Singapur
Von den Niederländern ist nichts zu hören als gleichmäßiges Atmen. Mein Wachwerden war ungewöhnlich und ungewohnt. Stille im Auto. Kein Radio, keine plappernde Fahrerin. Industrie, Gewerbe, der kühle Luftstrom der Klimaanlage. Es kommt mir vor, als ruhe ich in einem anderen Körper, habe kurzzeitig von ihm Besitz ergriffen, um zu sehen, was er sieht. Zu hören, was die Welt an diesem Ort zu sagen hat. Den Duft eines fernen Landes einatmen. Wenn auch nur der eines Isuzu auf dem Weg von Port Dickson nach Singapur.
»Passport«, sagt eine Stimme. Was möchte sie damit sagen? Meint sie überhaupt mich? Die schmale Hand geht zum Lenkrad. Zwei Mal drückt sie auf die Hupe.
»Was ist?«, fragt der Niederländer.
»Passport«, wiederholt sie.
»Haben wir lange geschlafen?«, will er wissen. Der Körper in dem ich ruhe, dreht den Kopf.
»Zweieinhalb Stunden oder so.«
»Passport!«
Ich nicke. Herr van Delft rüttelt an seiner Frau.
»Reisepass, Liebling!«
Völlig benommen kramt sie aus einem Lederbeutel auf ihrer Brust zwei niederländische Reisepässe. Ich nehme sie an mich, klappe beide auf. Meiner steckt in der Hemdtasche. Die Fahrerin grinst, nimmt alle drei an sich und steckt sie zwischen ihre Oberschenkel. Endlich schaue ich nach vorne und sehe mehrere große Terminals vor mir, gebaut wie Bahnhofshallen. Neunzig Grad zu unserer bisherigen Richtung. Die Straße teilt sich mehrfach auf. Ich blicke nicht durch. Schwellen alle paar Meter. Wir werden durchgeschüttelt. Wieder teilt sich die Straße in Ausfahrboxen mit Kabinen. Uniformierte lenken die Fahrzeuge mal hier hin, mal dort hin, je nach Platz. Fensterscheibe runter, Ausweise in Schiebebox. Von dem was gesprochen wird, kann ich nichts verstehen. Nur Kuala Lumpur, Tourist und Changi Airport. Verständiges Nicken. Das mit den Terroranschlägen und flüchtenden Touristen muss sich rumgesprochen haben. Die Fahrerin bekommt drei Zettel mit den Ausweisen, gibt alles mir und fährt weiter. Ich reiche zwei der Papiere nach hinten. Der Niederländer liest vor.
»Die Republik Singapur wird Ihnen eine Durchreise zum Flughafen ermöglichen, inklusive zweier Tage Aufenthalt im Crowne Plaza oder – falls Sie heute schon weiterreisen – Essen und Getränke im Transferbereich. Falls Sie einen touristischen Aufenthalt in Singapur erwägen, melden Sie sich an folgender Adresse …« Er legt den Zettel neben sich. »Wir haben schon einen Flug von unserer Botschaft buchen lassen. Und Sie?« Gespannt sieht er mich an.
»Ich habe noch nichts geplant, also werde ich heute Nacht in diesem Hotel übernachten und morgen früh den nächstbesten Flug nach Europa buchen.« Es holpert und wir sind auf einer Brücke, dem Johor Causeway, wie auf dem Asphalt steht. Vor uns ein die Straße überspannendes Schild, ‚Woodlands‘ steht drauf. Woodlands?
Ein noch größeres Terminal kommt in Sicht. Eine Art Weltraumbahnhof oder was ähnliches. Ich lehne mich zurück und starre auf das Bild der Welt vor der Scheibe, höre nicht mehr wirklich zu, was die beiden hinten miteinander reden. Vielleicht bin ich wirklich auf einem anderen Planeten. Die Erkenntnis, dass die Welt in meinem Kopf um einiges kleiner war als ich bisher angenommen hatte, schleicht sich gnadenlos in mein Bewusstsein. Gegen das, was ich sehe, ist Köln oder etwa Frankfurt ein Kinderspielzeug. Ich weiß nichts. Nichts über Singapur oder Malaysia. Bisschen Kleinkram aus dem Erdkundeunterricht. Aus Wikipedia. Drei mal Weltspiegel geguckt vor 25 Jahren. Vier Mal James Bond. Das hier jedoch ist etwas völlig anderes.
Wir folgen einem hochorganisierten Lindwurm. Mit tausend anderen Fahrzeugen – so kommt es mir vor – erreichen wir gleichzeitig die Grenzstation, müssen Reisepässe, den Wisch von vorhin, unsere Hotelbuchungen und Anreisetickets zeigen, bekommen dafür einen Stempel in den Reisepass, werden gefragt, ob wir das schöne Singapur sehen möchten, verneinen aber. Mit einem Lächeln und Schulterzucken entlässt er uns in ein Meer aus Straßen, Parks, futuristischen Hochhäusern und folgen dem stählernen Lindwurm über Hochstraßen und durch Tunnel.
Die beiden hinter mir durchforsten das Internet nach Informationen, schicken Nachrichten, telefonieren mit Verwandten, Bekannten, beruhigen so gut es geht. Alles sei in Ordnung, wir leben noch, auf dem Weg nach Singapur. Dem beginnenden Tag hinterherfliegen ist ja was schönes. Bald werden wir in Schiphol sein, ja, abholen sehr gerne, Küsschen, Umarmung. Schön, wenn man jemanden hat. Oder? Wen habe ich? Die Fahrerin grinst die Scheibe an. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht kann sie ja die Bilder in meinem Kopf erkennen. Und die muss sie nicht übersetzen. Draußen ist Wald, Regenwald, eine Menge Grün. Bald ändert sich das, geht über in eine wogende Fläche aus allen erdenklichen Häuserformen. Bizarre Konstruktionen. Eine Art Hochhaus-Bügelbrett in der Ferne. Drei Gebäudeteile, die ein sehr viel größeres, flaches Gebilde tragen, auf dem wiederum kleine Gebäude und Bäume stehen. Und überall Solarzellen. Es sieht aus, als hätten die Dächer Singapurs mehr Photovoltaik als ganz Deutschland zusammengenommen. Ich wohne in einem mittelalterlichen Land. Es geht vierspurig nach Osten; das deute ich aus dem Sonnenstand. Immerhin sind die Straßenschilder in lateinischer Schrift und das blaue Autobahnzeichen bringt mich zum Grinsen. Offenbar haben sich die hiesigen Verkehrspolitiker deutsche Autobahnen angesehen.
