Charis 6 | Flucht

Donnerstag, 6. August 2037

‚Hängen Sie noch eine Kochsalz-Lösung ein. Das sollte dann die letzte sein.‘ Etwas wird über den Boden gezogen. ‚Ist gut, Frau Doktor‘. Jemand entfernt sich. Eine Tür geht auf und zu. Frau Doktor? Kochsalz? »Was ist passiert?«
»Oh, Sie sind wach«, sagt eine kratzige, rauchige Stimme. Ich denke an eine ältere Frau mit einer Menge Falten. »Warten Sie, ich stelle das Kopfteil steiler.« Es gibt einen Ruck. Etwas hebt mich hoch. Aber ja, das muss ein Krankenhausbett sein. Langsam öffne ich die Augen. Es ist anstrengend. Und so hell. »Kneifen Sie das linke Auge zu«, empfiehlt sie. »Dann ist das helle Fenster weg und es geht einfacher.«
Linkes Auge zulassen, mit rechts die Realität erblinzeln. Eine Frau neben dem Bett stehend. Die Stimme. Sie hantiert an einem Stöpsel, legt Schläuche in eine Infusionspumpe, schließt den Deckel und aktiviert die Mechanik. Ein kühler Strom Kochsalz fließt in meine Ader. Was für ein kribbelndes Gefühl. Ansonsten sind wir alleine im Zimmer. Wundersamerweise ein Einzelzimmer. Das ist angenehmer Luxus und nicht in meinem Kassenbeitrag enthalten.
»Hat Bruno mich abgegeben?« Sie lacht. Es hört sich an, als würde der Schornsteinfeger die Rußkugel samt Kette durch den Kamin ziehen.
»Abgegeben? Sie sind mir ja einer! Jemand hat den Rettungsdienst gerufen. Sie lagen bewusstlos im Treppenhaus. Kreislaufkollaps. Gottseidank ist Sankt Franziskus grad um die Ecke.« Im Treppenhaus? Um die Sache nicht unnötig zu komplizieren, halte ich mich lieber zurück.
»Ach ja, das Treppenhaus. Wollte jemand besuchen. War keiner da. Auf einmal wurde mir schwindelig …«
»Da ham sie Glück im Unglück gehabt. Wäre das auf den Stufen passiert, wären Sie womöglich zwei Etagen tiefer gefallen. Immer schön mit dem Kopf zuerst. Und am Ende: Tod durch Genickbruch oder so! Alles schon dagewesen.« Sie schüttelt die Decke auf, stopft sie unter meine Füße. Das Zimmer ist angenehm gestaltet. Orangefarbene Wände, hellbraune Möbel, zwei schöne Gemälde.
»Was ist das weiße Zeug an meinen Beinen?«
»Kompressionsstrümpfe«, sagt sie knapp und tippt etwas in ein Tablet. »Muss sein.«
»Wie lange muss ich hierbleiben?«
»Tja«, sie zuckt mit den Schultern. »Bis jemand sagt, Sie können gehen …«
»Was hab ich denn jetzt?«, falle ich ihr ins Wort.
Sie sieht auf das Tablet. »Kreislaufzusammenbruch. Grund ist unbekannt. Gibt sicher noch ein paar Untersuchungen. EKG, EEG, Arterienscan, Blut, das Übliche eben.« Sie lächelt. Haben Schwestern nicht immer ein Namensschild am Revers? Sie öffnet die Schublade, darin liegt eine abschließbare Kassette. »Hier drin ist ihr Geldbeutel, Krankenkassenkarte haben wir uns erlaubt herauszunehmen. Bringe ich Ihnen später. Noch einen Wunsch?«
»Darf ich aufstehen?«
»Nein! Gott bewahre!«
»Dann einen Fencheltee bitte, ein Rätselheft und einen Kuli.« Sie zieht beide Augenbrauen nach oben.
