Eine kurze lange Reise | Kapitel 2

Kuala Lumpur

In dieser Sekunde jedoch ist das völlig egal, denn wir setzen auf der Landebahn des Kuala Lumpur International Airport auf, rollen an den Flugsteig und dürfen endlich die Maschine verlassen. Von der klimatisierten Kabine in den klimatisierten Flughafen. Aus den Reiseunterlagen ist zu ersehen, dass das Hotel außerhalb Kuala Lumpurs liegt, südlich vom Flughafen Richtung Port Dickson. Ein Shuttle wird am Ausgang des Terminals warten, um mich direkt in das Resort zu bringen. Aber erst einmal das Gepäck. Am Gepäckband fällt mir wieder ein, warum ich lieber mit dem Zug fahre. Koffer in die Hand und aussteigen. Stattdessen stehe ich hier mit etwa zweihundert Menschen vor einem Transportband aus Edelstahl, versuche eine Gummimatte mit Fehler zu entdecken, um sagen zu können, wie oft das Band im Kreis läuft, ohne unser Gepäck zu bringen. Die Menschen warten, starren fast alle auf Handys, telefonieren, fotografieren sich gegenseitig oder bohren in der Nase, wie der Kerl vor mir. Völlig ungeniert. Mit einem kunstvollen Dreh fördert er einen ordentlichen Popel zutage, mustert ihn von allen Seiten, dann schaut er sich um. Ich weiß, was er denkt. Wohin könnte ich dieses Ding schmieren, ohne dass es allen anderen auffällt? Er entscheidet sich für die Hosentasche.

Ein Räuspern neben mir und ein kaum hörbarer Fluch auf Englisch. Ich bin nicht die einzige Person, die den Kerl beobachtet hat. Lächelnd drehe ich den Kopf und sehe eine große Nase, einen Hijab, Augen wie Victoriablätter. Sie blicken mich an. Perplex deute ich mit dem Kopf auf den Kerl, der erneut in der Nase bohrt. Die Frau schüttelt kaum merklich den Kopf und zieht beide Augenbrauen hoch. Sie ist schwanger. Vielleicht im vierten oder fünften Monat. Das sandgelbe, knöchellange Kleid liegt eng am Bauch an.
»Maria«, rutscht mir raus. Ein Glanz tritt in diese braun-grünen Augen. Als gingen irgendwo ein paar Scheinwerfer an.
»Maryam. Not Maria. Do we know each other?«
»Sorry. I mistook you for another person in Germany.«
»Oh! Sie kommen aus Deutschland?«
Sie spricht fast akzentfreies Deutsch! Im Augenwinkel sehe ich die ersten Koffer kommen. »Ja, aus Köln. Bin für vier Wochen in Kuala Lumpur.« Maryam kontrolliert mit einem schnellen Blick, ob ihr Gepäck dabei ist.
»Köln! Eine schöne Stadt.«
»Das kann ich nur bestätigen.«
»Und jetzt geschäftlich in Malaysia?«
»Nein. Ich will hier den Hauptteil meines neuen Romans schreiben.«
Sie lehnt sich nach hinten, drückt die Hände ins Kreuz. Ein wenig dehnen nach einem solch langen Flug. »Ein Schriftsteller also.«
»Genau.«
»Und man kann davon leben?« Sie lächelt wie Maria. Sie ist Maria. Es kann keinen Zweifel geben. Ich wette, unter dem Hijab sind identische Haare.
»Ich schätze, bisher hatte ich Glück.«
Sie schaut aufs Band, kräuselt die Stirn und tritt zwei Schritte vor. Ich will ihr helfen, aber Maryam zieht den roten Koffer mit einem kontrollierten Ruck vom Rondell, geht in die Knie, klappt die Rollen aus und steht dann wieder dicht vor meinem Gesicht. Ich kann mich nicht bewegen. Will mich nicht bewegen. Die Situation lähmt mich geradezu. Ihr Duft erklimmt meine Nase. Jasmin? Mit dem linken Auge sehe ich meinen schwarzen Koffer entschwinden. Verpasst. Nächste Runde also.
»Ich muss gehen, Herr Schriftsteller. Mein Mann wartet vor dem Terminal.«
»Leben Sie wohl, Maryam.«
»Sie auch …«
»Heinrich.«
»Sie auch, Heinrich.«
Mit dem roten Koffer hinter sich, entschwindet Maryam oder Maria oder wer immer das auch war. Geh hinterher!, sagt eine Stimme im Kopf. Ausgeschlossen. Ihr Mann holt sie ab. Ich wäre in ihren Augen nichts als ein Spinner. Drei Minuten Zauber an einem Gepäckband in Kuala Lumpurs Flughafen verflüchtigt sich im Jetzt. Um mich herum werden die Stimmen wieder lauter, die Sprachen vielfältiger, das Band immer leerer. Mein Koffer nähert sich erneut.


Kaum erwähnen möchte ich die Fahrt vom Flughafen nach Port Dickson. Außer Ölpalmen ist mir nicht viel in Erinnerung. Landschaft ist das falsche Wort. Eine Armee aus meist gleichgroßen, gleichgrünen Palmen, in identischem Abstand gesetzt. So weit das Auge reicht. Gäbe es keinen Himmel, keine Wolken, keine Schlaglöcher, käme man auf die Idee, auf der Stelle zu stehen, während zwei Leute an der Endlosleinwand kurbeln. Hier wächst also unser Palmöl, ist der passende Gedanke. Aber was kann ich mehr tun, als zu schweigen? Jetzt, hier in diesem Shuttle. Auf das Handy starren. Roamingkosten? Daran habe ich tatsächlich nicht gedacht in Köln. Immerhin hat sich das Gerät irgendwo eingewählt.

Das Zimmer ist luxuriös. Eine große, begehbare Dusche. Drei oder vier Personen finden darin sicher Platz. Die Wasserhähne werden per Sensor aktiviert. Ein breites Boxspring-Bett. Sehr hoch gebaut. Absolut saubere Laken. Ein Moskitonetz in Rechteckform des Betts, die Halterung in die Decke eingelassen, augenscheinlich alles ohne Löcher oder Risse, Moskitonetze an Fenster und Balkontür, die Klimaanlage arbeitet nahezu geräuschlos und der Kühlschrank ist voller Getränke. Eines heißt ‚100 Plus‘, ist so eine Art Sportdrink, isotonisch, und schmeckt eiskalt gar nicht schlecht. Alles ist sehr freundlich, nett, zuvorkommend. Das Land des Lächelns. Das Essen kann ich mir aufs Zimmer bringen lassen, was ich gerne in Anspruch nehme. Zusammen mit dem Schild ‚Do not disturb‘.
Nach dem Lunch packe ich das Notebook aus, wähle die europäische Steckdose, überprüfe die Funktion des WLAN und bin zufrieden. Eine Mail von Friedrich. Erinnerung an den Abgabetermin und die Frage, was der Roman mit diesem ‚kolonialen Hirngespinst‘ und Kuala Lumpur zu tun hätte. Hirngespinst, das ist es wohl. Also los geht es mit dem zweiten Mord.

