Insel 64 | Kapitel 5

Aus der Dunkelheit

Es war fast dunkel. Im grünlichen Licht der Nachtsichtoptik entdeckten wir Hunde, Katzen und Ratten auf unserem Weg hinunter in die Stadt. Immerhin keine Infizierten. Die Drohne zeigte einen immer noch intakten Übergang über die Garonne; und die Ebbe setzte ein. Sofern die Trümmer oder maroden Häuser es erlaubten, marschierten wir in zwei Gruppen links und rechts an den Gebäudezeilen entlang und standen bald an einer alten Brücke mit steinernen Bögen.
»Erstaunlich«, wunderte sich Kazumi, »dass so alte Bauwerke immer noch stehen. Die wurden wohl für die Ewigkeit gebaut.«
»Die Brücke schon, die Menschen nicht«, kommentierte Aljona. Sie räusperte sich. »Chatrina, wir brauchen ein Nachtquartier.«
Sie hatte recht. »Kano, flieg auf die andere Seite zu dieser alten Kirche. Eventuell können wir dort über Nacht bleiben.«
»Mach ich.«
Der Platz vor der Brücke war voller Sand, hier und da in Wellen abgelagert, kleinen Dünen gleich. In einer Anhäufung steckte eine alte Straßenbahn, daneben die Gerippe zweier Lastwagen. Kano setzte sich auf eine Metallabdeckung, wohl das Dach einer ehemaligen Haltestelle. Er steuerte die Drohne auf die andere Flussseite.
»Steven und Hilario, sichert nach hinten. Max und Kazumi nach links und rechts. Ich will nicht von Hunden überrascht werden. Der Rest ruht sich aus.«
Ich setzte mich auf ein großes Mauerstück und sah Nung zu, wie er näher kam, neben mir Platz nahm und kräftig die Maske hin und her schob.
»Juckt ein bisschen, was?«
Er nickte, seufzte in die Maske. »Warum sind wir hier und nicht auf dem Weg zurück?«, fragte er unvermittelt. Ich lächelte hinter meinem Atemschutz und war froh, dass er das nicht sehen konnte. Nung gefiel mir. Zwar ohne Erfahrung – wer von uns war das nicht am Beginn seiner Dienstzeit – aber er zeigte Initiative, war neugierig. Ich würde seine Aufnahme ins Team empfehlen.
»Ich möchte eine der Absturzstellen untersuchen, Nung. Stellen Sie sich vor, einen Mannschafts-Copter abzutransportieren. Wie würden Sie vorgehen?«
»Puh …« Er zog den Helm ab und kratzte sich am Kopf. »Man bräuchte entsprechendes Gerät. Einen Transport-Copter. Wie sollte das sonst gehen?«
»Sie haben keinen.«
Er legte die Waffe neben sich, den Helm oben drauf. »Wenn ich etwas Großes nicht weg bekomme, muss ich es klein machen …« Sein Blick suchte den Himmel ab. »… das heißt aber nur, dass die Teile durch eine kleinere Öffnung passen und ich sie besser stapeln kann. Das Gewicht bleibt identisch, das Volumen verringert sich.«
»Wenn es keinen Copter gibt, um so viel Material wegzuschaffen, brauche ich ein anderes Fahrzeug und natürlich auch viele Hände die mit anpacken …«
Nung sah mich an. Er zupfte an seiner Sicherheitsweste und schaute dann zur Brücke.
»Der Fluss? Sie meinen ein Boot? Ein Boot im Fluss?«
»Gut möglich …«
»Chatrina! Helmlampen an?« Aljonas Stimme im Ohr.
»Nein, wir bleiben auf Nachtsicht.« Nung setzte den Helm auf, klappte das Nachtsichtgerät vor die Augen. Ich zog das Pad und sendete einen Im-Einsatz-Code. Am Leben, aber Funkstille.
»Chatrina?«
»Kano?«
»Die Kirche ist nicht zu empfehlen, aber gegenüber gibt es ein Gebäude, das noch brauchbar aussieht.«
»Danke. Und die Brücke?«
»Ein paar Durchbrüche in den Seitenmauern, aber stabil, würde ich sagen.«
Ich stand auf und sah hinauf zum Himmel. Das Leuchten der Milchstraße nahm an Intensität zu. »Weiter geht’s! Kano führt per Drohne, Aljona am Schluss. In einer Reihe, aber haltet Abstand zueinander.«

Traumsequenz, Chatrina Sutter

»Chatrina?« Die kühle Hand des Mannes auf meiner Stirn. Nun rief er meinen Namen. Ich öffnete die Augen und am anderen Ende des Armes erkannte ich nicht ihn sondern Kazumi mit besorgtem Blick. »Chatrina … so langsam mache ich mir Sorgen …« Sie blickte sich um, beugte sich dann herunter. »Wir machen uns Sorgen.«
Ich reagierte nicht, spürte die Maske im Gesicht. Waren wir in einem Raum? Im Halbdunkel eines alten Zimmers? Mit hohen Decken und halb zerstörten Bordüren in den Ecken? Offenbar. Dies war kein Ort aus meinen Träumen.
»Wo sind wir, Kazumi?«
»In Bordeaux. Es ist schon neun Uhr. Du hast geschlafen wie eine Tote …« Fast musste ich lachen. Wie eine Tote? Welche von den vielen? Kazumi drückte mir etwas in die Hand. Etwas Kleines.
»Hier. Deine Tablette. Komm, ich helfe dir hoch …«
Das war sie, die Realität. In ihr sprachen die Lebenden. In ihr gab es Tabletten. Takunos Tabletten. Mit seinem Namen in meinen Gedanken kamen die Tränen. Kazumi drückte mich schnell an ihre Brust. Jemand redete in einem anderen Raum. Aljona hustete und Hilario lachte. Wir mussten weiter, also löste ich mich aus Kazumis Umarmung, wischte die Tränen ab, zog die Maske hoch und schluckte die Tablette mit einer Menge Elektrolyt. Mühsamer als sonst stand ich auf, führte ein paar Dehnungsübungen durch und aß zwei Algenriegel. Kazumi war offenbar zufrieden und kontrollierte ihre Waffe. Ich betrat den vorderen Raum.
»Guten Morgen. Kano? Besondere Vorkommnisse heute Nacht?«
»Alles bestens, Chatrina.«
»Wie weit ist die Absturzstelle von hier?«
»Laut Karte immer am Fluss entlang bis zum Hafen, am Bunker vorbei … ungefähr fünfeinhalb Kilometer.«
»Dann Abmarsch.«

Ich setzte einen Im-Einsatz-Code ab, dann verließen wir das Gebäude. Verfall um uns herum. Eine unübersichtliche Ansammlung kleiner und großer Mauerbrocken, dazwischen der noch erstaunlich intakte Kirchturm. Die Hitze war einer unangenehmen Schwüle gewichen. Geschlossene Wolkendecke. Wir gingen über den Platz, zwischen Kirchturm und Kirchenschiff hindurch, passierten ein Haus, in dem ausgeblichene, zerfallene Schuhe auf morschen Holzauslagen standen. Für die Dame von heute, stand auf einer gut erhaltenen Tafel.
»Max! Lass Drohnen aufsteigen und uns per Autopilot folgen. Sechs mal Infrarot.«
»Wird erledigt, Chatrina.«
Kano schloss zu mir auf. »Sollten wir nicht Jonna verständigen?«
»Ich habe gestern Abend und gerade eben einen Im-Einsatz-Code gesendet. Erst brauche ich noch mehr Informationen.« Schweigend ließ er sich wieder zurückfallen. Nach einigen Minuten erreichten wir die breite Uferpromenade. Am Hauseck hob ich die Hand und machte eine Faust. Ich dachte an die verschwundenen Copter, meine Idee mit dem Boot, die fehlenden Polizistinnen und Polizisten aus Lehtonens und Khatris Teams … und an Lehtonen.
»Wir gehen langsam. Kano führt, dann Steven. Aljona am Ende, vor ihr Kazumi. Fünf Meter Abstand zwischen uns. Immer an der Häuserfront; soweit möglich. Einmal Infrarot hundert Meter vor uns und eine hinter uns. Zwei Drohnen über den Häusern und die letzten zwei über dem Fluss, so dass sie alles erfassen …«
»Über dem Fluss?«, wunderte sich Kano.
»Ja«, bestätigte ich. »Ich will wissen, ob da drin etwas ist.«
»Okay, Chatrina. Wer achtet auf Signaturen aus dem Fluss?«
»Das macht Max … und die Neulinge konzentrieren sich auf Hunde. Verstanden?«
Alle nickten.
»Dann los.«


Keine Vorkommnisse auf der Strecke. Langsam näherten wir uns dem weiten Platz gegenüber des Bunkers. Die Drohnen registrierten keine Wärmesignatur. Kano gab grünes Licht. Wir querten den aufgerissenen Asphalt und standen bald an der Kaimauer. Das Becken vor dem alten U-Boot-Bunker war weitestgehend verlandet.
»Hier parkt auf jeden Fall niemand mehr ein U-Boot«, merkte Aljona an. »Den ganzen Mist hätten wir uns sparen können.« Sie hob einen Betonbrocken vom Boden und warf ihn im hohen Bogen ins Wasser.
»Signaturen«, meldete Max. »Hinter uns. Sechs Stück. Kommen schnell näher. Sicher Hunde …« Wir drehten uns, gingen in die Knie, schlugen die Waffen an.
»Wo?«
»Auf zehn Uhr. Sie kommen … jetzt ums Eck.«
»Erschieß einen von ihnen, Aljona. Vielleicht hauen dann die anderen ab.« Sie kam aus der Hocke und feuerte auf einen der Hunde. Er brach winselnd zusammen. Die anderen blieben wie angewurzelt stehen.
»Es arbeitet in ihnen«, flüsterte Aljona und spähte durchs Zielfernrohr. »Sie haben Hunger und können sich nicht entscheiden.«
»Erschieß einen zweiten«, trug ich ihr auf. Der Schuss fiel. Ein Winseln. Dann Kläffen und Bellen.
»Und?«
»Die übrigen vier fangen jetzt an, ihre Kollegen zu fressen. Damit dürften wir Ruhe haben.«
»Okay, also dann weiter«, sagte ich und kam aus den Knien hoch.
»Warum haben wir sie nicht alle erschossen?«, wollte Nung wissen.
»Weil sonst die Infizierten nichts mehr zu jagen haben. Auch die wollen essen«, erklärte Aljona ihm und schob ihn vor sich her.
»Nur noch einen Kilometer«, informierte uns Kano.

