Eine kurze lange Reise | Kapitel 9

Konjunktion

Ich bin jeden Tag im Café. Meist von acht Uhr bis abends. Das lässt mich schnell ein Stammgast werden. Alle wissen, was ich gerne trinke, esse, wo ich sitze. Die Zeitung liegt griffbereit. Und von den Touristen abgesehen, ist es recht ruhig. Das Schäumen der Milch zieht mich nicht selten in einen Dämmerzustand, offene Augen und doch abwesend. Ab und an nicke ich sogar ein. Hauptsächlich jedoch skizziere ich in meinem Notizheft einen neuen Roman. Es fällt mir sehr schwer, ein Grundgerüst zu erstellen, denn es wird kein Krimi, es wird keine Polizeiarbeit geben, keinen Mord. Verbrechen sind irgendwie linear beim Schreiben. Was ich skizziere liegt außerhalb meiner Schreiberfahrung. Das macht mich nervös, wirft mich auf einen Anfangszustand zurück, von dem ich annahm, ihn längst überwunden zu haben. Ich muss in meine Figuren hinein, tief in sie eintauchen. Fühlen, was sie fühlen. Das verändert die Dialoge auf eine bestimmte Weise. Sie werden lebenspraktischer, sind näher auf dem Pflaster des Bürgersteigs. Auch deshalb sitze ich hier. Um zu hören, was und wie geredet wird. Und ich muss eine Mutter werden, die ihr Kind täglich verstößt. Dabei will ich wissen, ob sie es auch innerlich verstoßen hat, aus ihrem Herzen, ihrer Seele – oder ob sie so einsam ist, dass Nähe für sie zu viel Schmerz bedeutet; egal, ob sie damit ein anderes Leben zerstört. An manchen Tagen sitze ich hier und kämpfe mit den Tränen, vergesse sogar Maria, ihre wundervolle Nase, die Victoriablätteraugen.


Ich folge Dir. So steht es in der Mail aus dem Lektorat. Das ist also Friedrichs Titel. Ob er dem Buch gerecht wird oder das Buch dem Titel, ich bin zwiegespalten. Leider hat Friedrich sich schon seit dem Anbeginn unserer Zusammenarbeit ausbedungen, die Titel auszuwählen. Ich glaube, er redet seiner Marketingabteilung gehörig ins Konzept. Er ist niemand, der die Fäden aus der Hand gibt. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass es mehr ein Thriller ist, denn ein Krimi. Vor allem mit diesem Titel, der viel Fantasie vorwegnimmt. Aber am Ende ist es mir egal. Vertrag ist Vertrag. Ich habe meinen Vorschuss. Alles, was jetzt kommt, ist Marketing. Also besser griffig als unauffällig. Die Vorabexemplare sind fertig und ich wurde gebeten, demnächst im Satzbau ein Kapitel zu lesen. Ungern, habe ich geantwortet, aber als Autor oder Autorin ist man nicht immer Herr oder Frau übers eigene Leben. Das letzte Mal war ich im Satzbau vor zwei oder drei Jahren. Irgendjemand hatte aus einem der Handke-Werke gelesen. Dem wollte ich lauschen. Am Ende blieb mir nur festzustellen, dass ich in keinster Weise ein Handke-Fan werden würde. Schlimm am damaligen Abend war jedoch die anschließende Diskussion. Natürlich kam das Thema Handke und Serbien auf. Ist ein Künstler an eine allgemeingültige Ethik gebunden? In anarchischer Sponti-Manier besetzten ein Dutzend junge Frauen und Männer die Bühne, zündeten drei Handke-Bücher an, legten sie in Blecheimer und tanzten Ringelreihe um das ‚Kulturfeuer‘. Was wiederum von protestierenden Zuschauern als ‚Bücherverbrennung‘ und ‚Nazismus‘ deklariert wurde. Ein spannender Abend damals. In ein paar Tagen war ich also dran. Im Vorprogramm zwei Lyriker oder Lyrikerinnen, die aus ihrem Erstlingswerk lesen würden. Sieh es als Marketingmaßnahme, sagte Friedrich. Mir ist es recht. Ein letzter Blick. Alle Lichter aus in der Wohnung. Zeit für einen weiteren Tag im Café.