Nicht vor zehn Uhr wecken. So war meine Anweisung gestern. Das Buffet im großen Saal ist ausreichend für Frühstück, Mittag, Kaffee und Dinner. Angeordnet im Halbkreis auf einer Länge von sicher zwanzig Meter. Auf den ersten Blick alles, was dieser Planet hergibt. Eine obszöne Menge an Lebensmitteln. Die Tische sind bis auf zwei unbesetzt. Mit einem Teller tropischen Fruchtsalats inklusive einem Hügel Garnelen gehe ich zum Tisch in der Ecke. Ein breites, offenes Fenster vor mir, in einen Bambusrahmen eingearbeitet. Lediglich das Moskitonetz trennt mich von der Welt draußen. Die ganze Anlage steht auf hunderten Pfählen. Unter uns plätschert das Meer. Ich beginne. Ein junger Mann kommt. Sandalen, knöchellanges, weißes Gewand. In der rechten Hand einen Kaffee, die linke auf dem Rücken. Er lächelt. Das tue ich ebenso, bedanke mich, als er die Tasse abstellt, zwei Schritte rückwärts geht und mich dabei ansieht. Dann dreht er sich und verschwindet. Alles schmeckt vorzüglich und ich hege den Verdacht, dass es bald zu einer Art Müßiggang kommen wird, wenn ich mich nicht zusammenreiße. Also Teller auf Seite, Kaffee schlürfen und das Notebook raus. Am Mord von gestern Abend muss ich noch arbeiten. Die Leiche liegt falsch. Zumindest war das eine Idee von heute Nacht. Nächtlichen Ideen vertraue ich grundsätzlich. Etwas in mir spricht zum Autor, korrigiert ihn oder gibt die richtigen Impulse. Die Zeit verschwindet irgendwohin. Der Saal füllt sich langsam. Ich höre vermehrt Stimmen, ohne mich umzusehen, wer da alles kommt. Als ich es tue, mich zurücklehne und an Kaffee denke, sehe ich sie.


Maria? Maryam? Kein Hijab und wohl auch nicht schwanger. Mein Herz stolpert, schlägt deutlich spürbar, klopft und beruhigt sich kaum. Sie ist allein, sieht aufs Meer hinaus, hat eine Sonnenbrille auf. Eine RayBan und ich möchte wetten, sie hat Augen wie Victoriablätter. Vor allem aber ist es die Nase, die meinen ersten Blick eingefangen hat. Groß, gerader Rücken, wohlgeformt, ein Mahnmal. Berlin hat die Nofretete, Maria hat diese Nase. Der Raum füllt sich zusehends. Aber niemand kommt, um sich neben Maria zu setzen. Die Augen aufs Meer gerichtet, fast bewegungslos. Eine Glastasse auf dem Tisch mit einem Teebeutel drin, der schon drei Mal alles ans heiße Wasser abgegeben hat. Hinter mir kommen Deutsch sprechende Menschen. Zwei Frauen, zwei Männer, setzen sich an den Nebentisch. Lachen, Heiterkeit, auf dem Segelboot war alles toll. Tauchen werden sie aber nicht mehr. Zumindest nicht an dieser Stelle. Alles voller Plastik in den blauen Tiefen. Und, ganz furchtbar, die Autowracks, von denen der Tauchlehrer erzählt hätte, sie wären als ‚Bauhilfe‘ für das Korallenwachstum versenkt worden. Uns Deutsche kann man ja schön verarschen, legt er nach. Auf den Philippinen würden sie sogar alte Panzer ins Meer kippen, sagt der andere. Und eine tote Schildkröte haben sie gesehen. Einen Plastiklöffel im Halsstumpf. Ich sehe, wie Maria den Kopf schüttelt, ihn dann dreht. Erst mich sieht, dann die Leute hinter mir. Ich zucke mit den Schultern, verziehe den Mund. Sie lächelt. Ich lächle zurück. Vorsichtig. Denn ich weiß nicht, was hier geschieht. Ob ich noch auf dem gewohnten Planeten bin oder aus unerklärlichen Gründen ein Paralleluniversum nach dem anderen betrete.

Maria hat nach einer Stunde den Platz verlassen Richtung Foyer. Ein Blick auf mich, das Notebook, die Deutschen hinter mir. Sie sind aus Castrop-Rauxel. Eine Art Treppenwitz. Etwa 10.000 Flugkilometer braucht es also, um Landsleuten aus Castrop-Rauxel zu begegnen. Ich war froh, nichts zu niemandem gesagt zu haben, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, als Deutscher erkannt zu werden. Nach Marias Verschwinden habe ich den Platz gewechselt in einen abgetrennten Alkoven der Bar, der mit einer Glastür verschließbar ist, dazu einen Sichtschutzvorhang bietet. Bis etwa 21 Uhr könnte ich hier drin ungestört sitzen, sagte der Barmann lächelnd, dann müsste er die Plätze freigeben für den Ansturm der Gäste. Am heutigen Abend sei Karaoke angesagt. Zwei Japaner würden diese Veranstaltung organisieren. Ich versprach ihm, den Alkoven um halb neun zu räumen.


Die Konzentration ist weg. Was tue ich mit Maria? Oder ihren Instanzen? Gibt es identische Instanzen ein und derselben Person zur gleichen Zeit? Den Alkoven habe ich pünktlich geräumt, einen Southern Comfort getrunken, das Zimmer aufgesucht und auf den Bildschirm gestarrt. Aufs LED-Weiß des WORD-Dokuments. Ich saß in der Leere. Nach zwei Stunden bin ich ins Bett. Jetzt ist es zehn Uhr morgens und ich habe beim Frühstück beschlossen, die Tagestour zu einem Strand zu machen, der auf dem Flyer mit ‚Blue Lagoon‘ angepriesen wird. Meine literarischen Ambitionen tendieren gegen null, also warum nicht. Ein Mitsubishi-Kleinbus fährt die etwas über 20 Kilometer in atemberaubendem Tempo. Der Fahrer lenkt aus Gewohnheit. Er weiß, wann jede Kurve beginnt, denn sehen wird er sie nicht, weil er den Kopf unentwegt von links nach rechts bewegt, redet und redet, lacht und redet, schreit und lacht. Alle Resorts auf dem Weg kennt er offenbar auswendig. Hotel soundso, Resort diesunddas, Lodge Teluk Kemang. Dann hupt er, schwingt grüßend die Hand aus dem Fenster und redet. Ein rollender Kiosk. Leider verstehe ich außer den Eigennamen der vielen Bettenhäuser so gut wie nichts. Das ist egal. Wir sind drei Frauen und vier Männer und nicken alle am Stück. Ich denke an Maryam im Flughafen, deren Duft noch in meiner Nase steckt. Solange, bis ich beißenden Rauch inhaliere und wir an einem gerodeten Palmölfeld vorbeifahren, dessen Reste gerade verbrannt werden. Es geht bald durch ein kleines Wäldchen, das überraschend original aussieht, dann bremsen wir abrupt. Der Kioskmann lenkt so ungehobelt, dass ich für einen Moment das Gefühl habe, auf zwei Reifen in die Parklücke zu rollen. Es ruckelt. Er springt raus und kommt redend um den Mitsubishi herum, öffnet die Schiebetür und verbeugt sich. Mit dem Taschentuch wische ich Schweiß von der Stirn, steige aus und reibe blanke Hautstellen ein. Zwei Ehepaare aus den Niederlanden, eines aus Norwegen und ich. Der Himmel hat sich inzwischen vom Blau verabschiedet. Eine Menge Wolken beginnen sich aufzutürmen. Aus der Blauen Lagune wird eine dunkelgrüne.
»Camin, camin«, sagt er stetig winkend und würde den Weltmeister im olympischen Gehen schlagen, wenn er dort für sein Land anträte. Die anderen knipsen. Der Nachteil digitaler Knipserei. 36 Bilder in der Kamerarückwand haben dazu verpflichtet, sich Gedanken über Sinn und Unsinn eines Motivs zu machen. Das ist vorbei. Knipsen, löschen oder mit den Filtern sogleich verbessern. Es gibt zehntausende neue Realitäten in einer Sekunde.

