Jäger oder Gejagte
Abiola drückte mich in den Raum. Aus der hellen Küche in die Schwärze der Kammer. Kein Kind schrie. Hilf mir, sagte sie hinter meinem Rücken und schloss die Tür. Mein Universum bestand aus Angst. Egal, in welche Richtung ich mich drehte. Kaltes Schwarz. Ein naher Tod vor mir oder eine leere Endlosigkeit. Wieder der Mann mit Glatze. Über mir. Die fleischige Pranke auf meinem Kopf. Dann abwärts rutschend, griff meinen Zopf griff, riss ihn nach unten. Vor sich mein gestreckter Hals. Kalter Messerstahl daran, ein züngelndes Brennen, die Klinge durchtrennte sanft eine Hautschicht nach der anderen. Blute für mich, befahl er mit tiefer Stimme, die sich in mir ausbreitete wie Wind auf der Ebene. Das tat ich. Bluten. Aus der Schwärze hörte ich das Klacken der Gürtelschnalle, einen Reißverschluss, langsam sich öffnend. Der schwere Geruch nach warmem Fleisch kitzelte meine Nase. Zieh dich aus, hörte ich. Was ich tat. Gehorchen. Nur das. Nicht sterben. Aber ich starb, als er sein Fleisch in meines presste. Dann kehrte ich zurück. Hilf mir, sagte Abiola und schubste mich in den Raum. Ich wusste, er war dort und ich würde erneut sterben.
Traumsequenz, Chatrina Sutter
Longyearbyen, Spitzbergen auf Nord 78° 13‘ und Ost 15° 38‘
Freitag, 16. Februar 2148, sieben Uhr dreißig. So viel Schweiß. Alles war nass und klebrig. Kenzaburo, dachte ich und suchte nach ihm. Doch es gab nur die Leere neben mir und die blaue Leuchtanzeige über der Tür. Ich lebte nach wie vor. Die Träume waren gnädig und entließen mich in einen neuen Morgen. Schnell stand ich auf und nahm eine der Tabletten. Vielleicht sollte ich es mit zwei probieren, überlegte ich, verwarf die Idee und duschte. Schnell war ich in Gedanken wieder bei Kenzaburos suchenden Händen auf meinem Körper, lehnte an die kühle Wand, rutschte an ihr abwärts und vergaß die Zeit auf Suche nach seiner Zartheit. Als die Automatik das Wasser abstellte, wurde ich mir der Umgebung wieder bewusst. Noch voller Seife, aktivierte ich weitere fünf Minuten Wasserentnahme. Kalt. Im Kopf formte ich die wichtigen Fragen. Wo versteckt man eine U-Boot-Werft? Wohin kann eine Insel verschwinden? Wozu braucht jemand 482 vorgetäuschte oder tatsächliche Geburten? Das waren nur drei der vielen ungelösten Rätsel in diesem Komplex. Ich war mir ebenfalls nicht darüber klar, ob ich Abiola und nun Reto ersetzen sollte zu diesem Zeitpunkt. Personal zu bekommen, war nur eine Frage der Zeit, aber dieses Personal musste eingearbeitet werden. Das behinderte die ganze Mannschaft. Völlig unmöglich im Moment. Wir brauchten alle Sinne und Kapazitäten für das vor uns Liegende. Verdutzt legte ich das Handtuch aufs Bett. Wann hatte ich die Dusche verlassen und mich abgetrocknet? Das Pad summte. Jonnas Symbol. »Jonna, guten Morgen.« Ihr Gesicht sprach Bände. »Nicht schon wieder eine beschissene Nachricht«, sagte ich leise. Sie beugte sich zur Kamera, dabei verdeckte der Berg roter Haare ihr Gesicht. Mit dem Finger strich sie einiges auf Seite.
»Reto ist tot …«
»Aber …«
»Auf dem Transfer von Spitzbergen zu Gruppe 19.«
»Wie?«
Sie seufzte. »Aus der Seitenluke eines Copters in die Tiefe gestürzt.«
Kopfschüttelnd setzte ich mich an den Tisch. »Transfer per Copter? Wie das?!«
»Chatrina … ich habe ihm das genehmigt. Damit er schneller bei … du weißt … zuhause ist. Wir versorgen die umliegenden Gruppen per Lastcopter mit Torpedonetzen, und da … ja, dachte ich, er könnte mitfliegen.« Ruckartig richtete ich mich auf, eine enorme Wut im Bauch, stieß mit der Brust gegen die Tischkante. Das Pad ruckelte.
»Das würde er niemals tun, Jonna!«
»Er hat es aber getan!«, rief sie und wurde ebenfalls wütend. »Vielleicht kennst du deine Leute doch nicht so gut!« Ich schlug auf das Pad und deaktivierte es dabei. Einen Atemzug später summte es wieder. Ich atmete heftig, wie nach einem Sprint, wartete ein paar Sekunden und nahm den Ruf an.
»Tut mir leid, Chatrina … «, murmelte Jonna.
»Mir auch … «
Sie zog die Unterlippe in den Mund, kaute darauf herum. Blut quoll hervor. Vorsichtig tippte sie mit dem Zeigefinger auf die Wunde und streckte sich. »Wir machen weiter, Chatrina. Und … wie sagte man in alten Zeiten? Gefangene werden keine gemacht.«
»Nur bis sie gestanden haben.« In ihren Augen formte sich ein eisiger Ausdruck, der mich frieren ließ. Das Pad wurde dunkel. Ich zog die Uniform an und verließ meinen Raum.
»Du hast uns gebeten, mögliche Positionen für Werften zu markieren«, begann Lehtonen die Sitzung und wischte das Bild an die Wand. »Was ich als Betreiberin einer solchen Werft auf keinen Fall wollte, wäre ein langer Weg zur Ressourcenbeschaffung. Von der Quelle zur Bearbeitung nicht mehr als einen Tag. Maximal.« Suvi vergrößerte das Südchinesische Meer. »Die Küste von Hanoi bis Ningbo bietet beides: endlose Möglichkeiten sich zu verstecken durch die zerklüfteten, teils sehr steilen Berge, und genug Hafenstädte mit einer Unmenge an Ressourcen, von denen wir noch nicht mal zehn Prozent erfasst haben.«
»Das Navigieren dort ist extrem schwierig. Unsere Karten sind ungenau, veraltet«, ergänzte Khatri. »Durch den Meeresspiegelanstieg sind sie in den Küstenbereichen wertlos geworden. Für uns gibt es einfachere Ressourcenquellen …«
»Keinesfalls liegen die Werften an der Oberfläche«, fuhr Lehtonen fort. »Wenn die regionalen Rohstoffhändler ihre Bergungstrupps losschicken, würden sie unweigerlich auf so eine Werft stoßen und wir erführen irgendwie davon.«
Ich gab ihr recht. »Okay, Suvi … Tenzin, halten wir fest: Südchinesisches Meer von Hanoi bis Ningbo. Was ist mit Japan?«
»Unwahrscheinlich«, widersprachen beide wie aus einem Mund. »Japan und Süd-Korea sind unsere primären Quellen was Rohstoffe betrifft. Neunzig Prozent der Metalle für das Pazifik-Konglomerat kommen von dort.«
»Was ist euer Vorschlag?« Sie zögerten. Ich war überrascht. Sowohl mit Suvi als auch mit Tenzin hatte ich schon gemeinsame Aktionen durchgeführt, und beide waren aus meiner Sicht klüger und umsichtiger als die Meisten. »Vor was habt ihr Angst?«, bohrte ich. Suvi gab sich einen Ruck.
»Wir suchen eine oder mehrere Werften. Aus unserer Sicht weder vom Wasser noch von oben einsehbar. Steilküste also, eine unterirdische Anlage …«
»Oder landeinwärts über einen großen Fluss«, ergänzte Tenzin.
»… oder das. Weißt du, wie viele tausend Kilometer Küste wir da absuchen müssten, Chatrina?« Ich seufzte schwer und lehnte mich an. Rieb intensiv den Kopf mit beiden Händen. Das Pad summte. Es war Jonna.
»Kommt ihr voran?«, fragte sie ohne Begrüßung.
»Natürlich. Was gibt es?«, antwortete ich kurz angebunden.
»Der Satellit ist in einer Stunde bereit. Der leitende Meteorologe meldet sich bei dir, um die Orbitanpassung zu programmieren.«
»Danke, Jonna.« Sie schaltete ab und ich war nicht unglücklich darüber, denn meine Idee, einen Satelliten einzusetzen, kam mir im Moment mehr als lächerlich vor.
