Insel 64 | Kapitel 10

Aug um Aug

Das Oberdeck von Insel 64 erreicht man von jedem Segment aus. Es war empfindlich kalt. Trotz der Sonne über den Gipfeln. Die Photovoltaikmodule folgten summend dem Licht. Zwischen den Treibhausanlagen standen Menschen mit Behältern voller Tomaten, Rückentornister, aus denen Gurken ragten. Ich saß in Kampfmontur auf einer der Bänke, die Wärmepads auf angenehme vierundzwanzig Grad geregelt. Fast wie Urlaub, dachte ich. Sato und Kazumi näherten sich und ich verstand nicht, was sie sprachen. Dann fiel mir ein, dass es Japanisch sein musste. Sie setzten sich munter weiter diskutierend neben mich. Sato besaß offenbar die besseren Argumente oder Kazumi wollte sie nicht mehr hören, denn sie schwieg irgendwann. Ich rutschte an die Gitterwand, lehnte mich an und schaute beiden auf den Rücken. Aus einem Impuls heraus legte ich meine Hände auf ihren Nacken und kraulte sie.
»Seht Euch das da drüben an. Hört ihr es? Kinder. Sie spielen Fangen. Verstecken. In den Treibhäusern, zwischen Tomaten und Gurken, während ihre Eltern pflücken, säen, Blätter schneiden. Das ist ein Traum, oder? Wir sind in einem Traum.« Kazumi nickte nur. Sato sagte gar nichts. »Was ist los, ihr beiden? Ihr werdet doch nicht gestritten haben?«
»Sakura hat gesagt, dass es sicher bald wieder los geht und wir Yoon Da-Hee einen Besuch abstatten …«
»Da hat sie recht, Kazumi. Sieh dir das hier an und denk an das, was jenseits der Fjorde geschieht. Die Menschen wissen nicht, wie es weitergeht. Die Konglomerate fallen auseinander. Wo sollen die Rohstoffe herkommen? Wem gehören die Werften? Was ist mit der medizinischen Versorgung? Sie brauchen Hilfe und Hoffnung.«
»Es wird Kämpfe geben. Sie werden uns jagen, misstrauen, einige von uns werden sterben«, hielt sie entgegen.
»Ja, du hast recht. Das wird passieren, aber das sollte uns nicht davon abhalten.«
Kazumi drehte mir das Gesicht zu. »Irgendwie klingst du verändert …«
»Du weißt es noch nicht, Kazumi … ich nehme meine Tabletten nicht mehr. Es ist, als wären all diese Berge um uns herum von mir abgefallen und endlich einmal kann ich so weit sehen wie noch nie. Vor allem zurück in die Vergangenheit. Alles ist so klar. Alle Stimmen so deutlich. Das Licht in meinen Augen hell wie die Sonne. Vielleicht bin ich meinen Weg gegangen, um das zu tun, was vor uns liegt …«
»Chatrina Sutter redet über Schicksal«, merkte Sato grinsend an.
»Chatrina Sutter will wissen, was los ist!«
Kazumi blickte in den Himmel. »Ich werde hier bleiben …«, sagte sie leise, »nicht mehr mitgehen. Die medizinische Abteilung sucht dringend Fachkräfte. Sie haben gefragt, ob ich auf der Intensivstation arbeiten möchte und ich habe zugesagt, und …«
»Und?«
»Max und Bijan werden ebenfalls hierbleiben. Sie brauchen jemanden mit Max‘ Fähigkeiten in der Kommunikation. Und Bijan ist der Experte für Sprengstoffe …«
»… genau richtig für den Bau von unterirdischen Anlagen«, vervollständigte ich.
»Ja«, murmelte Kazumi leise. »Ich habe genug vom Kämpfen und der ständigen Angst, Chatrina … ich kann nicht mehr.«
Ich zog beide zu mir, drückte sie an mich wie zwei kleine Kinder. »Meine Schwestern … ich bin so stolz auf euch!«
»Bist du nicht enttäuscht?«
»Aber nein, Kazumi. Im Gegenteil. Ich freue mich für dich! Endlich ein Zuhause. Du bist eine ausgezeichnete Polizistin und wirst nun eine noch bessere Pflegerin …«, ich knuffte sie in die Seite, »oder vielleicht sogar Ärztin!« Kazumi wurde rot, soweit ich das gegen die Sonne blinzelnd erkennen konnte. Satos Blick folgte den spielenden Kindern.
»Was ist mir dir, Sakura?«
»Du weißt, was ich bin, Chatrina. Mein Zuhause ist die See. Nichts anderes will ich«, erklärte sie ohne sich umzudrehen.
»Über was habt ihr dann gestritten?«
»Wenn …«, Sato stockte.
»Wenn du da draußen stirbst, sollten wir bei dir sein, meint Sakura …«, fuhr Kazumi fort. »Aber ich will dich nicht sterben sehen. Keinen einzigen mehr will ich sterben sehen …« Ihre Stimme versagte. Sie drückte ihr Gesicht auf meine Brust und schluchzte.
»Ich werde nicht sterben. Einverstanden?« Eines der Photovoltaikmodule begann Schatten auf uns zu werfen, der Kazumi erreichte. Zentimeter um Zentimeter wurde es kühler und dunkler. Ich blickte zur Leuchtanzeige über dem zentralen Abgang. Viertel vor zehn.


Kazumi verließ uns auf der Treppe. ‚Medizinische Abteilung‘ informierte ein Wand-Display. Sie blieb stehen, schaute zurück. Mit drei Schritten war ich bei ihr und drückte sie an mich. »Du tust das Richtige, Kazumi. Das ist ab jetzt dein Weg.« Schnell wendete ich mich ab, schnappte Satos Arm und zog sie mit in die große Messe. Sie war voll bis zur hinteren Wand. Sicher mehr als zweihundert Menschen. Róisín sah uns eintreten, winkte und deutete auf zwei Plätze neben Le Duc Tho. Ich zwinkerte ihm zu. Eine große, sehr dunkelhäutige Frau neben ihm stand auf als sie uns näherkommen sah und reichte mir die Hand. Ich schlug ein und spürte Kraft.
»Das ist Mardea Konneh«, stellte Sato sie vor. »Kommandantin von Boot 20020 …«
»Der Accra«, verbesserte Konneh.
»Accra, das wusste ich nicht. Mardea war in meiner Abschlussklasse auf der Marineschule. Jahrgangsbeste.«
»Ist mir eine Ehre, Mardea«, sagte ich und musste sofort an Abiola denken.
»Mir ebenfalls, Chatrina Sutter.«
»Accra … das ist im ehemaligen Ghana, nicht wahr?«
Sie nickte. McMahon ging an uns vorbei, stellte sich auf ein Podest und hob beide Hände. Wir nahmen Platz.
»Setzt euch, bitte, setzt euch alle! Danke, dass ihr gekommen seid! Wie ihr wisst, kam gestern ein weiteres Boot. Kommandantin ist Sakura Sato«, McMahon zeigte auf Sakura, »und bei ihr an Bord war Chatrina Sutter, ehemals Obfrau der Ebene 2 und Leiterin der Polizeieinheit 12 auf Spitzbergen. Ich weiß, dass ihr brennende Fragen habt, deswegen ziehe ich das vor …«, sie drehte sich, deutete mit der Hand an, dass ich zum Podest kommen sollte. McMahon nahm meinen Platz ein und ich das Podest. Wie sollte ich den Überblick bei den gestreckten Armen behalten? Einige betonten ihre Neugier durch Aufstehen, ein erster Zwischenruf, den ich nicht verstand.
»Fangen wir links an«, schlug ich vor und zeigte auf einen unscheinbaren Mann.
»Ich … nein, wir«, verbesserte er sich, »wollen wissen, wie das abgelaufen ist mit den Attacken auf Resolute Bay und Spitzbergen!?«
Seine Stimme zitterte. Ich ahnte, dass nicht wenige hier in der Messe mindestens beunruhigt waren. »Lassen Sie mich bitte von Anfang an erzählen …«, versuchte ich zu beruhigen und holte tief Luft. »Nachdem wir auf Galapagos den Sendehub angezapft hatten, erfuhren wir von weiteren Renegaten und einer Koordinate, um sich zu treffen. Dort fanden wir die ihnen bekannten Boote vor. Dazu einen uns unbekannten Bootstyp, den ich in ihrem Dock nun zum zweiten Mal sehe. Außerdem war Anouk Irniq an Bord, mit dem mich eine besondere Beziehung verband. Eine sehr vertrauensvolle, fast väterliche … wenn ich das so formulieren darf, denn das ist wichtig, um meine Entscheidung zu verstehen. Für uns war klar, dass wir Resolute Bay zerstören mussten, denn dort lag ein drittes großes Boot und die Bestückung mit ballistischen Raketen lief bereits. Das berichtete Anouk. Jonna Andersen war auf dem Weg zur waffentechnischen Hegemonie. Das musste verhindert werden. Mein Plan, mit herkömmlichen Mitteln von vier Seiten anzugreifen, hätte viele Opfer gefordert. Anouks Vorschlag war es, sowohl Resolute Bay als auch den Amur, Yoons Werft, mit den beiden an Bord befindlichen Raketen anzugreifen. So wollten wir einen zumindest waffentechnischen Gleichstand erzwingen, in der Hoffnung auf Verhandlungen …«
Ich machte eine Pause.
»Nach wie vor empfinde ich das als Fehler, aber es war eine Mehrheitsentscheidung. Keine Opfer mehr auf unserer Seite. Also ein Angriff mit den Raketen. Und so liefen Sato und ich in einem Boot und Kommandant Rodriguez mit Anouk im zweiten, großen Boot Richtung Beringstraße an einen Punkt, von dem aus beide Ziele, Resolute Bay und Amur, gleichweit entfernt lagen. Dann geschah das Unfassbare … beide Raketen flogen nach Osten. Eine davon Richtung Spitzbergen. Und …«, ich hob die Stimme, »Anouks Boot feuerte zwei Torpedos auf uns ab, aus kurzer Distanz. Nur Dank Satos außergewöhnlicher Reaktion und Erfahrung, blieben wir am Leben und versenkten zudem das andere Boot …«
Nach und nach gingen die Hände nach unten, Gemurmel kam auf, Diskussion, lauter werdend. McMahon klopfte gegen die Stuhllehne. Es wurde umgehend still.
»Mein Team und ich wurden benutzt! Ebenso wie all die Menschen der Marinen Kräfte. Seit man uns auf die Suche nach Insel 64 geschickt hat. Und was den Start der ballistischen Raketen angeht, wir wissen nicht, wer uns das eingebrockt hat, aber für mich steht fest, dass Yoon Da-Hee dahinter steckt. Und dass Jonna Andersen die nukleare Explosion in der unterirdischen Anlage überlebt hat, ist weiterhin möglich. Solange diese losen Enden existieren, wird es jenseits dieses wunderschönen Fjords keinen Frieden geben und sie werden euch eines Tages entdecken …«
»… oder sie werden uns verraten!«, rief eine ältere Frau aus der Mitte der Messe.
McMahon erhob sich, setzte zu einer Erwiderung an, aber ich schüttelte den Kopf in ihre Richtung.
»Ich kann ihren Gedankengang verstehen, aber als Polizistin ist das erste, nach was ich suche, das Motiv. Welche Handlung sie auch immer rekonstruieren, es muss ein Motiv geben. Und was hätte ich für ein Motiv, dies zu tun? Was haben sie alle mir getan, um so zu handeln? Nichts. Habe ich, haben wir einen Vorteil? Nein. Im Gegenteil … auf dem Weg hierher haben unzählige Menschen ihr Leben sinnlos verloren. Ganze Bootsbesatzungen! Khatri und Lehtonen samt ihren Einheiten, Tesfamariam in San Francisco, Zhang, eine Freundin Takunos, Mitglieder meiner Einheit, von denen ich jede und jeden als Schwester und Bruder betrachte und nun bleiben die letzten drei, Kazumi, Max und Bijan hier bei ihnen, um zu helfen, müde vom kämpfen … was also sollte ich für ein Motiv haben, ihr Zuhause zu verraten?«
So viele Augenpaare ruhten auf mir, suchten nach etwas, starrten an die Decke. »Macht?«, warf eine Frau ein.
»Macht?« Ich musste lachen. Herzhaft. »Entschuldigen Sie, dass ich lache, aber Macht ist lächerlich. Schwache Menschen verleihen einer Person Macht, indem sie keinen Widerstand leisten. Schwache Menschen geben Jonna Andersen Macht und Yoon Da-Hee. Ohne diese Menschen sind beide kläglich und hilflos.« Ich streckte mich, bog die Schultern nach hinten. »Wenn Sie wüssten, wie machtlos ich mich fühle … ich bin nicht hier, um sie zu verraten sondern um das dort draußen zu beenden. Das wird ihr bester Schutz sein! Hier leben jetzt Menschen, die ich liebe. Für die gebe ich mein Leben. Ich verrate sie nicht.«
Ich blickte die Frau an. Dann trat ich vom Podest und setzte mich neben Sato. McMahon stellte sich erneut vor die Menschen.
»Das war der Teil, den wir noch nicht gehört haben. Kommandant Takuno hat uns den ersten Teil erzählt. Ich freue mich auf die drei neuen, sehr qualifizierten Helfer. Ich nehme an, dass es nun einen Plan für das weitere Vorgehen geben wird, denn solange es da draußen so chaotisch zugeht, ist unser Vorhaben äußerst gefährdet. Ich danke Chatrina Sutter für ihren Beitrag.« McMahon nickte in meine Richtung. »Die Abteilungsleiter können nun wieder zu ihrer Arbeit. Ich bitte Seguar, Camara und Kettunen hier zu bleiben. Vielen Dank.«
Der Saal leerte sich. »Soll ich uns Algentee holen?«, stupste Sato mich fragend an.
»Ja, bitte, Sakura«, nickte ich. Konneh rückte auf als Sato ging.
»Wusstest du, dass ich Abiola kannte?« Ich sah sie überrascht an.
»Nein, davon hat sie nie etwas erzählt.«
»Unsere Mütter waren Cousinen. Eines Tages erzählte Abiola, dass sie jemanden kennengelernt hatte, den sie lieben könnte, hätte sie nicht eine solche Angst davor.«
»Abiola und Angst? Das klingt nicht nach ihr …«
»Doch«, erwiderte Konneh, »sie war voller Angst und deshalb kühl wie ein Eisschrank.« Ich schloss die Augen und kämpfte mit den aufkommenden Tränen, verfluchte mich wegen all der Dinge, die ich nicht wusste, niemals erfragt oder erfahren hatte. Tag um Tag, jahrelang lebten wir nebeneinander, miteinander, kämpften, lachten, erzählten uns Geschichten, aber offenbar nie die ganze Wahrheit. Dabei wäre es so einfach gewesen.
»Verzeih, Chatrina, das hat dich mitgenommen.« Ich blinzelte durch die Tränen hindurch. McMahon stand keinen Meter entfernt. Sie reichte mir ein Vlies. Nein, wollte ich antworten, mir geht es um Abiola … aber ich brachte es nicht raus.