Über eine breite Stufe, dunkelrosa lackiert, erreichen wir den Strand. Die Dünung vergisst langsam ihre Trägheit und rollt immer kräftiger heran, bricht und rauscht über den feinen Sand. Der Kioskmann redet, zeigt vom linken Buchtende zum rechten und diese Zahl verstehe ich jetzt. Es müssen 500 Meter sein. Dann deutet er auf seine Uhr.
»Flaad, Flaad«, wiederholt er mantramäßig. Ich deute es so, dass gerade Flut herrscht, also wird die Ebbe nicht lange auf sich warten lassen. Vor uns liegt die Straße von Malakka. Einer der wichtigsten Seewege dieses Planeten. So steht es im Online-Lexikon. Und außerdem ein berüchtigter Ort für Piraten aller Art. Wenn ich das richtig deute, blicken wir momentan in etwa nach Norden, dann liegt 300 Kilometer hinter uns im Süden Singapur.
»Mach eine Foto, bitte«, höre ich, sehe das Smartphone. Einer der Niederländer.
»Klar, kein Problem.«
Die beiden stellen sich mit dem Rücken zur Lagune. Ich gehe in die Knie, um mehr vom Horizont zu erhaschen. Dann löse ich zehn oder zwölf Mal aus. Sie wetzen zur großen Palme neben der Treppe. Noch mal zehn Aufnahmen. »Viel Dank.«
»Bitte. Gerne doch.«
Woher wissen die eigentlich, dass ich Deutscher bin? Weder Sandalen noch weiße Socken lassen das erkennen. Wahrscheinlich sieht man es uns drei Kilometer gegen den Wind an.

Hand in Hand folgen sie den anderen. Man muss nur die Ohren aufsperren, dann weiß man, wo sie sind. Der Kioskmann winkt, aber ich deute an, hier am Strand zu bleiben. Er hebt die Hand und brüllt ein ‚Okei‘. Endlich alleine, setze ich mich auf die Treppe, der Wind frischt auf, wird zunehmend stärker. Und weit im Südwesten meine ich Wetterleuchten zu erkennen. Und vor allem das kleine, vielleicht achtjährige Mädchen in seinem knöchellangen rosa Kleid, das mit Eimer, Schaufel und Förmchen kurz vor der Wasserkante sitzt und gräbt. Nirgendwo Eltern, geschweige denn Erwachsene oder weitere Kinder zu sehen. Könnte gefährlich werden, wenn das Unwetter kommt. Vielleicht sollte ich hingehen und … ja, was dann? Dann bin ich plötzlich ein Pädo-Tourist. Wenn es kritisch wird, kann ich immer noch hinrennen. Derweil gräbt sie immer tiefer. Wasser sammelt sich im Loch, dann hakt etwas. Sie bekommt die Schaufel nicht mehr heraus und steht auf. Das rosa Kleid geht in der Tat bis auf den Boden. Die Füße sind nicht zu sehen. Mit beiden Händen greift sie ins Wasser und zieht eine Art Lappen aus dem Loch, entfernt die Schaufel und rüttelt an diesem Lappen. Der Sand reißt auf, entlang einer fast geraden Linie. Der Lappen wird länger und zu einer Plastikfolie aus dickem, schwarzen Plastik. Vermutlich Teichfolie.
Die Kleine ist kräftig, reißt, rüttelt, wieder ein halber Meter. Auf diese Art entfernt sie sich von der Grabungsstelle Stück für Stück, jauchzt und lacht, als wäre das hier die Schatzinsel und sie hat ihn entdeckt. Nach einiger Zeit liegen mehr als zehn Meter Folie vor ihr. Zerfleddert an den Rändern, aber stabil. Sie schaut noch ein paar Sekunden drauf, holt ihr Grabungswerkzeug, läuft an mir vorbei ohne mich zu sehen und ist weg. Da liegt sie, die Folie. Wohl seit Jahren im Sand steckend. Ich nehme das Handy aus der Tasche und fotografiere sie. Zehn Meter Teichfolie im Sand der Blauen Lagune. Auf das nächste Wetterleuchten folgt ein dumpfes Grollen.


Wir sind dem Unwetter davongefahren. Was ich aus den Gesprächen der Niederländer entnehmen konnte, war, dass die Gruppe offenbar zu einem Leuchtturm gelaufen ist, der auch eine Seeradarstation ist. Ich hatte mich beim einsetzenden Regen in den Kiosk verzogen, zwei ‚100 Plus‘ getrunken und eine Art Teigrolle mit Gemüse gegessen. Sehr schmackhaft. Mit einem Knall brach das Unwetter los, gerade als ich die Schiebetür von innen zugezogen hatte. Trotz der schlechten Sicht drückte unser Kioskmann auf die Tube. Nur dieses Mal schwieg er. Die Chance, gesund anzukommen, stieg enorm, nahm ich an. Nach der Ankunft ging ich duschen und dann in die Bar.