»Gehen wir davon aus, dass so eine Werft unter einem Hügel liegt«, sinnierte ich laut, »dann wird ihn der Infrarot-Satellit nicht finden …«
»An solch einem Punkt muss das Meer wärmer sein. Vielleicht zwei oder drei Grad«, gab Suvi zu bedenken.
»Ein alter U-Boot-Stützpunkt? Chinesen und Russen hatten U-Boot-Bunker«, sagte Tenzin spontan. Alte U-Boot-Bunker?
»Wir konzentrieren uns auf euren ersten Vorschlag. Und alles was sonst noch auf dem Weg des Satelliten liegt, wird ebenso überwacht.« Das Pad summte erneut. Takunos Symbol. Sofort richtete ich mich auf und spürte ein Kribbeln in der Magengegend. Takuno … das Display wurde hell.
»Chatrina …« Ich zwinkerte ihm zu, schwieg aber. Er verstand. »Ich komme um 1600 am Pier zwei an. Sato hat das Boot gestern zur Werft gebracht. Die Ingenieure hier arbeiten an etwas, das man früher Täuschkörper nannte …« Ich sah ihn fragend an. »… egal, das erzähle ich später. Bis nachher.«
Er deaktivierte den Ruf. Khatri und Lehtonen starrten auf die Karte an der Wand. Die Küste von Haiphong bis nach Shanghai. Wasserweg über 2.000 Kilometer. Folgte man jedoch dem realen Küstenverlauf, dann um ein Vielfaches länger. Wir suchten einen Tropfen im Ozean.
Der Meteorologe kippte seinen Algentee über den Tisch. Ich schaffte es gerade noch aufzustehen, bevor die heiße Flüssigkeit über die Kante schwappte. »Scheiße«, rutschte ihm raus. Mit plötzlich hochroten Wangen rannte er in den Hygieneraum, kam mit einem großen Vlies zurück und wischte den Tee auf. »Hören Sie …«, stammelte er.
»Lassen Sie es gut sein, Obmann … ich habe Ihren Namen schon wieder vergessen.«
»Putkaradze. Nicht so schlimm. Ist ein georgischer Nachname.«
»Putkaradze … also, Obmann Putkaradze. Sie sind der führende Meteorologe hier?«
Mit einem Ruck richtete er sich auf und warf das Vlies in die Ecke. Dann begann er zu lachen. »… führender Meteorologe?« Kopfschüttelnd setzte er sich und ich mich gegenüber. »Einer der Meteorologen hier auf Spitzbergen und zuständig für den Satellit mit Infrarotsensoren.«
»Na dann, auf ein Neues«, sagte ich.
»Okay, also … Jonna Andersen beauftragte mich, den Satelliten in einen Orbit zu bringen, den Sie mir vorschlagen. Ist das richtig?«
»Wenn es möglich ist?«
Er sah mich an, als suchte er nach Worten für eine Absage.
»Wissen Sie, für was der Satellit gebaut wurde, Obfrau Sutter?«
»Nein. Von Satelliten habe ich, ehrlich gesagt, keine Ahnung.«
»Zur Sonnenbeobachtung. Im Jahr 2029 erreichte er seine Position, wurde 2034 wieder zurückgerufen, an einem Lagrange-Punkt geparkt und fristete dort bis 2076 sein Dasein. Danach haben wir ihn reaktiviert. Er steht auf einem geostationären Orbit und beobachtet für uns die Hitzeglocken in den neuralgischen Höhen von 1.500 und 5.000 Meter.« Putkaradze sah auf sein Pad und legte es auf den Tisch. »Er ist unser Fiebermesser«, ergänzte er und wartete dann offenbar auf eine Erwiderung.
»Ich frage mich gerade, wie es sein kann, dass er so lange durchhält?«
Putkaradze lächelte.
»Dafür wurde er gebaut. Sehr große Sonnensegel, ein Ionentriebwerk für den Hauptantrieb und elektrische Schubdüsen, jede mit ihrem eigenen komprimiertem Gas betrieben. Ein paar Jahre macht er noch.« Putkaradze schaute enttäuscht, als ich nicht reagierte. Technik und ich passten nicht zusammen. Ich beschloss, direkt zum Thema zu kommen.
»Nehmen wir mal an, ich würde eine U-Boot-Werft suchen, die in einen Berg gebaut wurde … könnte der Satellit diese Werft entdecken?« Seine Augen weiteten sich. Mit umherschweifendem Blick versuchte er sich mein Anliegen vorzustellen. Die Rädchen in seinem Kopf arbeiteten ganz offensichtlich.
»Also … nein, ich meine, das könnte er nur unter ganz bestimmten Umständen. Und diese Umstände müssen perfekt sein.«
»Welche Umstände?«
»Zwischen ihm und der Werft dürfen keine anderen Hitzequellen liegen. Eine Hitzeglocke über diesem Gebiet würde jede Messung verhindern. Dann die Abhängigkeit von der Stärke des darüberliegenden Materials, dessen Zusammensetzung, ob gerade hohe Aktivität herrscht in dieser Werft, der Umgebungstemperatur und so weiter … vergessen Sie Ihr Vorhaben. Das ist vergebliche Mühe.«
»Welche Fläche kann er erfassen?«
Putkaradze richtete sich auf. Ihm wurde bewusst, dass es mir ernst war.
»Ich kann der Sensorgruppe Elemente hinzufügen oder abschalten, aber …«
»Eine sinnvolle Fläche.«
»… zehn Quadratkilometer vielleicht«, sagte er zügig.
»Zehn Quadratkilometer, das hört sich ordentlich an, aber bei weitem nicht das, was ich mir vorgestellt habe.« Putkaradze zuckte nur leicht mit den Schultern. »Sie schreiben auch die Software für den Satelliten, nicht wahr?« Er nickte mit erhobenem Kinn. »Ich will einen Filter, der die Messdaten mit vorhandenen Daten zu bekannten Objekten vergleicht, also Städte, Vulkane, alles was sich aus dem erfassten Bild rausrechnen lässt. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Hm, ich denke schon. Wenn ich einen Wert bekomme und aus ihm drei bekannte Werte herausrechne, ist das, was übrig bleibt, die Unbekannte.«
Ich grinste ihn an. »Putkaradze, bereiten Sie den Satelliten vor. Beginnen Sie die Messungen in einem Orbit entlang der Längengrade. Startpunkt liegt bei 106° Ost, 7° Nord mit einer Auflösung von fünf mal fünf Kilometern. Lassen Sie ihn nordwärts kreisen und gegen den Uhrzeiger. Alles auf diesem Weg will ich verarbeitet wissen. Verstanden?« Putkaradze bejahte, langte nach dem leeren Teebecher und stand auf. »Wenn das Ding unterwegs ist, geben Sie mir Bescheid. Die Daten zu mir, bitte.« Er nickte und verschwand. Mit Schwung legte ich die Füße auf den Tisch und schloss die Augen, dachte an Takuno, sein Gesicht, die Nacht mit ihm, aber die Bilder stoben auseinander, zerfielen in tausend Teile. Retos Gesicht schob sich dazwischen, Abiolas halber Körper. Wohin sollte ich mit den Träumen?
Ruhe und Konzentration mit Algentee, stand auf dem Teeautomat. Putkaradze hätte das nötig. Ich drückte die Taste, wartete die Brühzeit ab und zog den Becher aus dem Schacht. Im Untergeschoss, Minusebene acht, war es ruhig. Darunter lagen weitere vier Ebenen. Waffenkammern, Energieversorgung. Achtzig Meter tief im Inneren Spitzbergens. Der Boden vibrierte sanft. Nur wenige spürten die dauernde Unruhe unter ihren Füßen. Zwanzig Jahre war es her, seit ich meine Ausbildung hier absolvierte. Was würde ich wohl in weiteren zwanzig Jahren tun? Vielleicht hier als Ausbilderin tätig sein? Der Gedanke hatte was. Das heiße Getränk schlürfend bog ich um die Ecke und stand vor Anouk.
