Alles Gute
»Alles Gute«, flüstert Mama in mein Ohr. Bin ich noch im Traum? »Komm, Heinrich, aufstehen. Es geht wieder los.« Nein, kein Traum. Der erste Tag im neuen Schuljahr. Vierte Klasse. Nun einer der Großen. Und ich werde wirklich immer größer. Von Tag zu Tag, so kommt es mir vor. Oft klage ich über schmerzende Beine, aber Mama schickt mich in die warme Badewanne – und am Ende in den Sport. Seit den Sommerferien gehe ich zweimal die Woche ins Handballtraining und ebenfalls zweimal in Leichtathletik. Ziemlich viel, aber ich habe Spaß; und merke schnell, dass mehr in mir schlummert, als die Menschen um mich herum ahnen. Ich stehe auf.
»Lass dich ansehen«, sagt Mama, legt Kleider zurecht und ich ziehe den Schlafanzug aus, tippe auf ihre Schulter. Gelbe Socken in der Hand, dreht sie sich um und stemmt die Hände in die Hüften. »In einem halben Jahr hast du mich erreicht, wenn du so weiterwächst. Und die Füße werden auch immer größer. Die Socken haben schon wieder ein Loch …«, sie steckt den Zeigefinger durch. »Heinrich, Heinrich, wo ist nur der kleine Bub hin verschwunden?«
»Muss ich in die Schule?«, frage ich wider besseren Wissens. Sie legt den Kopf auf die Seite.
»Herr Bausch ist nicht mehr an der Schule. Du bekommst einen neuen Klassenlehrer. Ich bin mal gespannt. Du nicht auch?«
»Nein.«
Sie knufft mich. »Sei nicht so ein Griesgram. Zieh dich an und komm frühstücken.« Es führt kein Weg dran vorbei, also wasche ich mich und ziehe die Kleider über. Das Toastbrot duftet schon. Mama sitzt mir gegenüber und fischt mit einer Gabel die Toastbrote aus dem neuen Gerät, das Papa letzte Woche gekauft hat. »Da hat er Mist gekauft«, seufzt sie. »Die Feder ist viel zu schwach.«
»Ist Papa schon früh weg?« Mama nickt beiläufig, belegt die beiden Scheiben mit Käse und wickelt sie in Brotpapier.
»Nach Meschede. Ein großes Schulzentrum aufmessen.«
»Dann hat er doch viel Arbeit. Das ist gut, oder?« Sie sieht mich an und faltet die Kante der Tischdecke.
»Natürlich, Heinrich … ja, die Firma wächst so schnell …« Ich überhöre nicht den Ton hinter Mamas Worten. Eine Unsicherheit, die ich nicht fassen kann, aber in ihren suchenden Blicken entdecke, bis sie am Brotpapier hängenblieben. »Du musst gehen, Heinrich. Vergiss deine Schulbrote nicht.« Ich nicke und stehe auf, einen Knoten im Magen. Mamas Gespür für Unheil ist wie das Gespür der Schwalben fürs Wetter. Mein Knoten und ich machen uns auf den Weg ins neue Schuljahr.
»Guten Morgen, Kinder! Ich bin der Herr Malz.« Groß, breitschultrig, die Hosenbeine viel zu lang und Arme bis zu den Knien.
»Guten Morgen, Herr Malz«, kommt es wie aus einem Mund.
»Der säuft«, setzt Andi flüsternd nach. Ich meine, meinen Ohren nicht zu trauen und schlage ihm auf den Oberschenkel. Er blickte mich an und nickt Richtung Tafel. »Die Nase ist so rot wie sein Hemd«, fährt er fort. »Ist wie bei meinem Alten. Ich schwöre.« Klaus ist hängengeblieben und Andi sitzt nun neben mir. Einen Kopf kleiner, blass, schmales Gesicht und schütteres, blondes Haar. Jeder erstbeste Windstoß fegt ihn von den Füßen. Dafür verfügt er über ein loses Mundwerk, das ihn immer wieder in prekäre Situationen bringt.
