mein Prinzip ist es jedoch, niemandem zu trauen. Nur so kann ich einigermaßen zielsicher arbeiten.« Sagte sie nun die Wahrheit oder nicht? Ich ertappte mich dabei, ihr erklären zu wollen, dass man seinen engsten Mitarbeitern trauen sollte, wie ich Kano und allen anderen im Team traute. Dann fiel mir ein, dass Kano nicht mehr in meinem Team war. Ab wann durfte ich ihm nun nicht mehr trauen?
»Wir haben die U-Boot-Werft entdeckt«, ließ ich Jonna wissen. Sie fuhr wie vom Schlag getroffen zurück und starrte mich an.
»Wo?!«
»Am Amur-Oberlauf. 580 Kilometer flussaufwärts ab Mündung.« Ihre rechte Hand formte eine Faust. Sie presste so fest, dass alles Blut entwich.
»Bist du dir sicher?«
Ich schürzte die Lippen. »Wenn es keine Werft von uns ist, von denen ich ja offenbar nicht alle kenne, dann würde ich sagen, dass niemand eine Werft so weit ins Landesinnere baut, nur um stundenlang in Schleichfahrt einem Flusslauf zu folgen, hätte er nicht mindestens vor, unsichtbar zu bleiben, oder?«
»Danke für den Seitenhieb. Ist notiert«, entgegnete sie genervt. »Ich stimme deiner Schlussfolgerung …«
»Und ich schätze …«, unterbrach ich sie«, dass die unbekannte Gruppe vor fünf Jahren an den nordamerikanischen Pazifikhäfen einen besonderen Stahl erwerben wollte, den aber dann drei Jahre später Jonna Andersen bekam.« Sie zuckte mit den Schultern und setzte sich bequem hin, schlug die Beine übereinander.
»Je weniger die Menschen wissen, desto sicherer sind sie«, wendete sie ein. »Vor dreieinhalb Jahren erhielt ich die Mitteilung, dass es eine Anfrage des O’Hara-Clans gab bezüglich des nichtmagnetischen Stahls. Da stand ich vor einem Rätsel. Nichtmagnetischer Stahl … ein solches Material verarbeiteten wir nicht. Ich fand heraus, dass die US-Navy U-Boote aus diesem Material gebaut hatte und diese nun dort auf Reede lagen. Also musste es jemanden geben, der dieses Wissen besaß und Boote bauen wollte. Das war der Zeitpunkt, an dem ich misstrauisch wurde, Chatrina.« Sie überlegte einen Moment. »Damals hatte ich den Verdacht, paranoid zu werden und rekrutierte zehn Frauen und Männer nach deren Ausbildung für eine kleine Einheit, die ich an neuralgischen Positionen platzierte, um sich umzuhören …«
»Spione?«
»Etwas in der Art«, lächelte sie kühl. »Umhören eben.«
»Dann stellte sich heraus, dass du nicht paranoid warst.«
Sie nickte. »Die meisten dieser Personen wurden enttarnt und getötet. Doch ich erfuhr von den immer deutlicher werdenden Ideen und Forderungen bestimmter Kreise, sich wieder anzusiedeln … auf dem Südkontinent. Der Sicherheitsausschuss des Gruppenrates lehnte dies offiziell ab, immer wieder …«
»Und diese Forderungen kamen unter anderem von Yoon Da-Hee.«
»Ja. Aber der Stahl hatte in keinster Weise etwas mit den Sezessionsgedanken zu tun. In all den Jahren fand ich nicht heraus, wer sich das Material besorgen wollte …«
»… und dann verschwand Insel 64«, murmelte ich, trank zwei große Schluck Elektrolyt, aß einen Algenkeks. Jonna sah geduldig zu. In all den Jahren war mir nie ganz klar, was ich am Ende von ihr zu halten hatte. Nur eines wusste ich mit Bestimmtheit: Niemals durfte man sie unterschätzen.