»Schauen Sie«, sagt die Niederländerin und tippt auf meine Schulter. »Auf allen Häusern die Solarzellen. Und so hoch gebaut, dass man noch etwas drunterstellen kann.«
»Ja, schon gesehen.«
Die Fahrerin versteht nichts, lächelt zu unseren Worten, zeigt nach links und rechts. »Greeet! Greeet!«, kommt es in malaiischem Englisch.
»Ganz großartig«, bestätige ich nickend. Beidseitig der Autobahn eine fast endlose Anzahl Mietskasernen, zwanzig oder dreißig Stockwerke. ‚Don’t drink and drive‘ steht auf einem gelben Schild. Wir schauen raus und staunen. Bald sind es nur noch drei Spuren pro Richtung. Aber immer noch Solarzellen. Wieder ein grünes Schild. Flughafen geradeaus. Punggol Central Exit 7 und Tampines Road 7A.
»Das Licht ist so grell draußen.« Was hat der Niederländer gesagt? Ich habe nicht richtig zugehört und drehe den Kopf.
»Wie bitte?«
»Das Licht ist so anders als bei uns. Viel intensiver.« Ich nicke.
»Ja, Sie haben recht. Alles ist klar umrissen, ein hoher Kontrast …«
»Hoffentlich sind wir bald da«, meint er dann.
»Bestimmt.«
Kurz darauf wird es auf der linken Seite wieder grüner. Wiesen, Wald, wir überqueren eine Art Kanal und rechts taucht ein Militärflughafen auf. Danach wieder Mietskasernen, eine Buddhist Tzu Chi Stiftung in einem ungewöhnlich konstruierten Gebäude, einer Art Betontempel. Unmengen von Baukränen auf der rechten Seite. Ein Schild der Straßenbaubehörde auf der eine Erweiterung der Brückenkreuzung angekündigt wird. Durch die Scheibe sehe ich ein startendes Flugzeug, atme auf. Genug von Südostasien. Ich will nach Hause. Mehr nicht. Und ich muss dieses Buch schreiben.
Endlich Lichtanlagen, rotweiß lackierte Stangen, Betonabgrenzungen, ein großer Zaun. Das Flughafengelände ist erreicht. Wenn er so angelegt ist wie das, was ich bisher gesehen habe, kann es sich nur um ein Monstrum handeln. Wir nehmen die linke Spur. A’Port steht auf dem Asphalt. »Terminilwan«, sagt die Fahrerin gegen die Scheibe.
»Yes, Terminal one«, kommt es von hinten. Sie nickt, beugt sich vor und liest, was auf den Schildern steht. Ich bin froh, dass nicht so viel Verkehr ist. Es wird fünfspurig, auf einem Rollfeld über uns schwebt eine Maschine der Air France dahin; so sieht es zumindest aus. Links und rechts ziehen die Terminals an uns vorbei und vor uns sehen wir eine enorme Glaskuppel. »Dschuul«, erklärt sie und verzieht das Lenkrad kurzzeitig. Jemand rechts hinter uns hupt zwei Mal. »Dschuul!«, wiederholt sie. Keine Ahnung, was sie damit meint.
»Das ist das Juwel«, sagt der Niederländer. »Diese Glaskuppel da vorne. Das nennt sich Juwel.« Ich antworte nicht. Direkt vor diesem Juwel steht der Tower, blau leuchtende Scheiben, mehrstöckig. Dahinter das Raumschiff. Juwel ist eindeutig das falsche Wort. Das müssen um die zweihundert Meter Durchmesser sein. Es besteht aus zusammengesetzten Dreiecken. Nicht alle aus Glas. Offenbar zufällig verteilt, finden sich auch Platten aus Aluminium.
»Oh!«, kommt es wie aus einem Mund von der Rückbank. Departure Jewel Drop-off ist vor uns zu lesen. Wir folgen. Die Fahrerin summt ein Lied. Links am Raumschiff vorbei, leicht ansteigend, dann sind wir auch schon am Terminal eins und steuern in eine große Parklücke, kommen mit einem Quietschen zum Stehen.
»Endlich«, sagt die Niederländerin, deren Vornamen ich noch nicht mal kenne. Die Fahrerin springt aus dem Isuzu, öffnet beide Schiebetüren. Ich steige aus.
Eine Verabschiedung aus dem Bilderbuch. Geert und Merritt van Delft. Umarmungen der besonders innigen Art. Geld wollten sie mir geben fürs Taxi, was ich aber abgelehnt habe. Schließlich sind wir alle Europäer, sagte ich und irgendwie waren beide zu Tränen gerührt. Nun, wir sind es ja auch, Europäer. Also schaue ich ihnen nach, wie sie verschwinden im Gedränge Richtung KLM-Schalter. Ab und zu winken, die Hand heben. Besuchen Sie uns, sagten sie und drückten mir eine Karte mit Adresse in die Hand. Ja, das ist eine Überlegung wert.