Wir waren eine kleine Runde. Guadalupe Seguar, Masoud Camara und Aki Kettunen waren Stellvertreterin und Stellvertreter McMahons, saßen neben ihr, zusammen mit den fünf Bootkommandantinnen und Bootkommandanten und Russo. Nur Takuno fehlte. Kurz vor elf Uhr. Ich zog den linken Ärmel der Uniform nach oben. Die Narbe des Implantats war noch deutlich zu sehen.
»Ist draußen«, sagte ich knapp. Seguar, Camara und Kettunen taten es mir nach. Drei Narben an der identischen Stelle. »Sie waren alle in Jonnas Augen-und-Ohren-Truppe?« Die drei nickten.
»Aki in Oahu, Masoud auf den Kerguelen und ich in Resolute Bay«, erläuterte Seguar.
»McMahon vertraut euch«, stellte ich fest. »Aber ihr müsst verstehen, dass ich sehr misstrauisch bin gegenüber allem, was Jonna Andersen aufgebaut hat. Mich interessieren die Motive für euer Hiersein. Warum habt ihr euch von Jonna Andersen abgewendet?«
McMahon schwieg, ließ mich gewähren. Kein Protest.
»Familie«, erklärte Seguar knapp. »Es war keinem von uns erlaubt, Bindungen einzugehen. Wer eine Partnerschaft eingeht oder gar Kinder bekommt, ist verletzlich, angreifbar …«
»… erpressbar«, vervollständigte Camara.
»Und Sie sind Bindungen eingegangen, trotz der Verbots …«
»Ja«, bestätigte Kettunen meine Vermutung. »Und wir haben Kinder. Sie sitzen ein Deck tiefer in der Schule. Das Schwierigste in diesem ganzen Konstrukt war es, uns gegenseitig zu finden.«
Ich beugte mich vor, blickte zu Sato und Russo. Beide nickten. »Dann ist das geklärt. Mich würde zunächst interessieren, wie ihr an das Boot im Dock gekommen seid?«
»Das war im Prinzip nicht schwer«, äußerte Seguar. »Am Tag des Abtauchens von Insel 64 musste ich nur für eine zuverlässige Mannschaft sorgen und eine Testfahrt mit voller Beladung durchführen. Das Fluchtziel der Insel stand schon seit Wochen fest.«
»Das U-Boot war zu diesem Zeitpunkt schon fertiggestellt?«
»Die Nautilus wurde schon vor fünf Jahren vom Stapel gelassen«, erwiderte sie.
»Moment«, unterbrach ich. »Vor fünf Jahren hatte Jonna noch keinen nichtmagnetischen Stahl …«
»Wer sagt denn, dass die Nautilus aus nichtmagnetischem Stahl besteht?«, entgegnete Kettunen lächelnd. Ich biss mir auf die Lippe.
»Schon gut, mein Fehler …«
»… sie war lediglich das erste Boot mit der neuen Energiequelle und dem dadurch möglichen magnetohydrodynamischen Antrieb«, fuhr Seguar fort. »Ein Testfahrzeug, als Versorger gebaut. Dann lagen alte russische Pläne mit ballistischen Raketen auf dem Tisch und für den zweiten Typ Boote mit Marschflugkörpern … uns war klar, wohin die Reise geht.«
»Wer ist ‚uns‘«?
»Seguar, Camara und meine Wenigkeit.«
McMahon hob die Hand. »Du musst verstehen, Chatrina, ohne den Fusionsreaktor der Nautilus hätten wir dieses Unternehmen nicht gestartet, denn die Insel produziert niemals so viel Strom, wie es für unsere Projekte nötig ist«, führte sie aus. Ich erinnerte mich, dass Takuno und ich auf dem Maschinendeck standen und über Energiequellen spekulierten. Aber dieser Reaktor half nur den Menschen hier, nicht dem Rest.
»Lassen wir mal das Boot und den technischen Kram beiseite … vielmehr interessiert mich die aktuelle Lage dort draußen. Wo sind Yoon Da-Hee und Khaled Hamza?«
»Das ist nicht schwer«, antwortete Kettunen. »Hamza ist auf den Kerguelen und versucht, die Inseln zusammenzuhalten. Und Yoon Da-Hee ist auf Maui in Gewahrsam. Die von Yoon abgesetzte Obfrau des Gruppenrates auf Oahu, Kereteki, ist wieder in Funktion, aber zu schwach, das Auseinanderfallen zu verhindern. Ein gewisser Lokesh Utami, Obmann von Gruppe 117, hat sich als Anhänger Yoons in den Kopf gesetzt, die Antarktis zu besiedeln. Nicht wenige Inseln folgen ihm. Vor allem aus dem Atlantik, denn das Konglomerat ist aus bekanntem Grund völlig führungslos.«
»Ja, mit dieser Situation werde ich noch den Rest meines Lebens zurechtkommen müssen. Und das lastet schwer auf mir, das können sie mir glauben …«, ließ ich Kettunen wissen. »Die Frage ist jedoch, wie sich die Lage verbessern lässt? Denn eines ist klar: Wenn es dort draußen keine Lösung gibt, werdet auch ihr hier über kurz oder lang damit konfrontiert. Sich einzumischen ist die einzige gangbare Lösung.«
Ich stand auf und ging einige Schritte auf die Displays zu. Eines zeigte die Wetterdaten. Kein Schnee. Im Gegenteil, es wurde wärmer.
»Wir stecken mitten im Aufbau unserer kleinen Heimat«, sagte McMahon. »Die Ressourcen sind begrenzt. Wie sollten wir helfen können?«
»Ich weiß ja noch nicht mal genau, was Sie hier tun«, erwiderte ich. »Das würde ich gerne erfahren.«
McMahon zuckte mit den Schultern. »Ja, warum nicht?«