Der Satzbau ist ein ehemaliges Bistumsgebäude. Leerstand, Vorkaufsrecht der Stadt, renoviert und diversen Kulturvereinen zur Verfügung gestellt. Alle können den Lese- und Tagungssaal nutzen. Ganz im Trend ist der Putz von den Wänden geklopft und die roten Ziegelsteinwände sorgen mit entsprechender Beleuchtung für eine gemütliche, leicht apokalyptische Atmosphäre. Am Abend der Lesung komme ich zu spät und verpasse den Beginn. Als ich durch die Doppelschwingtür gehe, gleich links zur Buchtheke, sehe ich schon Friedrich, der den Blick nicht von seiner Armbanduhr bekommt. Uhrzeit kontrollieren, sich nach mir umdrehen, Uhrzeit kontrollieren. Ich würde das als eine Art Zwangsstörung diagnostizieren. Dann entdeckt er mich und fällt in sich zusammen. Ein Häufchen Elend an der Theke. Ich klopfe ihm die Schulter.
»Was ist, Friedrich? Bedenken wegen meiner Pünktlichkeit?«
»Immer«, sagt er. »Aber vor allem nach unserem Burgeressen. Eine innere Stimme flüstert mir andauernd, dass eine dauerhafte Psychotherapie angebracht wäre.«
»Schick deine Frau hin.« Ein händchenhaltendes Pärchen dreht sich gemeinsam um und blickt vorwurfsvoll. »Pst!« Wir nicken und ich deute mit dem Finger auf die Flasche Jack Daniels im oberen Regal. Die Frau hinterm Thekenholz greift hoch, streckt sich, bekommt die Flasche zu fassen und gießt ein. Nach einer Daumenbreite setzt sie ab. Mit dem Zeigefinger klopfe ich sachte ans Glas. Sie kippt nach bis ich nicke. »Zahlst du?«, flüstere ich an Friedrichs Ohr. Er nickt ohne sich umzudrehen. Vorab ein kleiner Schluck. Die Barhocker sind mit Kunstleder bezogen und beim Draufsetzen presst es leise zischend die Luft heraus. Das Pärchen dreht augenblicklich die Köpfe. Ich mache eine Verlegenheitsgeste. Manche Menschen sind aber auch zu empfindlich. Vor allem, wenn es um Kultur geht.

Jedenfalls steht nicht Thomas Mann auf der Bühne und was ich so vom frei vortragenden Lyriker höre, klingt nach aufgeblasenem Wetterballon. Aus diversen Stilelementen zusammengetragene Versatzstücke. Was er gerade zitiert, heißt Dalis Uhrzeitschmelze. Er hat gleich nach der Nennung des Titels auf den Wortwitz hingewiesen. Uhrzeit und Urzeit. Bei einigen im Publikum ist der Groschen noch nicht gefallen. Langsam und mit geschlossenem Mund nachschmatzend, genieße ich den Bourbon. Man kann keinen Vergleich ziehen zwischen einem guten Bourbon und einem edlen Scotch. Beide haben ihre Berechtigung. Heute Abend ist Bourbon-Abend. Neben dem Glas liegt ein Flyer. Johannes Rödermann, so heißt der Bursche auf den Brettern, zitiert aus seinem Werk Lyrik im Lebensbogen. Lyrik im Lebensbogen … ich trinke leer und bedeute der Frau, mir nachzufüllen. Dieses Mal einen Fingerbreit mehr. Ich muss warm werden für meinen Auftritt. Die Leute klatschen jetzt und Johannes verbeugt sich tief. Lange Haare hat er und die Haarspitzen schleifen über den Boden. Der Vorsitzende des Kulturvereins tritt hinter dem Vorhang hervor, bedankt sich klatschend, erzählt kurz, dass wir natürlich Herrn Rödermanns Buch jederzeit an der Buchtheke kaufen können. Abtritt. Ende Szene 1. Gut, dass ich schon sitze. Ein Haufen Menschen drängt sich zu uns, bestellt und Friedrich verschwindet. »Muss pinkeln«, raunt er mir zu. Jetzt noch mal dreißig Minuten für eine Nachwuchslyrikerin aus Gummersbach. Was die Menschen plappern, will ich nicht hören, stehe auf und gehe vor zur Bühne. Sie ist kniehoch und recht staubig an dieser Stelle. Ich setze mich. Hoffentlich hat Friedrich auch das Vorab-Exemplar dabei. Ansonsten zitiere ich aus Macbeth. Da werden mir noch einige Dialoge einfallen.

