Eine kurze lange Reise | Kapitel 5

Dubai

Das Aufsetzen klappt tadellos und die Passagiere brechen in Begeisterungsstürme aus. Frenetischer Beifall. Alle sind froh, noch zu leben, so hat es den Anschein. Vor dem Fenster ist Wüste. Sand, Asphalt, Beton und ein Terminal, das wie Wellen am Strand aussieht, einem Blatt Papier ähnlich, das jemand dutzendfach einen Zentimeter auf die eine, den nächsten Zentimeter auf die andere Seite gefaltet hat. Dazwischen Abschlüsse aus Glas. Und das Ganze übertrieben ausladend. Mitten in der Wüste. Woher kommt das Wasser für all die Toiletten, Küchen, Bars, Waschplätze dieses monströsen Flughafens? Meine Mitpassagiere staunen, filmen, reden durcheinander. Wir sind wie eine erste Klasse auf unserer Herbstfahrt durch Disneyland. Die Maschine stoppt, eine Gangway nähert sich dem Bug wie von Geisterhand bewegt. Neben uns ein weiterer Air France Airbus. Vielleicht unser Ersatzflugzeug. Ich warte mit dem Aufstehen, bis die Masse draußen ist. Ein letzter Blick auf den Fensterplatz. Vielleicht hätte ich mich mit meinem Nachbar unterhalten sollen. In einem schwarzen Plastiksack enden, mitten in der Wüste …

Der Steward sieht mich, kommt her und reicht mir die Hand. Ich packe zu.
»Vielen Dank fürs Helfen beim Wegtragen.«
»Gerne. Wissen Sie, wie der Mann geheißen hat?«
»Ole Bengsson«, sagt er ohne Zögern.
»Ole Bengsson …«
»Kommen Sie. Wir müssen die Maschine räumen. Sie wird gleich in den Wartungshangar verschoben. Als Passagier der Professional Business Class können Sie zusammen mit der ersten Klasse in der VIP-Lounge von Air France warten.«
»Das klingt gut. Wann geht es weiter?«
»Schwer zu sagen. Es gibt wohl einen Konflikt im Nahen Osten, der auch den Luftraum über Israel und Syrien betrifft. Die Flüge werden gerade umgeleitet, um eine Gefährdung auszuschließen.«
»Noch ein Konflikt?« Aber er hört es nicht oder ignoriert es. Ich mache mich auf den Weg.

Eine Zeitlang war ich versucht, die Nachrichten zu verfolgen, aber ein Platz an der Bar ist verlockender. Das mit freiem Snack und Getränken bezieht sich nicht auf Alkohol. Die Preise für Southern Comfort sind happig. Belege sammeln und dem deutschen Finanzamt vorlegen. Dem Kellner habe ich gesagt, er solle lediglich Speisen und Getränke notieren. Das hat er hoffentlich verinnerlicht. Ich schlürfe den Southern, tippe dabei und denke an Maria. Egal an welche. Die US-Amerikanerin, die Schweizerin, Maryam im Hijab oder das Original – wenn ich das so sagen darf – in Köln. Ein Teil in meiner Brust hat Sehnsucht nach diesem Mensch. Kann ich dafür das Wort verliebt nehmen? Wie oft habe ich mich in den vierzig Jahren als verliebt bezeichnet? Oder gefühlt? Das kann ich an einer Hand abzählen. Etwas zieht mich vom Hocker. Die beine vertreten.
»Entschuldigung …«
»Ja, Monsieur?«
»Bitte passen Sie kurz auf das Gerät auf. Ich vertrete mir die Beine.«
»Kein Problem, Monsieur.«
»Danke.«
Mit dem Southern in der Hand gehe ich die paar Meter zu der großen Glasfront. Sie ist stark abgedunkelt. Vielleicht eine Art Polarisationsfolie, so dass niemand von außen sehen kann, wer an der Scheibe steht. Die VIP-Lounge ist erhöht. Unter mir sind Air France-Schalter. Menschen warten, Koffer, Rucksäcke, die Schlangen sind lang. Das hat sicher mit dem Nahen Osten zu tun. Wir fliehen alle. Aus Malaysia, aus dem Nahen oder Mittleren Osten, aus Kanadas oder Brasiliens brennenden Wäldern und morgen vor dem nächsten Konflikt, dem nächsten Untergangsszenario. Aber wohin? Der Planet ist eine Kugel. Fliehen zwecklos. Ein letzter Schluck. Schon wieder leer. Eine der in einer Air France-Uniform steckenden Frauen dreht sich um, nimmt ihre Tasche aus dem Unterschrank, streckt sich, legt ihrer Kollegin eine Hand auf den Unterarm und entfernt sich vom Schalter. Es ist Maria! Eindeutig. Ich drücke die Nase gegen die Scheibe und will hindurchspringen. Sofort da hinunter und ihr hinterher. War sie schwanger? Wie von der Tarantel gebissen, gehe ich zügig zur Theke.