In der ganzen Hotelanlage sind Fenster und Türen geschlossen, das Wasser klatscht von unten gegen die Holzplattformen, ein einziges Wummern und Zittern. Ein Gewitter in Deutschland ist mit diesem hier nicht zu vergleichen. Nur wenige Gäste sind in der Bar und nur zwei an der ovalen Theke. Einer davon ich. Vor mir die Kladde mit Notizen zum Roman. Ich ahne, dass es mir nicht mehr gelingen wird, eine Verbindung herzustellen; zumindest nicht hier an diesem Ort. Ohne diese ‚Verbindung‘ werde ich aber keine Wortkombinationen finden, die Friedrich und die Leserschaft so mögen. Das ist meine Erfahrung mit mir und dem Schreiben. Die Situation ist auf eine seltsame Art verhext. Ein Fingerzeig und der Barmann bringt einen Southern Comfort.
»Waren Sie heute unterwegs?« Es ist die Stimme. Ich bin elektrisiert. Schweiß drückt sich durch die Poren auf meine Stirn. Der Southern kommt, scharlachrot mit einem Eiswürfel. »Was trinken Sie da?«
»Southern Comfort.«
»Davon habe ich schon gehört, aber noch nie probiert.« Der Barhocker rechts wird gerückt, Luft drückt sich aus dem dunkelroten Polster mit einem Zischen. Jasminduft breitet sich aus. Sie ist es. Ich bewege mich eine Vierteldrehung nach rechts. Maria mit perfekter Nase, perfekten Augen, Victoriablätter, braun mit einem grünen Ring zum Zentrum hin. Die Farben fließen ineinander über.
»Möchten Sie auch einen?«
»Gerne. Einer kann ja nicht schaden.«
Ich räuspere mich, senke den Kopf und schaue auf ihren Bauch. Keine Erhebung ist zu sehen. »Sie sind nicht zufällig schwanger?« Sie weicht einen Zentimeter zurück, sieht mich verblüfft an. Dann lacht sie und ich kann einen Blick auf die Zunge erhaschen. Dunkelrosa. Es ist Maria. Kein Zweifel. Sogar die Stimme ist identisch. Ihr Habitus, was sie ausstrahlt, eine vornehme Zurückhaltung.
»Wie kommen Sie denn da drauf?«
»Aus einem bestimmten Grund. Wenn ich Ihnen ein Glas Alkohol bestelle und Sie sind schwanger, ist die Gefahr, dass das Kind an FASD erkrankt, sehr hoch. Das möchte ich nicht verantworten. Verzeihen Sie, ich hätte das vorher sagen sollen.« Sie presst die Lippen aufeinander und schaut mich an, als wäre ich ein Sudoku, das nicht zu lösen ist.
»FASD …«, wiederholt sie gedehnt. »Gehört habe ich das schon mal, aber ich weiß nicht mehr wo und was es bedeutet.«
»Das Gehirn des Ungeborenen wird durch den Alkohol geschädigt. Das kann fatale Folgen haben für ein ganzes Leben.« Ihr linker Nasenflügel zuckt ein paar Mal.
»Sind Sie etwa Arzt?«
»Arzt? Nein, ich schreibe Bücher. Romane. Meist Krimis. In einem wurde eine junge Frau zur Serienmörderin, kam am Ende in die Psychiatrie. Dann erst hat man bei ihr FASD diagnostiziert. Reue und Schuldempfinden waren nicht vorhanden. Keine Selbstreflexion. Forschung und gute Diagnosen dazu sind noch nicht so alt. Deswegen ist es noch recht unbekannt.« Maria nickt, nimmt den Southern Comfort in Empfang und schnuppert daran.
»Riecht gut. Aber noch mal zu dieser Krankheit. Sie haben für den Roman recherchiert und versuchen seither auf so etwas zu achten?«
»Ja, so kann man das sagen.«
»Unter diesen Umständen kann ich eine so forsche Frage akzeptieren.«
»Das freut mich. Sie heißen aber nicht zufällig Maria oder Maryam?« Ihr Blick friert ein. Dafür klopft der Daumen in schneller Abfolge auf die Theke. Ich meine auch, dass ihr Atmen kurz stoppte, proste ihr zu und trinke das Glas auf einen Zug leer. Sie lässt ihres stehen.
»Sie werden mir unheimlich.«
»Dann habe ich recht?«
Mit einem sehr zögerlichen Nicken bestätigt sie. »Marianne.«
»Marianne … schöner Name. Wenn Sie das ‚R‘ so im Rachen sprechen, kommen Sie dann aus der Schweiz?«
»Jawohl, Herr Kommissar.« Ich muss grinsen und ordere noch einen Southern.
»Erzählen Sie mir, was das mit meinem Namen auf sich hat?«
»Gerne. Wobei es eine wirklich seltsame Angelegenheit ist und ich das Gefühl habe, verfolgt zu werden.« Das Getränk kommt. Ich bedanke mich und erzähle Marianne von der ersten Maria, dann der am Flughafen, also Maryam, dann von ihr und dass alle drei eineiige Drillinge sein könnten. Sie legt den Zeigefinger auf ihre Nasenspitze.
»Aber nicht alle hatten eine so markante Nase.«
»Doch! Alle hatten exakt diese faszinierend präsente Nase. Wie aus feinstem Marmor gemeißelt.« Marianne lacht ins Glas hinein und trinkt einen kleinen Schluck. Das Lachen ist nicht zu unterscheiden. Eine sehr seltsame Geschichte.
»Und die beiden anderen waren schwanger?«
»Achter Monat und vierter Monat.« Sie zieht die Augenbrauen hoch.
»Dann haben Sie deswegen gefragt, nicht wahr?« Ich mache eine beschwichtigende Geste, vielleicht etwas zu lang. Sie schaut auf meine Hände, als stünde dort eine Erklärung zu diesem Unfug.
»Gut. Ein wenig. Die Recherche und dass ich darauf achte, ist alles korrekt. Und alles andere ist mir unerklärlich. Doch ich hätte Sie auf jeden Fall gefragt. Vielleicht nicht mit einem Blick Ihren Bauch kontrolliert.« Marianne entfährt ein belustigter Ton.
»Und? Haben Ihnen Maria und Maryam gefallen?« Ich lege den Kopf auf die Theke. Der Jasminduft ist einfach überall. Dagegen hilft nur der Glasinhalt. Ich trinke leer. Schweigen ist auch keine Lösung. Sie kommt mir zuvor. »Gut, dass Männer nicht schwanger werden können«, ist ihr trockener Kommentar. »Sonst wären wir schon längst ausgestorben. Na, kommen Sie. Kopf hoch!« Das tue ich. Und wie recht sie hat. Noch ein Glas? Der Barmann kommt und sieht mich fragend an. Ich schüttle den Kopf.
»Sie müssen noch meine Frage beantworten.«
Etwas juckt gewaltig in meinem Nacken. Mir fährt der Schreck in die Glieder. Eine Mücke? Ich patsche drauf, aber da ist nichts. Marianne zuckt zurück, schaut ins Glas und trinkt es in kleinen Schlucken genüsslich leer. Schmatzt nach.
»Lecker.«
»Ja, Southern Comfort ist ein wunderbares Getränk.« Sie erwidert nichts. Wartet einfach, dreht das Glas hin und her. Ich komme nicht drumrum. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass es um mehr geht als um gefallen oder Schönheit. Es ist, als wäre ich Jahrtausende durchs dunkle All gereist, um dann endlich meine erste Sonne zu sehen.«
»Und dann gleich drei Mal«, erwidert sie und hebt das Glas. Der Barmann nickt. Das ist der Moment des Schreibens, denke ich. Es kommen Sätze, die ich nur in einer tiefen Verbindung zur Idee in meinem Innersten greifen kann. In einem Dialog mit einem realen Menschen ist mir das noch nicht passiert. Ihre Augen heften sich an mich.
»Wenn Sie verzeihen, Marianne, aber ich muss austreten. Bin gleich wieder da.«
»Das kann ich verzeihen.«
Vorsichtig rutsche ich vom Hocker. Bedacht darauf, sie nicht zu berühren, den geringen Abstand zwischen unseren Knien nicht zu verringern. Leicht zurückgelehnt, vorbei am spitzen Ellenbogen, dann habe ich Platz. »Komme gleich wieder«, lasse ich den Barmann wissen und gehe Richtung Toiletten, schnell, fast wie eine Flucht.