»Fürs Protokoll: Freitag, 23. Februar 2148, elf Uhr. Standort: 44 Grad, 52 Minuten Nord und 0 Grad, 34 Minuten West. Wir sind an der Absturzstelle eines optisch nicht mehr identifizierbaren Copters. Die Trümmerteile sind in einem Umkreis von elf Metern abgelegt. Sortiert. Die Maschine wurde mit Schweiß- und Trenntechnik zerlegt. Was man nicht benötigte, hat man hier gelassen. Es ist unbekannt, wie der Abtransport erfolgte. Pilotin und Pilot kamen ums Leben. Wir haben sie verbrannt, damit kein weiterer Hundefraß mehr stattfindet. Die Erkennungsmarken nehmen wir mit.«
Ich steckte das Pad ein und sah mich um. Die Maschine war auf dem Rückflug, ansonsten hätten wir noch mehr Leichen gefunden. Die einen wegschaffen, die anderen liegen lassen, machte keinen Sinn. Absetzen und Abflug waren standardisiert. Immer in Wellen. Zwei Maschinen, dann die nächsten zwei. Es mussten auf dieser Linie also zwei weitere Absturzstellen zu finden sein. »Kano?«
»Ja?«
»Auf der Geraden von hier zur Sporthalle und der Verlängerung nach Westen sollten wir noch zwei Absturzstellen finden. Wenn eine Maschine abschmiert aus geringer Höhe … sagen wir links und rechts dieser Linie je 500 Meter … wäre das realistisch?«
»Je nach Geschwindigkeit und Schwere des Treffers …«
»Versuchen wir es. Drei Drohnen in die eine und drei in die andere. Programmiere den Autopiloten. Vielleicht haben wir Glück.«
Er legte den Kopf auf die Seite. »Wenn sie in den Fluss oder den See in der Nähe gestürzt sind …«
»Egal. Wir versuchen es.«
»Okay, Chatrina.«
Ich legte den Kopf in den Nacken. Neun Stockwerke über mir suchte Aljona das Dach ab. »Ist das alles stabil da oben, Aljona?«
»Ja, keine Panik«, hörte ich die Stimme im Kopfhörer. »Hier oben ist nichts. Ich nehme mir das nächste vor.«
»Pass auf dich auf …«
»Keine Sorge, Mama.«
Das Wort versetzte mir einen Stich. Ich setzte mich auf eine alte breite Steinbank, zog einen Beutel Trockennahrung aus der Beintasche, trank etwas vom Elektrolyt und pumpte davon in den Nahrungsbeutel. Ration 3, Algennudeln. Nach vier Minuten war es aufgequollen und verzehrfertig. So stand es zumindest auf der Packung.
»Werden wir bald abgeholt?«, fragte einer der Neulinge mit Blick auf das, was ich da aß. Hilario klopfte ihm auf die Schulter.
»Manchmal sind wir drei oder vier Wochen unterwegs und essen nur so einen Müll. Einmal, in Dubai war das, meine ich, fanden wir ein altes Treibhaus voller Früchte, die keiner von uns kannte. Mehr als hundert Jahre haben die sich da vermehrt und sind gewachsen wie blöd. Große, gelbgrüne Kugeln …« Hilario zeichnete die Früchte in die Luft und leckte mit der Zunge daran. »Süß und herrlich duftend, sag ich dir …«
»Wirklich?«
Ich öffnete die Packung und steckte die Nudeln in den Mund.
»Lass dich nicht von Hilario verarschen«, raunzte Steven. »In Dubai gibt es außer Stahl nur Sand. Das war’s.«
»Gibt es auf dem Festland gar nichts mehr zu essen?«
»Doch, natürlich. In den Handelsplätzen bekommt man genug zu essen. Zumindest, wenn man etwas als Gegenleistung auf den Tisch legt«, erklärte ihm Kazumi. »Vom dort angebotenen Fleisch solltest du aber in jedem Fall die Finger lassen. Unser Stoffwechsel hat sich ein wenig entwöhnt. Zudem ist es meist verseucht und nur stark erhitzt genießbar …«
»Bauchweh und Durchfall bekommst du allemal davon«, warf Max ein.
Ich schätzte es, diesen belanglosen Gesprächen meiner Leute zuzuhören, legte mich auf den Rücken und sah in den Himmel. Fast mochte ich an einen friedlichen Nachmittag auf Spitzbergen denken oder Gruppe eins, einen Algentee neben mir, die Beine hochgelegt. Langsam dämmerte ich weg, die Stimmen wanderten in ferne Welten, weitab von diesem Drama. Jelena und Takuno. Eine kleine Familie. Noch zwölf Jahre Dienstzeit bei den Mobilen Einheiten, dann zehn Jahre am Schreibtisch, dachte ich und überlegte krampfhaft, wie ich daran etwas ändern könnte. Ich wollte mehr Zeit mit Jelena verbringen. Vielleicht kandidierst du ja für den Gruppenrat oder einen anderen hohen Posten, riet ich mir selbst und lächelte in die Maske hinein. Jemand schlug auf meinen Bauch. Ich schreckte hoch.
»Ha!«
»Aljona?« Noch etwas benommen registrierte ich etwas so nah vor meiner Nase, dass nichts als ein glänzendes, unscharfes Etwas zu erkennen war. Die Hand entfernte sich und das Ding wurde zu einer Hülse. »Wo hast du das her?«
»Drittes Haus. Auf dem Dach.«
Ich nahm ihr die Hülse ab und drehte sie nach allen Seiten. »Die verwenden unsere Munition«, stellte ich fest.
»Von wegen«, triumphierte Aljona und zog eine intakte Patrone aus der Tasche. »Das hier ist unsere Munition. 12,7 mal 99, alte NATO-Munition. Aber das hier …«, sie hielt die Hülse exakt daneben. Sie war größer. »Das hier ist 12,7 mal 108. Russische, nein, Entschuldigung, sowjetische Munition aus Warschauer-Pakt-Zeiten …« Sie wiegte den Kopf hin und her. »Okay, natürlich wurde sie später auch noch verwendet.«
Es hielt mich nicht auf der Steinbank.
»Passen nicht in unsere Waffen«, hängte sie an. »Aber es gibt Handelsplätze, die solche Munition anbieten und auch noch herstellen. Zusammen mit den entsprechenden Waffen.« Aljona zog die Maske nach unten. Ihr breites Lächeln kam zum Vorschein. »Wie hab ich das gemacht?«
Ich nahm sie in die Arme, drückte zu. »Ich bin stolz auf dich. Das war erstklassig …«
»Chatrina!« In Kanos Stimme lag ein nervöser Unterton. »Eine Extremzelle nähert sich von Westen. Bei der hohen Luftfeuchtigkeit ist viel Energie in den Wolken …«
»Wohin zieht sie?«
»Über uns hinweg.«
»Wie viel Zeit haben wir noch?«
»Laut meinem Pad etwa eine Stunde.«
Ich fluchte innerlich. Nicht das, was wir jetzt brauchen konnten. Je nach Intensität und Größe, war eine Extremzelle eine enorme Bedrohung. Wir benötigten einen stabilen Schutz.
»Hol alle Drohnen zurück, Kano. Bis auf eine. Lass sie sechzig Meter über uns schweben. Achtung, alle! Abmarsch! Unser Ziel ist der Bunker!« Aljona seufzte, nahm mir die Hülse ab und setzte die Maske auf. Wir machten uns auf den Weg.

Auf der Nordwestseite dieses Betonklotzes fand sich ein Zugang. Wir bildeten einen Halbkreis darum. Max schaute auf sein Tablet. »In den Unterlagen steht, dass es als Kunstzentrum genutzt wurde. Gemälde und so … und das hier war der Eingang.« Der Himmel im Westen war schwarz. Wie aus einem Guss. Nur die immer wieder hindurchzuckenden Blitze ließen die Wolkenformen für einen Moment sichtbar werden. Tiefes Grollen und Rumpeln rollte heran. In immer kürzeren Abständen.
»Los! Gehen wir rein! Kano zuerst, ich am Schluss!«
Die Drohne senkte sich herunter, Kano verstaute sie. Ich drehte mich, zog das Pad und versuchte eine Verbindung zu Takuno oder Zhang aufzubauen. Das Signal kam nicht durch – oder nur bruchstückhaft. Die elektrische Aktivität nahm exponentiell zu. Es blieb mir nur das Senden eines weiteren Im-Einsatz-Codes: Funkstille-Extremzelle. Aljonas riss ihren Arm nach oben, der ausgestreckte Finger zeigte auf etwas hinter mir.
»Chatrina!«
Aus einem Teil der Schwärze formte sich ein Trichter, der sich langsam dem Boden näherte. Ein Tornado. Der Wind nahm zu. Ich ging durch die Vorkonstruktion in den Bunker. Sofort umschloss mich eine unangenehme, feuchte Kälte. Aus dem Schein der Helmlampen formten sich poröse Betonwände, durchzogen von Rissen und freigelegter Stahlarmierung, völlig verrostet. Überall Aussalzungen und säuerlicher Geruch. Bis zur Decke waren es sechs oder sieben Meter.
»Bleibt nah bei den Wänden«, hörte ich Kano sagen. »Passt auf Brocken auf, die von oben kommen können. Wir gehen noch ein Segment tiefer hinein.« Dort sah es besser aus. Noch Wasser im Becken. Durch die Ausfahrtöffnungen fiel ein wenig Licht herein. »Verteilt euch so, dass ein herabstürzender Brocken nicht zwei von uns trifft. Setzt euch. Es kann dauern«, ordnete Kano an. Dann stellte er sich zu mir und packte zwei Riegel aus. »Auch einen?«
Ich verneinte. »Danke, hab ja vorhin erst die Nudeln gegessen.« Ich sah ihn an und zog die Maske ab, schaltete das Mikro aus. Er tat es mir gleich. »Hast du einen Überblick, wie lange unser Elektrolyt reicht?«
»Zwei Tage«, schätzte er.
»Ist dir irgendwo eine potentielle Wasserquelle aufgefallen?«
»Nicht wirklich, aber anhand der alten Karten sollten wir schnell ein ehemaliges Wasserwerk finden können.«
Ich sah aufs Pad. »Kurz vor vier Uhr. Es wird sowieso bald dunkel. Über Nacht bleiben wir hier. Nimm Bijan und einen Neuling mit, sucht den Bunker nach Eingängen ab, bringt Sprengfallen und Detektoren an. Dann machen wir es uns gemütlich.«
»Okay, Chatrina.«
Er machte sich auf den Weg. Aljona näherte sich, zog ebenfalls die Maske ab und nahm aus ihrer Beintasche das Wärmekissen, öffnete die Dichtung. Es pumpte sich auf und sie legte es auf den Boden vor dem Pfeiler. »Ist ja wirklich arschkalt hier drin!«
»Ich mag deine präzisen Kurzbeschreibungen …«
Sie grinste und setzte sich. Ein enormer Blitz zuckte vor dem Bunker auf. Die Ausfahrtöffnung war sicher einhundert Meter entfernt. Das Segment wurde für einige Sekunden grell erleuchtet. Ich schloss die Augen. Der Donner kam umgehend und rollte zwischen den Wänden wie eine Walze heran. Der Luftdruck veränderte sich für eine Sekunde merklich. »Junge, Junge«, merkte Aljona an. »Ohne diesen Bunker säßen wir jetzt aber in der Scheiße.«
Da hatte sie wohl recht.
»Erinnerst du dich an die Extremzelle in New Orleans vor ein paar Jahren? Als ein Blitz den anderen Copter traf und er in Teilen vom Himmel stürzte?«
Ich erinnerte mich gut. »Wir hatten Glück.«
»Ja«, bestätigte Aljona. »Davon sollte man immer genug haben.« Der nächste Blitz. Heller und anhaltender. Als er verglimmte, entdeckte ich Konturen von Menschen auf der gegenüberliegenden Kaimauer. Dann verschwanden sie wieder im Schatten des schwarzen Himmels.
»Aljona!« Mit dem Finger zeigte ich Richtung Becken und zog die Maske auf, aktivierte das Mikro. Sie sprang auf. »Wir bekommen Besuch. Mindestens zehn oder zwölf Personen auf der Kaimauer. In Richtung Nordwesteingang.«
»Klar«, hörte ich Kano. »Wohl einer der wenigen sicheren Orte bei so einem Wetter.«
»Wo seid ihr?«
»Südost-Seite. Es gibt nur noch einen Zugang, aber durch ein schweres Stahltor gesichert. Erstaunlich intakt. Aber die Becken sind sperrangelweit offen.« Ich verfluchte mich, nicht den ganzen Bunker inspiziert zu haben.
»Wie viele Becken gibt es, Kano?«
»Elf. Aber die Nummer sechs ist durch ein Fluttor verschlossen. Das hält.«
»An alle: Verteilt euch auf nach vorne offene Becken. Zielt auf die Öffnungen. Kein Infrarot, kein Nachtsicht. Jeder Blitz würde euch blind machen. Nung, komm zu mir! Wir sichern den Eingang!«
Alles lief reibungslos. Nung und ich stellten uns hinter eine betonierte Brüstung und behielten den Platz vor dem metallenen Vordach im Auge. Der Sturm nahm stetig zu an Druck. Das Prasseln von Dreck und Klumpen gegen das Metall wurde zusehends lauter, intensiver. Größere Gegenstände stiegen in kreisenden Bahnen hinauf zum Himmel. Selbst über die Komgeräte wurde eine Verständigung unmöglich. Der nächste Blitz beleuchtete die sich nähernden Personen von oben. Ihre kurzen Schatten auf dem zerrissenen Beton, Lumpen an den dürren Körpern, die Ästen gleich in den Böen zitterten. Mühsam kämpften sie sich Meter um Meter vorwärts, klammerten sich mehr und mehr aneinander. Ich gab Nung ein Zeichen. Wir feuerten Warnschüsse links und rechts vorbei. Abrupt blieben sie stehen, starrten auf die Öffnung vor ihnen, konnten uns aber nicht sehen. Noch eine Salve. Jetzt entdeckten sie deutlich das Mündungsfeuer und wichen einige Schritte zurück, kamen kaum zum Stehen, so sehr zerrte der Sog an ihnen. Über den rechts gelegenen Häusern wirbelte alles Mögliche empor, Gebäudeteile brachen ab und folgten. Zwei Blitze kurz nacheinander. Nun sah ich den Schlauch des Tornados in voller Breite herankommen. Er riss die hundert Meter vor uns gelegene Halle aus dem Boden, zerkleinerte sie in tausende Stücke. Die Menschen sahen das und gingen auf uns zu. Wir würden schießen. Sie wussten es. Ich hob die Hand und Nung nickte. Ein grelles Aufleuchten. Nicht mal der Donner schaffte es gegen das Getöse. Der enorme Rüssel entschied sich zu einem Richtungswechsel. Er packte die Menschen. Wie festgezurrt schwebten die dürren Körper für einen Moment einige Meter über dem Boden. Dann trug der Sog sie unaufhaltsam in die Höhe und riss sie entzwei. Das Brüllen des Monsters war unbeschreiblich. Ich spürte ein Saugen und Zerren am ganzen Körper. Aus einem Reflex heraus ließ ich mich platt auf den Boden fallen. Ich war überzeugt, dass dieser Tornado unbedingt mein Leben auslöschen wollte. Als sei ich der Preis für das Versagen der Menschheit und dies die letzte Tat. Verzweifelt ließ ich die Waffe los und griff mit beiden Händen nach einem Stahlrohr. Takunos Gesicht vor meinen Augen. Ich schrie! Wer sollte das hören? Dann ein heftiger Schlag.


