Eine kurze lange Reise | Kapitel 8

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Schallenberg Touristik am Chlodwigplatz. Was kann schon passieren? Esse ich doch noch etwas? In so einem Subway war ich noch nie. Ein Sub des Tages, 15 Zentimeter Salat, Hähnchen, Käse. Sollte ich mal probieren, aber … nein, ich bekomme nichts runter. Stattdessen versuche ich gegenüber in der Scheibe etwas zu erkennen. Drei Modellflugzeuge, ein Kreuzfahrtschiff, Strand, Palmen, die schöne Welt. Geh rein und bedanke dich für den tollen Urlaub. Trotz der Terroranschläge, ja, natürlich können sie nichts dafür, liebe Maria, machen sie sich keine Gedanken. Ich werde das wiederholen. Das aufs Meer gebaute Hotel war perfekt, eine Perle in Südostasien, absolut freundliches Personal. Ja, ich möchte mich bei ihnen bedanken und sie vielleicht auf ein Mittagessen einladen. Natürlich nur, wenn es ihnen recht ist.
Ein kurzer Blick zum Severinstor. Wenn es doch nur die vielen Geschichten erzählen könnte, die an seinen Mauern haften. Aber es macht Mut, also gehe ich über den Platz, hinein in Schallenbergs Touristik-Geschäft. Vier Damen. Keine davon ist Maria. Natürlich, Mutterschutz. Kann ja gar nicht anders sein, ich Trottel. Ein älteres Paar bei einer der drei anderen Angestellten, Fragen nach den Hurtigruten, ob man auch bis ans Nordkap käme. Ich wähle direkt Marias Stellvertreterin. Sie lächelt mich an. Sabrina steht auf dem Namensschild.
»Hallo. Was kann ich für Sie tun?«
»Hallo, Sabrina.« Zügig setze ich mich, rutsche bis fast an die Tischkante und nicke. »Zuerst mal ein Dankeschön für das tolle Hotel in Kuala Lumpur.«
»Oh«, sagt sie gedehnt und zieht die Augenbrauen hoch. »Ja, das ist eine Katastrophe. Ganz furchtbar. So viele Menschen sind gestorben …«
»Nein, nein, das meine ich nicht, das war nicht ironisch gemeint.« Sabrina stutzt. »Ich war in Port Dickson in einem Hotel, das meinte ich. Ein tolles Hotel. Am Tag des Anschlags bin ich dann mit anderen Gästen nach Singapur gefahren und von dort zurückgeflogen.« Sabrina hebt den Kopf.
»Aha, ja, das freut uns, Sie wieder gesund hier zu sehen.« Ihre Mimik ist wirklich beeindruckend. Vier oder fünf Falten auf der Stirn, ein mächtiges Stirnrunzeln. »Und Sie haben hier gebucht? Geht es um eine Teilerstattung?«
»Nein, gar nicht«, winke ich ab. »Absolut nicht. Ich meine, das ist ja höhere Gewalt und insgesamt haben sich die Tage für mich doch gelohnt.«
»So?« Sabrinas Stirn hört mit dem Runzeln nicht auf.
»Ja, denn ohne ihre Kollegin, Maria heißt sie mit Vornamen, wäre ich nicht nach Kuala Lumpur gekommen, hätte nicht so eindrückliche Erlebnisse gehabt. Wie geht es ihr denn?«
»Wem?«
»Maria. Ihrer Kollegin. Ich nehme an, sie ist im Mutterschutz. Natürlich dürfen Sie nichts sagen, Datenschutz. Aber vielleicht können Sie ihr meine Glückwünsche ausrichten und ich würde gerne wieder eine Reise bei ihr buchen, wenn sie wieder arbeitet.« Sabrina starrt mich mit großen Augen an. Hübsche Augen, aber keinesfalls Marias braun-grüne Victoriablätter. Nach einem Moment geht ihr Blick zum Telefon, dann zu einer Kollegin rechts von uns. Die sieht mich an, als wäre ich Jack Torrance persönlich.
»Wie ist denn ihr Name, Herr …«
»Konstantin, Heinrich Konstantin. Hier, bitte.« Aus der Innentasche ziehe ich Tickets, Hotelbuchung, groß der Name des Reisebüros oben drauf. Sabrina nimmt es an sich, tippt einiges in die Tastatur, zeigt den Stapel ihrer Kollegin, die tippt ebenfalls. Weiter zur nächsten Kollegin. Die steht auf und verschwindet in einem Hinterzimmer. Gleich darauf kommt sie mit einem jungen Mann zurück, der sich neben Sabrina stellt, die Hand auf ihrer Schulter.
»Schallenberg ist mein Name. Guten Tag, Herr Konstantin.« Mit den Augen auf dem Monitor fährt er fort. »Sie haben bei uns gebucht. Das steht hier.« Er sieht mich an. »Aber mit Personalkennzeichen 401, das ist die Kollegin, die hier vor ihnen sitzt. Sabrina. Eine Maria haben wir nicht.« Sein fragender Blick geht in die Runde. Alle schütteln den Kopf. »Vielleicht verwechseln Sie unsere Mitarbeiterin mit einer anderen Person. Waren Sie in noch einem anderen Reisebüro? Etwa in Kuala Lumpur?«
»Nein, nur im Hotel in Port Dickson. Das Taxi nach Singapur habe ich über die Rezeption bestellt, den Rest meist online oder am Schalter der Fluglinie.«
»Und möchten Sie eine Teilerstattung?« Er sieht mich herausfordernd an.
»Nein, Sie können ja nix dafür, dass ein paar Irre die halbe Stadt in die Luft jagen. Ich wollte nur Maria danken.« Er zieht viel Luft durch die Nase. Lippen fest zusammengepresst. Zuckt mit den Schultern.
»Es tut mir wirklich leid, wir haben keine Maria. Alle hier arbeiten schon seit Jahren für uns. Und die 401 beweist, dass Sabrina ihre Reise organisiert hat.«
»Aber ich kenne den Herrn nicht«, gibt Sabrina zu bedenken.
»Und ich kenne Sabrina nicht«, stelle ich fest. Schallenberg verdreht die Augen, ballt die rechte Faust. Dann wird er wieder Geschäftsmann.
»Werter Herr Konstantin, angesichts des erlebten Dramas in Malaysia und ihrer verständlicherweise überstürzten Abreise von dort, biete ich ihnen ein Alternativziel zu sehr vergünstigten Konditionen. Falls Sie also noch Resturlaub haben, empfehle ich die Karibik, Dominikanische Republik, zwei Wochen zum Mitarbeiterpreis. Wäre das was?« Ich stehe auf. Hier komme ich nicht weiter. Warum auch immer.
»Lassen Sie es gut sein, Herr Schallenberg. Ich habe genug Geld. Deswegen bin ich nicht hier. Meine Unterlagen, bitte.« Er gibt mir die Reiseunterlagen.
»Tut mir sehr leid«, sagt er und es ist klar, dass es ihm nicht leid tut. Wer hat schon gerne Spinner in seinem Geschäft, während andere Kunden Geld loswerden wollen.
»Wiedersehen«, sage ich.