»War es notwendig, so etwas wie eine Alleinherrschaft zu implementieren, Jonna?«, fragte ich sie direkt. »Ich war gut in Geschichte, dank Anouk. Diese Art von Herrschaft hatte im Kielwasser immer Unglück und Katastrophen.«
Sie beugte sich vor. »Sobald ich über das Ziel hinausschieße, kannst du mich standrechtlich exekutieren lassen. Das ist ein Befehl und er ist hiermit protokolliert.« Wir sahen uns in die Augen. Lange. Ohne abzuschweifen mit den Gedanken oder dem Blick. Dann blinzelte sie. »Was hast du jetzt vor?«
»Morgen früh setzen wir in Sankt Helena Kano, Kazumi und Bijan ab. Dann ignorieren wir die separatistischen Inseln und machen uns direkt auf den Weg ins Ochotskische Meer. Ich brauche zwei Versorger. Sie sollen – so weit möglich – knapp unter Land laufen. Wir treffen uns an der Nordspitze von Sachalin. Koordinaten gebe ich noch durch. Jeder Versorger mit drei Coptern, Grundminen …«
»Deine Truppe ist ziemlich zusammengeschmolzen.«
»… Grundminen und Personal«, beendete ich den Satz.
»Ich schicke dir den Rest von Tesfamariams Truppe.«
Ich erschrak. »Den Rest?«
»Die Verlustmeldung kam gestern. O‘Hara entschied sich dafür, nur an uns zu liefern, obwohl er am Pazifik residierte. Sein Clan wurde weitestgehend ausgelöscht von Polizeieinheit 918. Tesfamariam verteidigte ihn. Sie starb mit zwei anderen ihrer Truppe.« Alle Worte waren überflüssig. Sogar die Gedanken. Was das bedeutete, lag auf der Hand. Langsam sickerten die Bilder in mein Bewusstsein. Ich weiß nicht wohin, dachte ich dann und spürte Angst aufkommen.

»Die Versorger laufen in einer Stunde aus«, ließ sie mich wissen.
»Danke.«
»Chatrina?«
»Ja?«
»Deine und Takunos Leute sind die Einzigen, die wissen, was die Boote können …«
»Die Boote?!«
Sie nickte. »Ja, die Boote. Und morgen früh verabschieden sich diese Wissenden zu zwei möglichen Gegnern. Das kann ich nicht zulassen.«
Sie kroch fast in die Optik. Um zu sehen, wie ich reagierte. Ob ich verstand und begriff, was sie mir sagen wollte. Ich begriff sofort. Es nahm mir die Luft zum Atmen, würgte mich regelrecht. Mir wurde schlagartig schlecht. Ich schaffte es gerade noch auf die Toilette, in die ich mich lautstark übergab. Es waren doch noch Tränen in mir. Ich schrie. Zurück am Tisch, als ich wieder auf das Display sah, saß Jonna unverändert auf ihrem Platz, starrte mich an. Kein Lächeln mehr. Gesichtszüge wie Eis. Keine Sonne weit und breit.
»Du musst es nicht tun«, sagte sie kühl. »Ich werde es für dich tun, Chatrina.«
»Takuno verliert ebenfalls elf Leute …«
»Ja, ich weiß.«
»Es ist falsch, Jonna …«
»Für mich nicht. Für dich vielleicht, weil du sie als deine Familie betrachtest …«
»Kazumi hat mir das Leben gerettet …«
»Pazifik und Indischer Ozean haben zusammen 2.300 Inseln. Die Werften auf Oahu sind ungleich produktiver, mit China haben sie ein Füllhorn an Ressourcen …«
»Jonna! Sie sind unsere Schwestern und Brüder! Wir teilen das gleiche Schicksal!«
»Erzähl das Tesfamariam …«, ätzte sie.
»Und wenn ich sie überzeugen könnte, bei uns zu bleiben?«, spekulierte ich. Das Mitleid tropfte förmlich aus ihrem Gesicht.