Der Chef vom Verein entdeckt mich, als sich die Stühle im Zuschauerraum wieder füllen. Er springt von der Bühne, setzt sich neben mich. »Konstantin, nicht wahr?«
»Ja.«
Er sieht an mir herunter. »Nix zum Lesen dabei?«
»Mein Verleger ist pinkeln. Ich hoffe, er lässt das Belegexemplar nicht auf der Toilette liegen.«
»Ich heiße Reiner mit ei. Komm mit nach hinten. Wir können hinterm Vorhang Platz nehmen.«
»Heinrich«, sage ich, stehe auf und folge ihm die kleine Treppe hoch, um den schweren Vorhang herum. Da steht neben einer zweiflügeligen Tür eine Couch an der Wand, zu beiden Seiten kleine Tische und je zwei Flaschen Jim Beam und Jack Daniels, dazu Afri Cola, Red Bull und Sinalco. »Hier gefällt es mir.«
»Nicht wahr?« Er grinst, hebt die Hand Richtung Couch. »Setz dich. Ich komme gleich. Muss noch die Dichterin holen.«
Die Couch, rot und mit schwerem, rauem Brokat bezogen, erinnert mich an eine Zappa-Platte. Ich nehme auf der linken Seite Platz, den Arm auf die breite, nach außen gebogene Lehne gelegt. Tief durchatmen. Nur ein Glas. Das fülle ich halbvoll mit Jack Daniels. Die Cola kann trinken, wer will. Bequem und gediegen, so muss Literatur sein. Manchmal. Ich hoffe, Friedrich findet mich und denkt nicht, ich wäre abgehauen. Reiners Stimme von links, Erklärungen. Nur dreißig Minuten, Zeit genau einhalten, lieber etwas weniger, wegen Beifall und so. Bücher liegen aus an der Buchtheke, zehn Prozent vom Erlös für die Zurverfügungstellung der Räumlichkeiten und so weiter. Auch die Kunst muss von etwas leben. Ich trinke die Hälfte der Hälfte und sehe über den Glasrand. Reiner grinst breit. Hinter ihm kommt … Maria!


Jack Daniels läuft meinen Hals hinab aufs Hemd. Reiner macht große Augen, schüttelt den Kopf. Maria starrt auf ihr Manuskript. Sie sieht nichts. Ich setze ab und stehe auf. Wo ist die Toilette? Ist das Maria? Nein! Doch, die Nase, ja, vielleicht … aber die Augen sind anders. Sie ist nicht so groß. Nein, nicht Maria! Aber irgendwie doch! Ich stehe auf, haste durch die Doppeltür, in einen Flur. Wo ist die verdammte Toilette?! Ein junger Kerl kommt von der anderen Seite, Friedrich im Schlepptau. Er sieht mein Hemd.
»Um Gottes willen! Dir ist nicht zu helfen!«
»Gib mir lieber dein Hemd«, erwidere ich.
»Mein Hemd? Aber …«
»Mach! Den Bauch ersetze ich durch einatmen.«
»Bauch?« Er kratzt ausgiebig die Stirn, sieht aber ein, dass ich mit diesem Hemd nicht vor Publikum lesen kann, zieht Jackett und Hemd aus, steht in Schiesser-Doppelripp vor mir und verdreht die Augen.
»Wusste gar nicht, dass es die noch gibt«, sage ich. Der junge Kerl lehnt an der Wand und dreht sich eine Zigarette. Friedrich reicht mir das Hemd. Ich ziehe meines aus, seines an. »Fühlt sich aber gut an«, stelle ich fest. »Edler Stoff.«
»Englische Fabrikation. Extra geschneidert.« Ich mache eine anerkennende Geste und er reißt mir meines aus der Hand. »Ich mach das jetzt sauber«, sagt er und verschwindet. Der Junge zündet sich die Selbstgedrehte an, greift in seinen rückwärtigen Hosenbund und fördert ein Buch zutage.
»Hier. Hat mir ihr Freund gegeben vorhin. Wollte er nicht mit auf Klo nehmen.«
»Das beruhigt mich irgendwie.«
»Möchten Sie noch etwas essen? Oder knabbern?«
»Geröstete Erdnüsse mit Paprika?«
»Kein Problem. Wir haben alles. Hol ich sofort.« Er verschwindet. Ich bin allein. Maria oder doch nicht Maria? Zurück zur Couch. Reiner verlässt gerade die Bühne. Ich setze mich und sehe sie seitlich von hinten. Das Mikrofon viel zu hoch. Sie streckt sich, hebt das Manuskript hoch, stellt den rechten Fuß mal hier hin, mal dort hin. Ihr Puls wird Purzelbäume schlagen.
»Hallo, guten Abend«, sagt sie. Die Stimme zieht mich in ihren Bann. Von der ersten Sekunde an. »Ich bin die Katharina aus Gummersbach. Wisst ihr ja, wo das ist. Danke, dass ich hier sein darf, wirklich, ich freue mich …« Sie nickt, hebt beide Schultern und räuspert sich. »Schreiben ist mein Leben. Ich wäre nicht mehr hier, würde ich nicht schreiben. Lasst mich euch davon erzählen.« Langsam tut sie einen Schritt zurück, schaut nach oben und tritt wieder ans Mikrofon. Ich schenke Jack Daniels ein. Eine große Schale Erdnüsse landet auf dem Tisch. »Danke«, flüstere ich. Geröstet mit Paprika. Nichts mehr kann schiefgehen.