»Danke fürs Aufpassen. Ich nehme noch einen, bitte. Und sagen Sie, kennen Sie die Leute, die unten an den Schaltern arbeiten?«
»Nein, mit denen habe ich nichts zu tun. Die wechseln auch zu oft. Warum?«
»Ach, ich dachte, jemanden gesehen zu haben, den ich kenne. Es ist wohl nicht möglich, mal hier rauszukommen, oder?«
»Leider nein. In Ihrem Fall befinden Sie sich auf französischem Boden, noch vor der Einreisekontrolle. Von hier gibt es nur den Weg in eine Maschine der Air France.«
»Ja, das dachte ich mir.« Er stellt einen Southern auf die Theke. Etwas mehr als die üblichen zwei Finger, habe ich den Eindruck. »Besten Dank.«
»Keine Ursache.«
Die Theke ist aus weißem Marmor. Kühl. Ein verwirrendes Muster an unterschiedlichen Ausrichtungen des Materials, fein geschliffen. Keiner Linie kann ich länger als ein paar Sekunden folgen. Meine Konzentration ist im Eimer. Es gibt nur noch einen Menschen, an den ich denken kann. Und diesen Menschen gibt es vier Mal! Bisher. Was völlig unmöglich ist. Vielleicht ist unser ganzer Planet momentan an einem Schnittpunkt mehrerer Paralleluniversen? Blödsinn. Dann gäbe es von allen anderen ebenso mehr Duplikate. Auch von mir oder dem Barmann oder Friedrich. Nein. Es ist dieses Universum. Diese Galaxie. Dieses Sonnensystem und nur eine Erde. Aber eine Menge Marias. Und alle mehr oder weniger schwanger. Wo ist der Vater des Kindes, wollte ich von Mary wissen. Ich weiß es nicht, war ihre Antwort. Sie weiß nicht, wo der Vater ist. Das kommt vor, aus welchen Gründen auch immer. Ich verfluche mich. Falsche Frage. WER ist der Vater des Kindes?, hätte ich fragen sollen. Ein gruseliger Gedanke versucht von mir Besitz zu ergreifen. Ich lehne ihn ab und stehe auf. Wieder zur Scheibe. Maria ist nicht unten, ihre Kollegin allein. Die Schlange bewegt sich keinen Millimeter. Warum nicht? Über der Bar hängt ein Samsung-Schirm. Zurück auf dem Hocker, bestelle ich einen doppelten Southern und bitte den Barmann, einen Nachrichtenkanal einzuschalten.

Ja, tatsächlich. Israel wurde überfallen. Von drei Seiten. Hamas, Hisbollah und Islamischer Dschihad. Wenn man genau hinschaut, werden sich noch weitere Extremistengruppen finden lassen. Angriff mit allem, was das gekaufte und eigens hergestellte Arsenal hergibt. Geld fließt genug. Sicher vom Iran, aus Katar, erklärt der Anchorman von CNN. Er weiß gar nicht, wohin er zuerst schalten soll, bekennt er in einem Anflug von Verzweiflung. Welche Katastrophe müssen wir zuerst analysieren? Er wirkt für einen Augenblick ratlos. Huthi-Rebellen aus dem Jemen feuern Mittelstreckenraketen über Saudi-Arabien Richtung Israel, sagt er und schüttelt den Kopf. Gekauft im Iran. US-amerikanische Zerstörer im Roten Meer und dem Golf von Aden fangen die Raketen ab. Ausländische Touristen sollen Israel umgehend verlassen, zitiert er das Außenministerium in Washington. Ich schaue auf Google Maps, wie weit wir von Israel entfernt sind und wohin wir überhaupt fliegen könnten.