»Du könntest sie nur überzeugen durch die Wahrheit. Und dann hätten sie noch weniger Grund zu bleiben. Bleib rational …«
Ich setzte eine zerknirschte Maske auf. »Du hast recht …«
»Schön. Eins noch … es werden drei Versorger sein die Sachalin anlaufen. Alles weitere dann, wenn ihr dort ankommt.«
»Okay, Jonna.«
»Momentan bringen viele Boote eine große Zahl von Bürgern in die beiden Konglomerate … und natürlich auch von dort zu uns. Trotzdem kann es jeden Moment zu einem offiziellen Kriegszustand kommen. Daran müsst ihr denken.« Ich hob die Hand und deaktivierte. Sie wusste, ich würde niemals Kano, Kazumi und Bijan töten oder von irgendjemanden töten lassen. Was also sollte das dann? Wollte sie mich auf die Probe stellen? Meine Loyalität testen? Ich musste mit Takuno reden.


Jelena saß im Sonarraum und enträtselte Geräusche. Takuno klopfte an meine Kabinentür, trat ein, in der linken Hand einen Teller Seetang mit Algenfüllung. Er stellte es auf dem Tisch ab und setzte sich aufs Bett. Das Käppi auf dem Kopf. Gedankenverloren schob ich eine Rolle in den Mund, sah ihn lange an. Die blaue Borduniform, die schwarzen Haare. Dann schluckte ich die zerkaute Rolle, musste husten und fing an zu weinen, senkte den Kopf in die Armbeuge auf dem Tisch. Ich begriff nicht, wie es so weit kommen konnte. Eine Hand legte sich auf meinen Kopf. Daumen und kleiner Finger kraulten sachte durch Haare, über die große Narbe. Es kribbelte. »Hätte mich dieser Beat Sutter doch bloß in Genua gelassen«, nuschelte ich in die Ellbogenbeuge.
»Dann wärst du jetzt tot. Er hat dich gerettet, dir ein neues Leben gegeben!«
»Tot wäre okay.«
»Du bist egoistisch. Was ist mit mir? Ich danke Neptun jeden Tag dafür, dass er dich mir gebracht hat.«
»Neptun?«
Es raschelte, ich spürte Takunos Atem näher kommen, seine Lippen auf der Narbe. Vorsichtig küsste er die harte Erhebung. »Der römische Gott des Meeres.« Ich schniefte, zog so gut es ging die Nase hoch, konnte aber nicht verhindern, dass Schleim an der Uniform hängenblieb.
»Endlich haben wir einen Namen für dein Boot. Wir taufen es Neptun«, schlug ich vor. Takuno zog mich hoch. Ich landete auf seinem Schoss und drückte ihn von mir weg an die Wand, nahm sein Käppi ab, um die Augen besser sehen zu können.
»Das gefällt mir … Neptun …«, sinnierte er.
»Kenzaburo … ich muss dir was sagen …«
»Nur zu.«
»Ich liebe dich«, offenbarte ich ihm und wollte doch etwas anderes beichten. Über Jonna sprechen.
»Und ich liebe dich, Chatrina Sutter.« Ruckartig riss ich seinen Oberkörper von der Wand weg, küsste diesen dunkelrosafarbenen Mund. Doch bevor er imstande war zu reagieren, stand ich auf und setzte mich auf den Stuhl.
»Jonna hat mich beauftragt, meine und deine Leute zu exekutieren.« Es war kaum raus, da entdeckte ich zum ersten Mal so etwas wie Wut in seinen Augen.
»Jonna …«, hauchte er mit zittriger Stimme.
»Sie kennen das Geheimnis dieses Bootes. Dessen Fähigkeiten. Und würden es verraten. Sagt sie. Jonna will es verheimlichen, den Vorteil so lange wie möglich behalten. Es wird vielleicht Krieg geben …« Ich atmete tief ein, schloss die Augen und dachte an Kidane. »Das Pazifik-Konglomerat hat Tesfamariam getötet als sie den Handelsclan der O’Haras beschützte, denn der wollte nur an uns liefern, obwohl sie am Pazifik liegen …«
»Es hat also tatsächlich begonnen …«, flüsterte er.