Insel 64 besaß zwei Decks tiefer eine Art Operationsraum, ähnlich der Einsatzzentrale auf den neuen Booten. Eine Flut an Displays, knapp dreißig Menschen arbeiteten in drei Schichten. »Wenn du in diese Fjorde fährst, bist du überwältigt von ihrer Schönheit«, sagte McMahon und deutete auf eines der Displays. »Für uns war es der nächsterreichbare Punkt, weit abgeschieden, mit der höchsten Wahrscheinlichkeit für vollkommene Menschenleere. In der Tat gibt es im Umkreis von hunderten Kilometern keine Seele. Und sollte sich doch mal jemand verirren, muss er drei ringförmige Perimeter überqueren, Drohnen, Sensoren. Niemand entgeht unserer Überwachung. Auch nicht, wenn er getaucht mit einem der neuen Boote durch die äußeren Fjorde kommt.« Sie grinste.
»Wie das?«
»Laserscanner unter Wasser an den Fjordeingängen und in den Kanälen.« Ich war beeindruckt. »Bevor du ins Schwärmen kommst, nun die Widrigkeiten des Standortes.«, sie deutete auf das Drohnenbild einer Hochfläche, teilweise von Schnee bedeckt, fast mittig ein Krater.
»Ein Vulkan?«
»Der Cerro Hudson. Man kann ihn vom Oberdeck aus sehen. Ein aktiver Vulkan. Laut unserer Unterlagen war der letzte Ausbruch im Jahre 2068 mit der Stärke fünf. Bei einem solchen Ausbruch ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Schlammlawinen durchs Tal drücken. Wir beobachten ihn visuell und seismologisch. Anzahl der Beben, Laufrichtung, was alles dazugehört. Aber das ist nicht alles …«
Das Paradies hatte Risse.
»Wir sitzen unweit des Aufeinandertreffens von Nazca-Platte, die nach Osten wandert, Antarktischer Platte, die sich dreht und der südamerikanischen Platte, auf der wir leben. Erdbeben sind die Folge. Der Untergrund bebt beständig, doch für uns als Menschen nicht erkennbar.«
»Alles in allem ziemlich risikoreich, wenn man neu beginnen möchte …«, unterbrach ich McMahon. »Und wie aussichtsreich ist dann der Verbleib hier?«
»Wie gesagt, schnelles Verschwinden an einen abgelegenen Ort war das Ziel. Es gibt keine Menschen, keine Handelsplätze … die Welt ist zwar menschenleer, aber sie wird von Vielen durchstreift, es gibt Drohnen; und schon ein Augenpaar reicht aus, um uns zu entdecken.«
»Trotzdem höre ich Exploration und Bijans Kenntnisse mit Sprengstoff werden benötigt, ihr wollt also bleiben …«
»Wir wollen bleiben, Chatrina, ja. Die Wälder sind weitestgehend intakt und der polare Wirbel erreicht uns nicht. Das Wetter ist relativ stabil, kaum Versteppung. Im Gegensatz zum Rest des Planeten sind das geradezu paradiesische Zustände.«
»Aber sie reichen nicht für alle«, entgegnete ich.
»Nein. Und hier finden wir auch meist nur Berge, kaum Anbaufläche. Wir müssen also in den Untergrund.« Sie zog mich zu einer weiteren Reihe Bildschirme. Eine Menge Skalen, Messwerte. Daraus konnte ich mir keinen Reim machen. »Folgendes passiert in der südlichen Hügelkette: Der Fusionsreaktor versorgt einen Laser. Der verdampft das Gestein zu einem Gasgemisch. Wir mischen Additive dazu, ein Kondensat entsteht, mit dem wir mittels 3D-Drucker die entstehenden Höhlen auskleiden. Zwischen Gestein und unserer Wand füllen wir ein Dämpfungsgel, das eine Bebenstärke von sieben auf der Richterskala abmildern kann. Wir bauen wabenartig, kleine Räume, durch Schleusen getrennt.« McMahons Augen leuchteten. Ihr Blick löste sich nicht von den Schirmen. Sie war stolz auf das, was alle hier erschufen. Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker, zusammengerufen, um an einer möglichen Zukunft zu bauen; bis Jonna sie einspannte für ihre Pläne. Jetzt lebten sie für sich. Etwas in mir sträubte sich, das einfach so hinzunehmen.
»Was machen wir mit den Menschen da draußen?« Es dauerte einen Moment, bis die Frage ihre Gedanken erreichte, durch das Bild der funktionierenden Technik drang, einen Riss entstehen ließ. »Ich wüsste nicht, wie wir ihnen helfen könnten. Aus meiner Sicht brauchen die Inseln eine Führung, die ihnen Hoffnung und Möglichkeiten bietet. Jemand mit Visionen und der Tatkraft, diese auch umzusetzen.«
»Ich gebe dir recht, Róisín. Und eine solche Vision könnte die Trägheitsfusion sein, nicht wahr? Ein solcher Reaktor. Immerhin haben wir hier fünf Boote mit dieser Technik. Das Problem ist das Wissen um die Anwendung. Euer Wissen hier. Das ist die Vision.«
»Es liegt in deinem Ermessen, eines der Boote zu nehmen, nach Oahu oder den Kerguelen zu bringen – wenn die Kommandantinnen oder Kommandanten und ihre Besatzungen einverstanden sind. Ich jedoch halte es für klüger, eine Führungsperson zu finden, der die Menschen wieder folgen.« Sie packte meinen Oberarm, machte auf dem Absatz kehrt, verließ den Raum. Ich ließ mich führen. Wir stiegen die Treppe bis zum Oberdeck hinauf, schritten durch das Außenschott und blieben an der Reling stehen. Róisín löste die Hand, streckte sie nach Osten.
»Das ist der Cerro Hudson dort hinten. Knapp zweitausend Meter hoch. Ein Stratovulkan, aber noch recht klein im Gegensatz zu den anderen Stratovulkanen der Anden.«
»Das ist es nicht, was ich hören will, Róisín. Als Polizistin sage ich, du hast Angst. Mich würde interessieren, vor was?« Zwei Kinder rannten an uns vorbei, eines grinste mich an, legte die Hand auf den Kopf und fuhr hin und her. Offenbar gefiel ihm meine Fastglatze oder es machte sich lustig.
»Chatrina … alles was Menschen für die Zukunft der Menschheit entwickelten, wanderte auf die eine oder andere Art in Waffentechnik. Seit Jahrtausenden. Wir sind es leid. Unser Nein ist unabänderlich. Keine Hilfe, keine Technik. Du kannst das hier dein Zuhause nennen, uns helfen beim Aufbau. Ihr alle dürft bleiben, deine wunderbare Tochter kann hier alles lernen, dagegen haben wir nichts.«
»Róisín, es geht um das Zusammenhalten der Menschen, bevor sie sich gegenseitig niedermetzeln wegen Landnahme, Neid auf Ressourcen, Verteilungskämpfe …«
»Das ist nicht unser Problem, Chatrina!«, schnitt sie mir harsch die Worte ab. »Nicht unser Problem … nein, ich habe keine Angst. Wir haben die Nase einfach voll! Du bist in der Lage, diese Probleme dort draußen zu lösen! Damit hilfst du uns und wir gewähren euch ein Zuhause. Das ist die Abmachung die wir treffen werden!« Sie drehte sich zum Vulkan.


Ich war versucht, eine der Tomaten zu pflücken, starrte sie an wie einen Schatz. Zu lange, wie ich vermutete.
»Nimm sie ruhig. Sie ist reif«, sagte eine junge Stimme hinter mir. Ich fühlte mich ertappt bei etwas, das noch gar nicht passiert war. Lediglich in meinem Kopf. Ein älteres Mädchen oder eine junge Frau, je nach Betrachtungsweise, stand hinter mir, einen Korb mit Tomaten vor dem Bauch. Sie war schwanger. Ich deutete auf die Wölbung.
»Es dauert noch, oder?«
»Bin im fünften Monat. Du bist Chatrina Sutter, stimmt’s?«
»Ja. Das hat sich offenbar herumgesprochen.«
Sie nahm eine Tomate aus dem Korb und streckte die Hand aus. »Hier, probier die mal. Eine andere Sorte. Viel würziger.«
»Danke, gerne.« Vorsichtig griff ich nach der roten, elliptischen Frucht und roch daran. Ein betörender Duft breitete sich in meiner Nase aus. Langsam biss ich ihr den Kopf ab. Fruchtfleisch spritzte auf der Seite heraus auf meine Uniform. Die Kleine lachte. Mit jedem Kauen explodierte mehr und mehr von diesem wunderbaren Geschmack auf meiner Zunge. Aromen, die ich nicht kannte. Ich schloss die Augen und stopfte das Reststück in den Mund.
»Gut, nicht wahr?«
»Mh …«
Sie drückte mir eine weitere in die Hand. Schnell öffnete ich die Augen und sah sie davongehen. Ich hatte nicht nach ihrem Namen gefragt. Nur die Tomate in meiner Hand blieb als Bild der letzten Minute. Klein, rot und duftend. Wie schaffte diese Frucht es, ein solches Gefühl auszulösen?
»Ich habe lange überlegt …«, hörte ich eine bekannte Stimme in meinem Rücken, »… und ich würde dich gerne heiraten.«
Ruckartig drehte ich mich und fiel der Stimme um den Hals. Die Wucht des Aufpralls war so heftig, dass sie uns von den Beinen riss. Wir fielen hin. Ich landete auf Takuno. Vor Jelenas Füße, die sich in einen Lachanfall steigerte, hinkniete, neben einem Korb voller Wurzeln, Beeren und Pilze. Sie ließ sich auf uns fallen. Wie die Kinder wälzten wir uns zwischen den Setzkästen und Aufzuchtschalen, rankendes Grün über uns, die roten Früchte. Etwas zerplatzte in meiner Hand. Die Tomate! Ich kam nicht dazu, darüber nachzudenken. Jelena setzte sich auf den Boden und zog den Korb vor mein Gesicht. Die Haare reichten ihr bis zur Schulter. Sie war kaum wiederzuerkennen, nicht zu vergleichen mit dem glatzköpfigen Mädchen, das dem Krebstod entging. Takuno kniete und musterte erstaunt seine Jacke.
»Wo kommt der Fleck her?«
»Nur eine Tomate«, erklärte ich und setzte den Ellenbogen auf den Boden, die Hand unter den Kopf.
»Wirst du es tun, Mama?«
»Was?«
»Kenzaburo heiraten! Dann habe ich einen Papa. Den besten Papa der Welt!«
Wollte ich das? Hatte ich jemals einen einzigen Gedanken an eine festere Bindung verschwendet? Nein, niemals …
»Ja, Kleines, das will ich. Und wir werden die beste …«, Tochter haben wollte ich sagen, kam aber nicht mehr dazu. Sie drückte so fest, dass ich die Narbe deutlich spürte und dazu Takunos Hände auf meinem Kopf. Er rutschte heran, zog uns auf seine Oberschenkel. Ich roch die Tomate und das, was in Jelenas Korb lag. Kein Duft von dieser Welt.


»Ich habe recherchiert«, erläuterte Sato. »Das gehört so.«
»Na gut«, räusperte ich mich und straffte die Uniform. In der großen Messe standen die Besatzungen der Boote auf der rechten Seite in Reih und Glied, davor Le Duc Tho, Mardea Konneh, Heinrich Konstantin und James Callahan. Auf der Linken die restlichen Mitglieder ehemaliger Polizeieinheiten, daneben Benedetta Russo, Kazumi, Bijan und Max. An der hinteren Wand McMahon mit ihren Leuten. Neben mir Takuno und Jelena mit einem Korb voller Tomaten, Gurken und Beeren. Ich hatte keine Ahnung, ob das alles seine Richtigkeit hatte. Die Obleute der Inseln durften trauen, aber welche Gesetze und Regeln legten wir hier zugrunde? Sato sagte, dass auch ‚Kapitäne‘ auf hoher See das durchführen konnten, zumindest einige hundert Jahre zuvor. Auf hoher See waren wir nicht, aber am Ende eines Fjordes schon. Sato blies in eine Pfeife. Ein dunkler und ein heller Ton quälten meine Ohren. Dann stellte sie sich vor uns, las eine Formel von ihrem Pad ab, erklärte uns zu Lebenspartnern und grüßte.
»Jetzt dürft ihr euch küssen«, forderte sie uns auf. Was wir taten und im Johlen, Klatschen und den Rufen unterging. Fast wie Urlaub, dachte ich, zog Jelena zu mir, stellte sie zwischen uns.
»Jelena Sutter oder Jelena Takuno?«, wollte ich wissen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie überrascht. »Und du, Mama? Was willst du?« Sie erwischte mich auf dem falschen Fuß. Mein Nachname, nur der meines Adoptiv-Vaters. Das Loch meiner Herkunft …
»Takuno«, flüsterte ich ihr zu. »Ich bin jetzt Chatrina Takuno …« Sie grinste, legte ihre Arme um mich. Kenzaburo steckte sich eine Tomate in den Mund und sah uns fragend an. »Chatrina, Kenzaburo und Jelena Takuno … ist das okay für dich?«
»Mh«, nickte er mit geschlossenem Mund. Ich winkte Kazumi, Bijan und Max zu mir, zog meinen Mann an mich, packte Sato. Kazumi stand neben mir, mit Tränen in den Augen und einem Lachen auf den Lippen. Jelena hob beide Arme. Sie wusste, nach was es mich verlangte. Wir stellten uns im Kreis auf, umfassten unsere Schultern, legten die Köpfe aneinander. Ich hörte uns weinen, schniefen, murmeln oder mit geschlossenen Augen schweigen. Ewig standen wir auf diese Weise unter all den anderen. Dann lösten wir uns. Mein Blick suchte McMahon. Sie bemerkte es und kam herüber.
»Was war das gerade?«, fragte sie neugierig.
»Unser Ritual, seit vielen Jahren. Vor oder nach einem Einsatz, nach dem Tod oder wenn uns danach ist … wir sind eine Familie.«
McMahon musterte alle aus dem Kreis. »Es existiert eine besondere Beziehung zwischen den Menschen und dir, Chatrina. Das ist deutlich zu spüren. Ich würde mir wünschen, dass du diese Fähigkeit da draußen einsetzt, beim Kampf um die Inseln.«
»Ja …«, sagte ich, zog einen Stuhl zwischen uns, stellte mich drauf und sah in die Runde, schweigend, bis jedes Lachen und Gespräch verstummte. Einem Berg gleich versperrten die Worte in meinem Kopf den Blick auf die klaren Gedanken dazwischen. Aber alle um mich herum ließen mir die Zeit, sie zu finden.