Auf den großen Fernsehschirmen läuft CNN und Al Jazeera. Jede weitere Stunde kommen Tote hinzu. Die zwei Hotels in Kuala Lumpur sind größtenteils zerstört. Der US-Präsident macht eine finstere Miene und China schlägt vor, nicht über irgendein Ziel hinauszuschießen und den Ball flach zu halten. Im Sinne des Wortes, nehme ich an. Dann sehe ich mich um. Menschen. Eine Bombe hätte hier eine verheerende Wirkung. Vermutlich eine Rebellengruppe aus Ost-Borneo, erklärt der Stratege einer weltbekannten Denkfabrik. Ich kenne ihn nicht, aber in diesem Terminal werde ich die Lufthansa nicht finden. Das weiß ich. Und alle Gebäude abklappern kommt nicht in Frage. Dreißig Meter vor mir ist der Air France-Schalter. Also Paris. Von dort kann ich den Eurostar nach Köln nehmen.
Das Crowne Plaza ist zwar ein Flughafen-Hotel, aber mondän. Für eine Nacht buche ich hochwertig. Schließlich soll ich hier übernachten, hat Friedrich gesagt, also muss er dafür bezahlen. Und bei den vielen Flüchtenden war eben nichts anderes frei. Fünfhundert Dollar für eine Nacht ist schon ein Wort. Nach einem Bad in der mitten im Raum auf Edelholz stehenden Badewanne, die aussieht wie ein angeschnittenes Ei, ziehe ich gute Leinensachen an und mache mich auf den Weg in die Bar. Meine ungewaschenen Kleider nehme ich mit und gebe sie mit der Zimmermarke beim Wäscherei-Service ab. Morgen früh sind sie wie neu, verspricht mir der junge Mann in bestem Englisch. Der Kontinent des Lächelns. In einem durchgehend in dutzenden Blauschattierungen gekachelten Restaurant esse ich Saté-Spieße auf Palmherzen, dazu eine Knoblauch-Erdnuss-Sauce. Ich habe selten ebenbürtig Gutes verspeist. Die Rechnung wird auf meinem Chip verbucht. Auf dem Tisch lasse ich zwanzig Euro liegen und gehe in die Bar. Dort ist durch eine große Fensterfront der Pool des Hotels zu sehen, der – von großen Pflanzen eingerahmt – in den Innenhof des Hotels gebaut ist. Trotz allem sind wir im dritten Stock. Es ist angenehm kühl und gegenüber der Fensterfront, neben der Bar, ist ein Ecktisch frei, der mehr einem Sofatisch aus dem heimischen Wohnzimmer ähnelt, ebenso der Sessel. Ich lasse mich fallen, strecke beide Beine aus, schließe die Augen und atme tief durch. Vielleicht sollte ich den Rest meines Lebens auf diese Art verbringen, an solchen Orten. Im Crowne Plaza. Egal wo auf der Welt. Southern Comfort wird es überall geben. Ein angenehmer Geruch nähert sich.
»Sir?«
»Southern Comfort, bitte.«
»Sehr wohl.«
Mit geschlossenen Augen fällt es mir schwer zu sagen, ob das die Stimme einer jungen Frau oder eines jungen Mannes war. Ich sehe nicht nach. Außerdem ist es angenehm ruhig, kaum etwas zu hören. Leise Musik. Ich glaube es ist jazziger Soul. Dann sind da Männerstimmen, breites Englisch, etwas Asiatisches und mindestens drei Franzosen. Und wer soll der Mörder sein? Mein Herz beginnt zu pochen. Der Roman! Was mache ich nur mit diesem plötzlich so ungeliebten Projekt?
»Bitte, Sir! Ihr Southern Comfort.«
»Vielen Dank.«
»Sehr gerne.«
Ich kann ihn riechen, den Southern. Janis Joplin fällt mir ein. Er war ihr Tod. Vielleicht wird es einmal meiner. Allerdings macht mich vorher Friedrich einen Kopf kürzer. Die Marketing-Agentur steht in den Startblöcken. Kapital ist zurückgelegt oder schon investiert. Warum habe ich für fünf Krimis unterschrieben?! Ich muss wahnsinnig gewesen sein. Zeit für einen tiefen Schluck vom köstlichen Duft. Die Augen öffnen fällt mir schwer, doch als ich es tue, sehe ich sie. Maria.
Nur einen Tisch neben meinem. Wie lange habe ich die Augen geschlossen gehalten? Fünf Minuten? Keine Schritte, kein ‚Guten Tag‘. Sie ist einfach da. Aus dem Nichts, könnte man meinen. Aber nein, sie hat natürlich hier gebucht, eine fliehende Touristin aus Malaysia oder einfach Urlaub in Singapur. Aber ist sie schwanger? Ich beuge mich vor, kneife die Augen zusammen. Ja, wenn sie keinen Bierbauch hat, was ich nicht annehme aufgrund ihres Aussehens, dann ist diese Maria schwanger. Oder Maryam. Oder Marianne. Ein langer Zug mit Zwischenschluck und mein Southern ist leer. Ich suche den Blick des Kellners, das Glas auf Kopfhöhe hebend. Ein aufmerksamer Mensch, der mein Signal nur einen Atemzug später bemerkt, nickt und es stillschweigend holt.
»Danke.«
»Sehr gerne, der Herr.«
An dieses Hotel, diese Bar, könnte ich mich gewöhnen. Vor dem Fenster sind ein paar Gäste in Badehose und Badeanzug, sitzen am Beckenrand, die Unterschenkel im Wasser. Erzählen, lachen, trinken Cocktails. Ein paar hundert Kilometer entfernt sterben Menschen oder werden tot aus zusammengestürzten Etagen gekratzt, Familien benachrichtigt, Plastiksäcke mit Leichen gefüllt und wir fühlen uns gut. Das ist es, was der Mensch ist: Fühlt sich wohl in seiner kleinen Welt, die er möglichst überall hin mitnimmt und gegen alle Unbilden verteidigt. Ich bin in keinster Weise anders und zucke mit den Schultern, begrüße den Kellner mit einem Lächeln, denn warum sollte ich das nicht tun?
»Ihr Getränk, der Herr.«
»Vielen Dank.«
Schon ist er wieder weg, sein schmaler Körper macht Platz für den Blick auf Maria am Nebentisch, die direkt in meine Augen sieht. Entschlossen stehe ich auf, greife das Glas und gehe zu ihr, vor den zweiten Sessel, nehme langsam Platz.