Ich nickte.
»Dies ist nicht das einzige Boot dieser Art. Sie bauen seit zwei Jahren. Der Stahl kam von den O’Haras. Die Werft liegt auf einer kleinen Insel in der Nordwest-Passage. Schon vor drei Jahren hat Jonna eine Art Geheimdienst ins Leben gerufen, um die beginnende Sezession zu beobachten. Sie war mit ihren Ahnungen und ihrem Wissen allen voraus … und nutzt nun die unüberschaubare Situation, um das ganze System auszuhebeln, sich an die Macht zu setzen, eiskalt und ohne Rücksicht auf Verluste.«
Takuno schloss die Augen. Tat einfach nichts, außer zu atmen. Ich wurde unsicher. »Kenzaburo …« Noch hatte ich ihm nicht die alles entscheidende Frage gestellt. Die ich weit von mir geschoben hatte. Bis zu diesem Augenblick. »Kenzaburo … deine Vorfahren kommen aus Japan, du bist geboren im Pazifik. Ich muss wissen …« Er öffnete die Augen. Sein Blick war ruhig, ganz bei mir. Wie ein Seemann, dachte ich. Auch wenn der Sturm noch so heftig ist …
»Wo du bist, bin ich, das weißt du, Chatrina. Die Frage ist, was wirst du tun?« Was ich zu tun gedachte, schälte sich in diesem Moment wie ein Gipfel aus dem Nebel. Es lag klar vor mir. Nichts anderes wäre je in Frage gekommen.
»Die Familie zusammenhalten, Kenzaburo. Sie beschützen.«
Er zog einige Male an seinem rechten Ohr. »Jonna weiß, dass du diesen Befehl niemals umsetzen wirst.« Ich nickte gedankenverloren. »Das bedeutet, sie rechnet damit, dass du … dass wir desertieren werden«, war sein Resümee. »Sie macht aus uns Aussätzige. Infizierte. Und doch haben wir dieses Boot bekommen?« Ich hatte keine Lösung parat, ahnte aber, wo wir sie bekämen.
»Wir fahren zum Amur, suchen danach Insel 64 und dann …«, kopfschüttelnd verstummte ich.
»Und dann?«
»Dann töte ich Jonna.«
Er riss die Augen auf und erstarrte.


Kano und Kazumi betraten den Besprechungsraum. Bijan folgte einen Moment später. Sie setzten sich schweigend. Aljona sog lautstark die Luft ein. Dann tauchten Takunos Leute auf. Es wurde eng. Steven und Max rückten zusammen. Ich steckte das Pad in die Tasche, musterte die einzelnen Gesichter. Niemals hätte ich mir träumen lassen, solch ein Treffen einzuberufen, presste die Lippen aufeinander, dann …
»Danke, dass ihr gekommen seid. Ohne lang drumherum zu reden, komme ich zum Kern. Ihr seid hier, weil ich eine Entscheidung mitteilen möchte. Meine Entscheidung.« Ich zählte bis fünf, bevor ich fortfuhr. »Kano, Kazumi und Bijan wollen uns verlassen. Ebenso wie elf von Takunos Leuten. Aber: Ihr seid alle Geheimnisträger, wisst, was dieses Boot kann. Pazifik und Indischer Ozean haben diese Technik nicht. Nur Jonna Andersen weiß, wo die Werft ist. Aber auch Pazifik und Indischer Ozean sind wohl nicht unschuldig und haben die Separation lange vorbereitet. Die Welt teilt sich offenbar. Und ich sage ganz klar: Ich will das nicht. Es widerstrebt mir. Aber schlimmer noch …« Ich erhob mich und sah in die Runde. »Jonna Andersen hat die nicht unberechtigte Angst, dass diese vierzehn Menschen etwas verraten. Sie trug mir auf, euch zu töten, will mir das aber gnädigerweise abnehmen. Wenn ihr also morgen früh in das euch abholende Boot steigt, werdet ihr keine Stunde später tot sein …« Der Aufschrei ließ nicht auf sich warten. Kazumi brach in Tränen aus, Kano wurde kreidebleich. Ich stellte mich auf den Stuhl und schlug ein paar Mal auf den Tisch.