»Sie wirken nervös«, höre ich die Stimme des Barmanns und stecke das Handy in die Hemdtasche. Für einen anderen Gast schüttelt er einen Cocktail, lässt ihn über zerstoßenes Eis in ein Kelchglas laufen. Eine grün schillernde Flüssigkeit.
»Ich bin nervös, ja. Malaysia habe ich verlassen wegen der Terroranschläge und nun das. Ich habe keine Ahnung, was ich von all dem halten soll. Mir fehlen die Worte. Und das kommt nicht oft vor.« Auf seinem Namensschildchen steht Kavindu. Ich deute darauf. »Woher stammt der Vorname?«
»Ich bin in Sri Lanka geboren«, sagt er, stellt dem Mann zwei Hocker rechts von mir das Glas auf eine Korkunterlage und kassiert gleich ab. »Mein Vater stammt aus Indien, meine Mutter ist eine indische Tamilin.«
»Und jetzt arbeiten Sie für Air France in Dubai in einer Bar.«
»Ganz genau«. Er grinst, steckt den Schein in ein Lederetui und wischt die ganze Theke ab. Ich hebe das Glas. Ein fast leeres Glas.
»Möchten Sie noch einen?«
»Gerne.«
»Sie trinken nicht wenig, schätze ich.«
»Ich wusste nicht, dass man mir das ansieht. Bisher hat das noch niemand gesagt.«
»Vielleicht treffen Sie nicht so viele Menschen. Vielleicht sind Sie lieber allein. Und die paar, die Ihnen begegnen, sind es gewohnt oder es ist ihnen egal.« Weisheit in einer Air France-Bar in Dubai. Ich muss lachen. Kavindu ebenfalls. Er gießt etwas mehr ins Glas.
»Warum trinken Sie mehr als üblich? Und was üblich ist, habe ich über viele Jahre als Barmann abzuschätzen gelernt.«
»Was ist denn üblich?«
Er füllt den Kühlschrank unter der Zapfanlage mit Perrier auf, wischt über den Edelstahlrahmen, prüft mit dem Zeigefinger. Es quietscht.
»Mit üblich meine ich nicht die beobachtete Menge. Mit üblich meine ich, wie die Menschen, die mehr trinken als üblich, auf dem Hocker sitzen, das Glas halten, es anstarren, die Mimik beim Trinken, der Blick in den Spiegel hinter mir und noch ein paar Dinge, an denen man erkennt, dass es mehr als üblich ist.« Das beeindruckt mich und ich weiß keine sinnvolle Antwort. Dann schaue ich aufs Notebook. Die letzten Sätze dort.
»Sie könnten Schriftsteller werden, statt Barmann zu sein. Die Beobachtungsgabe haben Sie ja, und das ist mit das wichtigste Werkzeug.« Ein verhaltenes Grinsen, fast schelmisch, formt sein Gesicht. Bis hoch zu den Augenwinkeln.
»Das tue ich. Schreiben. Meinem Namen entsprechend. Kavindu bedeutet im Sanskrit ‚Der Dichter des Mondes‘. Also dichte ich.«
»Der Dichter des Mondes«, wiederhole ich gedehnt, denke an den Mond und einen jungen Mann, der das aufschreibt, was das kühle Mondlicht ihm einflüstert. »Das ist aber wirklich schön«, setze ich nach. Denn das ist es wirklich. Wahrlich schön. »Und schreiben Sie viel?«, will ich wissen. Ich habe Feuer gefangen. Menschen die schreiben, sind gar nicht so selten, aber Menschen die Lyriker sind, schon eher.
»Durchaus. Ziemlich viel sogar.«
Ich hole den Lederbeutel unter dem Hemd hervor, entnehme eine Visitenkarte von Friedrich und dem Verlag und gebe sie ihm. »Hier, das ist mein Verleger. Ab und zu wagt er Experimente mit Dichtung, mit Lyrik. Wenn es ihn mal wieder anfällt und er Mäzen sein möchte, kein Kapitalist. Schicken Sie ihm ein paar Werke. Ich werde ihn vorwarnen, dass er es mit mir zu tun bekommt, wenn er die Mail löscht.« Kavindu starrt auf die Karte. Dann greift er zu, lässt sie in der Hosentasche verschwinden, legt die Handflächen gegeneinander und verbeugt sich.
»Vielen Dank, Monsieur. Wirklich! Vielen Dank!«
Ich ziehe die Mundwinkel breit und lasse einmal die Augenbrauen hoch und runter. Eine aufmunternde Geste, denke ich, aber ich habe überhaupt keine Ahnung, ob er sie versteht. Ein Reflex greift zum Glas, ich trinke zwei Schluck. Die Zeit kriecht.
»Warum trinken Sie denn mehr als üblich?«
Ich sehe ihn an und denke an Maria. Maria mit dem Kind. Ich glaube, ich werde verrückt.