»Danke für euer Hiersein«, setzte ich an und fand endlich den Einstieg. »Heute im Treibhaus, bei den Tomaten, musste ich daran denken, dass ich bis vor einigen Tagen Tabletten genommen habe. Jeden Tag eine. Seit der Polizist Beat Sutter mich und einige andere Mädchen für zwei Container Medizin in Genua eintauschte. Ich war damals zwölf … wahrscheinlich … mein Alter ist am Ende nur eine medizinische Schätzung. Diese Tabletten bestimmten mein Leben. Sie verhinderten meine Wut. Sie dämpften das Grelle im Leben einer Polizistin. Die Träume konnten sie jedoch nie beruhigen. Wieder und wieder erlebte ich die Jahre in Genua. Was soll ich sagen … die Träume sind weg. Ich weiß nicht wohin? Meine Gefühle sind so stark wie nie. Aber auch der Zorn in mir … und die Liebe zu meiner Familie«, ich blickte zu Kazumi, Bijan, Max und den anderen, »der ich viel zu verdanken habe. Mein Leben nicht nur einmal. Jetzt fragt ihr euch, warum erzählt sie das alles? Die Antwort ist einfach: Verantwortung. Ich habe geheiratet. Und bin Mutter. Ich bin nicht mehr nur eine Polizistin, die mit ihrem Team Probleme löst und wieder nach Hause geht. Und weil ich heute eine junge Schwangere traf, kam mir die Idee, noch mal Mutter werden zu können, ein Kind bekommen. Doch Kinder sind hilflos. Wie damals in Genua. Die Mädchen, meine Schwester Marcella und ich. Hilflos. Als Mutter, als Polizistin und als Mensch muss ich Verantwortung übernehmen. Nicht nur den nächsten Fall lösen. Menschen müssen für Menschen Verantwortung übernehmen. Das ist es, was uns verbindet. Jonna Andersen, Yoon Da-Hee, Khaled Hamza und wie sie alle heißen, nehmen keine Verantwortung mehr wahr oder haben es noch nie getan. Róisín McMahon hat euch allen angeboten, hier zu bleiben, um ein Zuhause zu haben. Ich jedoch werde gehen, denn es gibt noch viel zu tun. Die Menschen sind hilflos, wie ich es einmal war. Und das kann ich nicht zulassen. Ich bin glücklich über jede und jeden, die mich dabei begleitet, respektiere aber ebenso, wenn ihr müde seid vom kämpfen. Das war es, was ich sagen wollte. Vielen Dank. Und jetzt feiern wir!«
Ich sprang vom Stuhl, hörte Klatschen, ein Jauchzen, ein Bravo und blickte in Jelenas traurige Augen. »Kennst du eigentlich die Geschichte von Tulugaq, dem Raben?«
»Nein«, schüttelte sie den Kopf. Ich setzte mich auf den Stuhl und sie auf meinen Schoss. McMahon legte eine Hand auf meine Schulter, drückte zwei Mal und ging dann zum Teeautomat.


»Wir haben die Botschaft aufbereitet. Audio und Video mit Einblendungen von Daten, den toten Einheiten und Bootsbesatzungen, bis hin zu den Logbuch-Einträgen über Spitzbergen und dem Torpedo-Angriff durch Anouk Irniqs Boot.« McMahon saß hinter ihrem schmalen Schreibtisch.
»Ab heute werden wir in Tunnel drei die medizinische Abteilung einrichten«, versuchte sie meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. »Kazumi wird uns eine großartige Hilfe sein. Sie ist sehr begabt.«
»Ja«, stimmte ich zu. »Du musst gut auf Kazumi acht geben, sie ist eine empfindsame Seele und nicht für diese Welt gemacht. Ebenso wie Max. Er ist verschlossen und frisst alles in sich hinein. Sie brauchen beide eine Mutter.«
»Ich versuche, ihnen eine zu sein.«
»Wann geht die Nachricht auf Sendung?«
»Sobald ihr den äußeren Perimeter passiert habt. Sie ist selbstreplizierend, ändert Quersumme und Header nach jeder Replikation und legt Kopien in die Header anderer Dateien.«
Das sagte mir zwar nichts, klang aber professionell. »Wir laufen etwa sechs Tage bis Hawaii«, erwiderte ich stattdessen. »Die Zeit sollte genügen. Und die zweite Nachricht?«
McMahon wiegte ein paar Mal den Kopf hin und her. »Ist in der ersten Nachricht enthalten. Du kannst sie jederzeit auslösen. In der Nähe eines Sendehubs das Signal absetzen, schon entpackt sie sich …« Sie zögerte kurz. »Du weißt, wir sind nicht begeistert, dass du den Menschen einen Fusionsreaktor überlassen willst. Sicher werden viele ihn friedlich im Zuge einer Wiederbesiedelung nutzen … aber weitere Jonnas, Yoons und Khaleds werden kommen. Das wird eine Kaskade von möglichen Ereignissen schaffen, die wir nicht überblicken können.«
Natürlich hatte sie recht. In welche Richtung das Pendel ausschlagen wird, konnten wir beide nicht beurteilen. Sie wollte jedoch die möglichen Ursachen eines Desasters so weit wie möglich einschränken. Ich dagegen … ja, was tat ich? Ich hoffte?
»Ich verstehe deine Bedenken, Róisín, sehe aber nicht nur die Jonnas dort draußen sondern die Kinder. Ebenso wie eure Kinder hier, verdienen sie eine Chance auf eine bessere Zukunft. Das Leben auf den Inseln ist gut und friedlich, aber wenn man erst mal das hier sieht, erlebt, wie die Erde einmal war, dann …«, mir fehlten die Worte.
»… dann bekommt man Heimweh, nicht wahr?«
Ich sah Róisín an. Ihre sanften Augen.
»Heimweh, vielleicht. Ich spüre aber, dass es das falsche Wort ist. Da ist noch etwas anderes in mir. Tiefer. Eine Art Tunnel …«
»Eine Verbindung.« Offenbar wusste sie genau, von was ich sprach, was mich nicht überraschen sollte.
»Ja, eine Verbindung … so könnte man es beschreiben.«
Róisín lächelte kaum merklich. »Wie zu einer Mutter, nicht wahr?«
Damit traf sie genau meinen Nerv. Ich senkte den Kopf, atmete ein paar Mal tief ein und aus, die Augen geschlossen. Krampfhaft versuchte ich mir das Bild meiner Mutter ins Gedächtnis zu rufen. Der Moment des Abschieds, als die Polizisten uns trennten, sie und viele andere Frauen mit sich nahmen. Meinen Hass auf Mama. Dann entdeckte ich ihre Augen im Nebel, als sie sagte, ich sei unnütz. Augen voller Angst.
»Ich wollte dich nicht verletzen, Chatrina, Entschuldigung. Ich jedoch bin es nicht, Chatrina. Ich bin nicht deine Mutter und kann nur ahnen, was damals alles passiert ist. Vielleicht ist es gut, wenn du sie nicht dein Leben bestimmen lässt.«
Ich starrte sie an, hielt die Hand vor den Mund. Das Pad piepte. Satos Ruf. Ich ignorierte ihn.


Takunos flache Hand wischte vor meinen Augen hin und her. Ich starrte an die Decke. »Hallo? Kenzaburo an Chatrina …« Mit einem Griff packte ich die Hand, drückte sie auf meine Brust. Er legte sich neben mich.
»Ich muss herausfinden, welche Polizeieinheiten damals in Genua waren«, sinnierte ich. »Es werden noch einige leben. Dann komme ich meiner Mutter näher.«
Er presste die Lippen aufeinander. »Ich verstehe sehr gut, wie wichtig das für dich ist und werde dich bei allem unterstützen … solange es vernünftig und sinnvoll ist. Vergiss nicht, Chatrina, du hast die Tabletten erst vor einer Woche abgesetzt. Was das bedeutet, kann wohl niemand mit Sicherheit sagen, aber dass es Auswirkungen auf die Psyche hat, würde ich mal als gesichert annehmen. Gib dir Zeit.« Er hatte recht. Kenzaburo, mein Leuchtturm der Vernunft. »Was machen wir nun?«, hakte er nach.
»Nichts wie weg. Morgen früh brechen wir auf.«
Er überlegte, drehte sich auf die Seite und sah mich an. »Wer hat sich gemeldet?«
»Sato, Mardea und Le Duc Tho mit ihren Booten, Benedetta Russo und der Rest von Kidanes Truppe …«
»… und Kenzaburo Takuno«, erklärte er stolz. Ich sah ihn an.
»Nein. Der hat sich zwar gemeldet, aber bleibt hier bei Jelena. Denn die braucht einen Papa, wenn schon die Mama abhaut.«
»Aber …«, begehrte er auf. Ich drückte ihn auf den Rücken, legte mich auf seinen Oberkörper, presste den Mund auf seinen. Was für faszinierende Lippen er hatte. Stundenlang hätte ich sie küssen können. Abrupt setzte ich mich in den Schneidersitz.
»Nein! Kenzaburo! Denk genau nach. Wir haben Verantwortung übernommen. Du bist Vater. Jelena mag eine gute Auszubildende sein, aber sie braucht junge Menschen in ihrem Alter, muss sich verlieben können und Geheimnisse haben, die Schule abschließen. Sie ist fünfzehn! Wenn wir zusammen losziehen und sterben, ist sie wieder alleine …«, ich tippte mehrmals mit dem Finger auf seine Brust. »Du bist ein erfahrener Kommandant, der zusammen mit Konstantin und Callahan Insel 64 beschützen kann. Das ist sehr wichtig. Für die Menschen hier, für Kazumi, Max, Bijan und Jelena. Diese Verantwortung ist größer als das, was wir tun.« Er hielt meinen Finger fest und setzte sich gegenüber, lehnte an die Rückwand des Betts.
»Du verlangst viel.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Kenzaburo. Die Vernunft verlangt es. Es ist klug, so zu handeln. Im Sinne der Menschen, die wir lieben.« Ich spürte, dass er einverstanden war, es akzeptierte und zog seinen Kopf auf meinen Schoss. »Du hast recht mit den Tabletten. Mein Zorn ist dicht unter der Oberfläche. Er darf nicht die Oberhand gewinnen.«
»Von unten betrachtet, bist du genau so schön«, stellte er fest. Ich zog die Augenbrauen hoch. Kenzaburo Takuno, mein Mann … »Du hast mir noch nicht die ganze Geschichte erzählt«, erinnerte er mich an mein Versprechen. »Das bist du mir schuldig. Wir haben Zeit bis morgen früh. Außerdem sehe ich dich vielleicht nicht wieder.«
Ich drückte seine Nase. »Blödsinn. In zwei oder drei Wochen bin ich wieder hier. Dann machen wir einen Ausflug in die Berge.« Takunos dunkle Augen zweifelten, aber er sagte nichts. Außer …
»Die Geschichte, Chatrina Takuno. Erzähl sie mir.«
Chatrina Takuno … das gefiel mir. Also begann ich.