»Ruhe!«, rief Takuno.
»Obmann Takuno und ich werden das nicht zulassen! Es gibt zwei Möglichkeiten: Zum einen bieten wir an, vor der Weihnachtsinsel zu stoppen, geben euch zwei Schnellboote, mit denen ihr den Versorger-Stützpunkt erreichen könnt. Dann seid ihr in Sicherheit. Was ihr mit dem Wissen um dieses Boot macht, ist mir persönlich egal …«
»Das ist Verrat, Chatrina«, warf Kano ein.
»Das ist es, Kano. Offenbar will sie das, um uns alle loszuwerden. Denn tue ich das nicht, kann sie uns jagen. Yoon Da-Hee und Khaled Hamza werden das aber auch tun, denn sie wollen das Boot. Jonna führt also noch etwas anderes im Schilde.« Ich drehte mich vom Licht weg, starrte an die Decke, atmete tief ein. Es schüttelte mich innerlich. »Ich will meine Aufgabe erfüllen«, fuhr ich fort. »Die heißt: finde die Unbekannten und Insel 64. Das werde ich tun! Und ihr könnt mir helfen. Das bedeutet, dass wir alle zusammen an den Amur fahren, herausfinden, was in dieser Werft geschieht und dann suchen wir diese vermaledeite Insel, denn dort warten viele Antworten auf uns, dessen bin ich mir sicher.« Schnell wischte ich mit dem Ärmel über die feuchten Augen.

»Und wenn das alles gelingt, was machen wir dann?«, wollte Bijan wissen.
»Was ihr danach macht, bleibt euch überlassen. Kehrt zu euren Familien heim. Sollten wir dann noch leben, setzen wir euch ab, wo ihr wollt.« Betretenes Schweigen oder einfach nur ein Schweigen, um nachzudenken, den Schreck zu verdauen. »Wer auf der Weihnachtsinsel aussteigen möchte, kann das tun. Sie liegt auf unserem Weg an den Amur.«
»Chatrina …«, Kano hob die Hand. »Wie willst du Jonna erklären, dass wir morgen früh nicht an Bord des Bootes gehen?« Ich musste unwillkürlich grinsen.
»Sie wird es schon merken, nicht wahr?«
Totenstille im Raum. Noch nicht mal ein Atmen war zu hören. Es arbeitete in allen Köpfen.
»Sie wird uns jagen …«, mutmaßte Kazumi.
»Das denke ich auch. Also müssen wir besser und schneller sein. Ihr habt eine halbe Stunde Zeit, um zu überlegen. Weihnachtsinsel oder Amur.«
Ich blickte jeder und jedem in die Augen. In unstete Blicke, ausweichend, wie ein Zittern im stillen Raum. Warum sollte es ihnen anders gehen als mir? Dann verließen Takunos Leute den Raum.
»Kano, Kazumi und Bijan … bleibt bitte noch, Takuno auch. Setzt euch.« Ich stieg vom Stuhl, setzte mich drauf und beugte mich vor, beide Arme ausgestreckt. Kano verstand. Alle verstanden. Wir griffen uns an die Schultern, packten fest zu. Zum ersten Mal sah ich Bijan und Max weinen, Kazumi schniefte, Aljona kniff die Augen zu. Amur, dachte ich, wir kommen.


