Mamas Welt
Ein paar Tage später holt mich Mama nach dem Mittagessen vom Kindergarten ab und wir laufen hinunter nach Dillweißenstein. Ich freue mich, denn das heißt, etwas mit ihr zu unternehmen. Was, ist mir völlig egal. Sie arbeitet den ganzen Tag in einer Schmuckfirma in Dillweißenstein und kommt erst am Nachmittag heim. Ab und zu jedoch nimmt sie sich einen halben Tag frei, wenn gerade nicht so viel zu tun ist. Meist nutzen wir die Zeit, um in die Stadt zu gehen. Wir wohnen auf dem Sonnenberg, am südlichen Stadtrand, oberhalb von Dillweißenstein. Ich empfinde einen Besuch in der Stadt als aufregend, und es kribbelt jedes Mal im Magen. Dort ist alles voller Menschen, ich atme tief die unzähligen Gerüche ein und lausche den absonderlichsten Geräuschen. Alles um mich herum fasziniert mich, und doch schleicht sich ebenso eine tiefe Angst in meinen Kopf. Die Furcht ist verbunden mit einem Bild, ein Bild mit mir zwischen den Häusern; nur ohne Mama, die ich in keiner Ecke dieses Bildes entdecken kann und auf ewig darin verschwunden ist. Ich fühle mich gespalten, so voller Neugier in meiner linken Hälfte, und so voller Angst in meiner rechten. Weil ich nicht weiß, was ich dagegen tun soll, nehme ich ihre Hand fester zwischen meine Finger und denke an ein kühles Softeis. Vielleicht spendiert sie sogar eine kleine Portion.
Vom Kindergarten an der Kirche ist es nicht weit zum Bahnübergang der Nagoldtalstrecke. Ab da geht es steil ins Nagoldtal hinab, über die Steinerne Brücke. Eine alte Bogenbrücke, auf der ich jedes Mal stehen bleibe, über die hohe Steinbrüstung sehe, um in den Fluss zu schauen. Meistens suchen Mama und ich gemeinsam nach Forellen, aber heute zieht sie mich weiter.
»Heinrich, komm! Wir dürfen den Bus nicht verpassen. Der nächste kommt erst wieder in einer halben Stunde.«
»Ja, Mama.«
»Erzähl mir, wie es heute im Kindergarten war.«
»Nicht schön.«
Trotzdem der Bus nicht auf uns warten wird, bleibt sie stehen und schaut mich an. Die Nagold rauscht unter uns vorbei und ich denke an die vielen Fische darin.
»Was ist passiert?«
»Die ärgern mich.«
»Wer ärgert dich?«
»Die anderen Kinder.«
»Aber doch nicht alle, oder?«
Ich schüttle den Kopf. »Komm«, sagt sie, »erzähl es mir im Bus.«
Wir haben gerade die Hirsauer Straße überquert, als der O-Bus der Linie 3 vor uns hält. Erschreckt stelle ich fest, dass er voll ist bis auf einen Platz. Mama löst die Fahrkarte und dirigiert mich zu der roten Sitzbank. Sie grüßt die alte Frau, die mit geschlossenen Augen auf der Bank sitzt und frage, ob neben ihr noch frei sei. Die Frau nickt nur. Mama setzt sich, hebt mich auf den Schoß und umarmt mich fest. Summend und klackend setzt sich der Bus in Bewegung. Ich sehe aus dem Fenster und spüre Mamas Mund ganz nah an meinem Ohr.
»Jetzt erzähl mal. Wer ärgert dich? Und warum ärgern sie dich?
»Ich darf nie mitspielen.«
»Bei was lassen dich die anderen Kinder nicht mitspielen?«
»Im Sand oder an der Schaukel oder den Bauklötzen. Aber ich will auch gar nicht mitspielen. Ich will alleine spielen und da lassen sie mich nicht in Ruhe.«
»Was sagt denn das Fräulein Gerber, wenn sie das sieht.«
»Ich darf dann bei ihr was basteln.«
»Schimpft sie denn nicht mit den anderen Kindern?«
»Sie sagt, dass sie mich mitspielen lassen sollen, aber die wollen nicht. Also will ich auch nicht.«
»Bist du wütend auf die anderen Kinder?«
»Mh.«
»Und was machst du, wenn du wütend bist?«
»Ich bin nicht lieb zu ihnen.«
»Nicht lieb, aha, und was tust du dann?«
»Ich hau sie.«
Mamas Mund setzt fast auf meinem Ohr auf und ihr Griff um mich wird ein wenig fester. »Ignoriere die anderen Kinder. Die, die böse zu dir sind. Lass sie einfach links liegen. Geh vorbei und tu so, als wären sie gar nicht da. Hörst du? Wenn sie dich auf die linke Backe hauen, halte ihnen die rechte hin. Weißt du, was ich meine?«
»Nein, Mama.«
»Ich hab dir doch schon mal von Jesus erzählt. Weißt du noch?« Ich sehe kurz auf, in das Gesicht der alten Frau neben uns. Sie schläft. »Jesus wurde von vielen verleugnet und geärgert und beschimpft. Aber er hat das einfach ignoriert. Sein Herz war viel zu stark, als dass so böse Worte und Lügen ihm etwas ausgemacht hätten. Er hat gesagt, dass man sich ruhig schlagen lassen kann, das sind nur körperliche Schmerzen. Seinen Glauben an den lieben Papa und seine Liebe zu uns Menschen konnte das nicht erschüttern. Und so musst du es machen. Sei stark und denk mal an das, was Jesus gemacht hat, wenn sie dich wieder ärgern. Versprichst du mir das?«
Ich verspreche es ihr. Aber wie ich das machen soll, ist mir nicht klar, denn diesem Jesus bin ich noch nicht begegnet, kenne ihn gar nicht. Nur aus Mamas und Omas Erzählungen. Und ob dieser liebe Gott so lieb ist, weiß ich ebenfalls nicht. Oma droht dauernd, er würde mich bestrafen, denn er sähe alles, auch mein heimliches Bohren in der Nase unter der Bettdecke. Es ist also egal, wer was erzählt oder wem ich etwas glaube; ich bin in jedem Fall auf mich gestellt.