»Neue Welt«, beginnt Katharina und dirigiert die kommenden Worte mit der linken Hand. »Keine Liebe / Kein Schmerz / Keine Erwartungen an irgendetwas / Steht nicht auf / kniet nieder vor Eurem Tod / Empfangt ihn / küsst ihn / er gibt Euch Freiheit / Hört nicht auf das Raunen hinter Euch / beachtet nicht das Blut vor Euch / Ihr sollt nicht empfinden / Ihr sollt nicht schreien / Nicht gebären Starke / mit ihren Schwächen / Nicht gebären Schwache / mit ihren Stärken / Sperrt sie ein / Gebt ihnen / keinen Tod.«
Sie schweigt, bewegt sich nicht. Schaut geradeaus. Absolute Stille im Saal. Dann blättert sie eine Seite weiter im Manuskript.
»Gegebenheiten«, fährt sie fort. »Ich sitze zwischen Tränen und Träumen / beobachte blaue Sonnen / zwischen großen Seifenblasen / Auf Ebenen mit gläsernen Pyramiden / Darin Menschen / lachen und trinken / weinen und töten / Abend und Morgen / gibt es nicht / Gewohnheiten abgeschafft / Ende der Vorstellung / Menschen fallen / in blaue Sonnen / werden Seifenblasen / zertrümmern.«

Ich trinke nicht, knabbere nicht. Ich atme nicht. Stattdessen schmettert eine Ramme Katharinas Worte in mein Hirn. Jeder Schlag eine Erschütterung. Was sie sagt, was sie geschrieben hat, ist außerhalb meines Denkens. Außerhalb meiner Erfahrung und doch ist es mitten ins Herz. Als wären ihre Worte und meine Leere aus ein und derselben Quelle, dem selben dunklen Abgrund. Niemand kann klatschen. Ganz klar. Alle sind gebannt und hören, wie Katharina das Leben von allen im Raum beschreibt.
»Vergehen«, sagt sie und hebt die Hand. »Und wieder / geht ein Stern nieder / ein Mond explodiert / Ich bin nicht extrem / Ich vergehe / Fuß vor Fuß / langsam / hole ich / die Sonnen / vom Himmel / Den Leerraum / fülle ich mit / Euch!«
Das Euch ruft sie laut und zeigt auf alle dort unten, dreht sich, zeigt auch auf mich. Woher weiß sie, dass ich hier sitze? Friedrich schleicht sich heran. Er setzt zum Sprechen an. Ich lege den Finger auf die Lippen und trete an sein Schienbein.
»Du weißt«, beginnt sie leise. »Du weißt / ich muss dich verlassen / Der Sommer erlaubt kein Glück / Er bringt nichts / nur sein eigenes Leben / Das der anderen erstickt darin / Wie unter einem kühlen Baum / dessen Schatten dich / zum Schwitzen bringt / Wie der Vogel / der dir ein / stummes Lied singt / Wie der Fluss / dessen heißes Wasser / die Fische kocht / Jetzt weißt Du.«
Katharina lässt die Wort leise auslaufen und beugt sich mit dem Punkt vor. Neben das Mikrofon. Zu den Menschen. Bestimmt blickt sie allen einzeln in die Augen. Das ist fantastisch. Ich schwitze an den Händen, stelle ich fest. Nur wenige Worte waren bisher in der Lage, mich so zu erregen. Aitmatow hat das geschafft, Steinbeck hat das geschafft. Und jetzt Katharina. Friedrich lauscht.
»Es ist still«, flüstert Katharina. »Du / aschfahl im Sarg / Weißes Hemd / all die Jahre / Hass Liebe Nichts Warten / Musste das sein / Verloren ohne es / gekannt zu haben / Ich ein Stück / von Dir aber / Du keines von mir / Nebeneinander / so war unser Leben / Miteinander / kannten wir nicht / Füreinander / war ein Traum / Ohne den anderen / ist es nun.«