Die Antwort hieß zu meiner freudigen Überraschung Amur. Niemand legte Einspruch ein. Takuno berechnete einen Kurs um das Kap der Guten Hoffnung, quer über den Indischen Ozean. Er forderte dem Boot alles ab. In sechshundert Metern Tiefe jagten wir mit siebzig Knoten unserem Ziel entgegen. Trotzdem lagen etwas über sieben Tage vor uns. Takuno war in seinem Element. Und wir anderen grübelten über alten Satellitenkarten der Region Chabarowsk.
»Jonna weiß, dass wir zum Amur unterwegs sind«, betonte Kano. »Wir haben 22.000 Kilometer vor uns. Jonna nur 10.000. Selbst mit diesem Antrieb schaffen wir es nicht rechtzeitig.«
»Sachalin liegt im Pazifischen Konglomerat«, erinnerte Kazumi. »Zwischen den Kurilen und Sachalin befinden sich die Gruppen 109 und 103. Gäbe es Krieg, wäre Jonnas Unterfangen eine Gebietsverletzung.«
»Es ist aber noch kein Krieg«, warf Max ein. »Wenn er denn überhaupt kommt …«
Ich vergrößerte die Karte. Drei Versorger sollten kommen. Konnte ich mir sicher sein, dass es nicht schon Versorger mit dieser neuen Antriebstechnik gab? »Nichts ist sicher«, merkte ich an und schob den Finger nach Norden. »Aber für Jonna auch nicht!«
»Was meinst du?« Kano sah mich zweifelnd an.
»Jonna muss durch die Beringstraße. Keine hundert Kilometer breit und sehr flach. Genau in der Mitte die Diomedes-Inseln. Max, zeig mir bitte die Meereskarte.« Er wischte einige Male über sein Tablet, stoppte die Bewegung der Karte und legte es auf den Tisch. Westlich der Inseln lag die Wassertiefe bei etwa fünfzig Meter, östlich gab es einen schmalen Bereich, wie ein Kanal in Nord-Süd-Richtung, einhundert Meter tief. Ich legte den Finger auf die Karte. »Wenn wir den Bereich östlich der Diomedes-Inseln verminen, können die Versorger nur westlich passieren. Dort kann man sie abfangen und aufbringen …«
»Abfangen und aufbringen?«, fragte Kazumi entsetzt.
»Ja, gute Idee«, sagte Aljona und grinste.
Kano schüttelte den Kopf. »Wer sollte die Versorger denn abfangen und aufbringen? Wir etwa?«
»Nun, Kano«, grinste ich ihn an, »das ist doch ab der Linie Diomedes-Inseln pazifisches Gebiet … also käme da nur Yoon Da-Hee in Frage, oder?«
Sie starrten mich an.
»Das ist nicht dein Ernst …«, murmelte Steven. »Mit dem Gegner paktieren?«
Ich lehnte mich zurück und rieb fest mit beiden Händen das Gesicht. Hunger meldete sich langsam. »Überlegt mal … wir haben die Grenze bereits überschritten, indem wir Sankt Helena nicht anliefen. Damit haben wir uns Jonna zum Gegner gemacht. Bekommt sie uns zu fassen, wird sie sich unser auf die eine oder andere Art entledigen. In dieser Situation ist Yoon Da-Hee kein Gegner, sondern eine temporäre Verbündete!«
»Warum sollte Yoon das tun?«
Kanos Frage war nicht ganz korrekt formuliert. Für einen Moment sah ich ihn an und überlegte, was ein Krieg brächte. Wie viele neue Boote Jonna besaß, war nur schwer zu schätzen, aber schon eines von ihnen war – zumindest in tiefen Gewässern – allen bisherigen Typen überlegen. »Ich denke, die Frage ist nicht, warum sie das tun sollte, sondern für was? Was braucht Yoon, was Jonna hat?«
»Die neuen Boote«, platzte Aljona heraus.
»Genau …«
Ein dumpfes Rauschen füllte den Raum. Dann ein Wummern. Wir sahen uns an. »Du willst ihr Takunos Boot überlassen?«, unterbrach Kano unser Lauschen.