»Ganz schön anspruchsvoll. Aber immerhin sind Sie Privatpatient. Da will ich mal nicht so sein.«
»Danke, Schwester …«
»Hiltrud.«
»Hiltrud? Heißt man heutzutage noch so?«
Hiltrud zeigt eine genervte Grimasse. »Als Ordensschwester heißt man noch so.« Ich öffne das linke Auge. Alles bekommt Tiefe, wird seltsamerweise farbiger und ihr Gesicht ist in keinster Weise faltig. Es ist glatt wie ein Kinderpopo.
»Aber ich muss nicht beten, oder?«
»Nein«, erwidert sie und seufzt. »Als Privatpatient muss man nicht beten.« Hiltrud klopft zweimal auf den Bettrahmen und verschwindet.

Sankt Franziskus … ich bin an der Subbelrather Straße. Offenbar hatte ich wirklich einen Kreislaufkollaps. Bruno hat mich ins Treppenhaus gezerrt und den Notruf getätigt. Na, immerhin. Unter anderen Umständen hätte er mich wohl liegen lassen. Vielleicht kann ich diese Situation nutzen, um abzuhauen? Mir fällt nur nicht ein, wohin. Die Tür geht auf und ein junges Mädchen kommt herein. Mit Tablett und darauf offenbar der Fencheltee. »Hallo!« Sie grinst bis über beide Ohren. »Herr Bernheimer?«
»Das bin ich.«
»Ich bin die Luisa und soll Ihnen die gewünschten Dinge bringen.«
»Luisa …«
Sie zieht aus dem vorderen Bettrahmen ein Brett, klappt ein Gestell auf und steckt es links und rechts in Zapfenlöcher. »Ihr persönlicher Tisch. Toll, nicht?« Luisa ist begeisterungsfähig. Neben den Becher mit Fencheltee, legt sie ein großes iPad und eine Art Stift mit Gummispitze. Dann holt sie den Stuhl vom Besuchertisch und stellt ihn direkt neben mich. Luisa setzt sich und grinst immer noch.
»Danke, Luisa. Für was ist das iPad?«
»Ein Gerät voller Rätsel. Sie können die Schwierigkeitsstufe einstellen und das Bild sogar an die gegenüberliegende Wand werfen, falls Sie nicht mehr alles erkennen können.«
»Wirklich?«
»Hm.«
»Was es alles gibt …«
»Sie waren schon lange nicht mehr in einem Krankenhaus, was?«
»Lass mich mal überlegen, Luisa, das muss so dreißig Jahre her sein.«
Sie macht ein erstauntes Gesicht.
»So lange?« Bevor ich etwas entgegnen kann, zückt sie ein rotes Taschenbuch aus der Gesäßtasche und schlägt es an einer bestimmt Stelle auf. Kleine Schrift, Abschnitte mit Nummern, es ist klar, was kommt.
»Darf ich Ihnen etwas vorlesen?«
»Also …«
»Dauert auch nicht lang. Und danach unterhalte ich mich gerne mit Ihnen.«
»Puh …« Mehr Reaktion bleibt mir nicht.
»Aus dem Markus-Evangelium«, kündigt sie an und fährt fort. »‚Da das Jesus hörte, sprach er zu ihnen: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder‘.« Luisa sieht mich an. Dieses Mal ohne zu grinsen. Dann wiederholt sie den Vers.
»‚Da das Jesus hörte, sprach er zu ihnen: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder‘.« Wieder Schweigen. Möglicherweise will sie die Worte wirken lassen. Dabei habe ich gar nicht genau zugehört.
»Du bist bei der Abendländischen Jugend?« Ein Leuchten huscht über ihre Augen. Sie richtet sich auf. Luisa ist unscheinbar. Ein kleines Pflänzchen irgendwo auf einer weiten Blumenwiese. Auf dem Bürgersteig bekäme man gar nichts mit, ginge man an ihr vorüber.
»Genau, Herr Bernheimer. Ich studiere Sportmedizin in Köln und betreue in der Freizeit Patienten …«
»Wenn du neben dem Studium Zeit findest, oder?«
Sie lächelt. »Natürlich. Aber es macht mir viel Spaß.«
Ich überlege, was ich noch sagen könnte. Sie kommt mir zuvor.