»Heute werden wir uns kennenlernen«, sagt Herr Malz und schreibt seinen Namen an die Tafel. »Wisst ihr, was das Wort Malz noch für eine Bedeutung hat, außer mein Nachname zu sein?« Stille in der Klasse. Er lächelt.
»Keine Ahnung«, sagt jemand in der vorderen Reihe.
»Daraus macht man Bier. Ohne Malz kein Bier.«
»Siehste?«, flüstert Andi. »Ich wusste es.«
Mit Schwung umrundet Herr Malz den Tisch und setzt sich auf die Platte, verschränkt beide Arme. »Und jetzt werde ich euch kennenlernen!«
Herr Malz ist ein guter Lehrer. So viel ist sicher. Er schimpft nicht, sieht nie von oben herab auf uns Wichte, setzt sich bei Problemen immer in unsere Mitte und kann so gut erklären, dass es selbst die ganz Doofen fast auf Anhieb verstehen. Da bleibt nur ein Problem, mit dem wir nicht umzugehen wissen. Ab der vierten Stunde schläft er hin und wieder ein. Anfangs vermuteten wir, er sei nun tot – oder zumindest auf dem Weg dorthin. Aber lautes Schnarchen überzeugte alle vom Gegenteil. Der Übergang vom Wachsein in den Schlafzustand erfolgt sehr abrupt. Herr Malz schafft nur drei Stunden zu stehen, zu erklären, mit seinen langen Armen Gegenstände in die Luft zu zeichnen, dann muss er sich setzen, ist sichtlich erschöpft, fast abwesend. Und noch etwas bemerke ich an ihm …
Eines Tages gehen er und ich in den Kartenraum, ein entgegenkommendes Mädchen vor uns stolpert, fällt hin. Herr Malz hilft ihm wieder auf, ganz besorgt, fragt, ob alles in Ordnung sei, sortiert die Papiere auf dem Boden. Ich starre auf seinen hochgerutschten Pullover und entdecke eine Unmenge schlecht verheilter Wunden, lange Narben, Hautfetzen, dunkelrot, lila, bis hinunter ins Gesäß; in das mich seine weite Hose blicken lässt. Als das Mädchen alle Papiere beisammen hat und sich artig bedankt, bittet er es, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein und dreht sich zu mir um. Wir blicken uns in die Augen. Er weiß, was ich gesehen habe und ich, dass wir nun beide ein Geheimnis teilen. Schweigend setzen wir den Weg fort, suchen und finden die Reliefkarte von Europa, plappern Belangloses und gehen zurück.
Andi kennt unsere Wohnung wohl bald besser als sein Zuhause. Eines Tages fragte er nach dem Unterricht, ob er mich mal besuchen könnte, denn bei der einen oder anderen Aufgabe gäbe es Schwierigkeiten. Bestimmt, sagte ich erfreut. Ab diesem Tag erledigten wir meist alle Hausaufgaben zusammen. An unserem Esstisch.
»Warum kommt Andi immer zu dir? Du gehst nie zu ihm«, fragte Mama. »Gibt es dafür einen Grund?« Ich überlegte. Einen Grund hatte er mir nie genannt. Am Verstehen der Aufgaben lag es nicht, denn damit hatte er keine Schwierigkeiten, war also nur Vorwand. »Ich glaube, er ist nicht gern zuhause.« Sie stutzte und setzte sich neben mich, blätterte in meinem Erdkundeheft.