»Kameradin Sutter.«
»Kamerad Taqtu. Ich freue mich, dich zu sehen.«
»So denke ich auch.« Er grinste, zog das kleine Fläschchen aus der Jacke und trank einen Schluck. »Ich habe deinen kompletten Bericht noch ein paar Mal gelesen und mit Kameradin Andersen gesprochen. Vielleicht ist es notwendig, das Vorgehen ein wenig anzupassen.«
Ich kratzte meinen Hinterkopf. »Lass hören, Taqtu.« Er zog mich in den Beobachterraum. Mein Blick fiel auf Retos Stuhl. Anouk folgte meinen Augen. Schnell stellte ich den Becher auf den Tisch, denn ich zitterte.
»Ich sehe deinen Schmerz, Kameradin Sutter.« Anouk trat heran und umarmte mich. Klein wie er war, fiel mir am Hinterkopf eine beginnende Glatze auf. Glänzende Haut inmitten tiefschwarzer Haare. »Er ist bei den Ahnen und es geht ihm gut«, flüsterte Anouk gegen meine Brust.
»Bist du dir sicher?«
Er drückte sich von mir ab und starrte mich verdutzt an. »Wann war ich mir jemals nicht sicher?« Ich wollte etwas erwidern, fuchtelte mit den Händen. Mir fiel nichts ein. Stattdessen seufzte ich schwer. »Setz dich«, forderte er mich auf und presste mich auf Retos Stuhl. Langsam ging Anouk um den Tisch herum, die Hände auf dem Rücken haltend.
»Wenn meine Vorfahren einen Eisbären erlegen wollten, sind sie nicht hinter ihm hergelaufen«, er blickte zur Decke. »Wer läuft schon gerne stunden- oder tagelang durch Eis und Schnee …«
»Tja …«
»Sie fingen eine Robbe, schlitzten sie auf und warteten. Der Eisbär roch alles, aus Kilometern Entfernung.« Ich trank einen Schluck Tee. Eine sehr bittere Mischung.
»Der letzte Eisbär wurde vor sechzig Jahren gesehen, Anouk. Ich weiß aber, auf was du hinaus willst.«
»Vielleicht, aber es zu fühlen, sich vorstellen zu können, ist wesentlich wichtiger. Nur dann treffen wir gute Entscheidungen.«
»Bring es auf den Punkt, Kamerad Taqtu.«
»Mit 24 Polizeieinheiten die Handelspunkte an den Küsten der Kontinente nach Hinweisen abzusuchen, ist vermessen.« Er hob die Hand, also schwieg ich. »Wir geben unsere Geschichten weiter. Und die folgende handelt von Amaroq, der einen Eisbären jagen wollte und über das zugefrorene Nordmeer zog, nichts als seinen Schlitten, Walfett und Trockenfisch dabei. Doch er fand ihn nicht. Immer wieder verloren sich die Spuren des weißen Bären im Nichts, im Neuschnee, bis Amaroq nicht mehr konnte, ohne Essen war, aufgab und der Bär sich an Amaroq nährte.«
»Du sagst, Amaroq kam nicht zurück … wie habt ihr dann von dieser Geschichte erfahren?«
Anouk bedachte mich mit einem Seufzer und genehmigte sich einen Schluck. »Du musst lediglich Köder legen, Kameradin Taqtu. Nur das. Dann werden die Geschichten, die Hinweise, die Verräter zu dir kommen.« Er breitete seine Arme aus und beschrieb mit den Händen je einen Halbkreis. »Der Wind wird den Duft des Geschehens zu dir tragen …«
»Sehr theatralisch, wirklich …«
»Wie auch immer, Kameradin Sutter«. Er grinste. »Der Bär war die ganze Zeit in Amaroqs Nähe. Er hat nur darauf gewartet, ihn am Ende seiner Kräfte zu sehen, ausgelaugt auf der erfolglosen Suche nach ihm. Amaroq war ein Idiot«, stellte Anouk fest und setzte sich. Ich beugte mich vor.
»Gib mir von deinem Schnaps, bitte.« Er stellte die kleine Flasche auf den Tisch, behielt die Hand aber auf ihr.
»Wenn du die richtigen Köder legst, werden die Informationen kommen. Und sie müssen verarbeitet werden; und zwar richtig. Du brauchst also mehr Leute zum Sichten der Daten als zum Köder legen da draußen in der kaputten Welt.« Er hob den Finger, streckte ihn kerzengerade nach oben. »Und alle diese Leute müssen an einem Strang ziehen, denken wie ein einziger Mensch.«
Ich schloss die Augen, versuchte mir ein zugefrorenes Nordmeer vorzustellen, kramte nach Bildern aus alten Büchern. Tausende Quadratkilometer Eis, endlos und weiß in alle Richtungen. Anouks schweres Atmen mir gegenüber. Einer seiner Finger schabte über den Flaschendeckel. Er hatte recht. Mit einem Ruck stand ich auf, öffnete die Augen, griff nach dem Seetang-Schnaps und schraubte den Deckel ab.
»Dann lasse ich die meisten Polizisten hier«, erklärte ich, »lege da draußen in der kaputten Welt die Köder und der Wind wird die Daten nach hier bringen, zu dir, wo du sie mit deiner unwiderstehlichen Knollennase nach allem durchforsten wirst, was auch nur annähernd ein Hinweis sein könnte. Du wirst das Hirn sein. Mein Mastermind.« Ich trank das Fläschchen auf einen Zug leer. Anouk lachte.
Das Pad blieb nicht stumm. Im Kartenraum brütete ich über der Liste mit den Handelspunkten. Große, kleine, wichtige und eher bedeutungslose. Auf dem Display leuchtete das Symbol der Einheit 236. Ich aktivierte.
»Obfrau Sutter … Kidane Tesfamariam hier. Vor mir sitzt ein Mädchen, dessen Aussage ich als zumindest ungewöhnlich erachte.« Ein Mädchen?
»Wie alt ist es?«
»Vierzehn.«
»Keine Kinder. So war meine Anweisung.«
»Ich weiß«, entgegnete sie ungerührt. »Wir haben sie nicht vorgeladen. Sie kam aus freien Stücken zu uns, um eine Aussage zu machen.«
Meine Gedanken zerfielen in hunderte Einzelteile. Als klaute ein Unsichtbarer jegliche Fähigkeit zur Konzentration. Offenbar starrte ich völlig abwesend auf das Display. »Obfrau Sutter?« Ich blinzelte, atmete tief durch und trat wieder in diese Welt.
»Wo sind Sie?«
»UG514.«
»Bin gleich da.«
Anouk hatte in den Fluren Bänke aufstellen lassen. Sie waren alle besetzt. Kaum freie Plätze zu entdecken. So viele Menschen warteten auf ihren Vernehmungstermin. In jedem Raum erfassten die Polizisten jedes noch so kleine Detail; das hoffte ich jedenfalls. Am liebsten säße ich bei jeder Vernehmung am Tisch, aber es half ja nichts: ich musste Vertrauen haben. Das machte mich fast verrückt. Nichts durfte uns entgehen.
Vor 514 angekommen, sah ich mich um. Es war ruhiger als bei meiner Ankunft. Vielleicht, weil es nun endlich voranging, die Überlebenden ihre Geschichten loswerden konnten. Ich klopfte und trat ein, ein kurzes Nicken meinerseits. Tesfamariam sah auf und lächelte. Ein Technikraum oder etwas in der Art, kaum größer als vier auf vier Meter. Lediglich ein Tisch und vier Stühle. Auf einem das Mädchen. Ich stutzte. Ihr Kopf war völlig haarlos. Nicht etwa eine Stoppelfrisur, ähnlich der meinen. Komplett haarlos. Als wären nie welche gewachsen. Tesfamariam und ein Polizist saßen ihr gegenüber, Pad und zwei Kameras vor sich. Ich setzte mich neben die Kleine. Sie wirkte nicht nervös, die Hände ruhten auf den Oberschenkeln. Keine Regung im Gesicht.
»Das ist Obfrau Sutter«, erklärte Tesfamariam und zeigte auf mich. Dann drehte sie den Kopf und schickte ihren Kollegen nach drei Bechern Algentee. Als er den Raum verlassen hatte, aktivierte sie das Pad.
»Du bist Jelena Lasarewa, vierzehn Jahre alt. Geboren am 8. August 2133 auf Insel 49. Dein Vater kam vor zwölf Jahren bei einer Ressourcenbeschaffung ums Leben. Deine Mutter starb an Krebs als du sechs warst. Ein deinen Eltern bekanntes Paar von Insel 49 hat dich adoptiert. Dieses Paar bekam vor vier Jahren einen Sohn, der drei Wochen nach der Geburt verstarb. Daraufhin wurde das Verhältnis zu deinen Adoptiveltern …«, Tesfamariam drehte die Handflächen nach oben. »Das Verhältnis wurde schwierig.« Ein drei Wochen altes Baby? Ich hob die Hand.