Wieder draußen. Chlodwigplatz. Severinstor. Fahrräder, Menschen mit Einkaufstaschen. Telefonierende, Suchende, Touristen sogar, drei Japaner fotografieren alles. Die Tram kommt, bei Merzenich liegen Brezeln aller Art in der Auslage. Mit Sesam, Mohn, Kürbiskernen, Käse. Alles ist wie immer. Alles normal. Und doch habe ich in den letzten Wochen mit Menschen geredet, die es entweder nicht gibt oder mehrfach existieren. Wäre es jetzt an der Zeit, einen Neurologen aufzusuchen? Nur noch ein paar Tage, dann ist Deadline für den Roman. Den Termin nicht einzuhalten, würde bedeuten, dass Friedrich mich einen Kopf kürzer macht. Ich denke da an den Kinderbuchautor, der nach einem Kassenschlager nachliefern wollte, immerzu Termine nannte, bis Friedrich die Geduld verlor. In den Autorenverträgen mit ihm stehen solch unschöne Dinge drin, dass man bei vereinbarter Folgelieferung von x Büchern, die man versiebt, einen Teil des schon erhaltenen Honorars zurückzahlen muss. Das motiviert. Denn wir Schreibende geben natürlich auch gerne Geld aus. Für so lästige Dinge wie Miete und Essen. Ein Schwall Brezelduft weht heran. Gerade frisch gebacken, nehme ich an und werde nicht widerstehen. Ich gehe hinein. Aus dem Ofen links entnimmt eine ältere Frau vier Bleche, kippt alles was darauf liegt in drei Bastkörbe. Sie schaut mich an.
»Zwei Käsebrezeln und zwei Sesambrezeln, bitte.«
Sie tütet die Bestellung mit der Zange ein. »Vorsicht, junger Mann. Is jewaltisch heiß. Dat macht sechs Euronen.« Bezahlen, bedanken, die Tüte nicht unten anfassen und wieder hinaus. Und jetzt? Was tun? Schreiben, Heinrich! Schreiben! Wie von selbst setzen sich die Füße in Bewegung. Ab in die Alteburger. Am Kiosk noch eine Flasche Southern Comfort mitnehmen, die der Besitzer auf meine Bitte besorgt. Einmal pro Woche erfolgt die Abholung. Zwar kostet mich die Flasche ein paar Euro mehr, aber er hat mich noch nie enttäuscht. Also in die Bonner Straße. Jeder Schritt ist Unruhe. Unentwegt sind meine Augen auf der Suche nach Maria. Hinter jeder Frau sehe ich die große Nase, die Victoriablätter. Aber nichts, nichts, nichts. Etwas greift nach mir, reißt an meiner Jacke und zieht ruckartig. Beinahe lasse ich die Tüte fallen, rudere mit dem linken Arm. »Sach ma!«, ruft jemand hinter mir. Ich sehe, was passiert ist. Es quietscht und ich starre einem Taxifahrer in die Augen. »Dat woor knapp!«, kommt die Stimme aus dem Off. Die Hand lässt meine Jacke los. Ich drehe mich. Ein Punk? Das gibt es noch? Lederjacke voller Aufkleber aus dem letzten Jahrhundert, rote Haare, aber schon deutliche Geheimratsecken. Ein in die Jahre gekommener Punk. Der Taxifahrer hupt und drückt aufs Pedal.
»Danke«, sage ich.
»Nit so vill an de Frauen denken. Dat is jefährlich.«
»Wem sagen Sie das.«
Er grinst und geht über die Straße. Ich hinter ihm her. Immerhin ist das hier ein Fußgängerüberweg. Hätte nicht ich hupen müssen statt des Taxifahrers? Autofahren ist mir ein Rätsel. Zu viel kann passieren.

Drei Minuten später öffne ich die Tür vom Kölsche Jung. Es riecht nach verschüttetem Bier, Peter macht zwei Lottoeinzahlungen fertig, sieht mich und grinst. »Aha! Der Urlauber. Wolltste nich vier Wochen weg sein? Der Vorrat wächst. Bin schon bei drei Flaschen. Ich muss Lagerkosten berechnen.«
»Okay. Sag mal, Peter, hast du schon mal den gleichen Menschen mehr als einmal getroffen, obwohl es nicht dieselbe Person war?«
»Wat?!«
»Schon gut. Vergiss es. Gib mir die Flaschen, drei Tüten geröstete Chili-Erdnüsse, zwei Pack Salzstangen, vier Tüten Chili-Chips.« Er nickt ohne den verwunderten Blick abzulegen. »Hast du 100 Plus?«, setze ich nach.
»100 Plus? Klar, hab ich das! Absolutes Muss-Getränk. Wie viel?«
»Zehn Dosen«, erwidere ich und hoffe, meine Überraschung gut zu verstecken. Wieso wusste ich bis vor Kuala Lumpur nichts von 100 Plus? Irgendein Kiosk in der Bonner Straße in Köln hat das Zeug und der Besitzer sagt, dass es ein absolutes Muss-Getränk ist. Als würde er es schon seit Jahren kennen und verkaufen.
»Zehn Dosen?! Bist aber auf den Geschmack gekommen, was?«
»Eher auf den Hund.« Er lacht, haut auf die Theke und packt alles ein. Zwei große Stofftaschen. Köln spart Wasser!, steht drauf. Das wüsste ich aber.

Wieder daheim. Es ist ruhig. Nichts zu hören. Alle Nachbarn leben still in den Tag hinein. Das ältere Ehepaar unten, der junge Professor oben. Die ersten beiden Gläser Southern haben die Kugel aus Schmerz und Sehnsucht nicht aufgelöst. Meine Güte! So heftiges Verliebtsein in etwas, dass offenbar nur in meiner Fantasie existiert … wie kann das sein? Aber das Brennen in meinem Bauch treibt mich an die Tastatur. Der Schriftsteller sitzt in Untersuchungshaft, alle Indizien sprechen gegen ihn. Einfaches Spiel für die Ermittler. Da sitzt der Autor und weiß nicht, was er sagen kann, antworten soll. Weinend auf den Stühlen der vernehmenden Polizisten, weinend auf der harten Bank der Zelle im Untersuchungsgericht. Er weiß nicht, was in und mit seinem Leben geschieht. Die Einsamkeit packt ihn an der Kehle. Meinen Protagonisten und auch mich. Speichern und aufstehen. Ans Fenster gehen. Nur Menschen. Die ewig gleichen, bilde ich mir ein. Wie könnte ich nach Maria suchen? Ich bin kein IT-Freak, kann keinen Suchalgorithmus aufs Netz loslassen, um nach den bekannten Parametern zu suchen. Noch ein Glas vom köstlichen Southern und dann ein 100 Plus. Energie für mein Leben. Ich grinse gegen den Vorhang.