Jelena schlief tief und fest. Sachte küsste ich ihre Wange, strich durch die blonden Haare, prägte mir ihr Gesicht ein, den Duft und stand auf. Kenzaburo zog mich aus dem Raum. Wir gingen hinunter zur Seitenschleuse, vorbei an den Dockfenstern. Einiges an Ausrüstung hatten wir von der Nautilus auf unsere Boote verladen, eine Drohne, Satos Abschusszylinder mit Marschflugkörpern der hier bleibenden Boote bestückt. Am Steg warteten Sakura und Russo. Kenzaburo drückte mich für einen Moment, dann spurtete er den Gang entlang.
»Komm, Chatrina. Wir wollen los.« Ich nickte Sato zu. »Vielleicht ist ein kurzes Umarmen besser als zu viel Gerede«, versuchte sie meinen Schmerz abzumildern. Dadurch machen wir es uns nur schwerer als nötig.«
»Wahrscheinlich, Sakura«, gab ich ihr recht.
Eine junge Frau setzte uns zur Umiboozu über, vorbei an der bewaldeten Insel, wie ein schwarzes Loch im dunklen Wasser liegend. Die Milchstraße tauchte den weiten Fjord in ein fahles Licht. Eine kleine Rauchsäule stieg von der Vulkanhochfläche senkrecht in den Himmel. Es war völlig windstill. Der Bootskörper berührte kaum den Stahl der Umiboozu, rutschte daran entlang. Sato sprang hinüber, fixierte uns mit dem Seil. Russo kletterte aufs Vordeck, dann ich. Die junge Frau winkte kurz und verschwand fast geräuschlos in der Nacht.
»Meine Leute sind schon seit gestern Abend an Bord«, teilte Russo mir mit.
»Danke, Benedetta.« Ich sah aufs Pad. Kurz vor vier Uhr. »Wir laufen bis zum äußeren Perimeter, danach setzen wir Kommkabel und besprechen unser Vorgehen. Bis dahin ist Freizeit, Sport oder ausruhen.«
»Gehen wir unter Deck«, schlug Sato vor. Wir gingen voraus, sie folgte uns, verschloss die Luke und rutsche die Sprossenwand hinab in den zentralen Gang. »Ich gehe auf die Brücke. Wir fahren in Linie auf Sicht bis in den Moraleda-Kanal, hinter uns Mardea, gefolgt von Le Duc Tho. Im Kanal tauchen wir ab«, sie blickte auf die Leuchtanzeige. »Also etwa in sechs Stunden.«
»Ich muss noch etwas schlafen«, entgegnete ich, wechselte in den Kabinengang. Wieder im Boot. Unterwegs. Wie oft hatte ich das in den letzten zwanzig Jahren erlebt. Vielleicht war es wirklich Zeit, dieses Leben zu ändern. In der Kabine kontrollierte ich die Ausrüstung. Kampfanzug, Batteriepacks, Waffen, Maske, Helm, setzte Nachtsicht auf, schaltete das Licht aus, Infrarot. Alles in Ordnung. Ich legte mich aufs Bett und dachte an Jelena. Ihr neues Leben auf Insel 64. Und an Kenzaburo, den frisch vermählten U-Boot-Kommandanten, der nun Vater war. Warum saß ich hier in dieser Kabine, auf dem Weg ins Ungewisse? Weil keine andere Möglichkeit existierte. Im Fjord zu bleiben, kam nur einem Zeitaufschub gleich, dem Warten auf Entdeckung. Freitag, 17. Mai 2148. Ich aktivierte die Weckroutine und legte mich ins Bett.


Umiboozu, Accra und Huê liefen parallel, verbunden mit den Kommunikationskabeln, abhörsicher, in einer Tiefe von 900 Metern nach Nordwest, Kurs 310 Grad. Den Booten Namen zu geben war eine gute Idee. Ich hörte die Menschen an Bord den Namen benutzen wie eine alte Freundin. Vielleicht wurde das Boot zu einem Verbündeten, der eine wirkliche Bedeutung bekam. McMahons Nachricht aktivierte sich mit dem Passieren des äußeren Perimeters. Hatte ich das richtig verstanden, würde sie sich auch nicht mehr aus den Systemen entfernen lassen. Bis wir das zweite Signal absetzten. Sato tippte auf meine Schulter.
»Wir können loslegen.«
»Danke, Sakura.«
Ich räusperte mich, trank einen großen Schluck Algentee, schaute in die Runde. Sato und Russo neben mir, Le Duc Tho auf dem linken, Konneh auf dem rechten Display. Vor uns das Hologramm mit der dreidimensionalen Abbildung Hawaiis.
»Mardea, Tho, ich freue mich, dass wir zusammen unterwegs sind und auf Euch zählen können. Vielen Dank dafür. McMahons Nachricht zeigt hoffentlich überall Wirkung.« Sato generierte im Hologramm Yoon Da-Hee und Khaled. »Wir werden den Menschen eine neue Energiequelle anbieten. Aber es gibt drei Bedingungen. Yoon Da-Hee und Khaled Hamza lebend an uns zu übergeben, das ist Nummer eins. Und sich wieder unter einem Gruppenrat zusammenfinden, der nicht trennt zwischen denjenigen, die auf dem Wasser bleiben wollen und den Menschen, die auf der Antarktis einen Neuanfang wagen möchten, wird unsere Nummer zwei. Es muss ihnen klar werden, dass nur ein gemeinsamer Staat das leisten kann. Um diesem Staat den Neuanfang zu vereinfachen, sind wir bereit, ihnen ein Boot zu überlassen, dessen Technik – vor allem der Reaktor – den Druck aus der Energieversorgung nimmt. McMahon hat uns die Unterlagen zum Bau unterirdischer Anlagen nach ihrem Prinzip zur Verfügung gestellt, ein weiterer wesentlicher Vorteil …«
Ich machte eine Pause, blickte alle an.
»Und die dritte Bedingung ist die dafür zur Verfügung gestellte Zeit. Mein Vorschlag sind sechs Monate. Innerhalb dessen sollte es möglich sein, die Gruppenräte in Oahu zusammenzurufen, um eine neue, funktionsfähige Verwaltung zu etablieren und vor allem eine kontrollierende Kraft zwischen Polizei und Regierenden zu installieren. Um das, was Jonna tat, sich selbst zu kontrollieren, zu vermeiden. Der Preis für das alles ist die Übergabe zweier Menschen. Was sagt ihr?«
Mardea kratzte sich hinter dem Ohr. »Wer gibt sein Boot ab?«
»Das werde ich sein«, erklärte Tho. »Ich bin mitgefahren, um bei meiner Familie zu bleiben. Teile meiner Mannschaft möchten das auch. Nur einige wollen mit euch zurück.«
Mardea nickte. Sie runzelte die Stirn. »Aber es macht keinen Sinn, das Boot gleich zu übergeben, sonst haben wir kein Druckmittel mehr.«
»Das wäre in der Tat fatal. Aber McMahon hat im Boot einen Kontrollmechanismus integriert, verteilt in den Systemen. Wenn unsere Bedingungen erfüllt sind, die sechs Monate erfolgreich genutzt wurden, dann werden wir diese Vorrichtung abschalten, andernfalls jagen wir es in die Luft. Mitsamt Fusionsreaktor. Eine vorherige Entnahme wird durch verteilte Sicherheitsprotokolle verhindert.«
»Sie müssen sich also Mühe geben …«, stellte sie fest.
Ich nickte. »Ja, das müssen sie. Den Frieden wollen.«
»Und was machen wir in dieser Zeit?«, warf Russo die Frage in den Raum.
»Nun«, ich zögerte kurz, denn dieser Gedanke war mir selbst noch suspekt. »Mir kam die Idee, die Handelsclans mehr einzubinden. Ich weiß! Es sind in besonderem Maße kriminelle, totalitäre und bis zum Äußersten brutale Gruppierungen, aber am Ende können sie nur überleben durch uns. Entweder sie machen mit, dazu muss man einen für alle Seiten erträglichen Weg finden, oder sie müssen weichen …«
»Weichen? Wohin?«, hakte Tho nach. Ich schwieg. »Verstehe … weichen …«, nickte er.
»Sie haben aber die Infizierten weitestgehend im Griff, und davon gibt es noch genug«, warf Sato ein. Ich lehnte mich zurück.
»Zwei Ursachen haben uns auf das Wasser getrieben. Die beiden Viren, gegen die wir kein Mittel gefunden haben, weil das Überleben auf den Inseln alle Ressourcen verschlang, und die Klimakatastrophe. Wie sich das Klima weiterhin entwickelt, müssen wir abwarten. Aus der Klimakatastrophe haben wir gelernt und unsere Emissionen fast auf Null reduziert. Bleibt noch die Beseitigung der Infizierten. Wir können erst wieder wirklich an Land, wenn sie weg sind.«
Stille. Alle sahen sich gegenseitig an. Russo hob die Hand. »Mit weg meinst du …«
»Tot und alles verbrannt, was mit den Viren und ihren was weiß ich wie vielen Mutationen zu tun hat. Restlos.«
»Das …«, setzte Tho an, schwieg dann aber.
Russo beugte sich vor. »Wie stellst du dir das vor?«
»Ich weiß es noch nicht, Benedetta. Aber wenn wir erst mal wieder eine Besiedelung beginnen, wird das Bevölkerungswachstum zunehmen. Unweigerlich werden wir auf Infizierte treffen. Bisher hat das Gleichgewicht zwischen Handelsclans und Inselgruppen funktioniert. Ich vermute, das ist nun vorbei. Also müssen geeignete Maßnahmen getroffen werden.«
»Und das ist die zweite Nachricht zusammengefasst?«, wollte Mardea wissen.
»Ja, das ist die zweite Nachricht. Wir werden die Übergabe von Yoon verlangen, die Kerguelen ansteuern, um Khaled zu holen, dann übergeben wir die Huê und alle nötigen Informationen.«
»Was haben wir sonst für Möglichkeiten, außer die Hände in den Schoss zu legen? Klingt alles plausibel und ohne Alternativen«, merkte Russo an.
»Da ist nur noch eins, was mir Sorgen bereitet«, wendete Sato ein.
Ich schaute sie an. »Was?«
»Haben wir die Garantie, dass Jonna Andersen tot ist?«