Tesfamariam richtete sich auf. Langsam beugte ich mich über den Tisch und fixierte Jelena, versuchte auf der blassen Haut etwas zu entdecken. Fühlte sie ein wenig von dem, was ich gefühlt hatte? Die Hilflosigkeit des Verlassenwerdens? Wie von selbst wiederholte ich es laut …
»Du bist also eine Waise, hättest fast ein Brüderchen gehabt, das kurz nach der Geburt verstarb …« Sie drehte den haarlosen Kopf. Graue Augen und ein ebenso grauer Blick. Als hätte sie schon vor langer Zeit der Welt Lebewohl gesagt. Ich ahnte ein Nicken, wenngleich fast keine Bewegung zu erkennen war. »Ich bin auch eine Waise«, gestand ich ihr. »Nur habe ich keine Ahnung, wer meine Eltern waren.« Durch Jelenas Augen huschte ein Lebenszeichen.
»Hat man Sie auch adoptiert?«
»Ja. Ein alter Polizist, dessen Frau schon viele Jahre zuvor gestorben war.« Ich meinte, alles rauslassen zu müssen, diesem jungen, haarlosen Geschöpf alles mitteilen zu können, aber … »Er hat mich aufgezogen und war ein lieber Vater«, sagte ich stattdessen und setzte mich auf meine plötzlich zitternde Hand. Jelenas Blick folgte meiner Bewegung. Sie war eine Beobachterin. »Wie hießen deine Adoptiveltern?«, lenkte ich ab und sah zu Tesfamariam, die auf das Pad blickte.
»Willem de Vries, Gartenbauingenieur und Annalena Paulson, Linguistin. Beide …« Sie schwieg. Beide nun tot, vollendete ich in Gedanken. Spontan legte ich eine Hand auf Jelenas Unterarm. Er war so unglaublich kühl, dass ich erschrak.
»Tesfamariam, holen Sie bitte Jelena eine der warmen Uniformjacken.« Nickend erhob sie sich und verschwand.
»Kidane, so heißt die Frau, die ich gerade rausgeschickt habe, sagte zu mir per Komm, dass du eine Aussage gemacht hast, die ich mir anhören sollte. Ich bin ganz gespannt, was du mir nun berichtest. Du bist uns vielleicht eine sehr große …«
»Sind Sie auch alleine?«, unterbrach sie mich.
»Wie?« Ich wiederholte in Gedanken ihre Frage. Sind Sie auch alleine? »Damit meinst du nicht, ob ich verheiratet bin oder Kinder habe, nicht wahr?«
»Nein, das meine ich nicht. Ich glaube, Sie sind auch alleine.« Ich schluckte einen Kloß runter, kratzte mich im Ohr und war froh, als die Tür geöffnet wurde.
»So, hier! Eine schöne, warme Jacke«, sagte Tesfamariam und setzte sich. Jelena zog sie über und ich hatte den Eindruck, als würde sie sich darin verkriechen, hinter dem dicken Stoff verstecken.
»Ich habe den Kollegen in einen anderen Vernehmungsraum geschickt«, erklärte Tesfamariam. Dafür war ich ihr dankbar. Jelena legte beide Hände auf den Tisch und winkelte die Fingerkuppen ab, presste sie auf die Tischplatte, bis sie weiß wurden.
»Willem und Annalena haben davon gesprochen, zu gehen. Ohne mich. Immer wieder. Immer, wenn sie dachten, ich würde es nicht hören.« Nicht wie mein Vater, dachte ich. Da war immer ich es, die gehen wollte.
»Zu gehen? Wohin? Auf eine andere Insel?«
Jelena drehte sich zu mir, mitsamt Stuhl. »Nein. Sie haben den Ort nicht genannt … oder besser … sie nannten ihn nur ‚dorthin‘.«
»Dorthin?«, wiederholte ich und hakte nach. »Haben sie etwas mit diesem Ort verbunden? Eine Eigenschaft, die Aussicht auf ein anderes Leben? Eine bessere Zukunft?«
»Ja, Obfrau, das haben sie. Eine neue Heimat«, sie überlegte kurz. »Und einmal sagte Willem: „… nur dort wird es eine Zukunft geben“.«
»Wie kommst du darauf, dass deine Adoptiveltern diese Reise ohne dich angetreten hätten?«, fragte Tesfamariam.
»Das haben sie nicht mir gesagt. Nur sich gegenseitig. Dass ich nicht ihre Tochter wäre und sowieso niemanden …«, sie stockte, steckte beide Hände in die Jackentaschen. »… niemanden möge, außer mich selbst.« Tesfamariam und ich schwiegen. »Außerdem bin ich krank. Ist ja nicht zu übersehen.« Jelena beugte den Kopf. Das Licht glänzte auf dem Schädel. Ich musste tief einatmen, um mich abzulenken. Zu konzentrieren.
»Haben sie zu irgendeinem Zeitpunkt einen Termin genannt? Wann diese Reise starten sollte? Oder wie sie diese Reise anzutreten gedachten?«
Jelena nickte. »Jetzt. Sie wären jetzt nicht mehr auf Insel 49. Aber wie, weiß ich nicht.« Tesfamariam räusperte sich und sah mich an. Dann wieder Jelena.
»Hast du irgendwann mal gehört, ob sie dabei von anderen Menschen gesprochen haben, die ebenfalls diese Reise antreten?«
»Ja, es gibt andere. Aber ich weiß nicht, wie viele oder wer das ist. Aber es müssen einige sein.«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil Willem sagte: „Wir können nicht alle auf einmal gehen. Das wird auffallen“.«
Ich nickte, merkte das aber erst, als Tesfamariam mich ansprach. »Obfrau Sutter?« Für einen Moment war ich verwirrt. Da war noch etwas …
»Jelena, haben Willem und Annalena jemals über den verstorbenen Jungen geredet? Überleg genau. Lass dir Zeit. Alles ist wichtig.« Sie sah mich lange an. Nein, eher durch mich hindurch. Tauchte hinab in ihre Erinnerungen. Erinnerungen waren trügerisch. Und aus jungen Jahren bleiben oft nur ein paar unscharfe Bilderfetzen, kaum etwas Zusammenhängendes.
»Sie sagten einmal, dass sie ihm eines Tages begegnen würden und die Freude dann groß sei.«
Ich spürte, wie mein Puls nach oben schnellte. »Waren Willem und Annalena religiös? Christlich geprägt?«, hörte ich Tesfamariams Frage. Jelena verneinte. »Nein. Daran könnte ich mich erinnern. Von einem Gott oder so war nie die Rede.« Jelena schwieg und sah mich immer noch an, nein, durch mich hindurch. Sie war nun tatsächlich alleine. Völlig.
»Hast du alles gesagt, Jelena? Fällt dir noch etwas ein?«
»Nein. Ich glaube, das war es.« Ich sah zu Tesfamariam. Sie schüttelte leicht den Kopf und deaktivierte das Vernehmungsprotokoll.
»Warte bitte draußen, Jelena«, bat ich sie. »Ich muss etwas abklären und komme dann gleich zu dir.« Sie stand wortlos auf und verließ den Raum. Kaum war die Tür zu, zog ich das Pad aus der Hemdtasche, authentifizierte mich am Implantat und rief Jonna.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Lass alle Personen verhaften, die im Zusammenhang mit den verschwundenen Kindern stehen. Alle Eltern, Ärzte, Krankenschwestern. Gleichzeitig. Sie sollen möglichst nichts von den anderen erfahren. Es gibt noch mehr von ihnen und ich vermute, alle wussten, was passiert.«
»Was machen wir mit den Leuten?«
»Du hast eine Gruppe D eingerichtet für Informanten … richten wir eine Gruppe E ein für die Abtrünnigen«, schlug ich vor. »Wenn sie nicht aussagen wollen, lassen wir sie schmoren. Isolationshaft. Das hilft immer.« Jonna presste die Luft durch den fast geschlossenen Mund. »Tesfamariam schickt dir ein Vernehmungsprotokoll. Sobald Takuno eintrifft, mache ich mich auf den Weg, um die Köder zu legen.«
»Okay … Chatrina … offenbar tut sich was. Gut so.« Sie lehnte sich zurück, ein kühles Lächeln auf den Lippen. »Noch was?«
»Ja. Ich habe hier eine vierzehnjährige Vollwaise. Wenn wir sie auf Gruppe 2 bringen, besteht die Gefahr, dass sie nur noch mehr abdriftet. Sie hat Krebs. Bestrahlung, Chemotherapie, das ganze Programm. Jelena Lasarewa ist ihr Name, Insel 49. Vielleicht wäre Retos Frau bereit, sie zu adoptieren. Ich kenne sie. Einen Versuch ist es wert.«
Jonna zog die Augenbrauen nach oben. »Du verlangst viel …«
»Es steht auch viel auf dem Spiel.«
Sie fixierte mich. »Ich werde Retos Frau kontaktieren und dir Bescheid geben.« Damit schaltete sie ab. Tat sie das so direkt, war es der Beleg dafür, nicht einverstanden zu sein, es aber hinzunehmen. Nun, ich stand auf.