Ich stehe auf, gehe die paar Schritte zum Vorhang. Niemand soll die Tränen sehen. Niemand soll mich atmen hören. Wie Irrlichter schießen ihre Worte durch mich hindurch, reißen Stücke aus meinem Leib. Es tut weh.
»Objektiv«, fährt sie fort. »In dieser Welt / ohne Himmelblau / zwischen Worten aus Eis / knöchernen Gedanken / sind Menschen / in Augenhöhlen / klettern hinein heraus / krabbeln entlang / kahler Flächen / hinter Rippen / kratzen Seelenreste / von trockenen Herzen / hautlos fleischlos / körnig und rau / Leblos / fallen sie und / weinen nicht.«
Zurück zum Tisch. Ein großer Schluck Jack Daniels. Friedrich reagiert nicht. Er hört einfach zu. Katharina liest und liest, lebt die Worte, atmet die Worte, sie strömen aus dem kleinen Mund. Endlich befreit, so könnte man meinen. Reiner kommt bald. Nach einem letzten Gedicht verbeugt sie sich. Es dauert. Dann brandet Beifall auf. Viel Beifall. Laute Rufe, von irgendjemand ein Danke! Sie verbeugt sich ein zweites Mal. Lächelt, stellt einen Fuß vor den anderen. Ist so schmal. So viel Dunkelheit in so wenig Mensch. Wie kann das sein? Mit dem Fuß stupse ich gegen Friedrichs Schuh. Er beugt sich zu mir.
»Wenn du diese Katharina nicht unter Vertrag nimmst, schreibe ich keine Bücher mehr für dich. Du wirst nichts mehr an mir verdienen.«
Er sieht mich an, durch mich hindurch. Es arbeitet in ihm. Ohne Widerrede nickt er und steht auf. Reiner bedankt sich beim Publikum, sagt, dass ein kleines Büchlein vorne neben der Theke läge und Katharina sich über ein zahlreiches Interesse freuen würde. Stühlerücken, Leute kommen auf die Bühne, umringen sie. Friedrich nickt entschlossen. Er hat angebissen. Das ist fast wie ein Hollywood-Schinken. Ich trockne die Tränen und nehme mein Buch in die Hand. Wie kann ich nur neben ihr bestehen? Zum ersten Mal in meinem Schriftstellerleben machen mir Worte Angst.

Ein Tisch ist aufgebaut, eine nach allen Seiten zu große, weiße Tischdecke. Wie ich es mag. Was ich nicht mag, ist, wenn mir das Publikum unterm Tisch durch auf den Schritt sehen kann; falls ich mich dort kratzen sollte. Was schon mal vorkommt. Es gibt eine Blumenvase mit Grünzeug drin, ein Mikrofon, das Vorab-Exemplar und mich. Ich erzähle, dass ursächlich ein ganz anderer Plot angedacht war, aber besondere Umstände haben zu einer Planänderung geführt. Dann lese ich das erste und zwei weitere Kapitel. Langsam, mit vielen Pausen. Wie ich es gewohnt bin, mir das Lesen schon vor Jahren zurechtgelegt habe. Betonung. Vor dem Ende eines Fragesatzes aufblicken, den Augenkontakt suchen, die Stimme heben. Vorlesen ist eine Kunst für sich. Gutes Vorlesen hält die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen hoch; wenn sie nicht gerade ADHS haben. Ich mag es, wenn Menschen lauschen, sich konzentrieren, manche mit geschlossenen Augen. Dann stelle ich mir vor, etwas passiert in ihnen, sie vergleichen meine Worte mit ihrer Fantasie, ihrem Erlebten. Oder es ist einfach nur spannend und alle können kaum erwarten, wie es weitergeht. Während ich lese, trinke ich nur Pfefferminztee. Keinen Alkohol. Einen Aussetzer möchte ich mir nicht leisten. Nach fast einer Stunde bin ich fertig, klappe langsam das Buch zu, lege es weg und trinke den inzwischen kalten Tee leer.

Es müssen etwa fünfzig Zuhörende sein. Sie klatschen gar nicht mal so wenig. »Bravo«, ruft Friedrich und steht auf. Er kann sehr peinlich sein. Niemand kennt ihn, so dass er sich ein gewisses Maß an Peinlichkeit erlauben kann. Fragen kommen. Wann das Buch erscheint, wie lange ich daran geschrieben habe, woher genau die Idee … so gut es geht, antworte ich auf alles. Dann kommt Reiner, bedankt sich im Namen aller für den tollen Abend, für die Literatur. Es sei wieder mal bewiesen worden, wie sehr wir Menschen Bücher brauchen. Da muss ich ihm nickend recht geben. Anschließend gehen wir zum Jack Daniels über. Ich zumindest. Friedrich jedenfalls ist zufrieden. Ich habe gut gelesen, meine Marketing-Pflichten erfüllt. Und an der Theke geht es locker zu. Manche trauen sich, stellen sich zu uns, fragen, was ihnen auf der Seele liegt. Zwei haben sogar ältere Romane dabei, die ich signieren soll, was ich gerne tue. Hinter dem Vorhang sehe ich Friedrich neben Katharina stehen. Sie schlägt die flache Hand vor den Mund, sackt ein paar Zentimeter in sich zusammen und springt meinem Verleger aus dem Stand um den Hals. Friedrich weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Ich proste beiden ungesehen zu, trinke leer und ordere die nächste Füllung.