»Ist er alleine?«
Markus fiel mir ein, sein Bruder Robert. Aber ich wusste nicht, ob es bei Andi ebenso war. »Sein Vater trinkt, hat er erzählt.« Mama sah mich genau an. Dann nickte sie, abwesend, ihr Blick wanderte in die Ferne. »Er ist immer willkommen«, sagte sie dann, drückte meinen Arm und stand auf. Schon im Türrahmen zur Küche, drehte sie sich noch einmal. »Heinrich?«
»Ja, Mama?«
»Ich bin sehr stolz auf dich.« Ich schluckte und fixierte schnell den eurasischen Teil des Kontinents auf dem Papier. Ein Träne landete auf meiner Bildunterschrift. Ural stand dort, die blaue Tinte verlief. Einem Erdbeben gleich rüttelte mich das tiefe Gefühl, allein zu sein. Allein wie Dirk aus der dritten Klasse oder Andi, Markus und Robert. Allein wie vielleicht auch Herr Malz … und allein wie Mama. Mit dem Löschpapier trocknete ich den Ural und zog das Wort nach.
Der Herbst ist einfach so durch die Hintertür hereingekommen, kaum dass wir ihn auf ihn aufmerksam werden, umklammert er alles mit seiner nebligen Kälte. Schlotternd sitzt Andi neben mir auf einer der vielen Holzbänke des Schulhofs. »Ich geh rein. Mir ist arschkalt. Kommst du mit?« Ich schüttle den Kopf.
»Ich finde das schön. Geh du nur. Komm gleich nach.« Er reibt sich die Hände und stapft los. So wie er, machen es noch viele andere Schüler. Verbringen die Pause in der Aula. Von rechts sehe ich Herrn Malz kommen, direkt auf mich zu. Er pafft seine stinkenden, filterlosen Zigaretten. Eine nach der anderen. »Heinrich, darf ich mich setzen?«
Ich nicke und huste. Er sieht auf die Kippe und tritt sie unter der Bank aus. Von der Seite betrachtet, gleicht seine große rote, stark geäderte Nase ein wenig dem Nildelta. Durchsetzt mit tiefen Dellen, kraterähnlich. Und sogar auf den Wangen ziehen feine blaue Adern ihre Bahn, verzweigen, enden im fleischigen Nichts.
»Heinrich …«, ich lausche gespannt. »Du hast das gesehen, was ich auf dem Rücken habe und hast dich vielleicht gewundert … bist erschrocken darüber …« Sein Blick ist an die Wand des Schulgebäudes gerichtet. Dann schaut er mich an. Unvermittelt. Mit seinen wasserblauen Augen. »Ich weiß, dass ich dir das erzählen kann. Du bist schon ein Großer.« Wieder nicke ich. Was soll ich sonst tun? »Im Krieg war das«, fährt er fort. »Ich war bei der Artillerie. Du weißt, was das ist?«
»Ja, ich weiß.«
»Ein Treffer in unsere Munitionskisten. Die Splitter haben mir den Rücken zerrissen. Viele davon stecken heute noch drin. In den Rippen.« Er seufzt, atmet tief ein und zieht eine Filterlose aus einer Schachtel. Dann erinnerte er sich wohl an mein Husten und behält sie zwischen den Fingern. »Siehst du meine Nase?«
»Ja, Herr Malz.«
»Ich trinke. Und ich schlafe ein. Ich will das nicht, aber …« Er schweigt und die Pausenglocke schrillt. Ich bleibe sitzen, ebenso wie er. »Du darfst mir das nicht übel nehmen«, sagt er dann.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Tu ich nicht«, erwidere ich. »Und ich hab mich auch nicht erschrocken.« Er lächelt und zündet sich die Zigarette an. Dann klopfte er mir auf die Schulter.
»Zeit fürs Lernen«, sagt er und steht auf.