Den Geruch von Blut in der Nase. Ich schmeckte es, leckte über die Lippen und öffnete die Augen. Es war hell, aber nicht das Licht einer Lampe. Nein, Tageslicht. Verwundert sah ich Kazumis Gesicht dicht über mir, voller Tränen. Als sie meinen Blick bemerkte, krampften Finger um meine Schulter und mir wurde bewusst, dass ich mit dem Oberkörper auf ihrem Schoss lag.
»Kazumi? Was ist passiert?«
Sie schüttelte nur leicht den Kopf. Ein paar Tränen tropften auf meine Wange. Mit der linken Hand tupfte sie etwas aus meinen Haaren. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu erinnern, entdeckte aber nur Nebel und durch ihn hindurch schob sich ein elender Schmerz. Pulsierend. Ich verzog das Gesicht.
»Ich gebe dir ein Schmerzmittel«, hörte ich sie entfernt sagen. Es zischte an meinem Hals. Gleich darauf wurde es besser, das Licht wich erneut der Dunkelheit.


In der Wärme fühlte ich mich wohl wie lange nicht mehr. Etwas gluckerte. Langsam kehrte ich zurück aus einem traumlosen Schlaf, schlug die Lider auf und sah das freundliche Gesicht eines jungen Mannes über mir. Er lächelte, als er meinen Blick auffing und mir eine Lampe vor die Nase hielt.
»Hallo, Obfrau Sutter. Hören Sie mich?«
Ich nickte.
»Bitte folgen Sie dem Licht.« Das tat ich und wunderte mich, warum es sich um meinen Körper herum so herrlich warm anfühlte, während das Gesicht es als kühler empfand. Ich hob den Kopf, sah an mir herunter und erschrak. Ich schwamm in einer Rekonvaleszenzwanne.
»Sehr gut. Ich bin zufrieden«, vermeldete er. »Morgen können Sie aufstehen und mit Muskelaufbau beginnen.«
»Natürlich … wie war noch Ihr Name?«
»Doktor Mercier, Aristide Mercier. Der Chirurg auf Gruppe elf.«
»Gruppe elf?«
Er nickte, tippte etwas in sein Tablet und räusperte sich dann mit vorgehaltener Faust. »Ihre Kollegin, Obfrau Kobayashi …«
»Kazumi! Ist sie hier?«
Er neigte den Kopf nach links. »Sie wartet nebenan … also ihre Kollegin hat mir diese Tabletten gezeigt«, er zog die Metallschachtel aus seiner Hosentasche, »… ein Kombinationspräparat. Ich weiß nicht, wer das gemacht hat, aber durch die Einnahme eines solchen Präparates ist man nicht als diensttauglich zu führen.« Er kratzte sich mit einer Kante der Metallschachtel hinter dem rechten Ohr. »Wo haben Sie das her?«
»Selbst synthetisiert«, gab ich zu. Er zog beide Augenbrauen hoch. Eine Menge Falten entstanden auf seiner Stirn.
»Alle Achtung! Also haben Sie eine Prozessdatei dafür …«
»Doktor Mercier …«
»Zu Diensten.«
»Als ihre Patientin wüsste ich zunächst gerne, weswegen ich hier bin. Können wir so beginnen?« Er steckte das Tablet in die Kitteltasche und musterte mich von oben bis unten.
»Nun, wir haben multiple Frakturen. Rechter Unterarm, linker Oberarm, linke Handwurzel, glatt durchtrenntes Hüftgelenk rechts … sie haben jetzt einen wunderschönen Titan-Polymer-Einsatz, herzlichen Glückwunsch. Dazu eine Schädelfraktur im Scheitelbein mit Beeinträchtigung des darunter liegenden Gewebes, also Einblutungen, Hämatome …«, Mercier holte Luft. »Festgestellt haben wir eine beidseitige Nierenprellung, einen Riss in der Blase, Quetschung des linken Lungenflügels …«
»Mercier?«
»Ja?«
»Wie lange liege ich schon hier?«
»Fünf Wochen im künstlichen Koma.« Ich spürte, wie das Blut aus meinem Kopf wich, mein Puls beschleunigte. Hinter Mercier piepste eine Maschine rhythmisch. »Na! Nicht aufregen!« Er drehte an einem Regler und ich beruhigte mich sofort wieder. »Hören Sie, Obfrau Sutter. Es war schwierig, Sie wieder zusammenzuflicken. Sie dürfen zwar morgen aufstehen, die Fähigkeit ihres Körpers zur Selbstheilung ist erstaunlich, aber es werden noch ein paar Wochen vergehen, bis Sie wieder in den Außeneinsatz können. Und das mit diesen Transmitterhemmern müssen Sie mir noch erklären …«
»Nein, muss ich nicht! Das ist nicht ihr Leben. Sollte ich den Eindruck haben, jemand legt mir Hindernisse in den Weg, kann ich sehr unangenehm werden. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich kann es mir vorstellen.«
»Nicht dass Sie mich falsch verstehen … ich bin Ihnen sehr dankbar für die geleistete Arbeit. Aber diese Tabletten sind mein Schutzraum. Nichts und niemand darf dort hinein.«
Aristide Mercier seufzte ausgiebig. »Na gut. In der Tat, es ist ihr Leben. Aber das, was diese Tabletten unterdrücken, kann andere gefährden. Dessen sollten Sie sich bewusst sein.«
»Dessen bin ich mir bewusst.«
Er hob beide Handflächen vor sich und legte die Metallschachtel auf den Beistelltisch. »Ich sage Obfrau Kobayashi, dass Sie wach sind. Wir sehen uns morgen.« Damit verließ er den Raum.