Per Mail bekomme ich das Manuskript, das Katharina Friedrich zugesandt hat. Schau mal drüber, bitte, schreibt er. Ich will einhundert dieser Prosa in einen kleinen Lyrikband übernehmen. Vielleicht habe ich noch eine Illustratorin, die ein paar Zeichnungen liefert. Meine Idee ist, so eine Art Edition herauszubringen. Ich drucke das Manuskript aus. Doppelseitig, stecke es in meine lederne Umhängetasche und mache mich auf den Weg Richtung Café. Es ist kalt, aber immerhin scheint die Sonne. Das Handy vibriert, gerade als ich den Kölsche Jung betrete, um Getränke zu bestellen. Es ist Friedrich. »Mail bekommen?«
»Sicher.«
»Und?«
»Du hattest die Hoffnung, in den letzten sechzig Minuten habe ich 248 Seiten gelesen und bewertet?« Kurzes Schweigen.
»Nicht wirklich. Das meinte ich auch nicht.«
»Was dann?«
»Wo bist du?«
»Einkaufen. Dann im Café am Chlodwigplatz. Zeitung lesen, Croissants essen und Milchkaffee trinken.«
»Das Café am Eck?«
»Ja.«
»Ich komme«, sagt er und legt auf. Ein paar Sekunden starre ich auf den hellen Schirm, dann sehe ich Peters geschäftiges Stirnrunzeln.
»Southern Comfort ist ausgegangen. Hab ich zwar nachbestellt, aber er kommt nicht bei. Soll ich was anderes einpacken?«
»Was ist mit Glengoyne?«
»Oha«, sagt er und tippt etwas in die Tastatur, dann nickt er zufrieden. »Kann ich 21 Jahre und 30 Jahre besorgen. Je eine Flasche.« Ich bin mir nicht sicher, richtig gehört zu haben.
»Hast du 30 Jahre gesagt?«
»Jap, aber ist nicht billig, das Schätzchen.«
»Ich nehme beide.« Peter grinst wie ein Honigkuchenpferd, klickt mit der Maus ein paar Mal.
»Ist bestellt. Kommt heute Nachmittag vom Großlager. Bringe ich dir gegen sechzehn Uhr vorbei, zusammen mit dem Rest deiner Bestellung.«
»Besten Dank, Peter.«
»Immer gerne.« Weiter geht es Richtung Chlodwigplatz und der Frage im Kopf, warum Friedrich unbedingt heute Morgen den Drang hat, mich zu sehen. Nur wegen des Manuskripts? Fürs Durcharbeiten werde ich ein paar Tage benötigen.

Es ist fast voll im Café und ich weiß nicht, warum. Mein Stammplatz ist besetzt, was mich ein wenig nervös macht. Die junge Kellnerin zeigt auf einen Platz am Fenster. Dort sind große Holzbänke anstatt einfacher Simse angebracht. Keine schlechte Idee, aber ich sitze ungern mit dem Rücken zu einem Fenster. Ich habe schon genug damit zu tun, zu beobachten, was vor mir passiert. Im Rücken habe ich keine Augen. Vielleicht ist wieder eine der vielen Messen in der Stadt und das hier ist Vertretervolk oder es gibt einen Studentenaufstand von dem ich nichts weiß. Gut möglich. Sogar der Stadtanzeiger ist unauffindbar. Aber egal. Croissants kommen, zusammen mit einem Milchkaffee. Das geschieht ganz automatisch, hat sich eingebürgert. Ich fühle mich trotz der vielen Menschen wohl, was mich wundert. Aus der Tasche ziehe ich das Manuskript und fange an zu lesen. Jedes der Worte zieht mich tiefer in eine stiller werdende Welt. Eine stimmenlose Welt. Alles verschwindet. Düfte und Geräusche. Nur ich und die Worte existieren. Eher umgekehrt. Die Worte sind die Welt und dulden mich. Ein Paralleluniversum. Ich begegne weder Maria noch Mary noch Meryem sondern steige ein paar Stufen tiefer hinab. In mich; und sehe Mutter.

Sie schläft auf der Couch. Der Fernseher läuft. Eine penetrante Stimme verkauft Pfannen, verspricht noch Zusatzartikel, wenn jemand bis neun Uhr anruft. Flaschen auf dem Wohnzimmertisch. Stehen oder liegen auf einer kaum sichtbaren Holzoberfläche, von der ich weiß, dass sie zerschlissen und alt ist, die ich aber so gut wie nie sehe vor lauter Müll. Ich werde mich hinausschleichen. Schule lasse ich ausfallen. Niemand da, den es interessiert. Andi werde ich am Kiosk treffen. Abhängen, flippern. Ein letzter Blick. Mutter hat ein Unterhemd an. Mehr nicht. So will ich sie nicht sehen, denke ich. So will ich meine Mutter nicht sehen. So möchte ich jemanden sehen, den ich liebe. Mutter liebe ich nicht. Aus der Bacardi-Flasche trinke ich den Rest und gehe.