Ich überzeuge Andi, mit ins Handball- und Leichtathletiktraining zu gehen. Mein bestes Argument ist, dass er in dieser Zeit nicht zuhause wäre. Schon am nächsten Tag steht er neben mir auf dem Hallenboden. In diesen wenigen Monaten seit Beginn der vierten Klasse, spüre ich zum ersten Mal ein tiefes Band von Zuneigung, Abhängigkeit und so etwas wie Fürsorge für jemanden. Oder, um es mit Mamas Worten zu sagen: Andi ist wohl jetzt dein Freund. Die Angst, die sich immer wieder mir nichts, dir nichts von hinten an mich anschleicht, tritt langsam, aber sicher, in den Hintergrund. »Du hast einen Freund, Heinrich. Das freut mich für euch«, sagt Mama lächelnd. Was das bedeutet, ist mir nicht so ganz klar. Ich genieße diese Zeit wie ein warmes Bad an kalten Wintertagen. Egal ob in der Freizeit, dem Sport, in der Schule, wir kleben aneinander wie Kletten. Ich habe zwischendurch das Gefühl einen Bruder zu haben – und Mama möglicherweise einen zweiten Sohn. Kein einziges Mal nimmt Andi mich mit zu sich nach Hause. Er erzählt so gut wie nichts. Und ich frage nicht. Mama gibt mir morgens sogar fünfzig Pfennig für ihn mit, damit er sich ebenso Tüte Kakao kaufen kann. So auch an jenem Morgen, einige Tage nach den Winterferien.
»Gib mir das Geld, Heinrich. Ich renne schnell zum Kiosk«, drängelt er. Ich stopfe das Deutschbuch in den Ranzen. »Schnell! Ich muss pinkeln!« Seufzend hole ich die Fünfziger aus der Hosentasche. Er reißt sie mir aus der Hand und ist auch schon weg.
»Heinrich?« Ich sehe auf. Herr Malz schreibt gerade etwas ins Klassenbuch.
»Ja?!«
Er schaut her und grinst. »Komm mal bitte.« Die Klasse leert sich. Lärmend stürmen alle hinaus. Ich warte ab, bis Platz ist, dann gehe ich vor ans Lehrerpult. »Nimm dir einen Stuhl und setz dich neben mich«, fordert er mich auf, was ich gerne tue, denn Herr Malz ist zu meinem absoluten Lieblingslehrer geworden. Ich vertraue ihm voll und ganz. Und was er alles weiß …
»Heinrich, ich habe deinen Aufsatz über Köln gelesen. Und er hat mich sehr beeindruckt. Es gibt einen Wettbewerb für Grundschüler, der nennt sich: „Schreibe etwas über deine Heimatstadt“. Da habe ich dich angemeldet.« Er schweigt und blickt mich erwartungsvoll an. Wahrscheinlich mache ich große Augen, mit offenem Mund oder so etwas, denn er fängt an zu lachen.
»Wirklich?«
»Wirklich. Ich habe es gestern von Frau Schadt bekommen und an dich gedacht.«
»Danke, Herr Malz.« Ich werde rot. Er kratzt sich am Kopf und nickt, ohne etwas zu sagen, steckt seine Stifte ein und holt die Filterlosen aus der Ledertasche.
»Gerne, Heinrich. Und jetzt ab in die Pause.«
Ich stehe auf, stelle den Stuhl zurück und renne hinaus. Zu Andi. Das muss ich ihm unbedingt sagen. Ab durch den Haupteingang auf den Zwischenhof, die Treppe hoch zum Schulhof der Hauptschule, an dessen Beginn der Kiosk steht. Eine Unmenge Schüler davor. Andi ist nicht dabei. Wo könnte er sein? Nichts zu sehen von ihm. Und auch nicht von meinem Kakao. Niemand weiß etwas. Als ich um den Kiosk herumgehe, die beiden Fahrradhäuschen hinter mir lasse und auf dem Schulhof der Hauptschule stehe, entdecke ich Andi zwischen drei großen Jungs. Sie schubsen ihn wie einen Wasserball herum. Er stolpert immer wieder, wobei ihn der nächste auffängt und wieder von sich stößt. Sie lachen, ziehen über ihn her. Was kann ich tun? Gibt es hier keinen Lehrer?