Da sitze ich in der Toilettenkabine auf weißem Porzellan und weine. Gerade noch geschafft, trockenen Auges die Toilette zu erreichen. Leise weinen ist eine Qual. Sich zu schämen hinter einer verschlossenen Tür der reine Horror. Die Leute an den Waschbecken, vor den Spiegeln, können das hören, wenn sie gute Ohren haben. Ich würde es hören und wäre peinlich berührt. Wann saß ich das letzte Mal an so einem Ort und habe geweint? In Singapur. Nicht so lange her. Da draußen sterben Menschen in Massen. Sie musst du beweinen, nicht dich. Maria nähert sich dir wie ein Komet auf einer elliptischen Bahn. Am Punkt größter Annäherung sehe ich sie, dann entschwindet sie wieder in die Schwärze. Ich will sie festhalten. Umgekehrt ist das zu bezweifeln. Das Wort möchte ich nicht denken. Lieber den Rest Toilettenpapier zum Trocknen der Tränen und Putzen der Nase verschwenden. Einmal tief durchatmen.
Aufschließen und direkt an ein freies Waschbecken, das mittlere von drei freien. Links und rechts Männer in identischen Trainingsanzügen. Franzosen. Vielleicht irgendein Sportteam. »Die verdammten Araber!«, sagt einer auf der linken Seite. »Die verdammten Extremisten!«, verbessert sein Nebenmann. »Spinnt ihr? Die Juden sind an der ganzen Scheiße schuld!«, wirft der rechts von mir ein. Schnell Wasser ins Gesicht. Lieber ein paar Mal. »Sind Israelis!« von links. »Israelis, Israelis! Sind Juden!« von rechts. »Du bist doch selbst Palästinenser!« von links, und »Wer züchtet denn Kindersoldaten wie Pilze im Keller?! Die Islamisten!« Eine Bewegung auf der rechten Seite, schon drückt mich ein Körper ans Waschbecken. Ich kann mich grad noch daran abstützen, da prallen die beiden aufeinander. Ich muss an ihnen vorbei. Vorsichtig. Ihre Rauferei ist raumgreifend. Zwei andere versuchen sie auseinanderzuziehen. Ein Dritter füllt eine Flasche mit Wasser und kippt es über die Kampfhähne. Ein letzter Blick und ich bin draußen. Wieder zur Bar. Ein doppelter Southern wird helfen.

Kavindus Frage wird unbeantwortet bleiben. Er weiß es. Ich weiß es. Nutzt aber nicht viel, denn Kavindu kann sehen, was es mit dem Krimi-Autor Heinrich Konstantin auf sich hat. Der Dichter des Mondes weiß in mir zu lesen, wie im kühlen Mondlicht. Vormachen muss ich ihm nichts. Mit einem Lächeln stellt er das Glas auf den Marmor. Warum bleibt sein Blick so lange auf mir hängen? Sicher habe ich rote Augen vom Weinen. Zum Glück hebt ein anderer Gast sein leeres Glas und Kavindu wendet sich ab. Zwei Stunden bin ich schon hier. Niemand kann den Bereich verlassen. Gefangene auf französischem Boden in Dubai. Mit dem Glas gehe ich zum Fenster und schaue auf die Schlange. Immerhin hat das Einchecken begonnen. Maria ist wieder an ihrem Platz. Die linke Hand lege ich flach auf die Scheibe. Der Name klopft an alle Türen in mir drin. Wie kann ich es nicht hören? Wie kann ich es vertreiben? Maria ist keine monströse Spinne, auch kein tiefes, dunkles Wasser, nicht hohe Wände und Mauern, zwischen denen ich angstvoll kauere. Sie trinkt aus einer Wasserflasche, dreht sich und schaut hoch. Mir stockt der Atem. Unmöglich, dass sie mich sieht. Polarisiertes Licht. Doch ich bin es, den sie anschaut. Noch einen Schluck trinkend, dann stellt sie die Flasche weg. Ihre Kollegin sagt etwas und Maria antwortet, dreht sich zurück und nimmt zwei Tickets entgegen. Ich weiß, dass ich sie liebe.