»Guten Tag, Maria.«
»Excuse me?«
Sie ist US-Amerikanerin. Alle Worte gequetscht aus dem Rachen, so breit wie Lasagneplatten. Auf Englisch wiederhole ich die Begrüßung. Außer weit geöffneten Augen passiert nichts. Victoriablätter. Die Nase. Sogar mit der dunkelrosa Zunge benetzt sie die Lippen. Sie ist perplex.
»Sie heißen doch Maria, oder?«
»Mary.« Ein unmerkliches Nicken. Wenige Blicke in den Raum, links und rechts an mir vorbei. Womöglich bin ich ein Spinner und es ist besser, Hilfe in der Nähe zu wissen.
»Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Konstantin. Sind Sie auch vor den Terroranschlägen in Kuala Lumpur geflüchtet? Gestern war ich noch in einem Hotel in Port Dickson und jetzt will ich nur nach Hause.« Sie entspannt sich nicht.
»Okay, das tut mir leid für Sie. Ich heiße zwar nicht Maria sondern Mary, aber mich würde schon interessieren, woher Sie das wissen?« Ein Schluck Southern wird mich beruhigen, denn eventuell war ich zu forsch. Ihre Unsicherheit macht mich nervös.
»Entschuldigung, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle. In Port Dickson habe ich eine Person kennengelernt, die Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Fast wie eineiige Zwillinge. Tut mir sehr leid.«
Um das zu unterstreichen nicke ich bedeutungsschwer und stehe wieder auf. Ein weiterer Schluck auf den paar Metern zu meinem Tisch und das Glas ist leer. An der Bar hole ich einen Doppelten und setze mich wieder in die Ecke. Mary lässt mich nicht aus den Augen. Dann fotografiert sie mich, tippt und wischt auf dem kleinen Schirm. Nicht besonders nett. Datenschutz funktioniert anders. Dann jedoch steht sie kurzerhand auf und kommt rüber. Dieses Mal ist es an ihr, sich in den Sessel nebenan zu setzen.
»Sie sind Krimiautor. Sagt zumindest die Google Bildersuche. Ihr Name ist Heinrich Konstantin. Und auf der Liste Ihrer Bücher ist eines, das meine Freundin vor einem halben Jahr gelesen hat und als sehr spannend beschrieb.«
Ich muss grinsen. »Anonymität ist in heutigen Zeiten wohl ziemlich in Vergessenheit geraten.«
»Sie hätten mich nicht ansprechen dürfen. Das mache ich immer so, wenn unbekannte Menschen das tun.«
»Und hat sich schon mal jemand beschwert?«
»Einige.«
»Aber es ist Ihnen egal.«
»Ihnen ist ja auch egal, ob ich angesprochen werden will.«
»Touché.«
Nun grinst sie breit. Dass es sich ähnelnde Menschen an vielen Orten dieses Planeten gibt, ist ja nichts Neues. Aber vier absolut identische Frauen, die alle den mehr oder weniger gleichen Vornamen tragen und denen ich innerhalb kurzer Zeit begegne, ist weit außerhalb allem, das ich je gehört habe oder zu denken wagte. Ich bin einig mit mir, dass Zufall nur eine menschliche Bezeichnung für Wahrscheinlichkeit ist, aber es ist eben nur wahrscheinlich. Was mir passiert, wird zunehmend unwahrscheinlicher.
»Ich habe Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt, Mary.«
Ihre Augenbrauen wandern in die Stirn. Drei Falten entstehen. Eine ebenso beeindruckende Schönheit wie die anderen Marias.
Sie hört schweigend zu. Sehr konzentriert. Dieses konzentrierte Zuhören lockt mehr Worte aus mir, als ich sagen will. Kurz und knapp war mein Ziel. Aber am Ende bin ich bei Warum und Wieso. Der letzte Schluck Southern beruhigt mich, dämpft mein Zittern, das hoffentlich nur ich selbst bemerke. Ich ertappe mich beim Gedanken, von ihr eine Antwort auf das alles zu bekommen. Tja, willkommen bei Versteckte Kamera. Wie froh ich doch wäre. Und wie enttäuscht. Ich will, dass es real ist. Und hebe das Glas über mich, muss nicht nachschauen, ob der Kellner das mitbekommt.
»Darf ich Sie etwas fragen, Herr Konstantin?«
»Alles.« Ein Blitzen in ihren Augen.
»Sie vertrauen mir offenbar voll und ganz, oder?«
»Voll und ganz«, bestätige ich.
»Warum? Wir kennen uns knapp zwanzig Minuten.«
»Darauf weiß ich keine Antwort. So war es schon bei der ersten Maria im Reisebüro.« Sie überlegt, lehnt sich an und streicht über den Bauch.
»Ist das Vertrauen so wie bei einer guten Freundschaft?« Noch eine schwere Frage. Ich muss tief einatmen. Kurz die Luft halten, bis es drückt, dann puste ich durch zusammengepresste Lippen aus. Der Southern kommt.
»Danke.«
Mary wartet, mustert mich, meine Hand, die zum Glas greift, folgt der Bewegung zum Mund, ich trinke und treffe ihren Blick über dem Glasrand. Ein beruhigender Schluck.
»Nein. Keine Freundschaft … denke ich. Das ist nicht einfach zu beantworten, denn ich habe keine Freunde. Bekannte, ja, aber Freunde, an so etwas kann ich mich nicht erinnern.« Keine Regung in ihrem Gesicht. »Es ist tiefer«, setze ich nach. »Wesentlich tiefer.« Marys Hand auf dem noch kleinen Hügel formt Achter. Schlanke Finger, ungewöhnlich lang. Ich stelle sie mir auf Klaviertasten vor. Ein weicher Anschlag, fast sicher, das kleine Menschlein spürt, was da über ihm kreist.