Endlich der angekündigte Freitag. Morgens um halb acht. Ich kann ein Ausbund an Disziplin sein, wenn der Plot eine Eingebung ist und ich der beste Freund meiner Protagonisten. Darüber vergesse ich die Welt. Kein einziges Mal kam Kuala Lumpur in diesen Tagen vor. Kein Naher Osten. Keine Ukraine. Keine Nachrichten. Die Welt ist mir egal. Ich kann sie nicht ändern und will das auch nicht. Dafür werde ich die leeren Flaschen in eine Einkaufsbox stellen und nach unten bringen. Gleich nach dem ich den Entwurf an Friedrich gesendet habe. Den Titel habe ich entfernt. Dafür ist Friedrichs Marketing-Abteilung verantwortlich. Gängige Phrase, möglichst nur ein Wort. Ausgedacht für die Auslagen der Buchhändler. Der neue Krimi von … und so weiter. BÄM! Ein Wahnsinnstitel, dazu ein passendes Bild. Nicht zu düster. Die Leute wollen kein düster in solch düsteren Zeiten. Aber Blut und Violinbögen, die auf ihren Nerven spielen. Ich bin sicher, sie werden meine Stalkerin mögen, mit ihr leiden, fühlen und morden. Sind wir ehrlich: wir stehen gern am Rande unserer eigenen Abgründe, um den Kitzel zu genießen. Ist dann der Kitzel real geworden, wissen wir nicht, wie man ihn beenden kann. Das Sterben geht los. Die kollektive Dummheit ist enorm, wiegt schwerer als die Gravitation der Sonne. Da hinein lassen sich gute Kriminalromane platzieren. Den Mauszeiger auf Senden und klicken. Das war’s. Alles in allem 468 Standardseiten. Mehr als genug. Ich lehne mich zurück, atme tief durch. Frühstücken kann nicht schaden. Zur Feier des Tages vielleicht einer dieser Nationen-Burger. Aber erst die Flaschen nach unten tragen.

Die 15 kommt, hält auf den Punkt. Ich habe das Monatsticket vergessen, einen Einzelfahrschein gezogen und wundere mich über die gesalzenen Preise. Immerhin ist der Berufsverkehr durch und es ist genug Platz. Das Grummeln im Magen ist nicht zu überhören. Einen Peru-Burger werde ich nicht essen, vielleicht gibt es Japan oder Korea. Etwas mit Fisch, darauf hätte ich jetzt Appetit. Friedrichs Lektorat wird gerade die Mails durchsehen, mein Werk finden. Jeden Moment wird das Handy vibrieren. Ignoriere es, Heinrich! Zappeln lassen. Erst ein gutes Frühstück, zwei Kaffee, zum Abschluss einen Southern oder gar einen Glengoyne. Ulrepforte, sagt die Stimme im Lautsprecher. Zwei junge Frauen steigen vorne ein. Eine davon hat eine große Nase. Mein Puls vollführt einen Stabhochsprung, reißt aber die Latte. Es ist nicht Maria. Absolut nicht. Nur ein verlorener Blick, der mich nicht sieht, kleine, schwarze Augen, die sich an nichts festhalten.

Ich sehe wieder aus dem Fenster. Vor dem Herbst kommt seit ein paar Jahren die Trockenheit. Die Blätter werden von den Rändern braun, nicht mehr vom Blattansatz. Überall fehlt Wasser. Das Leben unter unseren Füßen trocknet aus. Aber wem sollte ich das sagen? In wessen Ohr könnte ich das rufen? Da ist niemand. Die Idee mit einem Krimi und der Klimakatastrophe schiebt sich erneut in mein Jetzt. Darüber kann ich nachdenken. Und ich muss mit Friedrich darüber reden. Schließlich ist er der Herr meiner nächsten Produkte. Vertrag ist Vertrag.
Ob Maria an die Zukunft dachte, als sie sich entschied, ein Kind zu bekommen? Könnte ich sie nur fragen. Das Handy summt. Friedrich. Die Herz Jesu-Kirche ist zu sehen, Zülpicher Platz, zwei Taxifahrer streiten und mich trifft ein Blitz. Ein Gedanke, eine Erinnerung.
Ich bin oft in diesem Café. Es ist erstklassig. In einer halben Stunde ist alles erledigt.
Das hat Maria gesagt. Genau das. Das Café gegenüber. Jetzt fange ich doch tatsächlich an zu zittern. Kein Frost draußen, nur leichte Bewölkung. Weite blaue Himmelsflächen. Herbstlicht. Ich muss in das Café. Essen und dann nichts wie hin. Das Handy vibriert immer noch. Ich gehe ran.

Friedrich sagte, er würde das Manuskript nach Hause mitnehmen, übers Wochenende lesen und mich am Montagmorgen anrufen. Bei Nichtgefallen könnte ich mich schon mal auf was gefasst machen. Ja sagen, nicken, auflegen. Den Japan-Burger habe ich wieder vergessen. Touristen aus Japan sollten ihn meiden. Es geht nichts über Peru. Außerdem bin ich endlich wieder am Chlodwigplatz. Nichts wie raus, über die Straße und ab ins Café. Der Platz auf dem ich damals saß, ist frei. Überhaupt ist sehr wenig los. Freie Sicht auf die Tür. Ich lasse mir einen Milchkaffee bringen und ziehe das Notizheft aus der Innentasche. Klimaaktivisten die einen Konzernchef um die Ecke bringen? Sehr banal. Da muss es einen besseren Plot geben. Sohn des Konzernchefs macht mit? Nein, die Gettys, das hatten wir schon. Die Tür geht auf. Nur der Briefträger. Aber Konzernchefin, fossile Basis, plant heimlich den totalen Umbau der Holding auf Erneuerbare Energien, Recyclingprodukte, stößt auf Widerstand der Ewiggestrigen und lässt sie beseitigen. Da stimmt die Ethik. Jeden Tag eine gute Tat, sozusagen. Tochter der Chefin, die ihre Mutter dafür abgöttisch liebt und sie unterstützt, kommt dahinter und steckt jetzt in einem moralischen Dilemma. Ein Fossilkonzern, der sich für eine Zukunft aller entscheidet, aber das nur durchbringt, wenn die Ewiggestrigen aus dem Weg geräumt sind. Mord gegen Gemeinwohl und deswegen ist die Motivlage für die Polizei klar; Klimaterroristen, wer sonst? Ich trinke den Milchkaffee in einem Zug aus und beginne mit den Notizen. Die Tür geht auf. Touristen, ganz eindeutig. Maria, komm!