Die Worte verschwimmen. Ich hätte sie in einer anderen Schrift formatieren sollen, größer. Times mit 12 Punkt ist nicht mehr wirklich aktuell. Katharinas Worte, kaum lesbar. Ich beuge mich vor, ein Schnürsenkel ist vielleicht offen. So vorgebeugt, wische ich die Tränen weg, ziehe die Nase hoch. Ich schaffe es kaum, aus meinem Keller emporzusteigen. Wie soll ich dieses Manuskript lesen und es überstehen?
»Was gefunden, da unten?«
Friedrich und hinter ihm … Katharina, die sich im Café umsieht. Es ist nicht Maria. Keine Ahnung, was ich im Satzbau gesehen habe. »Schnürsenkel war offen«, erkläre ich.
»Du hast moderne Gummitreter an. Ich sehe keine Schnürsenkel.«
»Setzt euch«, sage ich, statt auf die Schnürsenkel etwas zu erwidern. Hat eh keinen Zweck. Ich habe den Verdacht, rot zu werden und lehne mich an den kühlen Putz der Fenstereinfassung. Friedrich deutet mit der Hand auf den Stuhl links von mir, setzt sich selbst neben mich, atmet tief ein und schließt für einen Moment die Augen.
»Was trinken wir?«, fragt er dann entschlossen, klopft mit den Fingerkuppen auf den Tisch. »Soeben habe ich mit Frau Bellinghausen einen Vertrag abgeschlossen. Zwei Lyrikbände mit Illustrationen, wir werden Lesetouren machen, die Feuilletons mit frischem Wind durchpusten, den Staub hinwegfegen, nicht wahr, Frau Bellinghausen?«
Frau Bellinghausen hat rote Wangen, das steht fest. Ihre Finger spielen Mikado unter der Tischplatte. Die Muskeln der Unterarme bewegen sich ruckartig. Sie hat so eine Art Kurzärmel-Pullover an aus einer flauschigen Wolle. Ein dunkles Orange. Die Ärmel hören kurz vor den Ellenbogen auf. Ein seltsames Kleidungsstück, das ich so noch nie gesehen habe. Vielleicht ist ihr die Wolle ausgegangen. Die Nase hat durchaus Größe. Und auch die Augen sind bei weitem nicht so groß. Schön und blau. Ein eisiges Blau, wie verwässert, aber keine Victoriablätter. Katharina Bellinghausen ist scheu. Vorsichtig. Sie ist aus einem hügeligen Waldland in eine brutzelnde und tobende Welt getreten, hat Worte der Einsamkeit und Trauer mitgebracht und mit der unnachahmlichen, sanften Stimme die Menschen in ihren Bann gezogen. Inklusive mich.
Was ich sehe, ist, dass sie anders ist. Anders denkt, anders fühlt, anders urteilt und anders lebt. Natürlich weiß ich es nicht, aber ich gehe jede Wette ein, dass sie nicht aus einem Paralleluniversum kommt. Sie IST das Paralleluniversum. Selbstvergessen nicke ich vor mich hin. Friedrich stupst mich an. »Was ist los, Wackeldackel? Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Nein.« Er hebt das Kinn in einer schnellen Bewegung, schaut Katharina an und lächelt verschmitzt.
»Heinrich hatte unlängst eine unheimliche Begegnung der Dritten Art, wissen Sie? Seither mache ich mir Sorgen.« Sie weiß nicht, was sie antworten soll. Überrumpelt von all dem hier, von einem Vertrag, dessen Text nur Kauderwelsch ist, von dem, was auf sie zukommt, Buchmesse, Interviews, das Telefon wird andauernd klingeln. Und mit dieser Lyrik im Gepäck könnte sie alles niederreißen. Sie aber schaut mich nur an, dann Friedrich.
»Was meinen Sie mit Unheimliche Begegnung der Dritten Art? Etwa den Film?« Friedrich nickt, steht auf und streckt sich.
»Ich geh mal für kleine Jungs und bringe was zu trinken mit. Was wollt ihr? Außer Whiskey, den gibt es heute nicht.«
»Einen Apfelschorle«, sagt Katharina.
»Für mich einen Milchkaffee, einen großen, bitte.« Er hebt die Hand und verschwindet. Die Finger unterm Tisch sind ständig in Bewegung.
»Beeindruckende Lyrik«, sage ich, um irgendetwas zu sagen.
»Danke.«
»Seit wann schreiben Sie schon?«
»Mit zehn habe ich angefangen.« Sie nickt ein paar Mal zur Bestätigung, als müsste sie sich vergewissern, dass es auch so war. »Und Sie?«
»Sagen Sie bitte Heinrich.«
»Okay. Ich bin Katharina.«
Mit Zehn angefangen? Wie alt ist sie eigentlich? »Ich bin noch vierzig, habe mit dreizehn angefangen zu schreiben«, lege ich vor, um zu erfahren, wie alt sie ist. Eine Schätzung ist mir nicht möglich. Sie könnte fünfundzwanzig sein oder fünfundvierzig. Beim genaueren Hinsehen, entdecke ich eine Asymmetrie. Linke und rechte Gesichtshälfte stimmen sehr deutlich nicht überein. Augenwinkel, Nasenflügel, Wangen, nur Kleinigkeiten, aber in der Summe ist es … es ist wunderschön, fällt mir auf und ich räuspere mich lautstark.
»Man kann mich schwer schätzen«, beginnt sie, »aber ich bin schon zweiundvierzig.«
»Älter als ich. Dann wird’s Zeit für einen Vertrag mit Friedrich.« Sie lächelt kurz, wird ernst und legt die Hände auf den Tisch. Klavierfinger, lang und schlank. Sehnen wie Hügelketten, die sich zum Unterarm ziehen, bei jeder Bewegung ein kleines Beben auf der Haut auslösen. Sie schreibt noch mit Füller oder Kuli, vermute ich.
»Erzähl mir von der unheimlichen Begegnung.«
Was hat sie gesagt? Warum? Will ich das? Aber in ihren Augen ist eine tiefe Ehrlichkeit. Natürlich werde ich ihr alles erzählen, was sonst? Nichts anderes sollte ich jetzt tun. »Gerne, aber es wird seltsam, denn am Ende der Geschichte … also, wenn sie fertig ist, dann …«
»Dann?«
»Treffe ich auf eine zweiundvierzigjährige Lyrikerin, von der ich meine, sie schon mein ganzes Leben zu kennen.«
Katharinas rechter Zeigefinger hebt sich um einen Zentimeter. Sie beugt ihn, ohne ihren Blick von mir zu lassen. Dieser dauerhafte Glanz im verwässerten Blau, wie ein stetes Tränenmeer. Wo bleibt Friedrich? So lange kann man doch gar nicht pinkeln. Also erzähle ich.