»Dann ist es vielleicht ein Vertrauen, wie das, was in mir zu wachsen begonnen hat. Mein Herzschlag, die Nabelschnur, durch die Leben kommt, meine gedämpfte Stimme und in ein paar Monaten kommt das Licht und dann liegt es auf meiner Brust und lauscht dem Pochen meines Herzens. Vielleicht ist es so ein Vertrauen, das Sie spüren.«
Beide Unterarme habe ich auf den Lehnen. Ein beiges Gelb, pastellfarben, das Material wie Velours. Weich, angenehm. Marys Worte passieren ein zweites Mal meine inneren Pforten. Gesprochen mit einer Stimme, die diesem Veloursstoff ähnelt. Weich und angenehm. Eine Stimme, die vertraut klingt. Ich spüre, weinen zu müssen. Nein, weinen zu wollen. Nein! Ich kann es nicht halten, stehe auf, lege einen 50-Euro-Schein auf die Theke und verschwinde.
Ist Whiskey im Kühlschrank? Drei kleine Flaschen Jack Daniels, zweimal Jim Beam und einmal Glenfiddich. Das wird genügen. Ich bin leer. Nicht leer an Worten. Nicht leer an Gedanken. Sie reicht viel weiter, die Leere. Als hätte sich mein bisheriges Leben zurückgezogen, abgeflossen wie das Meer bei einsetzender Ebbe. Man schaut sich um, dann ist da nur noch Schlick, Sand, felsiger Grund. Schwer zu sagen, ob das Wasser jemals zurückkommt. Tiefes Vertrauen, das hat Mary gemeint, und fuhr eine Acht auf ihrem Bauch. Aus der Dunkelheit ins Licht, was uns allen passiert, und ist da nicht tiefes Vertrauen zu Beginn? Im Bauch sind Wärme, Worte, Töne, Geborgenheit, dann wird es immer schwieriger. Von Tag zu Tag. Immer schwerer wird es uns leeren, kleinen Menschlein fallen, dies aufzuholen und befüllt zu werden. Mit Vertrauen. Das hat sie gemeint. Und ist man dann erst mal vierzig, hat die Leere eine Wucht, der man sich nicht entziehen kann. Sie treibt uns vor sich her wie der russische Winter Napoleons Große Armee. Alle Stunde bleiben Berge von Toten liegen, mit steifen, zum Himmel gestreckten Armen. Ein letzter Gedanke an Frankreich, bevor die Kälte kommt. Verblassende Einsamkeit. Bin ich das?
Vor dem Fenster ist in einiger Entfernung das Rollfeld zwischen Terminal eins und zwei zu sehen. Drei Lufthansa-Maschinen stehen dort. Eine wird mit Gepäckstücken beladen, Container für die Bordküche stehen auf einer Hubplattform. Am liebsten würde ich jetzt fliegen. Mich in diesen Airbus setzen und auf Köln freuen. Der Schlepper kommt und schiebt eine der Maschinen aus der Parkstellung. Ein Mann im gelben Overall löst die Kuppelstange. Ein zweiter gibt mit Leuchtstäben Zeichen. Für die Menschen dort drüben geht es jetzt los. Vielleicht haben sie nur eine Zwischenlandung gemacht und sind auf dem Weg nach Sydney oder Perth oder gar Tokio. Ich kenne mich nicht wirklich aus und müsste erst nachsehen, ob es Direktflüge gibt. Dann schließe ich den Lamellenvorhang. Wenn ich hinausschauen kann, wird es anderen Menschen möglich sein, hereinzusehen. Die Lamellen sind lindgrün, passend zu den ockerfarbenen Tapeten, auf denen fast transparente Bambuswälder aufgedruckt sind. Maria in Köln fällt mir ein. Wie ihr Kind wohl heißen mag? Und Marianne aus der Schweiz, die ihres verloren hat. Ob sie schon einen Namen hatte? Dann geht mein Blick auf das Notebook und der Gedanke, von allem die Nase voll zu haben, schiebt sich durchs Halbdunkel des Zimmers. Darauf Huckepack der Plot meines Romans. Ich bin wie elektrisiert.
Da ist er: der Roman! Ein Mann begegnet niemals der Frau, die ihn stalkt. Er ist Schriftsteller, sitzt alleine in seinem Hotelzimmer und schreibt, recherchiert, ist ein Eremit, zieht von Ort zu Ort, weil er es nirgends lange aushält. An jedem dieser Orte liebt sie einen anderen Mann und killt diesen. Jeden Mord schenkt sie dem Autor im Geheimen. Sie zeichnet alles auf. Handschriftlich, Videos, Fotos. Nie trifft sie ihn persönlich, ist gut im Verkleiden. Am Ende schickt sie alle Dateien an die Polizei. Orte, Uhrzeiten. Alles passt zu den jeweiligen Toten. Der Autor schreibt an einem Roman über einen Serienkiller. Seine Alibis sind einsame Schreiborgien in einsamen Hotelzimmern. Wenig überzeugend. Er wird verhaftet. Ausgerechnet in den USA. Die Geschworenen lassen sich vom Staatsanwalt überzeugen. Zweimal lebenslänglich. Dann schreibt sie ihm als Verehrerin. Er hätte so tolle Krimis verfasst und sitzt nun selbst im Gefängnis wegen Mordes. Wie tragisch, schreibt sie. Dann rät sie ihm zu einem letzten Mord. Den an sich selbst. So könnte er seinem Werk die Krone aufsetzen. Sie weiß nicht, ob er es tut, aber im Fernsehen entdeckt sie ein neues Krimitalent. Ein hübscher, junger Mann, der gerade in England weilt, um einen neuen Krimi zu schreiben. Sie reist ihm nach.