Kazumi zog den Stuhl neben das Bett und setzte sich. Eine Zeitlang ruhte ihr Blick auf meinem Körper, der in dieser gelblichen Flüssigkeit schwamm. Ich wusste nicht, auf was sie blickte. Dann legte sie einen Finger auf den Kontrollschirm am seitlichen Gestell. Die transparente Decke polarisierte sich, wurde undurchsichtig. Kazumi lehnte sich zurück und rieb mit beiden Händen ausgiebig ihr Gesicht. Ich schwieg einfach, beobachtete sie, hielt meine brennenden Fragen zurück. Offenbar benötigte sie ebenso viel Zeit wie ich, um sich zu sammeln. Sich darüber klar zu werden, was passiert war. Im schwachen Licht der Bettlampe meinte ich in ihrer vollen schwarzen Haarpracht das eine oder andere graue Haar erkennen zu können. Ein leichtes Zittern lief durch ihren Körper. »Jonna lässt dich grüßen«, sagte sie leise.
»Danke. Wie geht es ihr?«
»Sie hat Semjonowa verhaften lassen. Kurz nach unserer Ankunft auf Gruppe elf …« Wir sahen uns an. Es brauchte einen Moment, bis diese Information in meinen Kopf sickerte. Ich fühlte Wut aufkeimen.
»Verdammte fünf Wochen liege ich hier und kann nichts tun!« Die Maschine piepte erneut. Kazumi stand auf und drehte an einem Regler. Misstrauisch erwartete ich eine Reaktion meines Körpers. »Kennst du dich mit diesem Gerät aus, Kazumi? Nicht dass es in die Hose …« Sie brach in Tränen aus, drehte sich ein paar Mal im Kreis, wusste offenbar nicht, wohin sie greifen sollte mit ihren Händen, die ziellos über ihrem Kopf nach etwas suchten. Dann griff sie sich in die Haare, raufte sie hin und her. »Scheiße!« Und noch einmal, um einiges lauter. »Scheiße!«
»Kazumi …«
»Alle dachten, dass wir dich verlieren!« Sie verdrehte die Augen. »Nein! Nicht alle! Hilario ist tot! Und Nung ist tot!« Kraftlos sank sie auf den Stuhl zurück und starrte auf den Boden. Was hatte sie gesagt?
»Hilario!? Warum!? Wie!?« Es hielt mich kaum noch in dieser Wanne. Die Flüssigkeit war so salzhaltig und dicht, dass ich nicht untergehen konnte. Eine flexible Abdeckung lag um meine Schultern. Vergeblich versuchte ich die Arme zu verrenken, um die Abdeckung abzureißen. Es gelang nicht. »Kazumi! Hilf mir raus!«, schrie ich. Sie reagierte überhaupt nicht.
»Kazumi!« Mit Mühe erreichte meine linke Hand den Hauptzugang auf dem rechten Handrücken und riss ihn raus. Die Maschine gab nun richtig Alarm und keine zehn Sekunden später kamen eine Schwester und Mercier in den Raum gerannt.
»Ich wusste, es würde Komplikationen geben …«, war Merciers einzige Reaktion. Die Schwester tippte etwas auf einem Tablet und die Flüssigkeit wurde abgesaugt. Ich sank auf den kühlen Metallboden. Kazumi saß wie gelähmt dazwischen und registrierte offenbar nichts.
»Ich will raus!«, erklärte ich laut und hob den Kopf.
»Nein! Keine Chance! Ich bin der Arzt!«, erwiderte er schroff.
»Und ich ihr schlimmster Alptraum, wenn sie nicht diesen Kasten öffnen!« Es begann aus dem Zugang zu bluten.
»Doktor …«, nickte die Schwester Richtung Blutlache.
»Machen Sie das Ding auf!«, schrie ich ihn an.
»Ich hätte Sie nicht aufwecken sollen. Mein Fehler …«
»Lassen Sie sie raus, Doc. Sonst haben Sie ja doch keine Ruhe«, weissagte Kazumi, stand auf und stellte sich neben den Kasten. Die Schwester schwieg vorsorglich und starrte auf ihr Tablet. Mercier bedeckte seine Augen mit der Hand, rieb einen Augenwinkel, atmete schwer. Schließlich seufzte er vernehmlich.
»Meinetwegen! Von mir aus! Öffnen sie das Becken, Karla. Waschen und ankleiden. Holen Sie einen Rollstuhl …«
»Rollstuhl?«, unterbrach ich ihn. Wie ein Raubtier kam er auf mich zu und starrte mich zitternd an. Ich wartete auf einen Ausbruch. Aber er schwieg, drehte sich weg und ging raus.
»Puh«, kommentierte Kazumi. »Ich dachte für einen Moment, er kollabiert.«
»Achtung», meldete sich die Schwester. »Stillhalten.« Der Deckel des Beckens fuhr seitlich in eine Öffnung. Ich hob den linken Arm, um auf den Rand zu greifen. Ein Schmerz zuckte durch meine Schulter. Hastig sog ich Luft durch die Lippen.
»Alles okay, Chatrina?«
»Alles wunderbar, Kazumi. Nur weg hier.«


»Es war dumm von dir, auf den Rollstuhl verzichten zu wollen. Dass du umgekippt und mit dem Kopf aufgeschlagen bist, geschieht dir ganz recht. Du hast keine übermenschlichen Fähigkeiten …«
Ich hielt den Handspiegel so, dass ich Kano sehen konnte, der mich mit dem vermaledeiten Rollstuhl durch Insel 31 schob. Ich sagte nichts. Vor der breiten Treppe zu Dock A warteten wir auf Steven und Bijan. Wir umarmten uns und zusammen trugen sie mich auf die Zugangsebene des Docks. Dann stand ich endlich wieder vor Boot 12651. Mein Herz pochte wie verrückt. Takuno hatte überlebt und damit auch Jelena. Endlich konnte ich diese quälenden Frage vergessen.
Kano schob mich über den Steg in die Versorgungsschleuse und von dort in die Messe. Es roch nach Takunos Boot. Fast war ich gewillt zu sagen, dass dies meine Heimat sei, obwohl mir das Gefühl unbekannt war. Bis jetzt zumindest, denn etwas war in Bewegung geraten. Ich vermochte noch nicht zu sagen, was am Ende dieser Veränderung auf mich wartete. Kano stellte mich vor die Stirnseite des Tisches. Steven und Bijan nahmen Platz, Kano neben mir. Gegenüber Max und Aljona, links Kazumi. Einige von Takunos Leuten waren in der Messe, aßen oder tranken etwas, unterhielten sich. Wir jedoch sahen uns nur an. Ich spürte Tränen kommen. Kano stand sofort auf, zog mich hoch, legte einen Arm um meine Schulter, Kazumi und der Rest folgten. Immer fester zogen wir uns zusammen, drückten gegeneinander. Nur noch sieben … so wenige. Jemand schniefte, oder waren es zwei … es war mir egal. Ich stand endlich wieder inmitten meiner Familie. Keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Meine Beine gaben nach und ich rutschte weg. Wir setzten uns wieder.
»Habt ihr Jelena gesehen?« Ich konnte die Frage nicht mehr zurückhalten.
»Sie ist in der Zentrale«, erklärte Kano. »Takuno hat ihr eine Aufgabe gegeben …«
»Was für eine Aufgabe?«
»Na, die letzten Wochen waren nicht einfach für sie und Takuno hat sie beschäftigt. Sie durfte überall einige Tage reinschnuppern. Das Sonar hat es ihr angetan …«
»Sie ist noch nicht bei Retos Frau?«
»Es war einfach keine Zeit«, warf Kazumi ein und ich nickte dazu. Mir fehlten fünf Wochen. In solchen Zeiten konnten das Welten sein.
»Was ist passiert?« Sie schwiegen. Vielleicht aus Verlegenheit oder weil die Verluste sie einfach schweigsam machten. Ich fixierte Kazumi. Sie gab nach.
»Nung schrie nach Hilfe. Nicht alle hörten das bei diesem Lärm. Hilario schon. Er war im ersten Segment, wollte ihm wohl helfen. Dann ist unklar, was passiert ist, aber …«, sie stockte. Ich hatte richtig gesehen. Nicht wenige graue Haare zeigten sich in ihrer bisher tiefschwarzen Haarpracht. »… beide waren weg und du lagst verrenkt in einer Ecke des Eingangsbereiches.«
»Der verdammte Tornado hat sie einfach mitgenommen«, stellte Kano fest. »Dich hat er gegen die Decke gehoben und wieder fallen lassen. Ein ziemlicher Blutfleck klebte ein paar Meter über dir.«
»Du hattest enormes Glück«, meinte Aljona und pfiff durch die Zähne. »Wirklich! Hättest ebenso weg sein können …« Ich atmete tief ein und spürte ein Ziehen in der Lunge. Kano und Bijan standen auf, gingen an die Kühltheke und kamen mit einigen Bechern Algentee zurück.
»Gegen sechs Uhr am Morgen war der Sturm so weit abgeflaut, dass wir Zhang riefen«, fuhr Kano fort. »Stattdessen bekamen wir Le Duc Tho ans Pad. Zhang und drei andere Boote wurden bei dem Versuch, den Gegner abzufangen, von ihm vernichtet. Eines der Gegnerboote kam aus der Garonne-Mündung …«
Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Es war die falsche. Der Schmerz wanderte schlagartig meinen Rücken hinab. Verzweifelt biss ich auf meine Unterlippe und schmeckte Blut. »Also doch!«, rief ich. »Ich hatte recht!«
»Mit was?«, fragten fast alle im Chor.
»Dass es im Fluss ein Boot gab und die Copter-Teile so abtransportiert wurden!« Sie sahen sich überrascht an, dann mich.
»Was?«
»Takuno hat dieses Boot auf Grund geschickt«, erklärte Kazumi. »Versenkt. Und ebenso ein zweites, das dem ersten zu Hilfe kam. Gruppe eins hat ein Inseldock geschickt. Sie haben die Wracks gehoben und nach Tromsø geschleppt.«
Langsam sah ich eine nach dem anderen an. Das war es, was wir wollten. Ein fremdes Boot! Und wir hatten diese Patronenhülse! Und doch … »Der Preis war zu hoch«, seufzte ich. »Viel zu hoch …« Kano legte die Hand auf meinen Unterarm.
»Nein! War er nicht«, versuchte er mich zu beruhigen. »Wir würden jederzeit wieder so vorgehen. Alles lief genau richtig.«
Nicht alles. Jonna zu informieren, wäre vielleicht besser gewesen, dachte ich, nahm einen der Becher und trank einen großen Schluck. Mein Magen knurrte. So laut, dass es alle hören konnten. »Immer nur flüssige Nahrung durch den Schlauch ist auf Dauer scheiße», stellte Aljona fest. Was mir bewusst machte, wie lange ich tatsächlich im künstlichen Koma lag.
»Könnte ich zwei oder drei Teller Algen-Sushi bekommen?«, fragte ich die Runde. Sie grinsten. Bijan machte sich auf zur Theke.