Dienstag, 21. Mai 2148, kurz nach acht Uhr abends. Satos Frage hatte mich seit fast fünf Tagen in der Gewalt. Der Gedanke, dass Jonna noch irgendwo lebte, war unerträglich. Seit einer Stunde saß mir Sato gegenüber. Tomaten und Gurken zu einem Salat vermengt auf dem Tisch, eine Menge Algenrollen, gefüllt mit Seetang und Waldpilzen auf zwei Tellern drapiert. Immer wieder aßen wir von allem, langsam, sahen uns an. Warum ich mich immer noch zu ihr hingezogen fühlte, war mir nicht klar. Sakura besaß die Aura der dunklen Tiefsee. »Du hast die Frage nach Jonnas Ableben verdrängt, stimmt’s?«
Ich nahm den Teller in die Hand und lehnte mich an die Rückwand des Betts, steckte eine Rolle in den Mund, kaute lustlos. »Du hast recht, Sakura. Es hilft alles nichts. Wir müssen nach Spitzbergen und Resolute Bay.«
»Vergiss es. Niemand besitzt eine Schutzausrüstung, um die Strahlung abzuhalten. Wir können Drohnen nehmen, aber sind wir mal ehrlich … die Explosion eines 475 Kilotonnen Sprengkopfes hinterlässt nichts. Wo und wie sollten wir Jonna suchen oder finden?«
»Wie es dort aussieht, wissen wir nicht.«
Sato blickte mich mitleidig an. »Jetzt blendest du die Realität aus. Die Bilder von Hiroshima und Nagasaki waren immer Teil des Geschichtsunterrichts in der Polizeiausbildung. Und diese beiden Sprengköpfe waren nichts im Gegensatz zu dem, was Jonna bauen ließ.«
»Sie kann in der Anlage überlebt haben …«, erwiderte ich.
»Möglich«, unterbrach sie mich, »aber genau so gut hätte sie sonst wo sein können. Auf irgendeiner Insel, in einem Boot unterwegs … dass niemand mehr etwas von ihr gehört hat, kann auch bedeuten, dass Jonna etwas plant …«
»… oder langsam dahinvegetiert«, spekulierte ich.
»Was wünschenswert wäre», stellte Sato klar und begann ihren Salat zu essen. Schon nach der ersten Gabel hellte sich ihr Gesicht auf. »Meine Güte, schmeckt das gut! Wenn die Wiederbesiedelung so aussieht, dann bin ich sofort dabei …« Ich schmunzelte. Ja, es war ein Wunder, was wir alles verloren hatten in den letzten 120 Jahren.
»Es gibt auf jeden Fall noch Boote wie dieses«, unterbrach Sato meinen Gedanken jäh. »Und wenn die Nachricht ihre Wirkung zeigt, die Menschen sich neu orientieren, dann wird Jonna, wenn sie noch lebt, zu einer gefährlichen Waffe. Ich wette, wir müssen dann nur dem Weg der Zerstörung folgen.«
»Lass uns aufhören, Sakura«, bat ich sie. »Das ganze Gerede um Jonna macht mir Angst und tut mir nicht gut. Ich stellte den Teller auf den Tisch, stand auf und zog mich aus. Borduniform, Top, Unterhose, ging wieder ins Bett. Sato hörte auf zu kauen und starrte mich an. Ich winkelte die Beine an, legte den Kopf auf die Knie und starrte auf meine Füße. Sato stand auf, räumte das Geschirr zusammen, stellte es auf ein Tablett und verließ die Kabine schweigend. Das Licht war viel zu grell, stellte ich fest und schaltete es aus.


Mittwoch, 22. Mai 2148, kurz vor sechs Uhr morgens. Mit geschlossenen Augen saß ich am Kartentisch und lauschte Satos Befehlen. Ruhig, erfahren und konzentriert brachte sie uns nach oben. Außer einem ‚Guten Morgen‘ mit dazugehörigem Nicken sprachen wir nicht. Die Umiboozu lag dreißig Kilometer nördlich von Kahului, dem Ausrüstungshafen auf Maui in Periskoptiefe. Das Signal hatten wir Punkt Mitternacht gesendet. Planmäßig beendete sie die erste Nachricht und unterbreitete unser Angebot inklusive der drei Bedingungen. Gegen fünf Uhr kam die Antwort aus Oahu. Kalea Kereteki stimmte im Auftrag des restlichen Gruppenrates der Auslieferung von Yoon Da-Hee zu. Ein Versorger würde Yoon zu unserer Position bringen. Mardea und Tho positionierten sich vor Kahului, um Auslaufen und Fahrt zu überwachen, ohne dass es eventuelle Begleitfahrzeuge mitbekämen. So warteten wir.
»Periskop nach oben. Radar nach oben. Setzt eine Drohne ab«, ordnete Sato an. »Was macht das Wetter?«
»Knapp achtzehn Grad, Wind fünf Knoten aus Ost. Dreißig Prozent Bewölkung.«
»Urlaubswetter«, hörte ich sie sagen.
»Periskop und Radar oben. Drohne fliegt.«
»Sonar! Geräusche?«
»Überwassergeräusche. Versorger, Doppelschraube aus 200 Grad, an die dreißig Knoten.«
»Er läuft aufgetaucht«, erklärte Sato. »Sie zeigen guten Willen, sonst hätten sie uns schon längst mit aktivem Sonar gesucht, Drohnen geschickt, Bojen abgesetzt.«
»Oder um uns in Sicherheit zu wiegen«, erwiderte ich.
»Sie haben keinen geräuschlosen Antrieb«, versicherte Sato.
»Sicher?«
»Sicher kann man nie sein. Mardea und Tho hätten aber etwas entdeckt. Ich vertraue ihnen.« Langsam öffnete ich die Augen und setzte mich aufrecht. Ein gelbes Signal näherte sich dem Zentrum der Karte, der Umiboozu. »Auftauchen«, sagte Sato. »Die Achterluke öffnen.«
»Was hast du vor?«
»Guten Willen zeigen, Chatrina. Wenn wir Erfolg haben wollen, dann müssen wir dem Vertrauen etwas entgegenbringen. Unser Vertrauen.«
Ich stand auf. »Na gut …«
»Nein! Ich nehme Lily vom Feuerleitstand mit …« Sie ging die wenigen Schritte, klopfte der jungen Frau auf die Schulter. »Nimm eine automatische Waffe mit, Lily.«
»Sakura …«
Ihr Blick ließ mich still werden. Kraftlos sank ich wieder auf den Sitz. Sato und Lily verschwanden. Yoon war auf dem Boot, hoffte ich doch. Was sollte ich mit ihr tun? Der See übergeben? Es hielt mich nicht auf dem Sitz, ging zum Periskop, drehte das Okular vor die Augen und sah hindurch, einmal um die Achse. Sato und Lily ließen das Boot zu Wasser, stiegen ein und verschwanden aus dem Sichtfeld. Ich folgte ihnen, suchte die Vergrößerung und zoomte heran. In der Ferne erkannte ich die typische Aufbaulinie eines Versorgers.
»Sonar? Können Sie die Entfernung zum Versorger bestimmen?«
»Um exakt zu sein, muss ich die Laufzeit mit einem Ping berechnen.«
Ich überlegte. »Das könnte man als Angriff werten. Aber ungefähr?«
»Zwei Kilometer plus minus zweihundert …«
Ich drehte den Zoom noch einmal höher. Fast meinte ich die Nummer des Versorgers erkennen zu können. Sato und Lily verlangsamten, die Bootspitze sank aufs Wasser herunter. Jemand winkte. Eindeutig Sakura. Die Turmschleuse des Versorgers öffnete sich, drei Menschen traten aufs Vordeck. Die Person in der Mitte war Yoon Da-Hee. Mein Puls beschleunigte.
»… da sind Geräusche …«
Es dauerte einen Moment, bis die Bemerkung durch mein Hirn sickerte. Geräusche? »Was für Geräusche?« Schnell drehte ich das Periskop, suchte, zoomte, aber nichts.
»Da ist nichts! Unterwassergeräusche?«
»Nein, Überwasser … also … nein, von oben …«
Eine Drohne oder ein Copter vielleicht … »Was ist auf dem Radar?! Schnell!«
»Nur der Versorger und die Silhouette der Inseln …«
Ich löste mich von der Manschette und starrte in den Sonarraum. »Sagen Sie mir auf der Stelle, woher die Geräusche kommen und was es ist!« Sie kroch fast in die Displays hinein, drückte zwei Finger auf die von oben nach unten wandernden Streifen.
»Ein Fauchen, nein, drei Geräusche! Aus südlicher Richtung!« Ich fixierte den Versorger durch das Periskop. Dort drüben geriet man in Unruhe. Sato und Lily drehten sich zu uns um, winkten, zuckten mit den Schultern. Nur leichte Dünung. Verzweifelt sprang ich zum Radardisplay.
»Da …«, sagte der junge Mann und deutete auf drei kleine Signale. Es wurde fast taghell im Boot, ein grelles Licht drang aus dem Okular, traf die Rückwand und blendete uns.
»Tauchen!« schrie ich. »Tauchen! Sofort!«
Geistesgegenwärtig schlug der Mann am Steuerstand auf den Alarmtauchen-Knopf.
»Strom ist weg! Die Luken sind noch offen!«
Wer hatte das gesagt? Ich wusste nicht, was tun. Jemand stieß mich um, stieg über meinen Kopf, drängte mich halb unter die Radarkonsole. Warum war es Nacht?
»Verschlusszustand manuell herstellen!«
Mühsam kämpfte ich mich auf die andere Seite, tastete nach der Reling zum Kartentisch, dann zum Periskop, zog mich empor, dem Licht im Okular folgend, sah hindurch und erstarrte. Sato, Lily, keiner mehr da. Keine Yoon Da-Hee, nur drei sich rasant ausbreitende Wasserwände und darüber enorme Kugeln aus Feuerwolken, gierig nach allem, was sich ihnen als Fraß bot. Der Versorger wurde wie ein Seetangblatt aus dem Wasser gehoben, kam auf uns zu, einem Geschoss gleich und traf. Etwas dröhnte und vom anderen Ende der Welt rollte ein Donnern heran, wie ich es noch nicht gehört hatte. Ich spürte die Ohnmacht kommen. Wir kenterten. Mit der Dunkelheit kam die Panik. In Zeitlupe und doch im Bruchteil einer Sekunde.