Nichts. Keine Maria. Es ist kurz nach neun Uhr am Abend. Mit einem Baby im Haushalt sollte man um diese Uhrzeit nicht mehr ausgehen. Ich zahle und gehe. Draußen ist es fast wie im Frühling. Ein lauer Westwind. Die Menschen sind unterwegs, sogar T-Shirts sind zu sehen, kurze Hosen, Kleider, Eis in Bechern, in Hörnchen, das muss ein Abend im Mai sein. Die Stimmung passt, um eine Kneipe aufzusuchen. Langsam schlendere ich den Ubierring entlang Richtung Rhein, biege in die Bottmühle ein und betrete Die Schänke. Voll, aber zum aushalten. Am rechten Ende der Theke ist ein Barhocker frei, auf dem ich Platz nehme.
»Kölsch?«
»Okay. Gib mir eins. Und einen Glengoyne, bitte, doppelt und ohne Eis.«
»Kütt sofort.«
Er zapft, greift nach dem Scotch im obersten Regal, schenkt großzügig ein, macht einen Strich auf den Deckel, schreibt Glen mit Strich daneben und nickt. Offenbar geht er davon aus, dass es nicht nur ein Scotch wird. Meryem fällt mir ein. Ihre Frage nach meinem Trinken. Der Menge des Trinkens. Ich kippe das Kölsch in mich hinein. Nullkommazwei, ein Zug und weg. Da ist nicht viel zu merken, außer dass die Blase sich bald melden wird. Meryem … wie es ihr wohl geht? Ich schätze, gut. Sie ist eine starke Persönlichkeit. Ganz wie ich es mag. Wie nicht wenige Charaktere in meinen Romanen. Mir ist ein Rätsel, warum ich nicht bei ihr geblieben bin. Wegen der leisen Stimme in meinem Bauch? Dass der Pfad dort noch nicht zu Ende ist?
»Liebeskummer?«
»Wie?« Der Kerl links von mir. Zwei aufeinandergestellte Regentonnen könnten nicht größer sein. Ein Kopf groß wie ein Blumenkübel, Hände oder Klodeckel? In einer davon hat er ein volles Schnapsglas, kaum zu sehen.
»Liebeskummer stimmt, ja, aber die Angebetete weiß nicht mal, dass ich sie liebe.«
»Oha«, sagt er, kippt den Schnaps, als würde er einen Fingerhut leeren. »Wenn sie nix davon weiß, wieso sagst du es ihr dann nicht einfach?«
»Weil ich sie noch nicht getroffen habe. Im Moment hoffe ich, sie zu entdecken.« Er weicht ein paar Zentimeter zurück. Seine Augenbrauen erinnern mich an ein Foto, auf dem Leonid Breschnew für irgendeinen Parteikongress der KPdSU abgelichtet wurde. Kaum was von den Augen zu sehen unter den Buschreihen.
»Auch einen Glengoyne?«, frage ich. Er reibt den Zeigefinger unter der Nase entlang. Baumstamm streift Abgründe. So würde ich es beschreiben.
»Was ist das?«
»Schottischer Single-Malt. Vom Feinsten. Wer es nicht getrunken hat, dem fehlt etwas in seinem Leben.«
»Na gut, wenn du das sagst …«
Ich trinke zügig aus, hebe das Glas und zeige zwei Finger. »Doppelte?«, will der Mann hinter der Theke wissen. Ich nicke. Der Große grübelt. Sitzt hier ein Irrer? Warum sollte ihm das Angst machen? Mit einem Schlag könnte er mich vermutlich ins Jenseits befördern. Zwei Gläser kommen, zwei Striche auf meinen Deckel. Ich nehme meines und proste dem Großen zu. Zögerlich nimmt er den Scotch, riecht daran und runzelt die Stirn. »Nicht so zögerlich. Runter damit!«
Das überzeugt ihn und wir leeren beide Gläser in einem Zug. Nicht wenige Sekunden starrt mein Nachbar an die Decke, die Wangen werden rot. Dann bringt er ein langgezogenes Ah heraus und schmatzt wie ein Baby, nachdem es Mutters Brust entrissen wurde. Vorsichtig stellt er das Glas auf die Theke. »Ui«, sagt er und nickt. »Das ist ja wie ein Zaubertrank.«
Ich muss grinsen. »Noch einen?« Er nickt ausgiebig. Also zwei neue Glengoyne. 21 Jahre steht auf der Flasche. Er wurde eingelagert, als ich mich mit dem Gedanken trug, eines Tages Romane zu schreiben.
»Erklär mir noch mal das mit dem Liebeskummer«, bittet er mit weicher Stimme. Sanft wie es zwei Regentonnen kaum sein können. Zwei Finger heben. Für diese Erklärung kann man nicht genug vom guten Zeug haben.

Als ich fertig bin ist die Flasche leer, der Wirt hat eine neue geöffnet. Meine letzte, sagte er. Bruno und ich haben auf die Freundschaft getrunken. Mein erster Bruno im Leben. Er hätte mich umarmen können; ich habe es kaum um seinen Oberarm geschafft. Seitdem denkt er über Maria, Maryam, Marianne, Mary und Meryem nach. Vielleicht sucht er noch die Lösung des Knotens, aber er wird scheitern. Zwei neue Doppelte kommen, Bruno hebt das Glas. Ich sehe ihn weinen. Dicke Tränen kullern. »Das ist aber eine ganz traurige Geschichte«, flüstert er an mein linkes Ohr gebeugt.
»Bis jetzt, ja«, gebe ich ihm recht. »Aber ich werde sie finden. Oder sie mich.«
»Meinst du? Aber wie soll das gehen? Wie ist das mit diesem Paralleldings?«
»Paralleluniversen.«
»Entschuldigung«, sagt er und macht große Augen. »Ich war nicht so gut in der Schule.«
»Das macht nichts, Bruno. Ist nicht wichtig. Du hast ein großes Herz. Was will man mehr?« Er grinst so breit, dass ein Spaten darin Platz fände. Dann stellt er das Glas aufs Holz und umarmt mich. So muss es sich in einem Schraubstock anfühlen.
»Bruno … ich krieg keine Luft …« Er lässt sofort los.
»Trinken wir noch einen, Heinrich?«
»Gerne.«
»Du verträgst aber einiges«, meint er und legt den Kopf auf die Theke. Sofort ist es still. Die Augen zu. Gleichmäßiges Atmen. Das Baby schläft. Ich suche Augenkontakt zum Wirt. Der kommt, rüttelt Brunos Schulter.
»Wir sollten ihn nach Hause bringen, oder?«, ist mein Vorschlag. Etwas unbedacht. Der Wirt kneift ein Auge zu.
»Soll ich den Abschleppdienst holen? Er wird wieder aufwachen. Die Nachtschicht regelt das. Ist nicht das erste Mal.«
»Dann gib mir noch einen letzten Doppelten.«
»Kommt gleich.«