»Nein, das nicht … aber vielleicht genügt eines der Boote aus der Amur-Werft.«
Takuno kam herein, fiel förmlich mit der Tür in den Raum. »Über uns ist ordentlich was los«, berichtete er eilig, schloss die Tür und lehnte sich an. Wieder das Wummern und ein tiefes Gurgeln. »Wir gehen tiefer«, teilte er tonlos mit. Es klopfte. Takuno schaffte es gerade noch auf Seite zu treten, bevor die Tür erneut aufgestoßen wurde. Jelena stürmte herein, rannte an den Tisch und umschlang mich schluchzend.
»Was ist …«
Kazumi stellte sich hinter Jelena. Zusammen umarmten wir sie, hielten den zitternden Körper fest. Ihre Beine gaben nach. Sanft bewegten wir uns zur Bank, nahmen vorsichtig Platz.
»Was ist los, Takuno?«
»Torpedos im Wasser, sinkende Inseln und Boote. Jelena hat das im Sonar mitbekommen …«
»Jonna …«, murmelte Kano.
»… und Yoon … oder Khaled, wie auch immer«, ergänzte Takuno. »Die Geräusche kommen von beiden Seiten. Schwer zu sagen, wer angefangen hat.«
»Und jetzt?«, fragte Steven ängstlich.
»Ich habe unseren Kurs geändert. Wir laufen auf diesem Breitengrad bis zur Höhe Tasmaniens und schwenken dann nach Norden.«
Er blickte sich unsicher um. Das erlebte ich zum ersten Mal in all den Wochen.


Der Stahl knackte vernehmlich. Nicht durchgehend, aber immer wieder und aus allen Richtungen. Bennani schwitzte mehr Wasser als er im Körper hatte. Nervös blickte er immer wieder zu mir, dann auf das zentrale Infodisplay. Takuno saß neben dem Periskop auf seinem Sitz, tippte mit allen fünf Fingern der rechten Hand auf die Reling vor ihm.
»Maschine? Alles in Ordnung?«
»Leichte Temperaturerhöhung in den Supraleitern, aber im Toleranzbereich.«
»Torpedoraum! Sind die Luken dicht?«
»Kein Druckanstieg!«
»Ventile in den Tauchtanks, Bennani?«
»Dicht!«
»Hm«, murmelte Takuno, drehte den Kopf und sah mich an. Als könne er es nicht fassen, dass alles funktionierte.
»Sonar! Wie ist die Lage?«
»Wir sind in einer kalten Schicht. Sehr dichtes Medium!«
Er beendete das Fingerklopfen, rieb sich stattdessen das Kinn. »An und für sich nicht schlecht. Allerdings sind wir genau so taub wie alle anderen.«
»Takuno, zeig mir die hier positionierten Inseln.« Er nickte, stand auf und kam zum Kartentisch, tippte etwas auf dem Display. Das Hologramm zeigte eine große Anzahl roter Quadrate. Er erhöhte die Auflösung.
»Gruppe 56 in achtzig Kilometern Entfernung. Eine Insel fehlt, vermutlich mit Auswanderungswilligen nach Westen unterwegs. Nördlich kommt Gruppe 57, zwei Inseln fehlen. Südlich sind keine Inseln mehr.«
»Und unsere Position?«
»In zwei Stunden passieren wir 300 Kilometer weiter südlich die McDonald-Inseln. Dort ist eine Art Gebirgssattel, Wassertiefe klettert von 4.500 auf 2.500 Meter.«
»Die Kerguelen sind in der Nähe …«, merkte ich an.
»Ihre Sonarbojen reichen nicht so weit nach Süden«, ahnte er meine Bedenken.
»Takuno … ich beabsichtige Yoon um Hilfe zu bitten«, eröffnete ich ihm spontan. »Jonna kommt durch die Beringstraße, ist wesentlich früher als wir am Amur, das müssen wir verhindern … und nur Yoon Da-Hee kann uns helfen.« Er nahm das Käppi vom Kopf und kratzte sich ausgiebig. Dann nickte er.