Dienstag, 2. April 2148, kurz vor halb sechs am Abend. Ich dimmte das Licht in der Kabine, rollte den verflixten Stuhl so weit unter den Tisch, dass ich mit der Brust gegen die Kante stieß. Entweder war ich zu klein oder die Tischplatte zu hoch. Aus meiner Hosentasche holte ich die Metallschachtel, entnahm eine der Tabletten und schluckte sie mit Elektrolyt. Ganze fünf Wochen lang war ich ohne das Präparat gewesen. Ob dies Folgen hatte, wusste ich nicht. Der Arzt auf Spitzbergen hatte mir erklärt, dass erst ein gewisses Level erreicht werden müsse, bevor die Reaktion einsetzte.
Nur ein paar Tage noch, dann bin ich wieder fit, beruhigte ich mich selbst, aktivierte das Implantat und rief Jonna. Sie nahm sofort an, war gerade im Begriff, sich zu setzen. Ein leiser Fluch kam aus dem Lautsprecher, die rote Mähne schwappte auf und ab. Dann endlich ihr Gesicht, sehr gerötet. »Scheiße, Chatrina …« Ich beugte mich so gut es ging zur Optik. »Zählst du meine Sommersprossen?«, fragte sie mit misstrauischem Ton.
»Fast so viele, wie ich Narben habe.« Sie lachte. Das befreite mich aus einer seltsamen Starre, einem Kokon, in dem ich mich ein bisschen wie eine Fremde fühlte.
»Du bist unverwüstlich, oder?«
»Kann nicht mehr viel passieren jetzt«, stellte ich fest. »Die Brüche mit einem elastischen Harz geheilt, Titan in der Hüfte und im Schädel, ein Stützgewebe um die Lunge, ne neue Polymerblase … mehr ging nicht.«
Sie nickte grinsend. »… und dann die Erfolge. Hättest du nicht zwei Boote an der Mündung belassen, sähe es düsterer aus. Kein Versorger ging verloren. Und wir haben das hier«, sie hob Aljonas Patronenhülse in die Kamera.
»Und Semjonowa?« Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, die Wangenmuskeln traten deutlich hervor.
»Es ging in der Tat um unsere Feststoff-Batterien. Semjonowa hat euch bewusst nach Frankreich geschickt. Um an die Batterien zu kommen. Als Kano mich einen Tag nach eurem Unglück informierte, setzte ich sie fest. Sie plapperte und erzählte, dass sie nur wisse, eine andere Person dieser Gruppe sei in der Nähe, aber nicht wer. Nachrichten werden blind weitergeleitet. Nur die Person, für die eine Nachricht bestimmt ist, kann sie auch entschlüsseln. Geantwortet wird in eine Art digitales Postfach.«
Ich war beeindruckt. »Es gibt immer einen Ursprung«, überlegte ich. »Den zu finden, ist also eines unserer Ziele«, schlug ich vor. »Was wissen wir noch? Dass sie erst aktiv wurden, nachdem wir diese Batterien serienreif durchentwickelt haben. Sie waren bzw. sind über den Stand unserer technischen Entwicklung informiert. Durch …«
»… die erste Administratorin«, vervollständigte Jonna. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Hat sie das zugegeben?«
»Ja. Erst mal in Haft, war sie recht gesprächsbereit.«
»Und hat sie auch das Motiv für das alles geliefert? Oder – fragen wir mal so: Wieso verstecken sich diese Menschen? Ist es nicht besser, zusammenzustehen, um gemeinsam zu überleben?«
Jonna presste spontan die Luft aus den Lungen. »Nur wenige werden überleben, waren ihre Worte. Der jetzige Zustand der Erde sei nur ein Übergangsstadium, erklärte sie …«
Ich griff auf meinen Kopf und wollte kratzen, aber das Pflaster erinnerte mich daran, es besser nicht zu tun.
»Schmerzen?«, wollte Jonna wissen.
»Es juckt, und sei mir nicht böse … können wir morgen weitermachen? Meine Konzentration lässt so langsam nach …«
Mit einem Ruck kam sie nach vorne, direkt vor die Kamera. »Ich gebe dir fünf Tage Urlaub. Zwei davon verbringst du mit der Rückfahrt nach Spitzbergen, drei Tage hier und dann geht es weiter. In Ordnung?«
»Wer bringt mich zurück?«
»Takuno. Morgen früh um 0600 geht es los.« Jonna zog beide Mundwinkel hoch. Vielleicht ein Lächeln.
»Okay. Schick mir die neuesten Erkenntnisse aufs Pad.«
Sie schaltete ab. Antwort kam in Form der Empfangsbestätigung einiger Dateien. Ich drückte den Rollstuhl zurück, stemmte meinen schwachen Körper hoch und ließ mich aufs Bett fallen. Es war demütigend, wie lange ich benötigte, um eine einigermaßen angenehme Position einzunehmen, angelehnt an die Kabinenwand. Ich wollte nach dem Pad greifen, aber mein Arm war zu kurz. Fluchend legte ich vorsichtig den Kopf an das kühle Metall. Die Tür flog auf.
»Mama …«
Jelena stürmte herein, riss den Rollstuhl auf Seite und kniete sich stürmisch aufs Bett, legte die Arme um mich, ungestüm. Auf nichts achtend, presste sie sich an meinen Oberkörper. Die auftretenden Schmerzen versuchte ich zu ignorieren. Langsam schloss ich meine Hände hinter ihrem Rücken … und meine Augen. Ich vergaß das Gespräch mit Jonna, die fünf Wochen Dunkelheit, den Tornado, die Monate und Jahre davor. Mit jeder Minute unserer Umarmung kehrte ich zurück in eine Zeit, als ich ebenso die Arme um jemanden legen wollte. Eine Mutter, einen Vater, eine Lichtgestalt. Stattdessen hörte ich den Mann mit der Glatze ins Zimmer kommen. Ohne ihn zu sehen, roch ich den alten Schweiß. Es galt nicht zu weinen, nicht zu schreien. Nicht zu wimmern. Jedes Geräusch spukte wie ein Echo durch meinen Kopf. Die Gürtelschnalle, dann fiel die Hose … doch er wählte nicht mich, griff sich an diesem Tag meine Schwester neben mir. Nein, murmelte ich. Seine flache Hand traf mich an der Schläfe und es wurde dunkel …
»Nein«, flüsterte ich, ignorierte die fast realen Traumbilder und hielt Jelena fest an mich gedrückt.
»Was ist los, Mama?« Sie ging etwas auf Abstand. »Darf ich überhaupt Mama sagen?«, fragte sie mit unsicherer Stimme. Ich suchte nach Worten und fand keine. Die Leere in mir ließ mich kurz schweigen. Darüber erschrak ich.
»Ich … ich …«
»Soll ich nicht?« Ihr Blick schmerzte mich.
»Doch, du sollst …«
»Du hast Angst, nicht wahr?«
Ich lächelte und zog sie wieder an mich. »Ja, ertappt. Ich habe Angst …«
»Warum?«
»Weil ich nicht weiß, wie das geht, Mama sein, und … weil ich nicht versagen will.« Sie schwieg, drückte und drückte, ganz fest. Dann klopfte es.
»Entschuldigung, darf ich eintreten?« Takunos Stimme. Ich schämte mich augenblicklich für diesen Rollstuhl, das große Pflaster auf meinem Kopf, meine Schwäche, Jelenas nicht enden wollende Umarmung. Seine Schritte kamen näher. Dann sah ich ihn an das Bett herantreten. Sein Blick blieb an meinem hängen. Mit den Fingern fuhr er über meinen Kopf, über das Pflaster. »Ich habe dich vermisst«, flüsterte er.
»Und ich erst«, gestand Jelena und löste sich. Wir sahen uns an. Sie uns beide und wir Jelena. Eine große Müdigkeit breitete sich in mir aus.


Ich spürte, dass wir unterwegs waren. Getaucht. Behütet vom Wasser. Auf unserem Weg durch die Stille. Und ich fühlte eine große Traurigkeit. Fast als wäre ich ein Stück Treibgut auf jenem Ozean voller Einsamkeit in den ich hineingeboren wurde. Aufstehen? Kam mir nicht in den Sinn. So blieb ich liegen und starrte an die Decke. Bis es klopfte. Zwei Mal. Aber ich antwortete nicht. Jemand trat ein.
»Chatrina?« Kazumis Stimme. Ihr Gesicht tauchte neben dem Bett auf. Sie kniete. »Chatrina? Was ist los?« Ich schüttelte nur leicht den Kopf. Schon musste ich weinen. Einfach so. »He …« Von irgendwoher zog Kazumi ein Vlies und tupfte die Tränen ab, drehte meinen Kopf ihrem Gesicht zu. »Hast du schon die Tablette genommen?«
»Nein.«
»Warte …« Der Metallschachtel entnahm sie so ein kleines blaues Stück, packte das Elektrolyt und hielt mir beides hin. »Du musst sie nehmen. Andernfalls wirst du nicht mehr lange bei der Polizei sein …«
»Und wenn ich nicht mehr will?« Sie sah mich lange an. Offenbar war sie sich unschlüssig, was davon zu halten war. Dann kniff sie die Augen zusammen.
»Was nicht mehr will?«
»Diese Tabletten nehmen. Mit ihnen ist es niemals mein richtiges Leben, mein richtiges Empfinden. Bin nie ich selbst mit diesen Dingern.« Dass Kazumi wusste, was ich meinte, erkannte ich an ihrem Blick.
»Wie kommst du darauf, dass die Dinger etwas anderes aus dir machen? Sie schärfen deine Fähigkeiten. Ohne sie wirst du unscharf und versinkst im eigenen Chaos.« Sie hielt mir die Tablette unter die Nase. »Und Jelena braucht eine Mutter, die bei ihr ist und nicht mit sich selbst hadert, nicht wahr?«, setzte sie nach.
Mittwoch, 3. April 2148, sieben Uhr, leuchtete es tiefblau auf der Anzeige. Ich nahm die Tablette aus Kazumis Hand und schluckte sie, trank das Elektrolyt leer.
»Hilf mir mal bitte auf, Kazumi.«
»Wo willst du hin?«
»In den Gymnastikraum.«
Sie grinste. »Das war auch mein Ziel.«