»Das war sehr gute Arbeit, Tesfamariam. Sie haben gehört, was ich gefragt habe. Sagen Sie bitte den anderen Einheiten Bescheid. Genau danach suchen wir.«
»Danke, Obfrau Sutter. Mach ich.«
Ich verließ den Raum und suchte nach Jelena.
Ich fand sie in der Kantine. Zwischen Menschen mit leerem Blick, nuschelnden oder laut plappernden Männern und Frauen. Als ich eintrat, wurde es ruhiger. Oder bildete ich mir das nur ein? Schnurstracks steuerte ich auf sie zu, setzte mich ihr gegenüber. Auf dem Tisch stand ein Algen-Smoothie, noch völlig unberührt.
»Magst du ihn nicht trinken?«
»Nein, ich mag das Zeug gar nicht. Keine Ahnung, warum ich ihn mir geholt habe.«
Ich zuckte mit der Schulter. »Verlegenheitshandlung …«
Sie schob den Becher zu mir. »Darf ich Sie was fragen?«
Ich musterte Jelena. War es möglich, dass ich in ihr etwas aus meiner Vergangenheit suchte? Oder entdeckte?
»Natürlich. Du darfst mich alles fragen.«
»Was mache ich jetzt?«
Vermutlich gehörte der Smoothie nun mir. Also trank ich einen großen Schluck und spürte plötzlich einen immensen Hunger. Ich leerte ihn im nächsten Zug und warf den Becher in den Mülleimer neben dem Tisch. »Deswegen bin ich hier, Jelena. Und ich möchte ganz ehrlich sein. Waisenkinder kommen nach den Regeln auf die Inseln der Gruppe zwei. Aber du bist vierzehn, und, wie ich finde, schon sehr weit in deiner Entwicklung. Ich glaube, jemand der sich wirklich um dich kümmert, täte dir sehr gut, und …« Ich legte den Kopf auf die Seite und dachte an Retos Frau. »… und du wärst für diese Person eine große Hilfe.«
»Warum?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Ich mag deine direkte Art. Naja, diese Frau ist etwa zehn Jahre älter als ich und hat ihren Mann verloren. Er war sehr krank. Krebs. Hat es aber einfach nicht gesagt. Bis es zu spät war. Dann hat er sich das Leben genommen. Nun ist sie alleine und weiß vielleicht nicht wohin mit ihrem Schmerz …«
»Vermuten Sie.«
»Vermute ich, ja.«
»Kannten Sie diesen Mann?«
»Er war mein Stellvertreter im Team. Reto war sein Name.« Mit der Erwähnung von Retos Namen kamen die Tränen. Ich ließ sie laufen.
»Kann diese Frau mich adoptieren?«
Ich schnäuzte in ein Vlies und war überrumpelt. »Darüber habe ich mit meiner Chefin gesprochen. Wenn Retos Frau ihr Einverständnis gibt, dann steht dem sicher nichts im Weg.«
»Ich möchte nur ein Zuhause.«
»Und jemanden, der dich wahrnimmt und akzeptiert wie du bist. Nicht wahr?«
Jelena sah mich durchdringend. »Reden Sie von sich selbst? Oder von mir?«
»Ich möchte ehrlich sein, Jelena. Eine Waise zu sein ist selbst heute, nach 38 Jahren, nicht einfach …« Wo waren die richtigen Worte, wenn man sie brauchte? »Es ist ein bisschen so, als blicke ich auf mich selbst, wenn ich dich anschaue. Ich glaube, Retos Frau kann eine wirkliche Vertrauensperson sein …«
»War das dein Adoptiv-Vater nicht?«
»Nein …«, gestand ich nach einem Moment. »Er hat es versucht, aber ich war wohl schon zu weit weg von allem …«
»Ich glaube, du wärst eine gute Mutter«, mutmaßte sie.
Ich musste spontan grinsen. »Ich sag dir was, Jelena … in drei Jahren darfst du die Ausbildung beginnen. Bewirb dich bei der Polizei und schreib mir dann. In meiner Einheit halte ich dir jederzeit einen Platz frei.«
Ihre Mundwinkel bogen sich nach oben. So etwas wie ein Lächeln. »Wenn die Krankheit nicht wiederkommt, werde ich darüber nachdenken.«
»Sie wird nicht wiederkommen«, erklärte ich bestimmt. »Sie hat gar keine Chance gegen dich.«
Ihre Hand landete auf meinem Unterarm. Ich zuckte kurz, dann ließ ich es geschehen, legte sogar meine Hand auf ihre. »Eine Jonna Andersen wird sich bei dir melden. Alles wird …«
Ein dumpfer Schlag, weit entfernt. Der Boden zitterte. Jelenas Augen weiteten sich vor Schreck und sie verschwand unter dem Tisch. Der Feueralarm wurde aktiviert. Menschen sprangen auf, liefen hinaus, manche stießen einen Schrei aus, einige begannen zu weinen. Ich zog Jelena hoch und nahm sie in die Arme. »Dir ist nichts passiert … alles in Ordnung …« Das Pad piepte. Ich zog es aus der Tasche. Kanos Gesicht erschien.
»Chatrina … komm nach unten! UG1017! Schnell!«
Ich registrierte nicht, dass Jelena mir gefolgt war, bis ich eine Hand an meinem Oberarm spürte, mich umdrehte und dieser Person einen Dämpfer verpassen wollte. Dann erkannte ich ihr angsterfülltes Gesicht. Wortlos zog ich sie mit durch die Menge, bis ich Suvi Lehtonen erblickte. Beißender Qualm lag in der Luft und stach in meiner Lunge. Hier und da ein Husten.
»Lehtonen! Bringen Sie die Leute hier weg! Räumen Sie den Flur! Los!« Sie reagierte augenblicklich und der Gang leerte sich zusehends. Aus einem Raum gegenüber, dessen Tür aus der Verankerung gerissen war, trat Kazumi. Ich winkte sie zu mir und legte Jelenas Hand in ihre.
»Das ist Jelena Lasarewa. Kümmere dich um sie, bis ich wieder Zeit habe. Danke.«
Jelenas flehender Blick tat mir weh. »Das ist Kazumi. Sie ist in meinem Team. Ich würde ihr mein Leben anvertrauen. Und du kannst das auch.«
Kazumi zog Jelena hinter sich her und ich schritt langsam an UG1017 heran. Etwas im Raum brannte und leuchtete den Flur aus. Dann ein Zischen. Ich blickte hinein. Kano mit einem Feuerlöscher. Nichts im Raum war ganz geblieben. Verbrannte Trümmer. Blut. Leichenteile. Das Pad. Es war Anouk.
»Was ist los da unten?«
»Ich weiß es noch nicht, Anouk. Sperr die Ausgänge. Keiner rein, keiner raus. Ich melde mich.«
Er schaltete ab.