Im Gang zu den Hygieneräumen ist der Boden aus einem Edelholz. Teak oder Mahagoni vielleicht, davon habe ich keine Ahnung. Die Tür mit dem Männer-Symbol ist erreicht und ich stoße sie auf. Ein älterer Herr steht am Waschbecken und zieht sich ein Haar aus der rechten Augenbraue. Ich grinse und nicke. Schnurstracks an ihm vorbei in den hinteren Raum, ab in eine der Kabinen. Bordeauxrote, großflächige Fliesen, das WC aus orangem Porzellan. Irgendwo gibt es einen Lautsprecher aus dem wohl eine malaiische Volksweise kommt, sanfte, helle Stimme, ein unbekanntes Instrument, Platz nehmen auf dem WC-Deckel und anlehnen. Durchatmen. Über mir ist die Klimaanlage in die Decke eingelassen. Ein leises Surren ist zu vernehmen. Kühle überall. Die ganze Anlage muss eine Menge Strom verbrauchen. Unwichtig! Die Frage ist: Hat das alles etwas zu bedeuten? Ich kann nicht schreiben, bin aber deswegen hier. Falsch. Eigentlich wäre ich in Südfrankreich, in Castellane, aber wegen einer Maria im Reisebüro, deren Anblick mich seltsam sprachlos werden ließ, hocke ich nun auf einem orangefarbenem WC in der Nähe von Kuala Lumpur. Ich bin versucht, dem ganzen Geschehen eine Bedeutung beizumessen. Um Wahrscheinlichkeiten kann es sich nicht handeln. Ich atme tief ein, halte die Luft und versuche irgendeinen Geruch zu erkennen. Nichts. In dieser Toilette ist alles blitzblank. Wahrscheinlich könnte ich vom Boden essen. Also die Spülung betätigen, aufstehen, Hemd und Hose geraderücken. Als ich hinaustrete, ist der alte Mann weg. Im Waschbecken entdecke ich eine schwarze Augenbraue. Etwa anderthalb Zentimeter lang.

Mariannes Platz ist leer, ihr Glas schon abgeräumt. Ich ordere noch einen Doppelten. Mit Zettel und Southern kommt der Barmann, stellt das Glas aufs Holz und reicht mir das Papier. »Sie ist gegangen. Sagte, sie müsse früh raus. Das hier soll ich Ihnen geben.«
»Vielen Dank.«
Er nickt und wendet sich dem Befüllen des Kühlschranks zu. Mineralwasser, 100 Plus, Heineken. Ich starre auf die Worte. ‚Ich war schwanger‘, steht dort. ‚Habe es vor zwei Monaten verloren.‘ Die Schrift ist klein und ausgewogen, alle Buchstaben im richtigen Verhältnis. Wie gestempelt. ‚Ich war schwanger. Habe es vor zwei Monaten verloren‘. Das treibt mir Tränen in die Augen. Heftig. Unvorbereitet. Tief graben die wenigen Worte in mein Inneres. Ich weiß nicht, warum. Es sind nur Worte. Ich kenne Marianne nicht. Sie bedeutet mir doch gar nichts. In einem Zug kippe ich das Glas leer. Rechne kurz und lege 100 Euro auf die Theke, rutsche vom Hocker, das Gesicht auf den Boden gerichtet. Meine hellen Stoffschuhe haben einen Fleck. Woher? Bevor ich etwas sage, will ich mich räuspern, versage kläglich. Ein kratzender Husten hört sich nicht anders an.
»Gute Nacht«, sage ich, ohne aufzusehen. Der Ausgang ist nicht weit.
»Gute Nacht. Und ihr Rückgeld?«
»Gehört Ihnen«, erwidere ich, eine Hand auf dem Türblatt. Generös geht die Welt zugrunde. Soll ich nach Mariannes Zimmer fragen? Mir einen Kniff einfallen lassen? So was wie ‚Die Dame hat etwas liegenlassen, ich will es zurückgeben‘. Seufzend schüttle ich den Kopf, laufe an den Niederländern vorbei, die wohl von draußen kommen. Wir nicken uns zu, lächeln. Klar, wir kennen uns jetzt schon. Der stille Deutsche. Einen Lidschlag später stehe ich vor meinem Zimmer. Einige Meter des Weges fehlen in meiner Erinnerung. Ich bin in Haus zwölf. Bis zur Rezeption ist es nicht nur ein Lidschlag. Zwei Zwischentüren, drei Flure. Gedanken, so sehr in Gedanken. Aber wo sind die Gedanken hin? Mit der Karte öffne ich das elektronische Schloss. Ein Piepen. Dann trete ich ins Dunkle und sage ‚Licht‘. Alles ist still. Niemand anwesend. Nur der Schirm des Notebooks leuchtet. Ich sehe, dass einige Mails gekommen sind. Zwei von Friedrich. Ein leichter Regen vor dem Fenster, das Gewitter hat sich verzogen. Aus dem Kühlschrank hole ich ein ‚100 Plus‘ und denke an Marianne.


Eine Nacht der Marter. Etwas im oder außerhalb des Raumes gab ein hohes Summen von sich. Lange vermutete ich eine Mücke und suchte mit der Handylampe das ganze Zimmer ab. Jeden Winkel, hängte Bilder von der Wand, rückte die Kommode nach vorne und durchforstete das Internet nach in Malaysia heimischen Mückenarten. Allerdings existierten wohl nicht mehr sehr viele insgesamt, da die Monokultur der Ölpalmen den Einsatz von radikalen Insektiziden erforderlich machte, was auch den Mücken nicht gut bekam. Recht so. Nur eine tote Mücke, ist eine gute Mücke, tippte ich auf die leere Word-Seite. Nach geraumer Zeit erkannte ich, dass dieses hochfrequente Summen eine gleichbleibende Lautstärke aufwies. Was unmöglich eine hin und her fliegende Mücke sein konnte. Dann wohl ein elektronisches Gerät. Einem spontanen Einfall folgend rief ich die Internetseite des Reisebüros in Köln auf. Unter TEAM entdeckte ich bekannte Gesichter. Drei der Damen, aber keine Maria. Ich vermutete sie daheim oder womöglich schon im Krankenhaus. Aber nahm die Geschäftsführung deshalb ein Foto von der Seite? Datenschutz. Durchaus denkbar. Eine Marianne aus der Schweiz war jedenfalls nicht aufzutreiben und gegen halb vier ging ich ins Bett.