Ibuprofen sind ausgegangen, aber Paracetamol habe ich noch einen Blister gefunden. Drei Vierhunderter sollten helfen. Ich habe gelesen, das zerstört auf Dauer innere Organe. Daraus könnte ich auch einen Krimi machen. Mal irgendwann. Heute Morgen werde ich mich schonen. Was mich lächeln lässt, trotz des Schädelbrummens, denn mein Leben ist nicht wirklich anstrengend. Der Nachrichtensprecher des Deutschlandfunks lässt uns wissen, dass die Lage im Nahen Osten verfahren ist. Nichts von der Ukraine oder Malaysia. Warum nicht? Unwichtig geworden? Die heranrollende Klimakatastrophe ist unterm Teppich verschwunden. Es geht den meisten Menschen wohl wie der Polizei in meinem Roman, sie können sich das Ausmaß nicht vorstellen, weil es zu komplex, zu unübersichtlich, zu ausladend ist. Ein weites Land und alle sind froh, dass es für sie nur ein kleines Stück Rasen mit Eigenheim gibt. Der Rest passiert woanders. Die Fäden dieser Komplexität geraten schnell außer Sichtweite. Nehmen erst außerhalb des Denkens dramatische Geometrien an. Und so wird vermutet und das Naheliegendste angenommen. Wie im Roman. Es kann ja nur der Schriftsteller sein. Schreibt einen Roman übers Morden und begeht die beschriebenen Morde selbst. Wer sonst? So einfach ist das Leben. Wäre es so einfach, hätte ich vielleicht schon eine Partnerin, Kinder und im Moment auf dem Rückweg von Kindergarten oder Schule. Ich müsste mich um Kindergeld und Versicherungen kümmern, Zahnarztbesuche und dort kleine Händchen halten, und – natürlich – der Turnverein. Sommerfest, Kuchenverkauf. Das alles ist außerhalb meiner Wohnungstür. Hier drin ist es still. Ich bin still. Der Börse geht es schlecht, sagt der Sprecher. Inflation und der ganze Kram. Lebe ich auf diesem Planeten? Das Festnetztelefon spielt Zappas The Torture Never Stops. Es wird Friedrich sein.

Wieder im Café. Glück gehabt. Wieder am selben Tisch. Ob dieser Platz eine Bedeutung hat im Gesamtspiel? In diesem Universum? Oder im jeweils gesuchten Paralleluniversum? Sie rauschen durch uns hindurch, transparent, auf anderen Frequenzen, wir bekommen nichts mit. Obwohl kein Teil dieser Parallelwelten, habe ich alle Marias gesehen. Warum? Es muss mit meinem Leben zu tun haben. Mit mir. Etwas ist schiefgegangen. Zwei Croissants, ein Milchkaffee, ein Glas Orangensaft.
»Bitteschön«, sagt die junge Frau.
»Vielen Dank. Sagen Sie, kommen die Leute vom Reisebüro gegenüber manchmal hier rein?« Sie macht ein nachdenkliches Gesicht und plustert die Wangen auf. Es erinnert mich an Dizzy Gillespie. Ungewöhnlich, diese Dehnfähigkeit. Langsam lässt sie die Luft entweichen.
»Puh! Ehrlich, da bin ich überfragt. Kenne ich überhaupt jemand von drüben?« Ich kann ihr die Frage nicht beantworten. Schulterzucken. »Da kann ich Ihnen nicht helfen. Tut mir leid.« Ein entschuldigendes Grinsen, dann ist sie weg. Was habe ich erwartet? Bei den Erwartungen fällt mir Friedrich ein. Seine habe ich zumindest mehr als erfüllt. Weit übertroffen, sagte er. Das nächste Mal wünscht er sich ein vorheriges Besprechen meiner Änderungspläne, aber in diesem Fall lässt er es noch mal durchgehen. Sehr großzügig. Es würde mit Sicherheit ein Gassenhauer, so seine Weissagung. Gassenhauer. Ist der Begriff nicht schon lange aus dem Duden verschwunden?, wollte ich wissen, was seine gute Laune nicht schmälerte. Es gäbe nächste Woche zwei Termine mit Kulturmagazinen, denen er Informationen über den neuen Roman hat zukommen lassen. Ich solle an diesen beiden Terminen möglichst sauber gekleidet und rasiert erscheinen. Das versprach ich.

Touristen mit kleinen Rucksäcken, Wanderstöcken und teuer aussehenden Schnürschuhen. Als gäbe es in Köln alpines Terrain. Vielleicht der Aufstieg im Dom. Ansonsten ist eher eine funktionierende Leber gefragt. So viele Menschen und in ihren Gesichtern sehe ich nichts von den Katastrophen der Welt. Sie lachen, erzählen, hauen sich auf die Schenkel oder schreiben still ein paar Postkarten, wischen durch eine schier endlose Liste von Handyaufnahmen, löschen, was mies aussieht und am Ende kommt das Selfie.
Croissants und Getränke sind verzehrt. Ich lese den Stadtanzeiger und warte. Was ist, wenn die Überschneidung der Paralleluniversen nur ein temporäres Ereignis war? Passiert einmal in tausend Jahren. Nun ist es vorbei und ich sitze hier vergeblich. Ist dann auch der Pfad an seinem Ende angelangt? Sackgasse? Bin ich selbst an ein Ende gekommen? Was ist da außerhalb des Schreibens? Eine Eigentumswohnung mit ein paar Möbeln. Zugegebenermaßen sehr schöne Möbel. Ein Konto bei der Sparkasse. Ausreichend gefüllt für ein angenehmes Leben. Nicht reich, aber sorgenlos was Essen, Krankenversicherung, Rente und Reisen betrifft. Ich falte den Stadtanzeiger zusammen, lege ihn auf den Tisch. Essen, Krankenversicherung, Rente, Reisen. Das wiederhole ich drei Mal in Gedanken, schaue umher. Manche Gäste bemerken, dass mein Blick kurz auf ihnen verweilt. Sie haben Vergangenheit, ein Jetzt. Eine Zukunft. Ich habe mein Jetzt. Kurzentschlossen hebe ich einen Zwanziger in die Höhe, der Mann hinter der Theke nickt. Ich gehe hinaus, zur Haltestelle, steige in die nächste Bahn und an der Eifelstraße wieder aus. Keine zwei Minuten später kommt von der anderen Richtung die Zwölf. Der Himmel zieht sich zu. Könnte sein, dass meine Jacke zu dünn ist.