Aus der medizinischen Abteilung hatte ich mir Krücken besorgt. Merciers Rollstuhl war ich leid. Ich schämte mich in ihm. Den Vormittag verbrachten Kazumi und ich im Gymnastikraum und übertrieben es eindeutig. Die Hüfte schmerzte, trotz der Pausen, die wir regelmäßig machten. Nach dem Mittagessen saßen wir alle in Takunos Besprechungsraum. Dort fiel mir zum ersten Mal auf, dass Sato fehlte. Ich beschloss das zu ignorieren, bis die Gelegenheit günstig war, nach ihr zu fragen. Mit einem Wisch warf ich Jonnas Daten an die Wand.
»Ich fasse noch mal zusammen, und bitte darum, mich zu kontrollieren«, eröffnete ich die Runde. »Zu Beginn hieß es, eine Insel sei verschwunden – was auch stimmt – und wir sollen sie suchen. Dabei tauchen unbekannte Boote auf, von denen wir vermuten, dass auch sie die Insel suchen, dann aber Gruppe 25 auslöschen. Sowohl im Gruppenrat als auch später bei den Verhören haben wir den Eindruck, einige wissen mehr als sie sagen.« Ich blickte in die Gesichter. Niemand machte Anstalten zu reden. »Im Laufe der Untersuchungen stellen wir ein Verschwinden hunderter Neugeborener fest. In diesem Zusammenhang fällt uns auf, dass Insel 64 nur drei familiäre Beziehungen zu Gruppe 25 hatte. Wir finden eine Karte mit einem Hinweis auf gentechnisch veränderte Nahrung im Entwicklungsstadium. Das Motiv ‚Erbgut‘ verbinden wir ebenfalls mit dem Verschwinden der Babys. Anzumerken ist, dass sie hauptsächlich in Pazifik und Indischer Ozean verschwunden sind. Uns wird klar, dass der Gegner mitten unter uns sitzt.«
»Mit teilweise überlegener Tauchtechnik«, merkte Takuno an.
»So ist es.« Ich trank einen Schluck Algentee. Das Konzentrieren ließ mein Schädelweh stärker werden und den Drang, ein Schmerzmittel zu nehmen; was mich jedoch müde gemachte hätte. Ich fegte den Gedanken beiseite. »Semjonowa schickt unsere Gruppe zu einer Kontrolle alter U-Boot-Bunker an der französischen Küste. Auf Drängen Zhangs ist ein Teil der Gruppe früher in Bordeaux, wo die zu stellende Falle des Gegners noch nicht betriebsbereit ist. Zhang stört die Aktion unfreiwillig. Einen Copter bzw. dessen Batterien zu schnappen, klappt aber. Sie zerlegen die Maschine und bringen die Teile auf ein in der Garonne wartendes Boot. Sich einen Versorger zu schnappen, schlägt fehl. Und auch das Boot mit den Batterien wird vernichtet. Eines ihrer Ziele ist die Feststoff-Batterie. Auch Insel 64 hat sie. Dass sie hinter den größeren Inselbatterien ebenso her sind, wissen wir von der Kaperaktion um Insel 2208.«
»Sie haben eine Niederlage erlitten«, stellte Aljona mit triumphierender Stimme fest.
»Ich gebe dir recht, aber der Preis war hoch. Und da sie ihr Ziel nicht erreicht haben, werden sie es wieder probieren …«
»Eine Frage …« Takuno hob die Hand. Ich nickte. »Batterien, Babys, Genetik … das bringe ich noch nicht zusammen«, er knabberte an seiner Unterlippe. Ich fand ihn unglaublich attraktiv in diesem Moment. »Sie leben unter uns, also Menschen, denen wir vertrauen, sind auf deren Seite. Was also wollen sie? Unsere mühsam errichtete Ordnung zerstören? Für was? Du hast es am eigenen Leib erfahren, dass man auf den Kontinenten nicht mehr leben kann.« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht …«
»Mich würde interessieren, wohin diese verflixte Insel 64 verschwunden ist«, warf Aljona ein. »Ich wette, von diesen Leuten könnten wir zumindest einen Teil der Antworten bekommen.«
»Steht eigentlich in den Unterlagen, ob diese Babys natürliche Antikörper gegen SARS-Covid4 und Nipah-38 in sich trugen?«, warf Kazumi ein. Wir starrten sie an. Dann warfen wir uns fragende Blicke zu.
»Keine Ahnung«, musste ich zugeben.
»Und wenn ja, was könnte das bedeuten?«, hakte Kano nach.
»Ich weiß es nicht«, gestand Kazumi, »aber wenn dem so ist, dann kann es kein Zufall sein und dient einem Zweck. Und dieser Zweck fügt sich als Puzzleteil zu den anderen Besonderheiten: An extreme Bedingungen angepasste Nahrungsmittel, Feststoff-Batterien, genetisch erzeugte Immunität …«
Es war für einige Minuten still im Raum, bis sich Maximilian räusperte. »Wenn man das alles so hört, kommt man spontan auf den Gedanken, hier geht es um die Neubesiedelung einer Welt …«
Wir starrten Maximilian an. Dieser Gedanke war nicht von der Hand zu weisen und außerordentlich plausibel. Ein verbindendes Motiv.
»Mal eine andere Frage«, meldete sich Steven zu Wort. »Haben die Vernehmungen nichts ergeben? Was ist mit Semjonowa? Was mit den Eltern und Kontaktpersonen der Babys?«
Ich blickte ihn an. Diese Fragen mussten kommen. Als Antwort blätterte ich in Jonnas Dokument nach hinten. Protokoll der Sitzung des Gruppenrates über die weitere Zukunft der jeweiligen Person bzw. Personengruppen. Alle lasen die Sätze und wurden zusehendes ruhiger. Bis zum Stillstand aller Bewegungen. Kaum, dass sie noch atmeten.
»Das glaube ich jetzt nicht …«, flüsterte Aljona.
»Das ist eine mehr als deutliche Warnung«, stellte Bijan fest.
Kano beugte sich vor und kniff die Augen etwas zusammen.
»Verbannung aufs Festland? Alle? Und … Exekution für Semjonowa?«, zitierte er Teile aus dem Protokoll. »Das ist nicht richtig …«
»Nein, das ist nicht richtig …«, sagte Kazumi, »aber was für Möglichkeiten haben wir denn realistisch? Knappes Essen, knappe Ressourcen. Das Festland ist unbewohnbar in weiten Teilen, das Meer so gut wie tot. Und dann gibt es Menschen, die das Wenige, das uns geblieben ist, kaputt machen wollen? Das ist ebenso nicht richtig!«
Die Diskussion entbrannte und ich war einfach zu müde, um einzugreifen. Mein Magen meldete sich, was ich als gutes Zeichen deutete. Ich griff nach den Krücken, stand auf und stakste in die Messe.


Es dauerte nicht lange und Takuno tauchte auf, nahm sich eine Platte mit Algen-Sushi und setzte sich zu mir. Noch bevor er eines der Röllchen greifen konnte, legte ich meine Hand auf sein Handgelenk und kraulte es vorsichtig mit zwei Fingern. Ein klein wenig lächelte er. »Ich habe noch nicht gefragt, wie es dir in diesen fünf Wochen erging?«
Er seufzte. »Ich weiß nicht … ich habe versucht mich zu beschäftigen. Zuerst das Heben der gegnerischen Boote, dann die Absicherung von Gruppe elf … und schließlich war da noch Jelena …«
»Wo ist sie eigentlich?«, unterbrach ich ihn. Nun grinste er.
»Dienst im Sonarraum. Das hat es ihr angetan. Und sie hat ein exzellentes Gehör. Fast würde ich behaupten, das absolute Gehör, wenn es das gibt …«
Ich runzelte die Stirn. »Sie ist erst vierzehn …«
»Es war keine Zeit, sie woanders hinzubringen. Und so ist sie beschäftigt, fühlt sich nicht nutzlos. Außerdem lernt sie schnell. Hätte ich sie auf Insel 31 lassen sollen? Dann wäre sie den ganzen Tag neben deinem Bett gesessen und hätte was gemacht?« Er beantwortete sich die Frage selbst. »Nein, so war es schon besser. Und ich hatte jemanden neben mir, der mich an dich erinnerte …«
Ich stand mühsam auf, beugte mich zu ihm und küsste diese weichen Lippen. Nicht ganz einfach, das Gewicht so weit vorzuverlagern, aber eine gute Übung. Takuno schob mir eine Sushi-Rolle in den Mund. Auf dem Weg zurück sackte sein Arm plötzlich ab, auf den Tisch, den Kopf beugte er vor. Seine schwarzen Haare vor Augen, griff ich unter sein Kinn und drückte es sanft hoch. Die Augen waren feucht, mehr als er unterdrücken konnte. Tränen kullerten. Er schniefte, stand auf und zog die Borduniform zurecht. Dann verschwand er auf der Toilette. Kazumi hatte recht. Ich musste meine Fähigkeiten wieder schärfen, gesund werden. Um diesem Drama ein für allemal ein Ende zu bereiten.


Zurück im Besprechungsraum fand ich nur Kano vor, wie er über den Dateien von Jonna brütete. Er bemerkte weder mein Eintreten noch dass eine der Krücken auf den Boden fiel, als ich sie gegen die Tischkante lehnen wollte. »Scheiße«, rutschte mir heraus. Ich setzte mich neben ihn. Er ging die Liste mit den Namen aller Personen durch, die mit der Geburt der Babys zu tun hatten.
»Wonach suchst du?«
»Hm?« Ruckartig drehte er den Kopf. Sein Gesicht hellte sich auf. »Du bist es, Chatrina … ich habe dich gar nicht kommen hören.« Er klang verzweifelt.
»Was ist los, Kano?«
»Hier«, auf dem Whiteboard tauchten drei Namen auf. »Hiroto und Asuka Watanabe. Hiroto war der Bruder meines Großvaters. Chefingenieur auf Gruppe 98 vor den Salomonen. Er hat die Gruppe sein Leben lang betreut. Und Asuka, seine Frau, war die Internistin von Insel 2001 …«
»Hast du sie gekannt?«
»Ja, schon. Ich komme von Gruppe 98. Auf Insel 2001 wurde ich geboren. Als dieses verschwundene Baby auf die Welt kam, 2124, war ich elf Jahre alt und wir waren oft bei Hiroto und Asuka zu Besuch. Großonkel Hiroto war ein begnadeter Geschichtenerzähler. Alle hörten wir ihm zu, seinen Monologen über das ferne, alte Nippon …«
»Und die dritte Person?«
Er blickte an die Wand und schien zu überlegen, kramte in Erinnerungen. »Ayumi Tanaka, meine Lehrerin. Als ich in die Höhere Schule kam, war sie meine Englischlehrerin. Die Höhere Schule war auf Insel 1996, nicht auf der Hauptinsel. Ich hatte dort ein Zimmer. Tanaka-san, wie wir sagten, war eine kluge Frau. Irgendwann wurde sie schwanger. Das muss 2129 oder 2130 gewesen sein, kurz vor meinem Abschluss. Ihr Baby starb. So hieß es zumindest damals.«
»Und danach? Bist du gleich in die Polizeischule?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, erst zwei Jahre später. Ich wollte Biologe werden und habe in den Hydroponischen Anlagen auf der Gruppeninsel hospitiert. Meine Mutter war stolz auf mich …«
»Und dein Vater? War er nicht stolz auf dich?«
»Nein. Erst als ich mich zwei Jahre später auf der Polizeischule in Oahu angemeldet habe war er zufrieden … denke ich.«
Er atmete tief ein und lehnte sich weit zurück, legte den Kopf ganz in den Nacken und starrte an die Decke. Ich dachte über seine stolze Mutter nach; den Vater, sicher still und zurückhaltend mit seinen Emotionen. Takuno hatte recht mit Jelena. Sie war zwar erst vierzehn, aber entdeckte sich, ihre Fähigkeiten, Vorlieben, Interessen. Ich musste zugeben, das machte mich stolz. Warum eigentlich? Ich hatte sie noch nicht mal auf die Welt gebracht …
»Kano, darf ich dich mal was fragen?«
»Jederzeit.«
»War es richtig, Jelena zu adoptieren? Und meinst du, ich schaffe es, eine gute Mutter zu sein?«
»Da habe ich keinen Zweifel. Weder an der Richtigkeit deiner Entscheidung noch an deiner Qualifikation.« Ich konnte Kanos unumstößliches Vertrauen in mich geradezu fühlen. Ich selbst war mir nicht sicher in dieser Angelegenheit.
»Kano … du bist der Einzige von uns allen, dem ich meine ganze Vergangenheit offenbart habe. Zumindest das, an was ich mich wirklich erinnern kann. Von meinen Träumen mal abgesehen. Du weißt, ohne Medikamente gehe ich am Stock und bin ein psychischer Totalschaden …«
Mit einem Ruck setzte er sich aufrecht. »Red keinen Mist. Du würdest für uns dein Leben geben und wir für dich. Nichts anderes zählt. Und nun, wenn ich das so sagen darf, haben wir Takuno und Jelena in unseren Kreis aufgenommen. Wir sind eine Familie.«
Das ließ mich still werden. Er sprach das aus, was ich dachte und fühlte. Dass wir in all den Jahren so zusammengewachsen waren, machte mich immer wieder sprachlos. Umso schmerzlicher waren die Verluste. Wir mussten Brüder und Schwestern loslassen.
»Ich möchte dich auch etwas fragen, Chatrina.«
»Hm?«
»Denkst du, die Watanabes waren böse Menschen? Oder Tanaka-san?«
Ich schnäuzte in ein Vlies.
»Nein, das denke ich nicht. Ich denke, dass sie etwas gefolgt sind, einer Idee, Utopie, vielleicht sogar einem Glauben. Und diese Idee, nenne ich sie mal, war vielleicht gar nicht so übel. Aber dann bekam das Ganze eine Art Eigendynamik. Vorher Undenkbares wurde auf einmal zur Selbstverständlichkeit; ganz im Sinn der Sache. Bald darauf fragt niemand mehr nach der Legitimation bestimmter Handlungsweisen. Man muss über Leichen gehen, will man der Logik folgen.«
Er sah mich ernüchtert an, fast schon mit Abscheu.
»Mit anderen Worten: wir sind nicht besser oder schlauer geworden …«
»Wohl nicht. Die Entscheidung des Gruppenrates war falsch. Diese Menschen hatten zwar keine Waffen in der Hand, dienten aber etwas, was unser aller Existenz aufs Spiel setzt. Aber sie nun dem sicheren Tod zu überlassen …« Er senkte den Blick. Ich beugte mich zu ihm hin und legte den Arm um seine Schulter. »Kano?«
»Hm?«
»Gehst du mit mir in den Gymnastikraum? Ich möchte aufs Laufband und mache das ungern alleine, falls ich umfalle …«
Umgehend stand er auf. »Natürlich, Chatrina.«