»Kano?«
Der sah mich, löschte die restlichen Brandherde und kam auf den Flur. »Chatrina …« Achtlos warf er den Feuerlöscher auf den Boden. »Wir hatten Glück. Kazumi und ich waren genau gegenüber als es knallte und die Tür an uns vorbeizischte. Genau auf …«
»Genau auf?«
Er schob mich in den Raum. Eine blutüberströmte Frauenleiche in entsetzlich verrenkter Stellung. Die schwere Stahltür hatte sie zertrümmert. »Obfrau Simanjuntak von Insel 47. Die Vernehmung hat gerade begonnen, als …«
Ich legte den Finger auf seinen Mund und schüttelte den Kopf. »Schon gut.« Ich nickte in Richtung Explosionsquelle. »Was ist da passiert?«
»Zwei Kolleginnen aus Einheit 22. Mehr weiß ich nicht. Keine Ahnung, wer gerade zur Vernehmung drin war.«
»Einheit 22? Das ist Adam Weishaupts Truppe.« Mit dem Pad setzte ich einen Ruf nach Adam Weishaupt ab. »Kano, such Kazumi! Sie ist mit einem Mädchen unterwegs!« Ich blickte auf die Leuchtanzeige. Kurz vor halb vier. »Takuno kommt gleich. Geht mit dem Mädchen an Bord. Lasst euch vom Bordmediziner untersuchen. Für heute habt ihr dienstfrei. Meldet euch, wenn der Doc fertig ist und … kümmert euch um das Mädchen.« Er nickte und machte sich auf den Weg. Ich rief Anouk.
»Chatrina?«
»Aus meinem Team dürfen Kano und Kazumi zusammen mit Jelena Lasarewa den Komplex verlassen. Sorg bitte dafür, dass sie zu Pier zwei gebracht werden. Dort gehen sie an Bord von Takunos Boot und werden untersucht.«
»Ist so gut wie erledigt.«
Ich fixierte seinen runden Schädel. »Hier unten sind mindestens drei Leute gestorben. Zwei Polizistinnen aus Weishaupts Einheit, Obfrau Simanjuntak von Insel 47, und … wenn mich nicht alles täuscht, noch ein Opfer … oder Täter? Keine Ahnung. Schick die Forensiker runter.«
»Noch was?«
Ich atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, mich zu konzentrieren. Was hatte ich gesehen im anderen Raum? »Moment, Anouk …« Vorsichtig ging ich über den Flur, auf Fragmente der Explosion achtend, spähte in den zerstörten Raum. Mir wurde schlecht. Noch nichts gegessen. Mit leerem Magen eine solche Szene betrachten, tat mir nie gut. Die beiden Polizistinnen lagen hinter dem Tisch, zumindest in Teilen. Aber Spuren von menschlichen Überresten fanden sich an allen vier Wänden und der Decke. Ich wandte mich ab in den Flur.
»Ein Attentäter«, vollendete ich den Satz. »Ich wette, der Sprengsatz war im Körper. Explosive Wirkung nach allen Seiten. Dementsprechend sieht es aus.«
»Das ist fatal«, stellte Anouk erschreckt fest und wurde blass.
»In der Tat.«
»Wie sollen wir denn auf so eine Bedrohung reagieren? So viele Zweier-Teams in x-Räumen … wenn sich nun noch mehr Leute in die Luft sprengen dort?«
Ich überlegte fieberhaft. Noch nie wurde ich mit solch einer Situation konfrontiert. Unsere Ausbildung beinhaltete dies nicht. Selbstmordanschläge, interne Konflikte, das war etwas völlig anderes als kriminelle Handelsclans oder Infizierte. Was also tun? »Anouk … wir haben für Inneneinsätze sedierendes Gas. Das setzen wir nicht oft ein, aber hin und wieder hilft es uns, Material nicht durch Kugeln zu zerstören. Jeder Raum im Komplex ist an die Ventilation angeschlossen. Wir werden alle Räume damit belüften, in denen Überlebende sind, also auch Kantine, Schlafsäle …»
Seine Augenbrauen zuckten. »Es sind aber auch Kinder dabei …«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wir töten ja niemanden. Sie schlafen ein. Dann sedieren wir die Überlebenden intravenös. Die Mediziner sollen sich darauf vorbereiten. Du darfst eines nicht vergessen …«
Einige Falten entstanden zwischen Anouks Augen. »Was?«
»Wir wissen nicht, wie der Sprengsatz aussieht. Das müssen die Forensiker erst herausfinden.«
Seine Augen wurden groß. Der Rest Farbe im Gesicht verschwand. »Gegenvorschlag: wir ziehen unsere Leute zurück, sagen den Überlebenden die Wahrheit, und wenn sich noch einer in die Luft sprengen will, soll er das tun.«
»Du bist wütend, Anouk.«
»Du nicht?« Eine berechtigte Frage. Wo war sie, die Wut in mir? Ich lauschte in mich hinein. Nein, da gab es keine Wut. Sehnsucht. Nach Takuno. Traurigkeit. Abiola und Reto kommen niemals wieder. Und … ich spürte gerade in diesem Moment diese abgründige Heimatlosigkeit. Alles verschwand in diesem Abgrund. Vielleicht sogar die Wut …
»Anouk, sollte es noch eine Person geben, die sich in die Luft jagt, verlieren wir auch eine Möglichkeit an Informationen zu gelangen. Wenn die Leute aufwachen und wir nichts gefunden haben, umso besser. Falls wir etwas finden, holen wir den Eisbär.« Ich versuchte, zu grinsen. Es gelang mir nicht.
Anouk kaute auf einem Stück Leder, von dem er sagte, es stamme noch von Inuit-Vorfahren. Der Anblick ekelte mich. Adam Weishaupt drehte sein Pad auf dem Tisch. Fortlaufend. Ein schabendes Geräusch. Jonnas Gesichtsausdruck auf dem Whiteboard sprach Bände. Ich legte eine Hand auf Adams Pad. Er zog den Arm zu sich und seufzte. »Tut mir leid um deine zwei Polizistinnen«, flüsterte ich ihm zu. Er schwieg.
»Alle werden untersucht!«, begann Jonna. »Auch jene, die schon eine Vernehmung hinter sich haben«, machte sie unmissverständlich klar. »Und die Kinder ebenso«, setzte sie nach. »Ich habe die Nase voll!«
»Wir können bei niemand sicher sein, dass sie oder er nichts davon wissen. Demzufolge müssen wir alle isoliert lassen«, gab Lehtonen zu bedenken.
»Ich stimme zu«, pflichtete Khatri bei.
»Stimmen alle zu?«, fragte Jonna.
Wir stimmten alle zu.
Sie nickte.
»Bis jetzt haben wir erst achtzehn Menschen untersucht, aber schon bei einer Frau etwas gefunden. Im Bericht steht, dass es ein von Zellulose umhüllter Sprengstoff ist, der nach dem Auflösen der Hülle in Verbindung mit Magensäure ein Gas als Katalysator bildet und nach kurzer Zeit zu einer enormen Sprengwirkung führt.« Jonna sah vom Pad auf und starrte uns an. »Wie perfide ist denn so was?!«
»Eine rhetorische Frage …«, stellte Anouk fest. Jonna sah ihn entsetzt an.
»Rhetorische Frage?!«, wiederholte sie.
»Ja. Eine rhetorische Frage. Was für uns perfide ist, kann von unseren Gegnern nur auf diese Art betrachtet oder gelöst werden. Wie vermeide ich, Informationen preiszugeben? Indem ich mich einer Vernehmung entziehe, denn ich weiß nicht, ob ich eisern bleibe und schweige.«
»Anouk hat recht«, pflichtete Khatri bei. »Das ist nur konsequent.«
Jonna murmelte etwas Unverständliches.
»Bleiben wir konzentriert«, bat ich. Anouk konnte recht unnachgiebig sein und Jonna aufbrausend. »Vergessen wir nicht die kurz nach der Geburt als gestorben eingetragenen Säuglinge. Die Verhaftungen der Eltern laufen gerade. Von Jelena Lasarewa wissen wir, dass beide Elternteile ‚in einer besseren Zukunft‘ leben wollten und planten, Insel 49 just in diesen Tagen zu verlassen. Ihr Sohn starb ebenfalls drei Wochen nach der Geburt. Jelena erzählte, dass beide sich auf eine Begegnung mit ihm freuten … als wäre er noch irgendwo am Leben.«
»Das macht für mich alles keinen Sinn«, unterbrach mich Adam. »Wenn Bedarf besteht an Spezialisten, wieso bringt man sie dann um?! Warum eine ganze Inselgruppe?! Brauchen sie diese Leute oder nicht?«
Er klopfte ungeduldig auf den Tisch. Stille im Raum. Ich dachte an die zerfetzten Körper der Polizistinnen. Die Verwandten werden sich noch nicht mal richtig verabschieden können …
»Warum Babys?«, fragte Suvi.