Am Leopoldplatz steigen wir aus dem Bus. Vor der Kaufhalle entdeckte ich die Softeismaschine und blicke sehnsüchtig in diese Richtung. Natürlich warten wir genau vor dieser Maschine auf die Linie 11, die vom Arlinger kommt und zum Gaswerk fährt.
»Heute kann ich dir kein Eis kaufen, Heinrich. Wir müssen diesen Monat so viel sparen, wie nur möglich. Verstehst du das?«
Ich nicke und schaue dem Eismann zu, wie er seine Papiermütze zurechtsetzt und einem alten Mann ein rosafarbenes Erdbeereis in ein Hörnchen laufen lässt, die fünfzig Pfennig nimmt und meinen sehnsüchtigen Blick auffängt. Er zwinkert mir zu. Ich drehe mich weg. Ignorieren, hat Mama. Ignoriere die Dinge, die du nicht ändern kannst. Der Gelenkbus kommt, wir steigen ein, lösen die Fahrkarte und setzten uns nach ganz hinten.
»Gehen wir nicht in die Stadt?«
»Nein, wir fahren zu Tante Gerlinde. Sie hat Geburtstag. Ich hab gestern noch ein kleines Geschenk gekauft, das bringen wir heute hin und bleiben ein Weilchen. Vielleicht sind ihre Enkelchen da und du kannst ein bisschen mit ihnen spielen. Was meinst du?«
»Ja, Mama.« Ich sehe aus dem Fenster. Es ist heiß hinter der Scheibe und kaum ein Luftzug im Bus. Das hintere Gelenkteil schaukelt auf und ab und das kribbelt im Bauch so stark, dass ich grinsen muss. Die Häuser der Östlichen ziehen vorbei, bald entdecke ich den großen Gaskessel. Der Bus fuhr in die Wendeschleife und wir steigen aus.
Das Haus ist ein Backsteinbau aus dunkelroten Ziegeln, schmuddelig, heruntergekommen. Zwischen den Häusern hängen Wäscheleinen. Mülleimer und kaputte Fahrräder stehen wahllos im Zwischenhof. Mir gefällt es hier ganz und gar nicht. Eine eigenartige Stimmung klebte unsichtbar an den schmutzig-roten Mauern und senkt sich auf uns herab, drückt mich fast zu Boden und nimmt mir die Luft zum Atmen. Die Haustür ist kaputt und im Treppenhaus riecht es nach allem Erdenklichen. Tante Gerlinde wohnt im ersten Stock. Wir steigen die Waschzement-Stufen nach oben und ich darf die Messing-Klingel drehen. Es schrillt blechern hinter der Tür. Gerlinde öffnet schweigend und sieht uns überrascht an, macht aber keine Anstalten uns hereinzulassen, sondern bleibt wie angewurzelt stehen.
»Hilde?«
Mama nickt und ich spüre plötzlich meine volle Blase, schlinge die Beine umeinander und kneife das Becken zusammen.
»Hallo Gertrud, wir wollen dir zum Geburtstag gratulieren. Stimmt’s nicht, Heinrich?«
»Mama, ich muss mal ganz arg Pippi.«
Tante Gerlinde sieht mich an. »Na dann, kommt halt rein. Ich war gar nicht auf Besuch eingerichtet.« Sie tritt zögerlich beiseite und lässt uns an der offenen Tür stehen. Mama schiebt mich durch und zeigt mir die Toilette.