Katharina schweigt und hört. Nichts an ihr ist in Bewegung. Sie schweigt noch eine halbe Ewigkeit, nachdem ich fertig bin. Die Kellnerin bringt endlich Apfelschorle und Milchkaffe, drückt mir einen Zettel in die Hand. »Ist schon bezahlt«, sagt sie. »Der Typ meinte, ich solle ausrichten, er müsse nach Hause, weil es seiner Frau nicht gut ginge.«
»Vielen Dank.« Es wird wieder still am Tisch. Ich fülle einen Teelöffel Zucker in den weißen Milchschaum, Katharina trinkt einen großen Schluck, setzt das Glas ab.
»Du hast einen Menschen getroffen, wieder und wieder, gleiches Aussehen und am Ende war dieser Mensch dir so vertraut, dass du beinahe geblieben wärst.«
»Das stimmt. Allerdings hat mir mein Bauch gesagt, dass der Pfad noch nicht zu Ende ist. Das klingt wohl alles nach Dachschaden, oder?«
»Nein, ganz und gar nicht. Auch ich habe einen solchen Menschen getroffen.« Ich stelle die grad angehobene Tasse wieder zurück und starre Katharina an. »Ein Mann von dem ich nicht weiß, wie er heißt. Schon als Kind ist er mir begegnet. Nie wirklich in meiner Nähe. Im Bus, einem Restaurant, auf einem Marktplatz. Immer dann, wenn eine Faust mein Herz zu zerquetschen drohte oder es mehr als ein Universum gab und ich nicht mehr wusste, aus welchem ich gekommen war.«
Was auch immer sie mit mir getan hat in diesem Moment. Ich breche in Tränen aus. Sie kommen einfach. Aus einer Tiefe, die nicht in mir sein kann. Noch nicht mal verbergen will ich sie. Einfach laufen lassen in die Freiheit und wer bin ich, sie aufhalten zu wollen. Katharina steht auf, setzt sich neben mich, nimmt meine Hand und drückt. Die Sehnen formen einen Bogen. »Und? Kommt er jetzt noch, der Mann?« Das Sprechen fällt mir schwer.
»Nein. Schon ein paar Monate nicht mehr. Ich glaube, ich bin angekommen.«
»Angekommen? Wo?«
»Hier«, sagt sie und drückt meine Hand. Es ist nur ein Schritt in ihr Universum und der Pfad, auf dem ich schreite, kommt an sein Ende.

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