Nur einen Augenblick überlege ich, ob es das ist, was ich schreiben möchte. Aber da ist nichts in mir, was Widerstand leistet. Das Schweigen vor dem Texten. Im Gegenteil. Ich spüre Vorfreude, ein Kribbeln. Jetzt muss ich loslegen. Genau jetzt. Apates Freiheit tippe ich in die Tastatur. So soll sie heißen: Apate. Seite eins, zentriert, in 24 Punkt. Ich hoffe, Friedrich wird den Titel akzeptieren. Ein wenig müssen die Menschen schon dafür tun, um Phrasen und Codes in der Literatur zu entschlüsseln. Seite zwei, Kapitel eins, Apate entflieht der Büchse. Apate weiß nicht, dass sie schwanger ist. Sie fühlt es nicht. Kennt nicht die Vorzeichen. Hört nicht das Wispern ihres Körpers. Ihr ist einfach nur schlecht und übergibt sich in die Mülltonne im Büro ihres Chefs.
Ein guter Anfang. Die Standardseiten füllen sich von selbst. Es läuft aus mir heraus. Eins mit dem Schreibuniversum, auf identischer Frequenz. Ich spüre, wie das Zimmer auf mich wirkt. Trotz des Flughafens vor dem Fenster, ist es fast unheimlich still. Die graubraune Farbe des aus gebogenen Hölzern in einem Stück gefertigten Schreibtischs ist gut zu meinen Handgelenken, wärmt Hände und die Stimmen im Kopf. Hinter mir kühler Bambuswald, stets ein leichtes Rascheln in den Wipfeln. Noch einen Jim Beam, um alle Wogen in mir zu glätten. Zeit vergeht in stets gleicher Richtung, egal, ob ich sie vergesse oder nicht. Bis es klopft. Die Zeit stolpert, bleibt stehen und schaut sich um. Wieder ein Klopfen. Drei mal kurz. Tacktacktack. Schon 76 Standardseiten, sagt Word. Zufrieden gehe ich zur Tür und öffne.
»Störe ich?«, fragt Mary.
»Nein. Ganz und gar nicht.«
Sie vor der Tür, auf dem aus verschieden dicken Kordeln in unterschiedlichen Brauntönen gestreiften Teppich. Ich mit dem Knauf in der Hand auf Socken.
»Kann ich denn reinkommen?«
Die Frage reißt mich ins Jetzt. Sie trägt ein knöchellanges Leinenkleid, einem Segeltuch ähnlich. Dazu rote Espadrilles. Zwei schlanke Fußgelenke sind zu sehen.
»Entschuldigung! Ich bin noch halb im Roman. Natürlich, kommen Sie herein.« Zügig trete ich auf die Seite, öffne die Tür komplett und gehe dann vor ihr zu den beiden Sesseln, ziehe einen etwas vor, näher an den Tisch. Mary nimmt vorsichtig Platz, eine Hand am Bauch.
»Hab mich immer noch nicht dran gewöhnt, an das zunehmende Gewicht. Vor allem der Schwerpunkt, wissen Sie …«
»Da kann ich nicht mitreden. Mein Schwerpunkt ist relativ stabil.« Sie atmet tief ein und aus. Der Bauch hebt sich enorm. »Soll ich Ihnen eines der Kissen in den Rücken stopfen? Das kann ganz angenehm sein, habe ich mir sagen lassen.« Mary lächelt, sieht mich mit überraschtem Gesichtsausdruck an.
»Kennen Sie sich etwa aus mit Schwangeren?«
»Nein, nicht wirklich. Für einen Roman habe ich mal an einem Gymnastikkurs für Schwangere teilgenommen und die eine oder andere befragt. Hauptsächlich über die physischen und psychischen Veränderungen.«
Sie lacht. »Als Schriftsteller muss man sich wohl in allerlei besondere Situationen begeben, was?« Ich hole ein Glas und fülle vom Stillen Wasser ein, stelle es vor ihr auf den Tisch. »Danke.«
»Ich denke, als jemand, der etwas beschreibt, muss ich mich der beschriebenen Situation so gut es geht nähern, selbst wenn ich sie selbst nicht erleben kann …«
»Wie etwa eine Schwangerschaft.«
»… wie etwa eine Schwangerschaft. Genau.«
Sie trinkt einen großen Schluck. Ich hole eines der kleinen Jim Beam-Fläschchen, drehe den Verschluss ab und kippe den Inhalt in mein Glas. Dann setze ich mich ihr gegenüber. Sie sieht mich an. Die Zeit nimmt wieder Fahrt auf. Marys Blick tastet mich nicht ab. Ruht nur in meinen Augen. Es fällt mir nicht schwer, ihn zu erwidern, zwischen den Victoriablättern ins Wasser zu springen. Tauchen. Treiben lassen. Grünes Schillern neben braunem Strömen. Da entdecke ich das Wort Liebe in einem meiner dunklen Winkel. Vom Licht der Teichrosen gestreift, leuchtet es und hebt die Hand, will sagen, dass es noch lebt.
»Ich habe mich in der Bar gefragt, ob meine Worte Sie verletzt haben. Haben sie das?« Nein, möchte ich sagen und lasse es bleiben.
»Verletzt ist nicht das richtige Wort. Getroffen, ja. Ziemlich …« Unvermittelt beende ich den angefangenen Satz. Ich bin in Singapur. Komme aus Kuala Lumpur, wollte gar nicht hier hin, dann explodieren Bomben und immer wieder taucht diese Frau in meiner Nähe auf.
»Haben Sie Angst, Herr Konstantin?«
»Angst?« Schnell ein Schluck vom köstlichen Whiskey. Schon wieder leer. Lieber noch mal Nachschub aus dem Kühlschrank holen.
»Ja, Angst«, spricht sie etwas lauter, nachdem ich schon aufgestanden bin. »Ich weiß ja nichts über Sie. Schriftsteller aus Europa. Deutschland, nicht wahr?«
»Aus Köln.« Mit Tequila und Wodka kehre ich zurück, setze mich. »Meine Heimat.«
»Ich war noch nie in Deutschland.«
»Da verpassen Sie nichts. Allerdings verpassen Sie sehr viel, wenn Sie noch nicht in Köln waren.« Ein Stirnrunzeln. Dann wieder ihr Lachen. Wind auf dem Victoriablättersee. Erneutes Schweigen und sich treffende Blicke.