Einfach liegenbleiben ist die Devise für den heutigen Tag. Friedrichs Gesicht klebe ich in Gedanken an die Decke. Er vertraut mir. Und wir haben einen Vertrag. Einen netten, aber strikten Vertrag. Ich müsste den Vorschuss zurückzahlen. Und der geht hier in Kuala Lumpur in Rauch auf. Außerdem ist da noch Marianne. Ich will unbedingt erfahren, was sie hier macht. Urlaub oder beruflich, wie alt ist sie eigentlich? Und kann ich sie mal besuchen in der Schweiz? Das Bild eines kleinen, nasepopelnden Jungen weicht nicht mehr von meiner Seite. Ich stehe auf, dusche kalt und ziehe helle Leinenklamotten an, rasieren ist morgen oder übermorgen wieder dran. Das Buffet wartet. Wie immer der Früchtesalat und die großen Garnelen. Vor dem Fenster ist es dunstig. Das ganze Wasser von gestern verdampft in der zunehmenden Hitze. Ein junger, lächelnder, in weißes Tuch gehüllter Kellner bringt den Kaffee. Die linke Hand auf dem Rücken. Ich will ihm sagen, dass er nicht lächeln muss, die Hand hervornehmen und sich nicht verbeugen soll, denn sonst käme ich mir wie ein britischer Kolonialherr vor. Das lasse ich jedoch bleiben. Lieber denke ich an Marianne.

Nach dem leckeren Frühstück entschließe ich mich, das dreckige Geschirr nicht stehen zu lassen. Ich trage es vor die Schwingtüren der Küche und klopfe. Eine Frau öffnet. Breit grinsend hebe ich Besteck, Teller und Tasse ein Stück vor mich. Sie verdreht die Augen, murmelt etwas Malaiisches und nimmt mir alles ab. Die Tür schwingt zu. Ich habe das Gefühl, rot zu werden und ziehe seufzend zur Bar. Zwei ältere Herren lassen sich gerade einen Glengoyne geben. Ihrem Akzent nach sind es Schotten. Ich wähle das linke Ende der Theke und seltsamerweise stellt der Barmann umgehend einen Southern Comfort aufs dunkelrote Holz. Offenbar habe ich mir schon einen Namen gemacht.
»Haben Sie heute Morgen schon die Dame von gestern Abend gesehen?«
Er runzelt die Stirn, trocknet die Cognac-Gläser mit einem weißen Tuch.
»Nein, tut mir leid.«
»Aber sie wohnt schon hier im Hotel?«
»Natürlich. Sie hat ja die Gästekarte für Bar und Buffet.« Er prüft seine Arbeit gegen das Licht, dann stellt er alle Gläser sorgfältig in das Regal an der Rückwand. Aus Holz natürlich.
»Was ist das für Holz?«
Er legt das Tuch neben die Zapfanlage und kommt her. Mit der Hand streicht er über die glatte, leicht glänzende Oberfläche. »Im ganzen Hotel verwenden wir Teak. Eine heimische Art. Gefällt es Ihnen?«
»Sehr. Es strahlt etwas Warmes aus.«
Ein zufriedenes Nicken ist die Antwort. Vielleicht ist er stolz auf sein heimisches Teak. »Dummerweise geben wir so viel an den Westen«, sagt er dann.
»Na, dann geben Sie uns das Holz einfach nicht.«
»Die Holzfirmen gehören euch. Die meisten jedenfalls.« Hier ist das Ende der Diskussion erreicht, denn ich habe vom Thema reichlich wenig Ahnung. Wer wem wo Holz klaut, ist für meine bisherigen Krimis von keiner Bedeutung gewesen. Vielleicht sollte ich das ändern. »Gehen Sie zur Rezeption. Ich rufe vorne an und sage, dass die Dame nach Ihnen gefragt hat und ob Sie die Zimmernummer haben könnten.«
Der Barmann lächelt. Ein strahlendes, warmes Lächeln. Ich lege die Hand aufs Teak und kann die Wärme spüren. Jetzt würde ich gerne seinen Namen erfahren, aber mit einem gemurmelten ‚Danke‘ auf den Lippen bin ich schon unterwegs.

Auf dem Weg zum Foyer, über zwei Flure, durch zwei Flügeltüren aus Teak, nehme ich eine deutlich zunehmende Unruhe wahr. Überall um mich herum. Laute Stimmen aus drei Zimmern, zwei Menschen vom Reinigungspersonal wetzen an mir vorbei, das schnelle Malaiisch macht mich ganz nervös. Gäste kommen aus Gängen die zu diversen Häusern führen. Und im Foyer kulminiert alles. An die Rezeption kommen ist unmöglich. Sie ist hinter einer Menschentraube verschwunden. Ich denke an Babel. Eine unüberschaubare Anzahl Sprachen trifft sich zu einem Eintopf. Ich stelle mich neben eine Yucca und versuche zu sortieren, was vorgeht. Eine plötzliche Rattenplage? Oder ist das Wasser weg? Von links schleicht eines der niederländischen Ehepaare an mich heran. Sie hat das Handy vor sich, schaut die ganze Zeit drauf. Er lenkt ihre Schritte bis zu mir. Mit einem Nicken begrüßen wir uns. Dann wirft er ebenfalls immer wieder Blicke auf den kleinen Bildschirm. Ich kann nicht erkennen, was da gezeigt wird, aber es brennt irgendwo. Kein kleines Feuer.
»Entschuldigung, liebe Nachbarn. Was ist denn passiert?«
Er zieht mich zu sich und sie hebt das Ding so, dass wir alle draufsehen können.
»Terroranschlag! Bomben!« Mehr schafft sie nicht zu erklären. Das Niederländische ist dankenswerterweise gut zu verstehen.
»Wo?«
Der Niederländer tippt aufs Handy. Ich gehe näher heran. Kuala Lumpur. Eine Bombe auf einem Platz in der Stadt, weitere am Flughafen und in zwei Hotels. Offenbar mehrere hundert Tote. Ausnahmezustand ausgerufen, zeigt eine Laufschrift. Hier im Foyer herrscht auch Ausnahmezustand. Vielleicht entdecke ich Marianne in der Menge, aber vergebens. Die Niederländerin beginnt zu weinen.
»Hier sind wir bestimmt sicher«, sage ich und hoffe, Deutsch ist ebenso gut zu verstehen. Ihr Mann hebt beide Augenbrauen.
»Meinen Sie?«
»Ich hoffe doch«, kann ich nur sagen.
»Wir packen«, fordert sie ihn auf und steckt das Handy weg.
»Aber der Flughafen ist gesperrt! Keine Starts, keine Landungen!«
Sein Einwand wird ignoriert.
»Wir packen!«, wiederholt sie und zieht ihn mit sich. Die Yucca neben mir blüht und duftet betörend. Was soll ich jetzt tun? Zunächst werde ich Friedrich anrufen und ihm sagen, dass alles in Ordnung ist. Ich schätze, er wird gerade aufstehen.