»Ich schätze, die Antwort ist denkbar einfach«, antwortete Jonna. Mit einer schnellen Bewegung drückte sie die rote Mähne aus dem Gesicht. »Genetisches Material. Vor diesem Problem standen wir auch … und wir achten heute noch drauf. Denkt an das Protokoll zu Heirat und Fortpflanzung. Genetische Immunität ist Trumpf.« Jonna lehnte sich an. Sie brütete etwas aus, da war ich mir sicher. Und Anouk sprach das an, was wohl den meisten von uns durch den Kopf spukte.
»Wir können keinem dieser Überlebenden mehr trauen … selbst den Kindern nicht.« Er hatte recht. Insgeheim ging ich sogar noch einige Schritte weiter.
»Dann werde ich Chatrinas Vorschlag der isolierten Unterbringung auf die Überlebenden ausweiten. Auf einer neu einzurichtenden Gruppe«, erklärte Jonna. Niemand meldete sich zu Wort. Aber die Logik unserer kommenden Handlungen lag auf dem Tisch. Für alle sichtbar. Ich atmete tief ein. Anouk warf das Stück Leder in den Mülleimer und blickte mich an.
»Also, wie ist die Lage …«, versuchte ich eine Zusammenfassung. »Das Institut in Thessaloniki, der Verlust aller Daten über Verbleib von Wissenschaftlern und Wissen ab deren Eintreffen in Gibraltar. Nehmen wir an, daraus hat sich eine Art Gruppe entwickelt. Erst ein paar, dann wurden es immer mehr. Wir bauen mühsam die Inselkonglomerate auf, während es da draußen jemand gibt, der andere Ziele verfolgt. Technisch und genetisch.«
»Warum ausgerechnet jetzt?«, wirft Khatri ein. »Weil man sich nun stark genug fühlt? Jetzt sind sie bereit, oder wie?«
Ich legte eine Pause ein. Eine berechtigte Frage. Warum hatten sie uns nicht schon längst attackiert? Haben sie uns überhaupt attackiert? Oder vielleicht nur eine Gruppe Menschen, die sich ihnen widersetzte? Ein Kampf innerhalb eines Kampfes? Also alles Kollateralschaden? »Berechtigte Frage, Tenzin. Trotz unserer Erfolge in den letzten einhundertzehn Jahren, ist das Gebilde, in dem wir leben, sehr fragil. Aber es ist alles, was wir haben. Unser Zuhause.«
Jonna räusperte sich. »Chatrina hat recht. Der Zusammenhalt unserer Heimat auf dem Meer steht auf dem Spiel. Ich werde die Entscheidung bezüglich der Überlebenden in den Gruppenrat bringen. Schließlich haben wir ja noch Regeln und Protokolle. Für Euch ordne ich eine Ruhepause an bis morgen früh um 0800. Dann brechen alle Polizeieinheiten zu den Handelsplätzen auf. Im Laufe des Abends übermittle ich eine Zuteilung der Zielorte.« Sie schaltete ab. Anouk kratzte genüsslich sein Ohr. Ich hatte nur noch Takuno im Kopf.
Er begrüßte mich an der Seitenschleuse. »Willkommen an Bord, Obfrau Sutter.« Ich nahm seine Hand, drückte sie für einen Moment, ließ wieder los und stieg über den Metallrahmen der Schotteinfassung. Takuno folgte mir. In meinem Bauch kitzelte es, was mich unwillkürlich lächeln ließ. »Ihre Mannschaft ist bereits vollzählig an Bord. Ich habe mir erlaubt, allen ein Einzelquartier zuzuweisen.«
Überrascht blieb ich stehen, drehte mich um. Der Steg wurde entfernt und das Schott schloss sich automatisch, fügte sich sanft in die Aussparungen. Es zischte. Pressluft. Mir fielen die Ohren zu. »Einzelquartiere? Wie das?«
»Einige Anwärter haben ihre Ausbildung beendet. Bis mir neue zugewiesen werden, sind die Quartiere frei.«
»Und ich habe auch eines?«
»Natürlich, Obfrau.« Er grinste und wies mit der Hand den Weg. »Bitte. Nach Ihnen.« Auf dem unteren Deck begegnete uns Kazumi. Jelena an der Hand. Takuno drückte sich an uns vorbei und öffnete die Tür zu meiner Kabine. Ich schob Kazumi und Jelena hinein. »Wir laufen aus«, entschuldigte er sich. »Ich muss in die Zentrale.«
Überrascht blickte ich auf die Leuchtanzeige. Kurz nach fünf Uhr am frühen Abend. »Haben wir schon die Zielorte?«
Er nickte. »Vor fünfzehn Minuten gekommen. Unser erstes Ziel ist Brest.« Ich legte den Rucksack auf das Bett. Dann erst wurde mir bewusst, was er da gesagt hatte.
»Brest? Dort gibt es schon seit Jahren nichts mehr zu holen. Der Hafen ist leergeräumt. Was wollen wir da? Kein Händler hat dort noch einen Sitz.« Ich fing Jelenas Blick auf. Interessiert. Neugierig. Sie war in einer neuen Welt. Mich wunderte, dass noch niemand eine Bemerkung über sie losgeworden ist …
»Wir laufen die noch existierenden U-Boot-Bunker an und werden vor der Küste Drohnen starten, um sie zu untersuchen.«
U-Boot-Bunker? Wie alt mochten die sein? »Verstehe. Ist gut, Takuno. Ich komme später in die Zentrale.« Er hob die Hand und schloss die Tür hinter sich. Eine angenehme Stille breitete sich aus. Ich setzte mich neben den Rucksack aufs Bett. Kazumi bedeutete Jelena sich ebenfalls zu setzen.
»Chatrina …«, sie druckste mit dem, was sie sagen wollte.
»Ich weiß, Kazumi. Jelena gehört nicht aufs Boot. Jetzt laufen wir aus und haben sie vergessen, von Bord zu bringen …«, ich blies die Luft aus meinen Lungen und wartete eine Sekunde, bevor ich einatmete.
»Ich werde nicht im Weg stehen«, beteuerte Jelena.
»Takuno hätte sie vom Boot bringen sollen …«, sagte Kazumi im vorwurfsvollen Ton. »Du weißt, dass es gefährlich wird. Keine Ahnung, was uns da draußen erwartet. Sie ist noch ein Kind …«
»Das täuscht«, widersprach Jelena und fixierte Kazumi.
Ich hob beide Hände. »Kazumi … ich bin müde und möchte noch mit Takuno unseren Fahrplan durchgehen. Lass uns das auf morgen verschieben … hat sie ein Quartier?«
Kazumi nickte. »Takuno hat ihr eines gegeben. Sie hat nur nichts zum Anziehen, geschweige denn, was man als junges Mädchen so braucht …«
»Es sind genug Frauen an Bord, die damit aushelfen können. Und eine Borduniform wird erst mal genügen.«
Kazumi schnitt eine Grimasse. Ein gequältes Lächeln folgte. »Du bist die Chefin. Komm, Jelena, wir gehen zur Quartiermeisterin.« Sie zog das Mädchen mit sich und ließ die Tür offen. Ich fluchte, stand auf, verschloss sie und packte den Rucksack aus.
Da war ich wieder. In der Zentrale von Boot 12651. Rotes Licht. Wartend auf Takunos Zeichen, an den Kartentisch treten zu dürfen. Alle trugen Komm-Geräte, flüsterten, waren hochkonzentriert. Eine sehr angenehme Ruhe. Nach kurzer Zeit winkte er mich zu sich. Ich ging hin, begrüßte Sato mit einem Nicken. Sie reichte mir eines der Komm-Geräte und ich zog es über.
»Willkommen an Bord, Obfrau Sutter«, kam ihre sanfte Stimme aus den Ohrhörern.
»Danke, Sato. Ich hoffe, es geht Ihnen gut?« Ihr Nicken war kaum zu sehen und Takuno hustete künstlich. »Also, Takuno. Was sind unsere weiteren Ziele, nach Brest?«
Mit einem schnellen Griff vergrößerte er die Westküste des ehemaligen Frankreich, tippte auf fünf Punkte, die sich daraufhin gelb einfärbten. »Nach Brest laufen wir Lorient, Saint Nazaire, La Rochelle und Bordeaux an.« Zwei seiner Finger vergrößerten Bordeaux. »Hier sehe ich mit hoher Wahrscheinlichkeit Probleme auf uns zukommen.« Es war nicht schwer zu erkennen, warum.