»Vor was haben Sie Angst?« Fragen so direkt wie ein Pistolenschuss. Ohne Umschweife. Selbst das hat sie mit den anderen gemein.
»Wo soll ich da anfangen?«
Sie zieht das Kissen aus dem Kreuz, lehnt sich an und legt es auf ihren Bauch. Über den Rand sehe ich den klassisch gezeichneten Mund, leicht gekräuselte Lippen, kurz blitzt die dunkelrosafarbene Zunge hervor, und natürlich die Nase als Zentrum ihres Gesichts. Michelangelo hätte sie für eine Skulptur auf Marmor gestellt. Ich tue das im Geist. Aber wo soll ich anfangen? Mit einem Dreh ist der Wodka offen und sogleich leer. Sorgfältig schließe ich beide Augen und suche in den Kammern nach den Ängsten. Klopfe an deren Tür. Bereitwillig öffnen sie und freuen sich auf ein Wiedersehen.
»Meine Ängste, ja, also ich sehe mich zwischen nicht enden wollenden, weltengroßen Steilwänden. Vor einer furchteinflößenden Staumauer im unergründlich dunklen Wasser. Ich, in einem Schwarzen Loch. Ich, im tiefen Wasser eines Freibads. Ich, unten im Keller neben lauernden Spinnen. Ich, unter vielen Menschen. Ich, als Vater von Kindern.« Da füllen Tränen meine Augen, bahnen sich einen Weg unter den Lidern hervor und rollen irgendwohin, tropfen auf die Hose. »Ich, ohne einen schützenden Vater. Ich, ohne eine schützende Mutter. Ich, ohne einen Platz auf dieser Welt.« Abrupt stehe ich auf und verschwinde im Badezimmer. Warmes Wasser ins Gesicht wirkt bei mir wesentlich besser als kaltes. Wärme tut gut. Abtrocknen mit dem flauschigen Handtuch. Im Spiegel, das bin ich. An einem seltsamen Platz. Weiß der Teufel, wie ich hierher gekommen bin. Tief durchatmen, dann gehe ich zurück, setze mich wieder gegenüber. Eine Hand greift zum Tequila, dreht die Kappe ab. Er schmeckt nicht und ich verziehe das Gesicht.
»Ist alles okay, Herr Konstantin?«
»Ja, geht wieder.«
»Ich hätte Sie das nicht fragen sollen …« Beruhigend hebe ich die Hände.
»Machen Sie sich keine Gedanken. Diese Antwort gebe ich nicht oft.« Darüber denke ich einen Moment nach. »Eigentlich tue ich das nie. Allerdings wurde ich das noch nie gefragt. Ist schon ziemlich persönlich, oder?« Mary zuckt mit der linken Schulter. Sie zieht eine Schnute.
»Ich weiß nicht. Etwas in mir lässt mich Ihnen tief vertrauen. Und so empfand ich die Frage als genau richtig, denn ich möchte mehr über Sie erfahren.« Tiefes Vertrauen, sagt sie. Ja, da ist es, das tiefe Vertrauen. In uns beiden. Woher?
»Das empfinde ich ebenso. Sonst hätte ich Ihnen nicht geantwortet.« Der Tequila ist leer, der Wodka ebenso. Im Kühlschrank finde ich ganz hinten noch einen kleinen Bacardi. Nicht mein Favorit. Ein kurzer Anruf bei der Rezeption und die Bitte, die Bestände bitte schnellstmöglich aufzufüllen. Dann kontrolliere ich den Füllstand in Marys Glas. Halbvoll. Ich setze mich wieder.
»Sie trinken nicht wenig«, merkt sie an.
»An manchen Tagen ist das so, ja.«
»Und heute ist einer dieser Tage?«
»Wenn ich schreibe. Das bringt die Maschine zum Laufen.«
»In der Bar hatten Sie auch schon ein paar Drinks.« Sie hat recht. Dass ich heute mit dem neuen Roman beginne, der nun ganz anders ist als geplant, wusste ich vor ein paar Stunden noch nicht.
»Wie ist es bei Ihnen mit Alkohol, Mary?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Grundsätzlich nicht.«
»Das ist gut.« Ein paar Sekunden vergehen. Deutlich ist zu sehen, dass sie über etwas nachdenkt. Im Kopf ausformuliert.
»Darf ich fragen, ob sie verheiratet sind oder sogar Kinder haben?« Ah, der nächste Pistolenschuss. Immer frei von der Leber weg. Aber es ist mir lieber als das Drumherumgerede.
»Nein und nein. Keine Frau, keine Freundin, keine Kinder. Wie kommen Sie auf die Frage?«
»Sie sagten vorhin, Vater von Kindern zu sein, ist eine Angst, die in Ihnen wohnt. Wie ist das zu verstehen?« Sie will es wissen. Als würde ich von den Marias eingekreist, bis auf den Grund ausgebaggert, um zu sehen, wer da ist. Was ich bin. Es klopft. Mit einem Seufzer stehe ich auf, öffne. Ein junger Mann mit einem Servierwagen. Oben drauf ein Karton, voll mit den unterschiedlichsten Alkoholika. Er lächelt.
»Hier die gewünschten Getränke, der Herr.«
»Wunderbar. Vielen Dank.«
Mit einem blauen Euro-Zwanziger ist er zufrieden und verschwindet völlig lautlos. Selbst die Rollen des Wagens machen keine Geräusche. Noch ein Blick auf den Flur, dann schließe ich die Tür, fülle den Kühlschrank. Mary steht am Fenster und hat die Lamellen um ein paar Zentimeter zusammengeschoben. Es ist seit langem dunkel. Rote und blaue Lichterketten sind auf der Rollbahn zu sehen.