»Weißt du, wie viel Uhr es ist?«
»Bald Zeit fürs Mittagessen«, sage ich grinsend. Skype ruckelt. Es gibt immer wieder Aussetzer.
»Was ist los mit dem verdammten Internet?«
»Schalt mal CNN ein oder ntv.«
»Warum?« Ohne meine Antwort abzuwarten, dreht er den Stuhl, verschwindet für einen Moment. Es wird laut. Die Worte Malaysia und Kuala Lumpur fallen, Stimmen in vielen Sprachen, Sirenen. »Mein Gott«, höre ich Friedrich sagen. Sein Gesicht ist wieder vor der Kamera. »Und da bist du grad?«
»Nein. Ich bin in Port Dickson, paar Kilometer südlich des Flughafens.« Eine starke Verzerrung. Das Bild wird kurz schwarzweiß, dann stabilisiert es sich.
»Du musst da weg! Hörst du? Ich will, dass du da verschwindest! Denk an deinen Vertrag. Du begibst dich nicht in Gegenden, in denen du dein Leben riskierst. Denn das wäre mein finanzieller Verlust.«
»Wie sehr du dich doch um dein Geld, äh, um mich sorgst.« Er verdreht die Augen und kommt dicht vor die Linse.
»Red keinen Müll! Vertrag ist Vertrag. Du bist mir aber wichtiger als dieser Scheiß-Vertrag. Selbst wenn du tot bist, könnte ich deine Bücher als Taschenbuch-Version in Lizenz verkaufen. Also, hab dich nicht so. Hau ab da!«
»Der Flughafen ist zu. Keine Starts, keine Landungen.« Friedrichs Nase verschwindet zwischen Zeigefinger und Daumen. Er schließt die Augen. Ich warte und trinke ‚100 Plus‘. Dann schnippt er mit den Fingern.
»Gut, dass ich mir das auf Google Maps angeguckt habe. Nimm dir ein Taxi und fahr runter nach Singapur. Dort steigst du in ein Flugzeug und kommst nach Hause. Den Roman kannst du auch in meiner Eifeler Hütte schreiben.« Von Singapur in die Eifel. Besser wird es nicht mehr werden. Abgesehen davon, dass ich keinen Zentimeter vorangekommen bin beim Schreiben. Aber irgendwie werde ich das hinbekommen. »Ich werde dir von hier aus einen Flug buchen. Du musst mir nur sagen, wann du Singapur erreicht hast«, setzt er nach.
»Vergiss es, Friedrich. Was meinst du, wie viele Touristen auf dieselbe Idee kommen. Ich werde nach Singapur fahren, in einem Flughafen-Hotel übernachten und einfach den erstbesten Flug buchen, den es gibt. Und wenn es London oder Paris ist, macht das ja nichts.« Er beugt den Kopf nach vorne. Wie wenig Haare ihm doch geblieben sind. Mit der rechten Hand fährt er über die Halbglatze, dann lehnt er sich wieder zurück.
»Na gut. Bin einverstanden. Melde dich, wenn du dort bist. Ist ja nicht weit.«
»Ich melde mich.«
»Pass um Gottes willen auf dich auf!«
Nickend beende ich das Gespräch.


Die Hotelanlage gleicht einem Ameisenhaufen. Gäste reisen ab. Eine Menge Gäste. Auf dem Weg zur Rezeption kommt mir der Niederländer entgegen, steuert direkt auf mich zu als wäre ich eine Rettungsboje im Pazifik. »Gehen Sie auch weg?«
»Ja. Ich werde ein Taxi rufen, das mich nach Singapur bringt. Von dort fliege ich nach Hause.« Er starrt mich an. Muss er das erst verarbeiten? Oder hat er es nicht verstanden.
»Super«, sagt er nach einem langen Moment des Starrens. »Super Idee. Meine Frau ist schon voller Panik. Wohin könnten wir denn gehen?« Er ist ein Häufchen Elend, zusammengesunken, der Rücken wie ein Flitzebogen gekrümmt. Was bleibt mir anderes übrig …
»Hören Sie, Herr …«
»van Delft.«
»… van Delft. Warum kommen Sie nicht mit? Nach Singapur sind es nur ein paar Stunden Autofahrt. Packen Sie zusammen. Ich bestelle jetzt das Taxi.« Mit beiden Händen greift er meine Oberarme und rüttelt daran.
»Danke! Wir sind in Haus zehn, Zimmer, drei. Holen Sie uns ab?«
»Klar. Kein Problem. Ich hole Sie ab.« Kaum hört er das, ist er auch schon verschwunden und an mir vorbei gehen die Schotten in aller Gemütsruhe Richtung Bar. Sie lachen und erzählen, als wäre nichts passiert. Marianne fällt mir ein. Vielleicht entdecke ich sie jetzt im Foyer.

Da sind Deutsche und Österreicher. Birkenstock, weiße Socken. Das gibt es tatsächlich. Sie wollen wissen, wo der nächste internationale Flughafen ist. Aber ihr Englisch ist mies und die geographischen Fähigkeiten offensichtlich wenig ausgeprägt. Diskutierend machen sie endlich Platz.
»Sie möchten auch auschecken?«, fragt der junge Mann.
»Ja. Bitte rufen Sie mir ein Taxi für drei Personen nach Singapur. Ein privates Taxi, kein offizielles.«
»Das mache ich gerne, der Herr. Leider kommen zu den bisherigen sieben Tagen noch weitere sieben dazu, Entschädigung aufgrund der vorzeitigen Abreise. Sie wissen das sicherlich aus Ihren Reiseunterlagen.« Er hat ein so offenes und herzerwärmendes Lächeln, die sieben Tage würde ich ihm sogar noch draufpacken als Danke für dieses freundliche Gesicht.
»Kein Problem. Es ist, wie es ist. Sagen Sie mir Bescheid, wann das Taxi kommt. Ich bin auf meinem Zimmer.«
»Danke. Sehr gerne.«
»Sagen Sie, gibt es eine Dame die Marianne heißt und aus der Schweiz kommt? Die möchte ich im Taxi mitnehmen.« Er stülpt die Lippen vor und tippt auf der Tastatur, klickt, tippt wieder, dann zuckt er mit einer Schulter.
»Die Dame ist gestern abgereist.« Unwillkürlich muss ich tief durchatmen.
»Schade. Vielen Dank.«
Er lächelt und ich mache mich auf den Weg zu Haus zehn, Zimmer drei. Die Niederländer informieren. Marianne ist gestern abgereist. Ich habe gehofft, so etwas würde sie mir mitteilen. Da war eine Verbindung. Ganz deutlich. Oder so langsam verlässt mich meine Menschenkenntnis, mein Instinkt. Keine Nachricht hinterlassen, nur diesen Zettel. Dafür ihr Bild überdeutlich in meinem Kopf. Existent wie eine Stahlschleuse in einem engen Kanal. Nicht dran vorbeizukommen. Wie gern hätte ich sie noch einmal gesehen. Geredet über dies und das. Vielleicht sollte ich sie mit in den Roman nehmen?