»Das habe ich mir auch schon überlegt. Wir wissen von drei Versorgern, die kommen, aber Jonna könnte auch eine Armada ihrer neuen Boote senden. Dann säßen wir in der Patsche …«
»Yoon soll die Beringstraße verminen«, unterbrach ich ihn, »Sonarbojen aussetzen, dort ist es flach. Mit ein paar Booten könnte man den Durchgang absperren. Und wir platzieren Grundminen nördlich und südlich der Amur-Mündung.«
»Alles schön und gut. Das kann sogar funktionieren und würde uns helfen … aber wie um alles in der Welt sollen wir Yoon Da-Hee dazu bringen, für uns Partei zu ergreifen?«
»Indem wir eines dieser Boote aufbringen und es ihr überlassen.«
Takuno presste die Lippen aufeinander und atmete tief ein. »Ja, es wird wohl nichts anderes übrigbleiben …«
»Wenn wir über diesem Sattel sind, gehen wir auf Kommunikationstiefe und nehmen Kontakt auf.«
»Ist gut, Chatrina.«


»Ich habe Angst«, flüsterte Jelena. Sie zeichnete Figuren auf die Bettdecke, angelehnt an Kazumi, die gedankenverloren an die Wand hinter mir starrte, eine Hand auf Jelenas Kopf.
»Ich auch … und Kazumi sicher nicht weniger.« Jelena sagte nichts. Kazumi lächelte still vor sich hin. »Ich wurde beauftragt, Kano, Kazumi und Bijan zu töten, nur weil sie Geheimnisträger sind und nach Hause zu ihren Familien wollten, in den Pazifik«, beichtete ich ihr. Sie hob den Kopf, hörte auf zu zeichnen.
»Aber du wirst es nicht tun, oder?«
»Niemals. Ich gäbe jederzeit mein Leben für Kazumi und die anderen. So wie für dich.« Aus der Stahlwand drückte sich ein leises Knacken an unsere Ohren. »Das heißt aber auch, dass wir nun Abtrünnige sind, auf der Flucht. Und selbst wenn wir zu Yoon Da-Hee oder Khaled Hamza überlaufen, müssten wir über kurz oder lang gegen Anouk kämpfen, Retos Frau in Gefahr bringen oder Abiolas Eltern.« Ich presste eine Faust gegen die Stirn. »Diesen Wahnsinn werde ich nicht mitmachen.«
»Ich auch nicht«, stimmte Kazumi zu. Jelena bedeutete mir, mich neben sie zu setzen, was ich tat, meinen Arm zu Kazumi schob und beide zu mir zog.
»Was können wir tun, Mama?«
»Auf Anouk hören.«
»Anouk?«
»Ja. Er sagte einmal, wenn zwei sich gegenüberstehen mit identischer Kraft und den gleichen Waffen, dann ist es weise, über einen dritten Weg zu reden.«
»Das verstehe ich irgendwie, aber was bedeutet das für uns?«
»Das bedeutet, wir werden dafür sorgen, dass Yoon Da-Hee und Khaled Hamza eines dieser unbekannten Boote bekommen – oder zumindest die Baupläne. Dann ist …«
»… niemand im Vorteil«, vollendete Jelena.
»Das ist der Plan.« Sie löste sich aus unserer Mitte und kniete gegenüber.
»Und was kann alles schiefgehen?«
Ich zuckte mit der Schulter, fasste Kazumi fester, zog sie zu mir. »Alles. Und auch nichts. Egal wie gut ein Plan ist, es gibt immer etwas, das wir nicht vorhersehen können, weil wir davon nichts wissen.« Ihr Blick schweifte umher, als suchte sie einen Gedanken. »Wie ist deine Lehrerin?«
»Ich mag sie«, erklärte Jelena und grinste. Trotz all dem, was über uns passierte, fühlte ich just in diesem Moment so etwas wie Glück.

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