Zum ersten Mal in meinem Leben, zum ersten Mal in meiner Erinnerung, schaffe ich es in Gänze über die Mauer. Nicht nur mit Worten, nicht nur mit einem Arm, nicht nur mit dem halben Körper. Ich springe von der Mauerkrone und stehe auf der anderen Seite. Aber hinter einer Scheibe, die ich nicht durchbrechen kann. An einem Ort, den ich nicht verlassen darf. Schritte neben mir. Schweres Atmen. Ein alter Mann.
»Was gibt’s zu sehen?« will er in einem Französisch mit seltsamem Akzent wissen. Vielleicht ein Bretone.
»Nur Menschen.«
»Wie deprimierend«, erwidert er und verzieht sich wieder. Eine Stewardess kommt durch die doppelflügelige Glastür, hebt einen Karton über sich. AF0728 à destination de Paris. Damit bin ich gemeint. Sie wartet, bewegt das Schild unentwegt im Halbkreis. Aus einem Lautsprecher kommt die Ansage, alle Passagiere aus der First und Professionell Business Class sollen sich zum Gate begeben. Ich bringe das Glas zurück und strecke die Hand über die Theke. Kavindu nimmt sie. Ein Lyriker mit einem lyrischen Händedruck. Sanft. Er lächelt und nickt.
»Auf Wiedersehen, Kavindu.«
»Auf Wiedersehen, Monsieur.«


Wir sind in der Luft. Dubai vergessen. Immerhin habe ich einen Fensterplatz. Leider in der Economy-Class. Wahrscheinlich hat Air France alles in den Flieger gestopft, was möglich ist, egal welcher Sitz, egal welche Klasse. Einen Teil vom Geld bekämen wir nach Ankunft in Paris zurück. Lediglich ein schlankes Formular sei dort auszufüllen. Zuerst einmal jedoch wird der nächste Aufenthalt Istanbul sein, denn diese Maschine hätten sie nur geliehen von Turkish Airlines, um die Touristen aus dem Nahen und Mittleren Osten zu bekommen. Also Istanbul. Immerhin liegen beide Istanbuler Flughäfen auf dem europäischen Teil. Zurück in Europa. Kurze SMS an Friedrich.
Haben Dubai verlassen. Lebe noch. Sitze in einer von Air France geleasten Maschine der Turkish Airlines. Destination wahrscheinlich Istanbul, dann weiter. Gruß, Heinrich.
Ein besonders heftiges Husten links. Das hört sich fast nach Auswurf an. Angeekelt drücke ich mich so nah ans Fenster wie es geht. Der ältere Mann links schläft jedoch weiter. Nicht mal dieser Hustenanfall hat ihn geweckt. Er wird hoffentlich nicht ebenfalls sterben. Zwei Tote neben mir an einem Tag wären für mein Nervenkostüm nicht förderlich. Doch er atmet. Langsam hebt und senkt sich die Brust. Auf dem Schoß hat er eine Zeitung. Den Guardian. Ob er es wohl erlauben würde, dass ich ihn lese? Vorsichtig nehme ich ihn an mich. Er sei auf den Boden gerutscht, kann ich als Erklärung verwenden.

Nichts passiert, außer einem metallischen Röcheln, dass aus des Alten offenem Mund rollt. Vielleicht findet sich in den Meldungen etwas, das ich noch in den Roman einbauen kann. Gleich auf der Titelseite: THE FORGOTTEN WAR! Der Guardian ruft seinen Leser*innen ins Gedächtnis, dass noch ein weiterer Krieg existiert. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Das wird Putin gefallen. Was besseres kann nicht passieren, als dass ein neuer Krieg einen älteren vergessen macht. Seite zwei, Israel, Seite drei, Malaysia, Seite vier ein ganzseitiger Bericht aus Manaus. Tote Fische. Ein bisschen mehr Klimakatastrophe im Krimi kann nicht schaden. Vielleicht könnte ich den nächsten Roman um das Thema herum planen. Aktivisten töten Konzernchef. Vorsichtig lege ich den Guardian zurück, schließe die Augen und sehe Maria vor mir. So deutlich, so zum Greifen nah, dass mein Magen sich zusammenzieht, schmerzt. Vierzig Lebensjahre, sagt sie, aber zu mehr als ein paar hunderttausend Worte hat es nicht gereicht. Eine Stimme will wissen, ob ich etwas zu trinken möchte. Also Augen auf.
»Wenn Sie Jack Daniels haben, nehme ich einen doppelten.«
»Wir haben nur Glenfiddich.«
»Dann eben einen doppelten Glenfiddich.«
Der Alte schnarcht. Ein schmaler Speichelbach läuft aus dem rechten Mundwinkel, übers Kinn und verteilt sich in den Bartstoppeln. Feuchter Glanz im schwachen Schein der LED über uns. Ich werde auch mal so enden, vermute ich.

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