Etwas passierte. Stimmen. Ein lautes und langes Zischen. Mir war übel und ich erbrach mich. Wieder Nacht? Aber ein Licht, dort hinten … in meinem Kopf? Sakura! Wo war Sakura?
»Dreht sie auf die Seite.«
Ein zweites Erbrechen. Und ein Stechen im Kopf. Nicht schon wieder fünf Wochen in einem Bett. Ein drittes Mal kam es mir hoch.
»Hol ihr den Mist aus dem Hals …«
War da ein Finger in meinem Mund?
»Funkboje ist draußen …«
»Gib mir Wasser …«
Es wurde kühl auf meiner Stirn.
»Chatrina Takuno … verstehen Sie mich?«
Chatrina Takuno? Ja, das war ich … mein Name.
»Kenzaburo?«
»Nein, Pieter …«
Rötliches Licht drang durch meine Lider.
»Sehen Sie mich an! Öffnen Sie die Augen!«
»Ja … Moment …«, hörte ich mich antworten und tat, was dieser Pieter verlangte. Da war tatsächlich rotes Licht um uns.
»Wo sind wir?«
»In der Rettungskapsel. Konneh kommt. Sie dockt gleich über uns an. Dann bringen wir Sie durch die Taucherschleuse an Bord. Keine Angst …«
»Wo ist Sato?«
Niemand antwortete. Nicht dieser Pieter über mir, nicht die junge Frau neben ihr. Aus meinen Beinen rollte die Erkenntnis in den Unterleib. Wieder wurde mir schlecht, würgte …
»Heb sie auf die Seite«, sagte die junge Frau. Viel kam nicht raus.
»Meinst du, wir haben Strahlung abbekommen?«, hörte ich sie Pieter fragen.
Strahlung? Was für Strahlung?
»Sato ist tot«, flüsterte ich. »Sakura … und Lily … Yoon …«
»Ich glaube nicht … wir waren doch unter Wasser«, meinte Pieter, aber seiner Stimme nach zu urteilen, war er sich mehr als unsicher. Etwas traf uns. Es gongte laut. Ich schrie. »Nur Konneh, Chatrina, das ist nur Konneh. Sie dockt an.« Schon wieder zischte es. Hinter mir plätscherte Wasser.
»Verletzte?!«
»Vier«, antwortet eine dunkle Stimme.
»Tote?«
»Sechs.«
»Müssen wir drin lassen. Strahlung.«
Pieter entfaltete ein flexibles Tragenetz über mir, lächelte mich an, legte es um meinen Körper und aktivierte die Polymerflüssigkeit. Sie kroch unter mir durch, fand ihren Gegenpart und zog sich zusammen. »Stabilisiert … nehmt sie hoch!« Er klickte einen Karabiner in das Gerüst. Mein Kopf kam nach oben. Ich war steif wie ein Stahlträger, schwebte durch die Kapsel und verschwand im Ausstieg, durch einen Lichtring. Hände, ein Kran, der summte. Mardea stand im Schott.
»Alle ausziehen, Kleider durch den Notausstieg nach draußen. Ab in die Desinfektionsschleuse und Seifenlauge. Das Wasser muss sofort vom Boot!«, ordnete sie an. Ein Mann löste das Netz auf, schnitt mir die Kleider vom Leib und verfrachtete mich in die Desinfektion. Da lag ich, an die Wand gelehnt. Erst jetzt fiel mir auf, wie kalt es war. Urplötzlich musste ich würgen. Sakura und Lily zuckten mit den Schultern, drehten sich um … das Bild stand grell vor meinen Augen.
»Mardea …« Einen Mann mittleren Alters legte man neben mich. Er war aus dem vorderen Torpedoraum, wenn mich nicht alles täuschte. »Mardea!«, rief ich mit letzter Kraft. Sie lugte durchs Schott.
»Ja?«
»Das war Jonna … sie hat noch ein Boot. Sie wird sich …«, ich hustete, würgte eine weitere Ladung heraus. »Sie wird Khaled vertreiben, um dort die Werften zu übernehmen …« Sie kniff die Augen zusammen.
»Weil Spitzbergen, Resolute Bay und Oahu jetzt Asche sind?«
Ich nickte. »Wir müssen da hin, Mardea. Schnell …« Ich kippte seitlich weg, auf die Oberschenkel des Mannes. Mir war es egal.
»In fünf Minuten müssen wir los!«, hörte ich sie schreien. »Bringt die Leute raus und dann die Kapsel abstoßen!«
Ich wollte schlafen. Marcella fiel mir ein. Schlafen wie Marcella.


»Wir laufen siebzig Knoten. Schneller geht es auch mit diesen Booten nicht.«
»Wann werden wir die Kerguelen erreichen?«
»Morgen Abend.«
Endlich schaffte ich es, die Stimmen zuzuordnen. Konneh und Russo. Mardea und Benedetta. Etwas klebte meine Augen zu, ich hob den Arm oder versuchte es jedenfalls. Hallo, wollte ich sagen, aber nur ein Gemurmel war zu hören.
»Chatrina?«
»Mh …«
Ein mit warmem Wasser getränktes Vlies rieb über mein Gesicht, benetzte Lippen, wischte das klebrige Etwas aus meinen Augen. Wieder und wieder, dann meinen Hals hinab. Endlich öffneten sich meine Lider und grelles Licht traf mich. Ich blinzelte.
»Dreh die Helligkeit etwas runter«, hörte ich Mardea sagen. Es wurde dunkler, wesentlich angenehmer. Vorsichtig versuchte ich den Kopf zu drehen. Schmerzen im Nacken verhinderten das sofort. »Du hast Glück gehabt, Chatrina«, klärte sie mich auf. »Drei ordentliche Schnittwunden. Die hat Pieter sofort getackert. Wird hässliche Narben geben …«, sie grinste, »aber die fallen bei dir nicht auf.« Grinsen funktionierte nicht. »Prellungen, ein paar nette Stauchungen. Nichts wirklich Schlimmes. Das mit der Strahlung kann ich leider nicht beurteilen. Dazu müssten wir eine Insel anlaufen.«
»Durst«, brachte ich flüsternd heraus. Russo steckte einen Schlauch in meinen Mund. Ich zog vorsichtig. Elektrolyt. Dann entdeckte ich die Kochsalzlösung neben mir, die Infusionspumpe summte. Ich spuckte den Schlauch aus.
»Danke.« Russo nickte und wischte über mein Gesicht. »Wann sind wir am Ziel?«, wollte ich wissen.
»Morgen Abend.«
»Le Duc Tho?«
»Keine zweihundert Meter neben uns.«
Ich schloss die Augen, versuchte mich zu konzentrieren. »Wenn Jonna noch nicht da ist, muss sie mit dem Boot einlaufen … auftauchen …«, stotterte ich einen Satz zusammen. »Wenn sie da ist, ich mit Russo und Leuten an Land … Jonna töten.« Mardea und Russo sahen sich an. »Aufpassen … Jonna hat auch die Boote«, setzte ich nach.
»Dann solltest du jetzt schlafen, wenn du das durchziehen willst«, entgegnete Mardea. Ich nickte und schloss die Augen.


Körperlich fit konnte man meinen Zustand nicht nennen. Mardeas Sanitäter hatte mich mit allem an Aufbaustoffen vollgepumpt, das er noch vertreten wollte. Es war der 26. Mai 2148, sechs Uhr am frühen Morgen. Le Duc Tho sah uns vom Display zu, neben mir Mardea, gegenüber Russo.
»Wenn wir große Drohnen einsetzen, sind wir spätestens dreißig Kilometer vor der Küste auf dem Radar. Selbst wenn wir tief einfliegen, müssen wir irgendwann höher für den Überblick. Und für kleine Drohnen kommen wir nicht nahe genug heran«, erklärte Russo.
»Für den Angriff mit einem Marschflugkörper brauchen wir eine visuelle Bestätigung, sonst entwischt sie uns«, ergänzte Tho. Warum hatte ich so viel Durst? Ich trank die Elektrolyt-Flasche leer. Die anderen sahen mich seltsam an. Ich tippte mit dem Finger auf die Karte.
»Wir setzen eine kleine Drohne mit einer Magnet-Halterung auf die Große, fliegen tief ein. Vor der Küste lösen wir sie, landen die Große auf dem Wasser und fliegen mit der Kleinen über die Schären. Im Dunkeln bringen wir sie dann bis zur Werft II für die neuen Inseln, setzen sie auf dem Pylon des Portalkrans ab. Mit der zweiten Drohne machen wir es ebenso, fliegen über Baie des Swain, Île aux Rennes und Île Haute zur Kommunikationsanlage und landen auf einer der Kuppeln. Dann warten wir. Ist Jonna schon da, wird sie irgendwann den Weg von der Inselzentrale zum Hafen nehmen – oder umgekehrt. Etwa eine halbe Stunde mit der Transportraupe. Dann markieren wir sie.«
»Hm«, machte Russo und überlegte.
»Ein guter Plan«, stimmte Tho zu.
»Einverstanden«, bestätigte Mardea.
»Und wenn es nicht klappt?«, wendete Russo ein.
»Dann führen wir Plan B aus.«
»Was ist Plan B?«, fragten sie wie aus einem Mund.
»Das muss ich mir noch überlegen«, ließ ich sie im Unklaren. »Es wird klappen«, setzte ich nach. »Und jetzt essen wir was. Ich habe Hunger.«