Die Fahrt ist ruhig. Häuser ziehen vorbei. Wohnung an Wohnung. Fenster an Fenster. Dann das Gleisdreieck zur Südbrücke, Gewerbegebiet, Autos, Menschen. Vorgebirgstor. Wir sind in Zollstock. Es wird trostloser, wie ich finde. Höninger Weg. Einige Hausbesitzer haben sich etwas Mühe gegeben mit den Farbanstrichen ihrer Mietshäuser. Zwei Tramlinien, damit ist die Straße voll. Ein großes Schild der Fortuna hängt im ersten Stock rechts, links Fahrräder ohne Felgen, alte Rahmen, immer noch angekettet, angepinkelt von Hunden. Und ein Haus mit Kölner Leitsprüchen auf der Außenwand. Es ist, wie es ist. Es kommt, wie es kommt und Es ist noch immer gut gegangen. Unvermittelt muss ich grinsen. Mir fällt auf, dass ich schon viele Jahre nicht mehr hier gefahren bin, seit Ewigkeiten nicht. Wir halten an der Herthastraße. Menschen rein, Menschen raus. Musik in Kopfhörern. Sehr laut. Ein bisschen Leben jetzt zu beiden Seiten. Paar Geschäfte, Kioske, Restaurants, hauptsächlich Restaurants. Und Kneipen. Von Kneipe zu Kneipe. Man kann sich das Leben ohne Kneipen gar nicht vorstellen. Ich hätte nicht zu geringe Lust, auszusteigen, um mir irgendwo einen doppelten Southern zu genehmigen.

Dann ein Buchladen. Ich fasse es nicht. Zwischen REWE, Norma, Lidl, Shisha, Sushi, Kebap und Wettbüro ein Buchladen. Zwei Menschen stehen vor den Auslagen. Sonderpreis für Bildbände. Lest!, denke ich. Es ist das Einzige, was euch vielleicht retten wird. Am Gottesweg ist ein großer Gemüseladen. Buntes Allerlei. Niemand steigt ein. Der Himmel hat sich zugezogen, das Hellgrau der Wolken wechselt langsam in ein regenverheißendes Dunkelgrau. Ich denke an Maria, an Meryem und kann den Tränen keinen Einhalt gebieten. Stirn an die Scheibe. Auf die Straße konzentrieren. Es geht weiter. Zwanziger Jahre Architektur, Mietskasernen, gegenüber die Siebziger, ein Netto, dann über den Gürtel. Ich will umkehren. Nur raus hier, aber dann … bleibe ich einfach sitzen. Die ersten Tropfen landen auf der Scheibe. Als ich aufblicke, geht es in die Kurve, wir werden langsamer. Bitte aussteigen, Endstation Höninger Platz, sagt die Stimme. Endlich angekommen. Nur leichter Nieselregen bis jetzt. Ich überquere die Straße und gehe auf das schmiedeeiserne Tor zu. Südfriedhof.

Ich weiß es ganz genau. Hier war das Grab. Zum Rondell, rechts, erster Querweg rechts und zweites Feld. Es ist ihr Grab. Es war ihr Grab. Fünfzehn Jahre lang. Nun liegt jemand anderes in der Erde. Immerhin steht da eine Bank. Abgeblätterte Farbe, aber bequem. Müller, Schmitz, Eschweiler, Voonrath, manche liegen länger als fünfzehn Jahre. Wer es sich leisten mag, kann das tun. Ich wollte es mir nicht leisten. Frau Maria Konstantin war mir das nicht wert. Jetzt hasse ich Mutters Namen.
»Junger Mann, helfen Sie mir bitte!« Eine Stimme, dünn wie Seidenpapier. Die alte Frau ist kaum größer als anderthalb Meter, gebeugt, einen enormen Strauß im Korb des Rollators.
»Kein Problem. Was soll ich machen?«
»Sie nehmen die Blumen aus dem Korb und halten meine Hand! Ich will mich hinsetzen.« Dünne Stimme, aber energisch. Der Strauß ist voluminös, weiße und rote Rosen. An die vierzig Stück. Ihre Hand ist klein, aber kräftig. Ich packe zu und sie bugsiert sich um den Rollator herum, schiebt ihn weg und lässt sich mit einem Ächzer auf die Bank fallen. Ihre Füße hebt es vom Boden und fast kippt sie an die Lehne. Ich halte sie. Ihr Blick ist starr nach vorne gerichtet, Kopf oben, das Kinn gerade. Es erinnert mich an eine Eiskunstläuferin. Langsam öffne ich die Hand. Sie ist stabil. Den Rollator parke ich neben der Bank.
»Soll ich die Blumen auf eines der Gräber legen?«
»Nein, sollen Sie nicht.«
»Okay.«
»Geben Sie mir eine Minute.« Ich nicke lieber und setze mich neben sie. Nicht zu dicht. Erwartungsvoll ziehe ich Luft in die Nase. Müssten die Rosen nicht betörend duften? Ich hebe die Nase an die Blüten. Nichts. Wie Lebensmittel aus den Billigläden, Obst, Gemüse, nichts riecht mehr. Die Dinge haben offenbar ihren Duft verloren und den Menschen ist es nicht mehr wichtig. Was? Duft? Wusste ich gar nicht. Die Welt wird eindimensional.
»Und wegen was sind Sie hier, junger Mann?« Die Alte sieht mich an.
»Hier war das Grab meiner Mutter. Ist aber schon abgeräumt. Vor vier oder fünf Jahren war das, glaube ich.«
»So, glauben Sie?« Ich zucke mit der Schulter. »War ihnen das Grab ihrer Mutter nicht wichtig?« Ein paar Sekunden starre ich durch sie hindurch. Auf eine Person, die meiner Mutter ähnlich sieht. Im Nebel der Erinnerung. Scharf stellen klappt nicht. Ich weiß nicht mehr, wie Mutter aussieht.
»Nein, ehrlich gesagt, war mir das nicht wichtig.«
»War also nicht so toll mit ihnen beiden«, stellt sie harsch fest. Was für eine rigorose Stimme sie hat.
»Zu keiner Zeit.«
»Aber sie hat Sie geboren, oder?«
»Das bringt die menschliche Biologie mit sich.« Die Alte presst die Lippen aufeinander und schweigt. Ihr Strauß ist ziemlich schwer. Ich hebe ihn hoch. »Was passiert hiermit?« Sie hebt den Arm, die Hand, streckt einen Finger aus. Dicke Fingergelenke.
»Da ist ein Mülleimer. Werfen Sie die Blumen bitte hinein.« Ich habe mich verhört.
»Wie bitte?«
»Blumen in den Mülleimer!«, wiederholt sie und hustet nach.
»Also gut.« Keine zehn Meter entfernt ist ein großer Bottich für Grünabfall. Ich stehe auf, sehe nach, ob noch irgendwo Plastik an die Rosen geheftet ist. Nichts. Mit leichtem Schwung fliegen sie in die grüne Tonne, rollen ein Stück nach unten und bleiben zwischen Buchs und Eibe liegen. Vierzig Rosen. Gekauft, mit einem Lächeln übergeben, ab in den städtischen Grünabfall. Ich gehe die paar Schritte zurück. Ihr Blick ist starr auf ein bestimmtes Grab gerichtet. Schwer zu sagen, welches genau. Also setze ich mich und schweige. Leises, schnelles Atmen neben mir. Es hört sich an, als würden die Lungen nicht komplett gefüllt. Kurzatmig.
»Sie fragen gar nicht«, sagt sie nach einer Weile.
»Erzählen Sie, wenn Sie möchten. Ich höre zu.«
Ihren Blick kann ich an meiner Schläfe spüren. So was wie kühle Nadeln auf Wachshaut. Ich bin mir nicht sicher, wo Maria Konstantin lag. Im Grab von Schmitz oder von Eschweiler. Sie erzählt nicht.
»Bringen Sie mich zum Ausgang?«
»Kann ich machen.«
»Danke.«
Ich hole den Rollator. Es gibt eine Feststellbremse, Höhenverstellung der Griffe, Lenkräder, alles gummiert, man kann sich setzen und gemütlich was essen. Sehr komfortabel. Sie steht schon, als ich anrolle. Keine Ahnung, wie sie das gemacht hat. Zähes Leder, die Gute. Mit beiden Händen greift sie die Moosgummikappen, löst die Bremse. Langsam geht es Richtung Ausgang.
»Warum sind Sie dann hier, wenn alles so weit weg ist?«
»Ich weiß nicht«, gestehe ich.
»Sie wollten sehen, ob es nicht doch irgendeine Verbindung gibt, irgend etwas, an das man sich klammern kann.«
»Vielleicht.«
»Da ist nichts. Merken Sie sich das. Sehnsucht, Wunschdenken. Mehr nicht. Bleiben Sie weg!«
»Ich schätze, Sie haben recht.« Für einen Meter brauchen wir ewig. Immer noch nur wenige Tropfen. Hier und da. Zum nass werden reicht es nicht.
»Woran ist ihre Mutter gestorben?«
»Alkohol, Einsamkeit.«
Die Alte brummelt etwas, nicht zu verstehen.
»Und ihr Vater?«
»Gibt es keinen«, presse ich heraus. »Sagte jedenfalls Mutter.« Sie bleibt stehen und schnauft ein paar Mal, zupft einen Faden von ihrer Jacke. Dann geht es weiter.
»Oma? Opa?« Sie ist neugierig. Kann kaum krabbeln, aber im Kopf noch hellwach, wie es scheint.
»Haben gesagt, mit einem … einem Kind wie mir, braucht Mutter sich gar nicht blicken zu lassen.«
»Einem Kind wie Ihnen?«
Bei diesem Tempo sind wir morgen noch nicht am Tor. Ein Kind wie ich. Mit einem Kerl wie dir, kann ich mich nicht sehen lassen. Ich hasse Bastarde, sagt jemand hinter mir. Ich schaue mich um. Niemand da. Nur der Weg zu den Gräbern. »Maria hat einen Bastard bekommen«, sage ich und sehe hinauf zum Himmel.
»Für den Satz wären Sie vor drei Jahrhunderten auf dem Scheiterhaufen gelandet, junger Mann.«
»Mir recht.«
»Junger Mann, sie ziehen da ein Gebirge hinter sich her. Werden Sie es los, sonst sehe ich schwarz.« Ich nicke. Nicke und weine. Die Alte sieht mich an.