»Beantworten Sie mir noch die eine Frage, dann muss ich gehen. Ich bin müde und für morgen in der Früh habe ich eine Stadtrundfahrt gebucht. Das wird sicher anstrengend.«
»Bei der Hitze und in Ihrem Zustand kann es durchaus anstrengend werden.« Mary lässt die Lamellen los, kommt um die Couch herum und stellt sich vor mich. Unsere Augen kleben aneinander. Dicht vor mir, fasst sie meine Hand, legt sie auf ihren Bauch. Dort ruht sie. Kaum zu glauben, dass diese Hand meine ist. Das Leinen ist gespannt, kühl und doch ist die Wärme zu spüren. Nur wenige Zentimeter darunter schwimmt ein Kind. Ein kleines Menschlein. Beschützt, umgeben von warmer Dunkelheit, versorgt mit allem, was es zum Leben benötigt; einschließlich einer sanften Stimme und über sich ein schlagendes Herz. »Keine Kinder«, erinnert Mary mich.
»Sie meinen, was das mit der Angst und den Kindern auf sich hat?«
»Ja, das würde ich gerne wissen.«
»Es ist sehr simpel. Hätte ich Kinder, wäre meine Bindung zu ihnen so intensiv, dass ich mir schon einen Moment nach ihrer Geburt klar würde, sie bald wieder allein lassen zu müssen. Mit der Geburt eines Kindes käme eine nicht mehr kontrollierbare Dramatik in meine Gefühlswelt, unbeherrschbare Angst. Angst, sie allein zu lassen. Angst, sie zu verlieren. Zurückzubleiben. Meine Vergänglichkeit würde mir mit jedem Tag bewusster.« Ich nicke den Worten hinterher. Das ist sie, die Angst. Eine tiefe Furcht. Niemals Kinder. Mary legt ihre Hand flach auf meine und drückt ein wenig. Der Bauch gibt etwas nach.
»Wo ist der Vater des Kindes?«, will ich plötzlich wissen.
»Ich weiß nicht«, sagt sie und es klingt ehrlich. Nicht erschüttert oder verbittert. Sie weiß es eben nicht. Was aber egal ist, denn es ist IHR Kind. Sie wird es auf die Welt bringen und bei ihm sein. So steht es in Marys Augen. »Ich muss gehen, Herr Konstantin.« Langsam löse ich die Hand vom Bauch, gehe zur Tür und öffne. Sie folgt mir. Als ich mich ihr zudrehe, kommt ein Kuss auf meine Wange, dann ist sie draußen.
»Gute Nacht, Herr Konstantin. Passen Sie auf sich auf.«
»Sie auch, Mary.«
Die roten Espadrilles, darin magische Fußgelenke. Mary dreht sich nicht um. Aber ich schaue ihr nach. Bis zum Fahrstuhl. Dann denke ich an Jim Beam und dessen Kollegen, an die Worte, die darauf warten, geschrieben zu werden.
Die Nacht ist kurz. Der Kopfschmerz begrüßt mich zusammen mit der Morgensonne, die durchs Badezimmerfenster den Raum erhellt. Der Weckservice funktioniert. Sechs Uhr und der erste Blick fällt auf all die leeren Flaschen. Vergeblich suche ich in meinem Kopf nach einem Traum. Mein Wunsch war es, von Mary zu träumen. Stattdessen nur Leere. Per Telefon bestelle ich ein Frühstück aufs Zimmer. Tropischer Fruchtsalat mit Chiligarnelen und einen doppelten Espresso. Dann schreibe ich Friedrich eine SMS.
Abflug 10:50 Uhr mit Air France AF0728. Ankunft Charles de Gaulle um 17:55. Dann erst mal Hotel. Nächster Tag mit Eurostar nach Köln. Melde mich. Gruß, Heinrich.
Es muss genügen, um ihn zu beruhigen, zu versichern, dass ich meinen Vertrag zu erfüllen noch imstande bin. Vom komplett neuen Romanplot erzähle ich besser nichts. Die Beine reagieren, aus dem Bett drehen. Mir fällt auf, dass schon eine Gewöhnung an das Zimmer eingesetzt hat. Das Crowne ist ein angenehmes Hotel. Vorsichtig mache ich drei Schritte zum Fenster, bewege Lamellen zur Seite. Keine der Lufthansa-Maschinen steht noch in der Parkzone. Dafür wirft der Himmel gerade sein dunkelblaues Nachtkleid ab, die Sonne hängt eine Handbreit über dem Horizont. Ein klares Licht zeichnet alles mit scharfen Kanten nach. Ich muss es in den Roman packen, dieses besondere Licht. An irgendeine wichtige Stelle. Es soll Bedeutung bekommen. Doch zuerst werde ich duschen.
Abtrocknen, das letzte mal in Südostasien die Kleider anziehen. Neben der Zimmertür leuchtet ein Hinweislicht. Vor der Tür steht etwas. Ich öffne und ziehe den Servierwagen herein, nehme das weiße Tuch und die Edelstahlabdeckung ab. Es duftet herrlich. Teller und Espresso stelle ich neben das Notebook. Lese, esse, schlürfe das schwarze Gold. Freundlicherweise hat jemand eine Dose 100 Plus dazugestellt. Zurück in Köln muss ich mich auf die Suche danach machen. Irgendein Asia-Shop wird es sicher im Sortiment haben. Die Stelle mit dem dritten Mord der Stalkerin gefällt mir ausgesprochen gut. Ein wenig flapsig vielleicht. Wir werden sehen, was das Lektorat dazu sagt. Ich muss husten. Die Chiligarnelen haben es in sich. Eindeutig meine Schmerzgrenze, aber es hilft beim Wachwerden. Mit der letzten Gabel schließe ich das Notebook, trinke leer und sehe mich um. Bleibt nur noch, alles zusammenzupacken und nach unten zu gehen, die Kleider aus der Wäscherei holen. Einchecken ist um acht Uhr. Warum habe ich nicht nach Marys Zimmernummer gefragt? Sie noch einmal zu sehen, würde mir viel bedeuten. Eine vertane Chance, wenn sie überhaupt zugestimmt hätte. Also Haare abrubbeln, kämmen und dann geht es los.