Am Freitag, den 5. April 2148, erreichten wir kurz vor zwölf Uhr mittags den Isfjord, passierten eine Reihe von Sonarbojen, Torpedonetzen und machten in Longyearbyen fest. Schon bei der Einfahrt in den Fjord bemerkten wir einen erheblichen Unterschied zu unserem letzten Hiersein. Mehr Drohnen und Copter über dem Fjord, eine Zunahme von Besatzungen, U-Booten und Schnellbooten. Ausrüstungsgegenstände auf den Piers, darunter Torpedos, Waffen, Munition.
»Ich erinnere mich an einen alten Film, der in der Abschlussklasse der Polizei gezeigt wurde … D-Day hieß der, meine ich. Der ganze Aufmarsch, das Zusammenziehen von Mensch und Material, um einen Gegner endgültig zu bezwingen …«, sagte Kano als wir über den Pier zur Transportraupe gingen.
»Haben wir auch gesehen«, bestätigte Kazumi. »Die Alliierten holten zu einem großen Gegenschlag aus, landeten an der Küste der Normandie, um die Deutschen vernichtend zu schlagen und Europa zu befreien.«
Ich wunderte mich. »Warum hat man Euch den Film gezeigt?«
»Wir hatten es vom Krieg. Dass der letzte Krieg der Menschen 2052 geführt wurde und es seither Frieden gibt …«, merkte Kano an.
Kazumi bewegte ihre Hand im Halbkreis, folgte mit den Augen und drehte sich dabei, bis sie rückwärts lief und mich ansah. »Das hier sieht mir schon sehr nach Krieg aus …« Ich blieb stehen und schaute mich um. Kazumi hatte recht. Aljona stellte sich neben mich.
»Wenn das hier so was wie eine Mobilmachung ist … wo ist dann der Gegner?« Sie sah mich von der Seite an. Ich wusste keine Antwort. Sieben fremde U-Boote? Vielleicht gab es nur diese sieben … und Takuno hatte zwei von ihnen versenkt. Eine unbekannte Anzahl an Sympathisanten oder auch Sezessionisten – wie auch immer wir sie nennen wollten – aber das hier? »Ich fresse einen Besen, wenn das alles mit rechten Dingen zugeht …«, stellte Aljona klar und stapfte davon. Ich folgte ihr.

Wir fuhren mit der Transportraupe hinauf zu Anouks Reich und wurden begrüßt von einem Zustand verwirrender Hektik und dem Umstand, dass die Verwaltung der drei Konglomerate von Gruppe eins in die Polizeischule verlegt worden war. Alle Inseln der Gruppe zerlegte man in diesem Moment schon in Einzelteile, um sie der U-Boot- und Waffenherstellung zuzuführen. Das ist eine Zäsur, flüsterte mir Anouk nach der Begrüßung zu. Für uns gab es nichts zu tun, außer die uns zugewiesenen Quartiere zu beziehen. Jonna zeigte sich nicht, und so beschlossen alle, in die Kantine zu gehen, um etwas zu essen, während ich an der Tür der medizinischen Abteilung klopfte, um einen Nachsorgetermin hinter mich zu bringen. Ein junger Pfleger empfing mich freundlich und wies mir eine Kabine am Tomographen zu. Ich legte die Kleider ab und blickte an mir herab. Das elastische Harz in ihren Knochen sorgt nicht nur dafür, dass die Brüche schneller heilen, es macht ihr Skelett insgesamt viel widerstandsfähiger, klärte mich Mercier auf. Ich hatte ihn aufgefordert, meine restlichen Knochen ebenfalls damit zu sättigen. Er lachte nur.
Die Tür der Kabine öffnete sich, der Pfleger bat mich auf die Liege. Ich bemerkte seine Blicke als ich mich darauf legte. Sie wanderten meinen ganzen Körper entlang.
»Es sollten 38 Narben sein«, half ich ihm auf die Sprünge. »Dann müssen sie nicht so lange zählen. Die in meinem Inneren nicht eingeschlossen.«
Er wirkte nicht verlegen. »Die Narben sind fantastisch«, schwärmte er. »Und sie sind wirklich überall …« Er grinste frech und ich war für einen Moment perplex.
»Wie alt sind Sie, junger Mann?«
»Zweiundzwanzig.« Er legte eine dünne Decke über mich.
»Ziemlich mutig für einen jungen Pfleger. Sie wissen, wer hier liegt?« Lachend wischte er einige Sequenzen auf seinem Tablet auf die Seite und las ab, was da offenbar stand.
»Sutter, Chatrina, Obfrau der Ebene zwei. Bei den Mobilen Polizeieinheiten. Vor etwa sechs Wochen hatten Sie eine Begegnung mit einem Tornado der Kategorie F6, aber …«, grinste er, »dass Sie so schöne Narben haben, steht hier nicht.« Mit dem Finger löste er den Beginn der Untersuchung aus und ich fuhr langsam in den Ring des Tomographen. Das Klicken und Kratzen des Gerätes ignorierte ich. Vielmehr dachte ich daran, ihn zu fragen, ob er nicht lieber zur Polizei wechseln wollte. Vielleicht als Sanitäter …

Eine Stunde später saß ich der Ärztin gegenüber. Frau Doktor Putri Handayani, Neurologie, stand auf ihrem Ärmel. Sie blätterte durch ihr Tablet, las, zog Schmolllippen, blätterte weiter, las wieder ausgiebig und ich war drauf und dran das Zimmer zu verlassen als sie mich endlich fixierte und vielleicht überlegte, mich sofort aus dem Dienst zu entfernen oder auf Gruppe zwei in die Rehabilitation abzuschieben. »Mein Kollege, Doktor Mercier, hat da ein Wort notiert, über das ich gerade gestolpert bin. Nur am Rande, und wenn man nicht so genau darauf achtet, fällt es kaum auf …«
»Und Ihnen ist es aufgefallen?«
»Natürlich.«
Was sonst, dachte ich. »Und was ist das für ein Wort?«
»Mehr ein Kürzel. Sie nehmen da einen Inhibitor zu sich. Täglich. Nicht wahr?«
Ich stellte mich dumm. »Ich bin Polizistin, keine Pharmazeutin.«
»Antidepressiva«, sagte sie frei raus. »Und offenbar haben Sie eine Prozessdatei, um die Molekülstruktur in einem Rekombinationsgerät herzustellen?«
»Das steht auch da drin?«, fragte ich ehrlich überrascht.
»In der Tat. Etwas versteckt.«
»Dann löschen Sie das!«, forderte ich sie auf. Doktor Handayani zuckte unbeeindruckt mit der rechten Schulter. »Sie wissen, dass ich das erstens nicht darf und dass zweitens diese Daten redundant abgelegt sind.«
»Und nun?«
»Schreibe ich Sie jetzt diensttauglich, putze ich übermorgen die Flure hier …«
»Tun Sie das nicht, geht es Ihnen ebenso«, machte ich ihr klar. Sie blickte mich mit großen Augen an.
»Sehe ich das richtig? Sie drohen mir?«
»Frau Doktor Handayani … ich diene seit mehr als zwanzig Jahren in diesem Zustand. Sie können meine Dienstakte einsehen. Einwandfrei und erfolgreich. Wo sehen Sie einen Einfluss dieses Präparates?«
»Das kann ich nicht beurteilen. Das Problem ist, dass es nun offiziell ist … und somit unter die Vorschriften fällt. Und da kennen Sie sich doch aus, oder?« Ich holte tief Luft und dachte an Retos Weissagung: ‚Eines Tages werden sie dir auf die Schliche kommen.‘ Dieser Tag war nun da.
»Na gut, dann machen wir es auch offiziell …« Ich zog das Pad aus der Tasche und rief Jonna.
»Was gibt’s?«, kam ihre gehetzte Stimme aus dem Gerät.
»Ich sitze bei einer Neurologin. Sie will dir was erzählen …« Zügig reichte ich der zögernden Handayani das Pad, dann erzählte sie in wenigen Worten, was da neuerdings in meiner Akte stand. Statt einer Antwort aktivierte sich das Hologramm auf dem Schreibtisch.
»Erzählen Sie mir das noch mal«, forderte Jonna sie auf, was Handayani umgehend tat. Kaum dass sie am Ende war, blickte Jonna auf die Seite und murmelte etwas zu einer Person. Dann sah sie uns wieder an. »Weswegen ist Obfrau Sutter bei Ihnen, Doc?«
»Wegen der Hämatome im Schädelbereich. Wir haben ein MRT durchgeführt und …«
»Irgendwelche Auffälligkeiten?«
»Nein …«
»Aussetzer?«
»Auch nicht. Alles ganz zu meiner Zufriedenheit …«
»Na also«, sagte Jonna. »Zu meiner auch. Sie schließen jetzt Chatrinas Datei. Ich rufe in fünf Minuten die Datenbanktechniker an. Wir laden die Version von vor sechs Wochen neu und ich sage Mercier, er solle sich nicht so anstellen. Sobald er eine aktualisierte Version liefert, können Sie den MRT-Eintrag einfügen. So weit alles verstanden?«
Handayani war sprachlos. Starrte nur auf das Hologramm. »Und das Protokoll?«
»Scheiß auf das Protokoll«, wiegelte Jonna ab. Das blaue Leuchten erlosch und eine angenehme Stille breitete sich aus. Ich beobachtete meine Neurologin mit einer gewissen Genugtuung.
»Also bin ich diensttauglich?« Seufzend nickte Handayani. »Sagen Sie, Doc, könnten Sie Ihren jungen Pfleger entbehren? Ich suche noch aufgeweckte Leute für mein Team.« Das verdutzte Gesicht entschädigte mich für die vergangenen Minuten. Ich ließ sie sitzen und machte mich auf den Weg in die Kantine.