Wir sitzen im Taxi. Jammern Sie nicht und steigen Sie ein, hat die Alte gesagt. Es geht nach Bayenthal. Dort wohnt sie in einem Altenheim. Beim Aussteigen wirft sie mir einen Blick zu. Kühle Nadeln auf Wachshaut. Es blitzt in ihren Augen. Sie ist durch ein tiefes, dunkles Tal gewandert. Vierzig Rosen sind vielleicht vierzig Jahre? Vierzig Jahre in die Tonne. Alle 365 Tage zur Erinnerung. Mit einem Nicken geht sie. Der Taxifahrer schiebt den Rollator in den Eingang. Ich denke daran, zu warten, steige aber aus und gehe über die Bonner Straße zu Fuß nach Hause. Der Regen nimmt stetig zu, wird dichter, die Tropfen größer. Wind kommt auf. Keine Ahnung, was ich fühlen soll. Ich bin ein Steinbruch. Dauernd wird gesprengt, gebohrt, Fels abgetragen. Ein monströses Loch in Mutter Erde. Bald erreiche ich ein asiatisches Restaurant und gehe hinein, bestelle eine Flasche warmen Sake, vietnamesische Sommerrollen und lehne mich zurück.


Ich kann das. Und die Menschen sind begeistert. Interviews, Talkrunden, Lesungen, egal wo, wenn Menschen zuschauen, ein Publikum anwesend ist, dann bin ich ein anderer. Als gäbe es eine flexible Monitorwand um mich herum, auf der eine Karibik-Präsentation läuft. Die Leute sehen das, was ich ihnen zeigen will. Redegewandtheit, zuhören können, bedeutungsvoll nicken, andere ausreden lassen, das kommt immer gut an. Um ein Bild zu gebrauchen, würde ich mich als Litfaßsäule auf zwei Beinen bezeichnen. Niemand sieht, was drunter steckt. Vor allem, weil es niemanden gibt. Ich kann es mir leisten, zwei zu sein. In meiner Wohnung lebt die große Leere, draußen existiert der Schriftsteller, der Revolverheld mit den Worten. Friedrich ist zufrieden. Solch ein werbewirksames Aushängeschild für so wenig Investition findet man nicht so oft. Diese beiden Interviewerinnen waren allerdings recht unvorbereitet, leicht ungebildet, was meine Präsenz noch wesentlich gesteigert hat. Ich schätze, in Friedrichs Ohren klingeln schon die Euros.