»Heinrich!«
Er hat mich entdeckt und versucht zu entkommen. Ein Schlag in den Magen hält ihn davon ab. Andi knickt ein und liegt verkrümmt auf dem Boden. Neben einem der Jungen stehen die beiden Kakaotüten. Einer der Jungs tritt Andi in den Hintern, dann ziehen sie mit unseren Getränken ab. Ich spüre die Wut kommen, aus der Tiefe, die Explosion, und stürme schweigend los. Renne auf den Größten zu, dessen Faust in Andis Magengrube gelandet war, trete ihm von hinten in die Kniekehlen, worauf er sofort einknickt und fällt. Während er zu Boden geht, sitze ich in seinem Rücken, dann auf ihm, greife in die braunen Haare und schlage den Kopf wieder und wieder auf die Knochensteine. Eine Faust trifft mich an der Schläfe, aber da ist kein Schmerz, nur ein leichtes Wanken. Andi ist auf den Beinen und tritt einen der anderen ins Gemächt. Ich sehe Blut unter mir. Das Blut von Andis Peiniger. Es färbt die Steine rot. Dann plötzlich Andis Gesicht. Der Kopf ist immer noch in meiner Hand, landet weiter auf den Steinen.
»Heinrich! Hör auf! Heinrich!«
Starke Hände ziehen mich weg. Lehrer, mehrere. Ich schlage wild um mich. Jemand gießt einen
Eimer kaltes Wasser über mich. Der große Junge rührt sich nicht. Wie eine Eisenklammer drückt mich ein Arm fest an einen Körper, den ich nicht sehe. Eine Frau kommt und dreht den Jungen auf den Rücken, sagt mehrmals einen Namen, bis er reagiert. Ein anderer mit Verbandskoffer erreicht die Menge um uns, all die Mädchen und Jungs, mit Händen vor dem Mund, vor Entsetzen geweiteten Augen. Ich friere wie ein Schneider. Endlich entdecke ich Herrn Malz. Er nimmt mich diesem fremden Mann ab, auf seine langen und starken Arme, die mich halten. Dann weine ich und sehe durch die Tränen Andi hinter mir mit den Kakaotüten. Was habe ich getan? Was nur!?
Mama holte mich ab, nass wie ich bin, schweigt, während wir nach Hause gehen. Von einer Sekunde auf die andere ist alle Freude über meinen Aufsatz, Herrn Malz‘ Mitteilung, das empfundene Glück, in einem dunklen Loch verschwunden. Mein schlechtes Gewissen ziehe ich mit einer Kette hinter mir her. Es reißt an jeder meiner Körperfasern. Mama schweigt immer noch, als wir uns an den Esstisch setzen. An den Knien entdecke ich das Blut des anderen. Sie folgt meinem Blick. Dann steht sie auf und holt trockene Kleider.
»Hier, bitte zieh die an.«
Ich tue, was sie sagt. Sie legt die Hose ins Spülbecken, lässt Kaltwasser ein und streut Salz auf das Blut. Dann kommt sie mit schnellen Schritten aus der Küche, zieht mich vom Stuhl auf die Couch und setzt mich auf ihren Schoss, drückt mich fest an sich. So sitzen wir und sagen einfach nichts. Ihre Hand auf meinem Kopf, die ab und zu krault. Vielleicht hat sie ihre Stimme verloren, denke ich, vielleicht wird sie jetzt nie mehr mit mir sprechen. Aber sie weiß wohl einfach nicht, was sie sagen soll. Vor dem Fenster wandern die Schatten und werden länger, bis sie mich von sich wegdrückt und ansieht.
»Erzähl mir mal, was du fühlst, bei so einem Ausbruch.« Das ist nicht schwer.
»Wut.« Sie überlegt.
»Du bist sehr gut in Erdkunde. Wenn die Wut ein großer Fluss sein kann, welcher von diesen großen Flüssen war deine Wut heute?«
»Der Nil.«
»Ist das der längste Fluss?« Ich nicke.
»Wo ist denn deine Wut, wenn sie nicht aus dir herausbricht?«
»Im Marianengraben.« Sie sieht mich überrascht an.