»Wie war es bei der Untersuchung? Alles in Ordnung?«
Handayanis Gesichtsausdruck noch vor Augen, musste ich schmunzeln. »Keine Sorge, Kano. Alles bestens.« Er saß alleine am Tisch, vor leerem Teebecher, einige Essenskrümel daneben liegen.
»Takunos Boot wird gerade aufproviantiert. Aber er selbst ist zur U-Boot-Basis geflogen. Keine Ahnung, warum …«, dann hob er den Zeigefinger. »Und ich habe Sato gesehen …«
»Wo?«
»Auf dem Weg zum Waffentraining …«
»Sie wird sich zu uns melden, warte mal ab.«
Kano wiegte den Kopf hin und her. »Warum nicht? Sato ist konzentriert und zuverlässig. Ein Gewinn für uns …«
»Das sehe ich genau so.« Ich schaute mich um. Die Kantine war voll, kaum noch ein Platz frei. »Und wo ist Jelena?« Kano grinste verschmitzt.
»Anouk hat sie mitgenommen. Er wollte ihr Inuit-Legenden erzählen und so Zeug.« Ich legte meine Hand auf seine Schulter.
»Ist sicher nichts anderes als die Geschichten aus dem Nippon vergangener Jahrhunderte, was?«
»Vermutlich hast du recht«, erwiderte er und blickte gedankenverloren zwischen den Menschen hindurch. Das Pad summte. Jonna. Ich zog es hervor und aktivierte es.
»Wer ist bei dir?«
»Kano.«
»Gut. Als dein Stellvertreter sollte er das auch hören. Kommt bitte auf Ebene eins in den Raum 30.« Das Display wurde dunkel.
»Je kürzer, desto dramatischer«, kommentierte Kano und stand auf.

Ich klopfte und wir traten ein, standen aber in einer Art Vorraum, uns gegenüber an einem Tisch ein junger Mann. »Hoppla«, rutschte mir raus. »Ein Vorzimmer?«
»Obfrau Andersen erwartet Sie«, erklärte er im Aufstehen, bedeutete uns, ihm zu folgen. Kano und ich sahen uns überrascht an.
»Hat sich hier was geändert?«, flüsterte er. Eine weitere Tür öffnete sich.
»Bitte.«
Jonnas Büro war dem auf Gruppe eins in keinster Weise ähnlich. Dort Standardräume für alle, gleiche Größe, identische Ausstattung. Dieser Raum war anders. Angemessen? Aber für was? »Danke«, murmelte Jonna und winkte ihren Burschen hinaus. »Setzt Euch.« Wir kamen der Aufforderung nach.
»Ich bin unter Zeitdruck, deswegen ein kurzer Überblick …«, begann sie ohne Umschweife, drehte sich mit dem offensichtlich bequemen und ausladenden Drehstuhl ausdauernd von links nach rechts und wieder zurück, die Fingerkuppen aufeinandergesetzt. »Der Gruppenrat hat aufgrund der Bedrohungslage und Semjonowas Wegfall in einer Sondersitzung den Notstand ausgerufen …«
»So was gibt es?«, platzte Kano dazwischen. Jonna ignorierte es.
»Für einen Übergangszeitraum bin ich kommissarisch erste Administratorin mit Sonderbefugnissen«, erklärte sie und fixierte Kano. »Ja, so was gibt es. Offenbar muss ich mehr Wert auf die politische Bildung meiner Leute legen …« Kano sank in sich zusammen, rieb Zeigefinger und Daumen gegeneinander. Ich wusste es immerhin auch nicht, schwieg aber dazu. Stattdessen war mir nicht so ganz klar, was sie mit ‚Bedrohungslage‘ meinte.
»Jonna, der Gegner hat zwei Boote verloren, er hat nicht die Hochleistungsakkus bekommen, das ist ja schon mal was. Wir sollten die Maßnahmen zur Verteidigung vorantreiben, Torpedonetze um Inseln und Gruppen, aber …« Sie streckte die flache Hand nach oben und schüttelte ein wenig den Kopf, beugte sich vor, die Ellenbogen auf dem Tisch.
»Einige Gruppenräte des pazifischen Konglomerats waren ungehalten …«, sie stockte und blickte zwischen Kano und mir hindurch. »Nein, ungehalten ist nicht das richtige Wort … unzufrieden, ja. Sie sind unzufrieden. Seit langem schon …«
»Unzufrieden? Mit was?«, wunderte ich mich. Das hörte ich zum ersten Mal.
»Wie sich unsere Entwicklung gestaltet. Sie plädieren seit einigen Jahren dafür, wieder eine Besiedlung vorzunehmen.«
»Wo?«
»Auf der Antarktis.«
Ich spürte Kanos Blick auf mir, vermied es aber, ihn anzusehen. »Warum hat man von diesen Bestrebungen oder Ideen bisher nie was gehört in den Inselnachrichten oder von Menschen, die von dort kommen?«
»Ja«, meldete sich Kano zu Wort. »Ich komme von dort und kenne nicht wenige aus Oahu. Davon ist mir nichts bekannt.« Jonnas Haltung blieb unnahbar, distanziert. Sie lehnte sich nicht zurück sondern kroch förmlich in die Tischplatte hinein.
»Weil solche Bestrebungen unter der Hand vorangetrieben wurden. Und das macht sie gefährlich. Drei Gruppen haben sich heute Nacht als autark deklariert. Fünfundsiebzig Inseln haben ihre Positionen verlassen und sind auf dem Weg Richtung Südkontinent.«
Ich war baff, sprachlos. Kano erging es nicht anders. Er war bleich geworden. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle dort lebenden Menschen diesen Weg beschreiten werden …«, kommentierte er leise. Sichtlich erschüttert.
»In der Geschichte der Menschen gibt es das Wort ‚Handstreich‘«, fuhr sie fort und verfiel in eine Art Starre. Wir schwiegen, wechselten ab und zu einen Blick. Dann regte sie sich wieder. »Alle diejenigen, die nicht mitwollen, werden auf Inseln versammelt, die sie dann zurücklassen! Genau jetzt, in diesem Moment! Plötzlich müssen sich Menschen entscheiden, wohin sie wollen. Sogar innerhalb der Familien!« Ihre Faust landete auf dem Tisch.
»Weiß man, von wem diese Initiative kommt?«
»Gute Frage, Chatrina. Kalea Kereteki, die Administratorin des Pazifik-Konglomerats ist wohl eine der Wortführerinnen.« Jonna atmete tief ein. Mittlerweile hatte ich in der Tat den Eindruck, einiges meiner Realität sei nur ein müder Abklatsch dessen, was wirklich um mich herum existierte. »Aber genau das werdet ihr herausfinden!«, rief sie, stand auf und kam um den Tisch herum.
»Was?!«, kam es aus Kanos und meinem Mund.
»Wer alles in dieses Drama involviert ist. Sie werden von euch arrestiert und nach hier verbracht. Die Inseln müssen zurück!« Jonna redete sich in Rage. »In dieser sowieso schon prekären Lage meinen diese Hirnlosen, sich einen persönlichen Freiraum schaffen zu können! Das werde ich nicht dulden!« Inzwischen unterschied sich ihre Gesichtsfarbe vom Rot der Haare in keinster Weise.
»Aber hat die Suche nach den Unbekannten nicht Vorrang?«, begehrte Kano auf. Es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl.
»Kano hat recht, Jonna … sollen sie doch die Felsen auf dem Südkontinent besiedeln. Da wächst eh nichts …«
»Nein! Wenn wir das jetzt erlauben, fällt uns die ganze Kiste auseinander! Das war es dann mit der Menschheit! Das ewige kleinklein beginnt wieder!«
»Genehmigt der Gruppenrat denn ein polizeiliches Eingreifen?«, wollte Kano wissen. Jonna senkte den Kopf, schaute auf den Stuhl vor ihr oder Kanos Schuhe? Ich wusste es nicht, aber sie blickte uns von unten an. Die Augen nach oben gedreht. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. In ihr musste es tiefe, lichtlose Täler geben.
»Erinnert Euch an die Sonderbefugnisse«, sagte sie leise. »Der Gruppenrat bin im Moment ich. Was ich entscheide ist Konsens.« Mein Puls beschleunigte und Kano fiel zurück in den Stuhl.
»Jonna …«, die richtigen Worte zu finden fiel mir schwer. »Ist das gut? War es nicht immer unsere Stärke, dass alle etwas berieten und entschieden?« Die zweite Faust landete auf dem Tisch, fegte dabei einen historischen Stiftbehälter aus Holz auf den Boden.
»Wir haben eine unbekannte Gruppe, die uns angreift! Im Pazifik offene Sezession! Unter uns Sympathisanten und was weiß ich noch alles!« Eindringlich starrte sie mich an. »In dieser Lage müssen wir konzentriert handeln und uns auf wenige Entscheider verlassen! Und dazu gehörst auch du!« Ich schluckte und biss auf meine Unterlippe. Wollte ich dazu gehören? Ein halbes Jahr zuvor wäre mir die Antwort leicht gefallen. An diesem Tag nicht mehr. »Du bist wieder fit«, stellte sie für mich fest. »Morgen früh um 0500 ist Abfahrt. Takuno bekommt gerade ein neues Boot. Bringt mir diese Renegaten!«
Kano legte seine Hand auf meine Schulter. Wir erhoben uns. Sollte ich noch etwas sagen? Mir fiel nichts ein. Also verließen wir Jonnas neues Büro, vorbei an ihrem Laufburschen. »Was war das gerade da drin?«, fragte Kano auf dem Flur.
»Ein deutliches Zeichen, dass sich etwas verändert hat.«
Er presste die Lippen aufeinander. »Chatrina?«
»Hm?«
»Wusstest du, dass Einheit 16 damals viel näher an Gruppe 25 war als wir?« Ich blieb abrupt stehen und starrte auf seinen Rücken. Er drehte sich langsam zu mir. »Sie waren auf Gruppe 22 und haben sofort Jonna kontaktiert. Die hat sie aber nach Norfolk geschickt, obwohl wir noch Tage entfernt waren.« Ich zog ihn am Ärmel mit. »Und findest du es nicht seltsam? Wir fangen mit der Suche an und entkommen knapp dem Tod. Dann explodiert eine Bombe, Kazumi und ich entkommen knapp dem Tod. Wir fahren nach Brest und entkommen knapp dem Tod … und jetzt das eben?« Wieder blieb ich stehen, stellte mich vor ihn, fixierte seine Augen. Ich vertraute ihm bedingungslos, nickte langsam, legte die Hand auf seine rechte Schulter.
»Komm, wir gehen die anderen suchen.«

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