Das Taxi ist ein Isuzu-Kleintransporter, samt Fahrerin, die offensichtlich eine Menge Gemüse und Obst damit transportiert, wenn sie nicht gerade Menschen durch die Gegend karrt. Hinter der Rückbank ein Sicherheitsnetz, gefolgt von Regalen voller vergilbter Blätter und leerer Kisten. Dazwischen unser Gepäck. Das niederländische Ehepaar hinten, ich neben der Fahrerin. Sie redet und redet, steckt ihr Handy in eine wackelige Halterung und tritt aufs Gaspedal. Der Isuzu hat eine Lenkradschaltung, Halbautomatik oder so was in der Art. Die Grenzen der Motorleistung werden in jedem Gang ausgereizt. Manchmal kann ich die Stimme nicht vom Kreischen der Maschine unterscheiden.
»Wir werden alle sterben«, prophezeit die Niederländerin. Der Meinung bin ich nicht, aber den Part, ihr Hoffnung zu geben, übernimmt ihr Mann.
»Nein, Liebling. Wir werden nicht sterben! Stimmt es nicht, Herr, äh …«
»Konstantin.«
»Wir werden nicht sterben, Herr Konstantin. Das sehen Sie doch auch so.«
»Da haben Sie recht, Herr van Delft. Wir fahren jetzt gemeinsam nach Singapur, steigen dort in ein Flugzeug und sind nur 10.000 Kilometer später in Europa. Nicht wahr, Frau Fahrerin?« Die Malaiin sieht mich an, lenkt unbeirrt durch die langgezogene Kurve, lächelt und redet gleichzeitig. Ich nicke Richtung Straße. Sie versteht kein Wort. »Stattdessen sollten wir die abwechslungsreiche Landschaft aus Palmöl-Plantagen bewundern. Eine Grundlage unseres Reichtums im Westen.« Der Niederländer zieht die Augenbrauen nach unten und tätschelt die Hände seiner Frau. Vermutlich hält er mich für einen Spinner. Ich drehe mich nach vorne. Es fängt an zu regnen.

Nach gut einer Stunde stupse ich unsere Fahrerin an, sage Toilet und laufe mit zwei Fingern der linken Hand über die Ablage.
»Ah! Toilet!«
»Genau. Pinkeln, Kaffee trinken.«
»Ah! Coffeeee!«
»Genau.«
Sie deutet auf ein vorbeiziehendes Schild und ein paar Kilometer weiter fährt sie von der Schnellstraße auf einen Rastplatz. Eine große Tankstelle mit Shop für Süßwaren, Knabberzeug, Sandwichs und Kaffee. Ruckartig kommen wir an einer Zapfsäule zum Stehen. Die Niederländerin schläft und er will aussteigen.
»Ich muss auf Toilette«, erkläre ich ihm. »Warten Sie, bis ich wieder zurück bin, wegen des Gepäcks. Müssen Sie auch auf Toilette?« Er verneint. »Soll ich Ihnen etwas mitbringen? Kaffee? Ein Sandwich?«
»Ja, bitte. Zwei Kaffee und wenn es Käsesandwich gibt, dann auch zwei. Ich gebe Ihnen Geld.«
»Vergessen Sie das Geld.«
Zügig steige ich aus, warte bis der Zapfhahn klackt und gehe mit der Fahrerin in den Shop, zeige ihr dabei die Mastercard und deute auf mich. Ich bin im Land des Lächelns. Nach dem ich bezahlte habe, verschwindet sie auf die Toilette. Ich sammle ein, was ich an Essbarem tragen kann, lege es auf die Theke und sage ‚Toilet‘. Der Kassenwart nickt und zieht an einer E-Zigarette. Als ich die Tür der Männertoilette öffne, stockt mir der Atem. Körperstarre im Bruchteil einer Sekunde. Sechs oder sieben Meter weiter im Eck mit den Urinalen sitzt eine Spinne. Ich untertreibe. Spinne ist nicht der richtige Ausdruck. Eine achtbeinige Monstrosität. Schwarz. Behaart. Kauert und lauert. Sieht mich und weiß, dass kalter Schweiß meinen Nacken herabläuft. Rückwärts verlasse ich den Raum, nach allen Seiten weitere dieser Viecher suchend. Kurzentschlossen gehe ich in die Damentoilette, treffe meine Fahrerin, die mich verwundert ansieht.
»Spider«, sage ich. »Big Spider!« Sie runzelt die Stirn, dann hellt sich der Blick auf. Mit der rechten Hand krabbelt sie über den linken Handrücken. Ich nicke. »Spider!« Sie lacht, krümmt sich geradezu und wankt durch die Schwingtür. Schnell verrichte ich meine Tätigkeit, wasche die Hände, die Augen wie ein Chamäleon überall und gleichzeitig. Vorne bezahlen und einen Atemzug später sitze ich wieder im Isuzu. Davon werde ich noch einige Wochen träumen.

Die Niederländer schlafen den Schlaf der Gerechten. Immerhin schnarchen sie nicht. Aus dem Radio kommt die zweihundertste malaiische Volksweise und die Fahrerin kennt sie fast alle auswendig. Das Land ist hügelig geworden und Ölpalmen sehe ich keine mehr oder nur noch vereinzelt kleinere Plantagen. Die Schnellstraße ist sechsspurig, in einem guten Zustand. Fast bin ich versucht, der Frau links von mir zu sagen, sie möge ewig so weiterfahren. Bis ans Ende der Welt, wenn wir nicht vielleicht eh bald dort sind. Eine Straße in einem Meer aus Grün, aus dem Dampf steigt, Wolken bildet, die keine tausend Meter weiter abregnen. Neben der Halterung des Handys kleben zwei Fotos. Ein Mann, ein Kind. Vermutlich ein Junge. Die Klimaanlage läuft und die Idee, dass mein Hiersein möglicherweise Absicht ist, mitten im malaiischen Dschungel, in dessen Körper grauenvolle Monster lauern, schiebt sich in meine Gedankenwelt. Ich bin vielleicht auf einer Spur. Auf der Spur einer Person, die gleichzeitig an verschiedenen Orten ist, nichts von ihrem jeweiligen Pendant weiß, aber immer in meiner Nähe. Ein Hauch Glück, ein Kribbeln, streift hinter meinem Herzen vorbei, hüllt es für einen Atemzug ein. Schlaf kommt und nimmt mich mit.

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