»Was ist denn der Marianengraben?«
»Der tiefste Meeresgraben, den es gibt. Elf Kilometer unter der Wasseroberfläche. Dort ist es immer dunkel.« Mama atmet tief ein und aus.
»Hast du Angst, dass diese Wut aus dem Graben auftaucht?« Ich fange an zu weinen, will mich an sie schmiegen, aber sie wartet auf meine Antwort.
»Ja«, gebe ich zu. Ihre Arme umschließen mich fest.
»Wir müssen was gegen diese Wut tun«, erklärt sie. »Aber erst werde ich mit der Mama dieses Jungen telefonieren.« Mein Herz rutscht bis hinab in den Keller und mir wird elend schlecht.
Papa und Mama fahren am Abend dorthin. Gehirnerschütterung, hat ein Arzt im Krankenhaus gesagt. Platzwunde. Musste genäht werden. Ein Schüler der sechsten Klasse. Alle Eltern treffen sich tags darauf in der Schule, der Hergang wird aufgeschrieben. Andi hat ein sehr gutes Gedächtnis und berichtet intensiv von dem, was sich davor abspielte. Zeugen werden gesucht. Beide Seiten müssen sich entschuldigen, aber für mich bleibt ein Extrabonbon. Die Bekämpfung der Wut. Man einigt sich auf den Besuch bei einem Psychologen. Nach einer Woche gehe ich wieder in die Schule. Andi holt mich ab. Auf der Hälfte des Weges stoppt er kurz und hält mich fest. »Weißt du, was mein Papa gesagt hat, Heinrich?« Es ist das erste Mal, dass er von daheim erzählt, von einem Gespräch, ich bin überrascht, dass dort überhaupt geredet wird.
»Nein. Was hat er denn gesagt?«
»Bring den mal mit. Der hat Eier in der Hose.«
»Ich hab was?« Andi lacht und greift sich in den Schritt.
»Mensch, du weißt schon. Eier, die zwei Murmeln da unten in deinem Sack.« Ich werde rot. Er lacht immer noch und hüpft von einem Bein aufs andere. Dann bleibt er wieder stehen. »Heinrich?«
»Mh?«
»Du hast mir geholfen …«. Er nimmt mich in den Arm und drückt fest zu. Klar, immer, will ich sagen. Schweige aber. Stattdessen ziehe ich ihn weiter. So treffen wir in der Aula ein und ich spüre förmlich den Unterschied, fühle die Blicke, das Ausweichen der Anderen an engen Stellen, auf der Treppe, lausche dem Tuscheln. Was ist passiert? Andi schnieft, putzt sich die Nase. Niemand sagte etwas zu uns. In der Klasse machen sie Platz. Und diejenigen, die vorher gleichgültig waren, nur ein Hallo sprachen, lächeln scheu. Ich entdecke etwas in ihren Augen. Klaus fällt mir ein, der Sitzenbleiber. Plötzlich weiß ich, was es ist. Sie haben Angst. Sie fürchten mich. Vielleicht sogar uns beide. Aber das war es nicht, was ich wollte. Niemals. Und doch … macht es mich unangreifbarer. Da kribbelt etwas in meinem Magen. Ich setze mich, lege das Deutschbuch auf den Tisch, lächle Andi an und knuffe ihn auf den Oberarm. Er packt ein Bonbon aus und reicht es mir. Herr Malz kommt, die Ledertasche unterm Arm. »Guten Morgen, meine Lieben!«
»Guten Morgen, Herr Malz!«, antwortet der Chor.
Er trommelt mit zwei Fingern einen Takt auf sein breites Kinn. »Wisst ihr, wer heute Geburtstag hat?« Sein Kopf schiebt sich nach vorne. »Na? Keiner?« Niemand sagt etwas. Andi grinst mich an und hebt die Hand. »Du?«, flüstere ich. Er nickt leicht.
»Alles Gute, Andi.«
Bild von Heiko Tessmann ©2018