»Der Bunker liegt mitten in der Stadt. Weite Teile der Umgebung stehen unter Wasser. Dadurch lässt sich der Lauf der Garonne nicht mehr exakt bestimmen. Eine Fahrt mit dem Boot ist nicht zu empfehlen. Ich vermute auch eine weitestgehende Verlandung des Flusses.«
»Also?«
Er sah mich an. »Also werden wir vor Cap Ferrat ankern und mit Coptern ins Stadtzentrum fliegen. Östlich der Garonne beginnen nach einem Kilometer die Anhöhen. Von dort aus starten wir die Drohnen.«
»Wie groß ist unsere Gruppe?«
»Alle ausgeschickten Gruppen setzen sich aus zehn Booten und zwei Versorgern zusammen«, erklärte er. »Die Versorger führen je zehn Copter mit.«
Ich nickte. »Welche Einheiten sind dabei?«
»Khatri auf Boot 12813 …«
»… ihr Freund Rodriguez.« Er lächelte kurz.
»Lehtonen auf Boot 12568. Das wird befehligt von Lin Zhang. Sieben weitere Boote führen noch nicht den Mobilen Einheiten zugeteilte, frisch ausgebildete Polizistinnen und Polizisten mit sich.«
»Neulinge?«, stutzte ich. »Auf so ein Unternehmen?«
Takuno zuckte mit den Schultern.
»Eine sehr ungewöhnliche Maßnahme«, warf Sato ein. Sie drückte die Finger aufs rechte Ohr. »Wir verlassen den Isfjord. In zehn Minuten treffen wir die Gruppe. Welches Boot soll die Führung übernehmen?«, wollte sie von Takuno wissen. Der zog das blaue Käppi ab und kratzte sich am Hinterkopf.
»Da habe ich lange gerätselt …«, begann er zögerlich. »Angesichts der offenbaren technischen Überlegenheit der fremden Boote, ist es klüger, in Gewässertiefen zu bleiben, die für uns – so hoffe ich – beherrschbar sind. Wir laufen auf Südsüdost, 130 Grad, Richtung Bäreninsel, drehen auf Süd zur norwegischen Küste und fahren entlang dieser in die Nordsee. Maximale Wassertiefen 100 bis 500 Meter. In unregelmäßigen Abständen fällt ein Boot zurück, um sich hinter uns zu setzen. So decken wir unseren Sonarschatten ab. Wir übernehmen die Führung.«
»Das klingt vernünftig«, lobte ich ihn, »wird uns aber eine längere Fahrtzeit bescheren.«
»Einen Tag«, klärte mich Sato auf.
»Zu verkraften. Was ist mit diesen Täuschkörpern?«
Takuno sah mich überrascht an. Dann erinnerte er sich. »Ah ja, ich habe versprochen, das zu erklären …« Er streckte den Arm aus und simulierte damit wohl das Boot. »An den Ankerbuchsen sind auf jeder Seite vier Abschussanlagen angeflanscht. Sobald ein Torpedo sich nähert, werden Behälter ausgesetzt, die unser Schraubengeräusch simulieren, so dass der Sonar des Torpedos sich darauf konzentriert und nicht aufs Boot.« Er zog eine Augenbraue nach oben.
»Das hoffen wir jedenfalls«, fügte Sato an.
»Ja«, nickte Takuno. »Aber wir haben auch noch was anderes.« Er zog sein Pad und aktivierte das Display. Darauf war eine Art Torpedo zu sehen. Er wischte zwei Bilder weiter.
»Eine Schleppdrohne, ähnlich einem Torpedo. Wir stoßen sie aus der hinteren Tube. Gesteuert über ein Drahtseil, simuliert er das elektromagnetische und akustische Ebenbild eines Bootes vom neuen Typ. Ziemlich einfach herzustellen. Sie kann jedoch ebenso selbst navigieren, ohne Führungsdraht.«
Ich war wirklich überrascht. »Beeindruckend. Wo ist der Haken? Nichts ohne einen Haken.«
»Der Haken ist«, übernahm Sato die Erklärung, »dass wir nur eine bestimmte Menge dieser Drohnen aufnehmen können. Jede von ihnen reduziert unsere Angriffsstärke. Haben uns mehr Torpedos im Visier als wir Gegenmaßnahmen an Bord haben, war es das.« Mir wurde zum ersten Mal in all den Jahren bei den Polizeieinheiten bewusst, wie gefangen man sich in einem U-Boot fühlen kann. Doch jetzt, mit einem ernst zu nehmenden Gegner, empfand ich das als sehr bedrückend und wusste nicht, wohin mit meiner Unruhe.
»Wird schon schiefgehen«, sagte Takuno, als ahnte er meine Gedanken.
»Ja …«
»Es gibt noch etwas zu klären«, unterbrach Sato. »Unsere Passagierin. Wurde sie auf Sprengkapseln untersucht? Getaucht kann so eine Explosion das Boot zerreißen …«
»Nein«, schüttelte ich den Kopf. »Niemand hat sie untersucht, weil ich sie kurz nach der Explosion aus der Anlage habe bringen lassen …«
Satos Blick war eindeutig. »Ich weiß, Sato. Mein Fehler. Gibt es einen Scanner an Bord?«
Takuno nickte. »Im Unterdeck. Vor dem Maschinenraum.«
»Gut. Ich werde Jelena …«
»Lassen Sie mich das machen. Das erspart Ihnen die Erklärungen«, bot er an.
»Vielen Dank. Das Angebot nehme ich gerne an.« Erleichtert atmete ich tief ein. Die Atemluft fühlte sich frisch und unverbraucht an. »Dann gehe ich etwas essen und lege mich hin. Ich bin müde.« Sato und Takuno nickten. Mit einem Griff nahm ich das Komm-Gerät ab. Was mochte er denken? Fühlen? Hatte er Sehnsucht nach mir? Mein Magen gab die knurrende Antwort. Bei all der Aufregung, hatte ich den Hunger glatt verdrängt.
Die kleine Messe war fast leer. Meine verbliebene Mannschaft saß an einem langen Tisch, inklusive Jelena. Ich holte Seetang-Pfannkuchen und setzte mich dazu. Sah in jedes einzelne Gesicht. Maximilian wischte sich durch irgendwelche Inhalte auf dem Tablet. Steven döste mit verschränkten Armen. Kano und Aljona unterhielten sich über ihre Waffen. Kazumi erklärte Jelena, was in der Polizeiausbildung alles gefordert wurde. Und Bijan spielte eine Partie Schach gegen Hilario. Kurz bevor ich das Stück Pfannkuchen in den Mund schieben wollte, stoppte ich und lehnte mich an. Seltsames geschah. Kein Kribbeln im Magen, keine Wut, keine Angst. Etwas Unbekanntes kroch langsam über meinen inneren Horizont und entzündete ein fast unerträgliches Feuer. Ähnlich dem Gefühl, einen nicht sehr starken Stromschlag zu spüren, dem man sich jedoch nicht entziehen konnte. Langsam kroch dieser Strom meinen Nacken hinab. Ich erschauerte. War das Glück? Fühlte ich mich glücklich zwischen diesen Menschen um mich? So lange schon war ich mit diesem Trupp unterwegs. Hörte ihre Stimmen, wusste, was sie dachten, fühlten. Wie eine Mutter. Ich war 38 Jahre alt, nie Mutter gewesen und würde nie eine sein. Ein ungeliebtes, fast fremdes Wort kam mir in den Sinn: Familie.
»Wisst ihr«, begann ich, ohne zu überlegen, »ich fühle mich wohl zwischen euch. Genau jetzt.« Die Gabel mit dem kleinen Teigstück sank langsam auf den Teller zurück. Etwas tropfte auf den Tisch. Tränen? Maximilians Arm tauchte rechts auf, Stevens Arm auf der linken Seite. Wir legten unsere Arme auf des anderen Schulter. Jelena sah uns mit großen Augen an. Kazumi zog sie zu sich, nahm sie auf in den Kreis. Nun war er geschlossen. Niemand sprach. Eine endlose Zeit. So muss es in einer Familie sein, dachte ich und schloss die Augen. Diese Träume werde ich nie haben, kam mir in den Sinn. Nur hier, nachdem der Tod uns so nahe ist, schon zwei von uns geholt hat und noch viele andere dazu. U-Boot 12651 begann mit dem Tauchvorgang. Diese seltsame Stille beim Absinken in den kalten Körper des Meeres füllte die Messe, den Raum um uns herum. Das Metall ächzte hier und da. Wir waren unterwegs. Und ich war mir sicher, dass der Tod noch viele aus unserer Mitte reißen würde.