»Saubere Arbeit heute«, sagt Friedrich und beißt in den Peru-Burger. Auf beiden Seiten tropft und fällt alles mögliche auf den Teller.
»Du solltest kleine Bisse machen«, empfehle ich und schaue mich um. Er will etwas sagen, kauend, den Mund voll. Ich schüttle den Kopf. Der übliche Kellner kommt, bringt uns zwei Southern Comfort, schaut auf Friedrichs Teller. Beide Augenbrauen hochgezogen, dreht er sich und verschwindet. Aus meiner oberen Brötchenhälfte nehme ich die Kuba-Flagge raus. Wahrscheinlich haben sie in Kuba nicht so tolle Burger. Dafür einen exzellenten Rum. Zum Einstieg leere ich den Southern in einem Zug und beiße ins kubanische Konglomerat aus Brötchen, Jalapeños, Mais, Rindfleischklops, Paprika, roten Zwiebeln und Eisbergsalat. Auf jeder Schicht eine rote Sauce, die es in sich hat. Friedrich stößt auf. Immerhin mit geschlossenem Mund.
»Du trinkst zu viel, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Ich nicke. »Du.« Ein fantastischer Burger. Die Schärfe über der Schmerzgrenze, ich komme ins Schwitzen. Aus allen Poren quillt das Wasser. Zum Löschen habe ich einen indischen Joghurt-Drink ausgesucht. Mit Mango. Köstlich.
»Und mehr hast du nicht zu sagen?« Mit zusammengekniffenen Augen starrt er mich über den in beiden Händen gehaltenen Burger an. Die Sauce tropft zäh auf den Teller.
»Was soll ich noch mehr dazu sagen?«
»Würde dir das Schicksal dein Schreibtalent nehmen, könnte ich dich als meinen Pressemann einstellen. Du wärst unschlagbar. Aber du trinkst jedes Jahr mehr. Ich beobachte das schon lange. Das geht so nicht weiter.«
»Warum sollte ich mein Talent verlieren?« Friedrich zuckt mit den Schultern, macht eine Verlegenheitsgeste, dann beißt er mitten rein. Ich schließe die Augen, konzentriere mich auf meine schwitzende Stirn und hebe die Hand. Ich kann den Kellner kommen hören und beschließe, die Augen geschlossen zu halten. Friedrich schweigt.
»Kann ich noch etwas bringen?«
»Haben Sie Mescal?«
»Einen Gusano de Oro.«
»Mit Wurm, sehr schön. Dann einen Doppelten für mich, ohne Eis, und für meinen Freund eine Margherita.«
»Sehr gerne.« Er zieht ab, ich öffne die Augen. Friedrich starrt mich an. Ein weiterer Biss in Kubas Burger.
»Du legst es drauf an, was?« Ich will nicht mit vollem Mund reden, schlucke überstürzt und muss husten. Die Chilisauce gräbt meinen Magen um.
»Friedrich, solange aus meinen Fingern etwas wie der letzte Roman rauskommt, von dem du sagst, er wäre ein Gassenhauer, verstehe ich nicht, was dein Problem ist?« Er legt Peru aus der Hand und kratzt seinen Hinterkopf. Sauce hängt in den Haarresten. Er ist manchmal ein Prolet und wirft mir das Trinken vor.
»Ich kann dir sagen, was mein Problem ist. Das Trinken. Ich habe so einige Autoren unter meinen Fittichen gehabt. Alle mit einem Durstproblem sind heute keine Autoren mehr. Sie sind Wracks und liegen im Eck. Das Problem mit diesem Durst ist, dass er nicht zu löschen ist.« Er stockt und macht eine Schnute, steckt die peruanische Fahne in den Stoff seines Jackettärmels. »Ich will, dass du in eine Klinik gehst und habe …«
»In eine Klinik?« Die Getränke kommen. Dieses Mal hat er sich geschickt angeschlichen.
»Einen Mescal und eine Margherita, bitteschön.« Wir nicken gleichzeitig. Er bemerkt sein Unwillkommensein und verzieht sich umgehend.
»… und habe einen befreundeten Arzt in Bad Münstereifel angerufen. Er sagte zu, dir sofort einen Termin zu geben, auf Herz und Nieren zu prüfen, auch ob …«
»Ob was?«
»Ob es psychische Probleme gibt.« Ich lege Kuba auf den Teller, greife zum Mescal, hebe das Glas unter die Nase und rieche ausgiebig dran. Ein feiner Duft. Weich mit herber Note. Auf Friedrichs Stirn bilden sich zwei Zornesfalten. Ein großer Schluck und der Mescal ist in meinem Magen, tanzt dort mit den Chili einen Samba. Der Hunger ist verflogen. Was denkt er, wer er ist? Der Papa, den ich nie hatte?
»Nenne mir jemand ohne psychische Probleme«, erwidere ich ruhig und drehe das Glas im Licht. »Du lässt dir von deiner Frau stets dieses und jenes verbieten. Gibst immer nach, steckst zurück bei Hobbys und Lebensfreuden. Das soll gesund sein?« Wenn es ein Beispiel für einen zerknirschten Gesichtsausdruck gibt, dann ist es Friedrichs Miene. Und doch … ich beiße ein Stück Kuba ab. Und doch hat er recht. Jetzt schweigt er, schaut auf die Margherita. Das mit seiner Frau hat ihn sichtlich getroffen. Trifft aber zu. Friedrich gibt sich als echter Kerl; ohne seine Frau. Sie zu treffen, ist keine angenehme Angelegenheit. Ich beschließe, ihm alles zu erzählen.

»Hör zu, tut mir leid, dass ich das mit deiner Frau erwähnt habe. Das hatte hier nichts zu suchen.« Er schaut auf seine Hände, leicht glänzend vom Fett des Burgers. Mit der Serviette wischt er sich über den Mund. »Pass auf, Friedrich, jetzt kommt die Geschichte mit Maria. Und vielleicht mache ich einen Roman draus …« Er lehnt sich zurück und trinkt einen großen Schluck seines Cocktails. Ich fange an. Alle Marias, jeden Moment, den ich als wichtig erachte. Bis zur Alten auf dem Friedhof. Ich glaube, er blinzelt nicht ein einziges Mal. So still und ruhig habe ich ihn bisher noch nie erlebt. Selbst als ich geendet habe, tut sich nichts. Keine Regung. Lediglich sein Blick wandert über den Tisch. »Dieser Maria hast du also den kompletten Plotwechsel zu verdanken. Und ich … ich verdanke ihr mein Verliebtsein. Meine Sehnsucht nach einem Menschen, der an meiner Seite ist. Mein Wunsch, nicht mehr allein zu sein.« Er nickt unmerklich.
»Und sie heißt Maria, wie deine verhasste Mutter. Seltsam, oder?«
»Mehr als seltsam. Eine Wahrscheinlichkeit, von deren Zahlen ich keine Ahnung habe. Seltsam, dass alle Marias entweder schwanger, hochschwanger, ein verunfalltes Kind oder eine Fehlgeburt haben oder hatten. Und dass eine von ihnen sagte, sie hätte keine Ahnung, wer der Vater sei. Ich habe keine Ahnung, was gerade passiert.«
»Oder ob überhaupt noch was passiert«, fügt er an. Friedrich trinkt die Margherita leer und atmet tief ein, schaut mich an, die Lippen zusammengepresst. Hinter seiner Stirn arbeitet es deutlich. »Hast du niemals daran gedacht, deinen Vater zu suchen?«
»Nein.«
»Vielleicht war es ein One-Night-Stand und er weiß gar nichts von der Schwangerschaft deiner Mutter.«
»Vielleicht.« Ich esse Kuba auf und Friedrich kümmert sich um Peru. Näher als in diesen Minuten sind wir uns noch nie gewesen. Es ist nicht unangenehm.

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