»Wasch dir die Hände danach«, sagt sie. Ich sehe mich um. Ein grünes Bad, schmal, mit einer noch schmaleren Wanne aus Zinkblech, daneben ein zylinderförmiger Kohleofen. Über der Toilette hängt der Wasserkasten und auf halber Höhe dazwischen ein Holzgriff mit einer Kette dran. Ich setze mich auf die schwarze Brille und verrichte mein Geschäft. Als ich die Hände wasche, fällt mir ein Rasierer rechts neben dem Wasserhahn auf. So einen, wie ihn mein Papa verwendet. Ich betrachte ihn genauer und setzte den Rasierkopf auf meine Wange. Es fühlt sich kalt an. Schnell lege ich ihn zurück und verlasse das Bad. Mutter und Tante Gerlinde sitzen in der Küche. Auf dem kleinen Holztisch liegt etwas Rundes, in grünes Geschenkpapier eingewickelt.
»Wie alt ist er denn jetzt, der kleine Heinrich?«, will Gerlinde wissen.
»Im Januar wird er vier.«
»So so, vier Jahre.«
Dann wieder Schweigen am Tisch. Mutter deutet mit ihrer Hand auf den freien Stuhl an der Stirnseite und ich setze mich drauf. Tante Gerlinde beugt sich vor.
»Bist du denn schon im Kindergarten?«
»Mh.«
»Und? Gefällt es dir dort?«
»Manchmal. Die sind oft böse zu mir.«
»Böse?« Sie sieht mich an mit kleinen, fast schwarzen Augen. Ihr Blick ist unheimlich und ich versuche auf ihre Falten zu schauen, nicht in diese furchteinflößenden dunklen Knöpfe. »Da gibt es noch mehr, die böse sind. Gar nicht so weit weg von dir.«
»Sag das nicht, Gerlinde!«
Ich verstehe nicht, was sie meint, aber an Mamas Tonfall ist zu erkennen, dass etwas an Gerlindes Satz nicht in Ordnung ist.
»Was denn, Hilde? Ich kann sagen, was ich will und was ich denke! Meine Schwester hätte nicht mehr heiraten sollen. Oder wenn, dann zumindest jemand anderen.« Als Bestätigung klopft sie mit den Fingerknöcheln der rechten Hand auf die Tischdecke. Ich versuche, in der Küche etwas zu entdecken, was mein Interesse zu wecken imstande ist, aber alles hier drin mündet in großer Trostlosigkeit. Belanglos. Alles ist Zweck. An der Tapete fehlen Ecken, Kanten sind aufgerollt, das Muster ist fleckig. Hier drin ist es kalt wie Gerlindes dunkle Knopfaugen.
»Ich habe gehofft, Brigitte hier anzutreffen und vielleicht Monika und Andreas. Heinrich hätte
sicher gerne mit ihnen gespielt. Wie geht es Brigitte denn?« Mama gibt nicht auf. Sie ist wie ich mir einen Engel vorstelle. Egal wie abstoßend die Umgebung ist, sie hat eine Mission zu erfüllen; nämlich den Menschen Worte, Fragen und Interesse anzubieten. Sie damit aus ihrer Kälte zu lösen, aus der Einsamkeit ans Licht zu holen. Aber die Menschen wollen offenbar nicht.
»Du weißt doch, dass wir nicht mehr miteinander reden. Seit Kurt tot ist, macht sie sich rar. Warum fragst du nach ihr?«
»Es hätte ja sein können, dass an deinem Geburtstag …«
»Nein. Hätte nicht.«
»Ach, Tante Gerlinde …«, seufzt Mama.
»Meine Tochter ist von sich aus weg. Und ich brauche niemanden.«
»Natürlich brauchst du jemand. Wir alle brauchen jemand. Jeder von uns braucht Menschen zum Reden, zum Kümmern. Ist es nicht so, Heinrich?« Sie sieht mich an.
»Ja, Mama.«
Tante Gerlinde fixierte mich, dann Mama. Für einen kurzen Moment geben ihre Falten ein wenig nach, verlässt die Starre ihr Gesicht, wird sie weich wie warmes Kerzenwachs. Mama setzt nach. »Ich könnte dich öfter besuchen. Jeden Mittwoch habe ich schon um drei Uhr Feierabend, und samstags wäre mir die Uhrzeit egal. Was meinst du?« Mamas Gesicht leuchtete Sie ist die Sonne hier drin. Aber auf Tante Gerlinde macht das nur kurz Eindruck. Ihr Gesicht verhärtet sich wieder.
»Ich habe leider nichts zu essen da für euch«, sagt sie knapp. »Und vielleicht ist es auch besser, ihr geht jetzt wieder«, fährt sie fort. So dunkel wie dieser Raum, ist nun auch ihre Stimme. Mamas Sonnenstrahlen erreichen sie nicht. Es bleibt kalt. Mich fröstelt.
»Gehen wir, Mama?«, frage ich in die Stille. Gerlinde fixiert mich.
»Der kleine Heinrich hat es verstanden. Es gibt nichts zu reden und nichts zu heilen.«
Bild von Caroline Dabrunz ©2021