In der hohen Dünung bereiteten Mardeas und Thos Leute die beiden Drohnen vor.
»Wir haben schon jetzt zwei Meter hohe Wellen«, betonte Mardea und nahm den Kopf nicht vom Periskop. »Von Süden nähert sich im großen Bogen eine Sturmfront. Wir werden sehen, ob sie uns genau erwischt …«
»Das kann nützlich sein bei unserem Vorhaben«, murmelte ich. Sie antwortete nicht, blickte stur durch das Okular, drehte sich in alle Richtungen.
»Radar?«
»Gruppe 86 auf dem Weg nach Süden, etwa achtzig Kilometer entfernt.«
»Auf dem Weg in die Antarktis …«, vermutete Mardea. »Sonar?«
»Abgesehen von Thos Boot nur getauchte Inseln, die mit niedriger Umdrehung nach Süden laufen.«
Ich atmete tief ein, stoppte aber sofort als der Schmerz in meiner Brust zu stark wurde. »Schmerzen?«, fragte Mardea, die Augen an der Manschette.
»Nein, nur keine Geduld mehr.«
»Wir sind fertig«, hörte ich im Ohrhörer die Stimme einer Frau.
»Nichts wie rein«, wies Mardea ihre Leute auf dem Vordeck an. Sie ließ das Periskop nach unten fahren. »Radarmast nach unten.« Das grüne Licht für die Mitteilung der rundum geschlossenen Luken leuchtete auf. »Wassertiefe?«
»250 Meter.«
»Radar unten.«
»Okay … dann ab mit der Drohne …« Die Accra ruckte kurz.
»Luke zu und auf einhundert Meter gehen. Telemetrie-Boje nach oben. Komm, Chatrina, wir gehen in die Drohnenkontrolle.«
Wir tauchten. Diese besondere Stille umfing uns wieder. Das leichte Schaukeln hörte auf, die Dünung verstummte. Ich folgte Mardea in die Operationszentrale. Zwei ihrer Leute saßen vor den Bildschirmen. »Tho! Kannst du mich hören?«
»Klar und deutlich, Chatrina.«
»Na dann mal los …« Ich setzte mich auf den erhöhten Sitz hinter Mardeas Leute. Die Drohne sendete scharfe Bilder, flog mit vierhundert Kilometern pro Stunde Richtung Küste.
»In elf Minuten sind wir drüben«, sagte einer der Männer. Ich musterte seine kleine Glatze auf dem Hinterkopf. Schwer zu erkennen, wie alt er war.
»Wann ist Sonnenaufgang?«, kam Mardeas Frage von hinten.
»Viertel nach acht.«
»Genug Zeit«, merkte sie an. »Sonar?«
»Getauchte Inseln, Boote auf sechzig Grad, langsame Schrauben, vermutlich einlaufende Boote in Port-aux-Français.«
Ich dachte an meinen Plan B. Ich hoffte, ihn nicht umsetzen zu müssen. Keine Zeit, mir von allen Absolution zu holen. Plan B bedeutete, alle vor vollendete Tatsachen zu stellen. Alle dazu zu verurteilen, mit meiner Entscheidung zu leben. Ob sie wollten oder nicht. Ab diesem Moment wäre ihr Leben ein anderes. War es das, was ich mit zwölf Jahren erlebt hatte? War es diese eine Entscheidung, die meine Mutter traf, um sich von mir lösen zu können? Von uns? Indem sie das Gegenteil von dem tat, was eine Mutter tun sollte? Verachtete sie mich so plötzlich, um Rettung zu sein? Sie pflanzte damit nicht die Gewalt in mich, das erledigten unsere männlichen Peiniger zur Genüge, nein, sie zerstörte meine Sicherung. Einzig die Tabletten waren in der Lage, diese Sicherung erfolgreich zu ersetzen. Und nun gab es diese Tabletten nicht mehr. Ich spürte, dass ich etwas war wie dieser Cerro Hudson, ein schlafender Vulkan.
»Chatrina?«
»Hm?«
»Alles okay?«
»Ja, Mardea, alles so weit okay.«
Sie legte die Hand auf meine Schulter, stellte sich neben mich. »Du bist nicht alleine«, flüsterte sie in mein Ohr. Feuchtigkeit trübte meinen Blick. Alles verschwamm. Ich senkte den Kopf.
»Wir sind gleich da …«, informierte uns der Mann vor mir.
»Wie ist ihr Name?«, fragte ich ihn.
»Pablo.«
»Pablo, wenn ich ‚Jetzt‘ sage, die kleine Drohne lösen, die große im Wasser landen und die Telemetrie auf die Kleine schalten.«
»Wird gemacht.«
»Tho? Wie ist die Lage?«, erkundigte sich Mardea.
»Kleine Drohne ist auf dem Weg. Gerade über der Île Altazin …«
»Jetzt, Pablo.« Er löste die Verbindung, wechselte die Telemetrie zur kleinen Drohne. »Nach Osten, die Küste entlang zur Île Gaby und dann nach Norden.«
»Mach ich.«
»Sonar? Irgendwas Außergewöhnliches?« Mardeas sonore Stimme war angenehm. Fast schon einschläfernd.
»Mardea?«
»Ja?«
»Abiola war eine hervorragende Polizistin und eine wahrlich gute Freundin.« Sie antwortete nicht. Drückte meine Schulter. Schweigend betrachteten wir ab jetzt die Bilder, die wild zerklüfteten Felsen, immer wieder kleine Seen, dann die Schären und die Bucht von Morbihan. In der Ferne die Werften, eine an der anderen. Rohbauten von Inseln ragten zwischen den Dockwänden empor, Scheinwerfer, lange Piers mit Versorgern.
»Etwas tiefer, Pablo.«
»Okay.«
Mardea zeigte auf eine der beiden größeren Docks. »Das ist sie. Lande die Drohne auf dem vorderen Pylon.«
»Moment …« Pablo beherrschte sein Handwerk. Er schwebte unmittelbar neben einem der Stützträger empor, überwand die Schienen und setzte sich auf den besagten Pylon.
»Sehr gute Arbeit, Pablo. Und jetzt eine Rundumsicht.«
Die Kamera drehte sich. Stahlherstellung, Schmelzöfen, die Anlegestellen der Boote …
»Da«, rief Mardea. »Das ist es!« Eines der großen Boote. »Siehst du die offenen Luken, Chatrina? Zwei Reihen Startzylinder. Zwölf Stück. Und sieh mal, der Revisionszugang auf dem Achterdeck ist offen …« Mardea beugte sich etwas zum Display. »Sie bauen die Antriebseinheit aus? Warum?«
»Wir sind in Position«, kam Thos Stimme aus dem Lautsprecher. Ihn hatte ich ja ganz vergessen.
»Wir auch«, erwiderte Mardea.
»Also heißt es warten?«, fragte er.
»Wir werden das große Boot mit drei Zielmarkern versehen«, teilte ihm Mardea mit. »Dann warten wir, ja.«
Mir wurde schlecht. Vielleicht vor Anspannung? Nervosität? Oder hatte mich wirklich Strahlung erwischt?
»Es gibt überraschend wenig Aktivität dort drüben«, hörte ich eine Stimme aus dem Kommunikationsraum. »Kaum Nachrichtenverkehr, Funkaktivität, Kommunikation mit Booten …«
»Möglicherweise sind Khaleds Leute nicht damit einverstanden, was geschehen ist. Die Zerstörung von Oahu und Maui haben sie auf jeden Fall mitbekommen …«
»Boote«, sagte Pablo und deutete auf drei auftauchende Schatten in der Bucht.
»Vom selben Typ wie dieses hier«, stellte Mardea fest. Sie liefen auf den großen Pier zu. Die Luken auf dem Vordeck öffneten sich, Menschen kletterten heraus, zogen sich Jacken über.
»Jedes der Boote mit zwei Zielmarkierungen versehen, Pablo.«
»Wird erledigt.«
Ich schloss die Augen und dachte an Sakura, wie sie sich uns zudrehte, mit den Schultern zuckte, wusste, dass wir sie beobachteten. Was ist da drüben los? Was machen wir jetzt? Das fragte sie sich in dieser Sekunde. Dann kam ihr Tod. Sie verschwand einfach von dieser Erde, wurde reines Licht.
»Ich habe einen Kontakt«, hörten wir Thos erregte Stimme. »Moment …« Mardeas Hand grub sich fest in meine Schulter. Ich zog vor Schmerz die Luft ein.
»Entschuldigung, Chatrina …« Sie lies los.
»Es ist Jonna Andersen. Große Frau. Lange, gewellte Haare. Khaled Hamza und zwei weitere Personen neben ihm, Mann und Frau. Links und rechts Bewaffnete. Je drei Stück. Reguläre Polizeiuniformen …«
»Tho, kannst du das Bild schicken?«
»Moment, Mardea …« Pablo aktivierte ein drittes Display. Nachtsicht. Über einen Steg ging eine Gruppe Menschen zu einem gut beleuchteten Vorplatz.
»Tho, kannst du Nachtsicht deaktivieren, wenn sie auf dem Platz sind und die Drohne so positionieren, dass wir eine Bestätigung bekommen?«
»Ja …«
Das Bild begann sich zu bewegen. In einem Bogen umkreiste es den Platz vor den Gebäuden. Zweihundert Meter Distanz zeigte das Display, zehnfache Vergrößerung. Eine Transportraupe kam in Sicht, die Gruppe blieb stehen. Das Gesicht drehte ins Bild.
»Jonna Andersen …«, murmelte ich. Sie stellte sich vor Khaled und die beiden anderen, sprach mit ihnen. Die Polizisten forderten sie auf, in die Raupe zu steigen, was sie taten. Jonna straffte sich und kletterte ebenfalls hinein. Die Türen schlossen sich. Mardea und ich sahen uns an.
»Tho, die Fahrt dauert eine knappe halbe Stunde. Du markierst mit der Drohne auf der Hälfte der Strecke einen Kreis von acht Einschlägen um das Ziel und danach die Raupe mit zwei weiteren Markierungen. Starte die Waffen so, dass die Raupe zentriert innerhalb der acht Explosionen gleichzeitig mit den beiden anderen Marschflugkörpern getroffen wird.«
»Verstanden, Chatrina. Nichts soll übrig bleiben.«
»Nicht mal ein Staubkorn«, erwiderte ich. »Gib durch, wie lange sie unterwegs sein werden.«
»Mach ich.«
»Hast du Khaleds Gesichtsausdruck gesehen?«, fragte Mardea.
»Nein, ich habe nur auf Jonna geachtet.«
»Ich denke, dies ist sowieso sein letzter Gang. Jede Wette, Jonna wird ihn erschießen und ins Hafenbecken werfen – oder etwas in der Art. Als Exempel«, spekulierte Mardea.
»Er hatte seine Chance«, erwiderte ich. »Mehrmals sogar.«
»Ja, du hast recht. Alle hatten ihre Chance, das Richtige zu tun.«
»Sieben Minuten, zehn Sekunden«, kam es von Tho.
»Auf dreißig Meter gehen«, sagte Mardea ins Mikrofon. »Pablo, wie lange fliegen unsere Marschflugkörper?« Der Boden schwankte leicht. Das Boot stieg nach oben. Ich wollte etwas tun. Nicht hier nutzlos herumstehen, auf Displays starren, die Uhr beobachten. Was würde dann geschehen? Nach Khaled und Jonna? Ohne Spitzbergen und Hawaii?
»Sechs Minuten und vierzig Sekunden.«
»Dann starten wir dreißig Sekunden nach Tho.«
»Wird gemacht«, bestätigte er.


Thos Marschflugkörper waren unterwegs. Unsere hatten gerade die Zylinder verlassen. Neun der Waffen flogen knapp über dem Boden auf ihre Ziele zu. Noch gab es keine Reaktion auf Jonnas Booten. Mehr und mehr Menschen kamen aus den Luken, gingen über die Stege an Land, in das zentrale Aufnahmegebäude des Hafens. Die Uhr zählte unbarmherzig rückwärts. Am Pier des großen U-Bootes standen Ausrüstungscontainer, ein mobiler Kran, Versorgungsleitungen lagen herum. Knapp zwei Minuten vor dem Einschlag tauchte im Schott des vorderen Bootes eine Frau auf, lief winkend über den Steg, verschwand im Gebäude. Es dauerte. Dann erschienen zwei Männer, zogen die Jacken über und es wurden mehr. Einige hatten noch Becher und Flaschen in der Hand. Zwei blieben stehen. Sie realisierten, dass keine Zeit mehr blieb. Ebenso wenig wie für die langsame Transportraupe auf ihrem leicht abschüssigen Weg von der Inselzentrale zum Hafen hinunter. Jemand musste ihnen doch mitgeteilt haben, dass da etwas auf sie zukam, dass die Zeit wie Wasser in einem Kocher verdampfte. Die Sekunden rückwärts zählten. Dass man eintausend Kilometern pro Stunde nicht entgehen konnte …
»Pablo, lass die Drohne aufsteigen«, ordnete Mardea an. Er reagierte. Keine Sekunde zu spät. Neun Feuerbälle auf dem linken Display. Teile der Boote hoben sich aus dem Wasser, die rennenden Menschen wurden von der Glutwolke eingeholt. Das rechte Display … ich konnte Jonnas Gesicht nicht sehen. Sie hatte bestimmt das Pad in der Hand, schrie jemanden an oder rief dem Fahrer zu, sofort anzuhalten. Die beiden Marschflugkörper trafen die Raupe exakt und der Ring aus Feuer entstand um die zentralen Explosionen, vereinigte sich zu einer kleinen Sonne, schnell wieder dunkler werdend, bis der Wind sie auseinanderriss. Nichts als ein mehrere Meter tiefer Krater war übrig geblieben. Jonnas Boote waren verschwunden, nur ein Rumpf ragte wie abgerissen aus dem Wasser, große Teile der Kaimauer zerstört, das Gebäude stand in Flammen, Menschen rannten brennend aus Türen, sprangen durch Fenster. Pablo drehte den Kopf weg. Über allem stand die Drohne und filmte das Geschehen. Mardea schluckte hörbar. Ich atmete tief ein. Sollte es das endlich gewesen sein?
»Was machen wir jetzt, Chatrina?«, hörte ich Thos Stimme.
»Ja, was ist der Plan?«, setzte Mardea nach.
»Wir nehmen Kurs auf den Hafen. Sendet eine Nachricht in Dauerschleife. ‘Jonna Andersen, Yoon Da-Hee und Khaled Hamza sind tot. Spitzbergen und Oahu zerstört. Wenn die Menschen Frieden und eine dauerhafte Existenz wollen, können sie uns zuhören. Mardea Konneh, Le Duc Tho und Chatrina Takuno … nein, schreib Sutter«, verbesserte ich, »… sind in einer Stunde im Hafen und bieten Hilfe beim Wiederaufbau und der Wiederbesiedelung an. Ihr könnt es annehmen oder nicht. Das ist eure freie Entscheidung‘
Mardea nickte. »Warum ich?«
Ich umarmte sie für einen Moment. »Weil ich dir vertraue. Abiola wäre stolz auf dich. Und ich bin es auch. Le Duc Tho … wie ist es mit dir? Familie oder das hier?«
»Laufen wir getaucht in den Hafen?«, war seine Antwort. Ich schmunzelte.
»Aufgetaucht natürlich, wir bringen Vertrauen«, wiederholte ich Sakuras Worte, stand auf und verließ den Operationsraum. Mein Nacken schmerzte.

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