»Wie fanden Sie das Bibelzitat? Denn ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, wenn Sie mir erlauben.« Aus Verlegenheit trinke ich zwei, drei Schluck Fencheltee, obwohl er noch recht heiß ist. Was mache ich jetzt? Ein Blick zur Infusion. Zwei Drittel sind noch im Beutel.
»Luisa, ich möchte ehrlich sein zu dir. Ich bin überhaupt nicht gläubig. In keinster Weise.« An ihrem Gesichtsausdruck ändert sich nichts. Ein freundliches Lächeln. Das wird sie wohl nicht zum ersten Mal gehört haben.
»Macht nichts«, erwidert sie. »Mein Glaube reicht für uns beide.« Ich seufze und puste durch den geschlossenen Mund. Mein Leben war so ruhig, dass dies jetzt die Strafe sein muss für Jahre von Ignoranz und Isolation. Wie kann ich sie aus der Ruhe bringen?
»Nehmen wir mal an, Luisa, ich bin homosexuell, habe einen Partner, manchmal auch zwei oder drei, und gemeinsam stecken wir uns Dinge in die Hintern bis zum Orgasmus, den wir laut jauchzend mit genug Alkohol auf der Terrasse feiern bei ordentlich Drogenkonsum. Was würdest du mir dann vorlesen?«
Ihre Augen werden münzgroß, sie rutscht mitsamt Stuhl ein paar Zentimeter nach hinten. »Dann«, setzt sie an, »dann würde ich sagen, dies ist meine bisher schwerste Prüfung!« Sie schließt die Augen und atmet tief ein. »Ich möchte nicht aus dem dritten Buch Mose zitieren, Kapitel zwanzig, Vers dreizehn, denn ich bin dagegen, was drin steht …«
»Hilf mir auf die Sprünge, Luisa. Was steht denn drin?«
Sie reibt sich fest die Nase. »‚Wenn ein Mann bei einem Mann liegt, als würde er bei einer Frau liegen, so haben sie beide einen Gräuel begangen, und sie sollen unbedingt getötet werden; ihr Blut sei auf ihnen!‘ Das steht da drin.«
»Aha, also Todesstrafe.«
»Stimmt. Todesstrafe.« Sie nickt grimmig. »Aber ich bin gegen Todesstrafe. Wenn wir töten, sind wir auch nicht besser als irgendwelche Diktatoren.«
»Also die Bibel erlaubt keine Homosexualität?«
»Nein, tut sie nicht. Steht überall. Römerbrief, Timotheus, Korinther …«
»Ich verstehe. Wann wurden diese Texte denn geschrieben?«
Luisa stockt. »Vor 2.000 Jahren, ungefähr. Aber Moses ist natürlich älter.« Sie blickt aus dem Fenster. Was sieht sie dort? Antworten? Oder noch mehr Fragen? Woher kommt bloß die Annahme, solch alte Texte besäßen den Stempel eines Unfehlbarkeitsdogmas?
»Und meinst du nicht, dass sich Menschen, Staaten und Gesellschaften in Bezug auf Toleranz, Vielfalt von Kultur, Religion, Wissenschaft und Sexualität weiterentwickeln können? Was wird passieren, wenn Homosexuelle getötet würden, ins Gefängnis müssten oder unterdrückt? Wären sie einsichtig? Oder wütend? Womöglich würden sie ihre Unterdrücker hassen und sich gegen sie auflehnen …«
Luisa steht auf, geht zum Fenster, kommt wieder zurück. Neben dem Bett bleibt sie stehen. »Vielleicht kommen sie dann zu Gott und lassen von dieser Sünde ab«, sie hebt das rote Büchlein hoch. »Es sind seine Worte.«
»Dann stehen seine Worte gegen meine Worte …«
»Das ist Blasphemie, Herr Bernheimer …«
»Im Übrigen bin ich nicht homosexuell, was natürlich nicht schlimm wäre. Ich war verheiratet. Meine Frau starb bei einem Unfall …«
Luisa wird rot. Sie will mich unterbrechen, aber ich hebe den Arm und starre auf die Kanüle im Handrücken. »Ich glaube, das wird nichts mit uns zwei, Luisa. Du darfst mich jetzt alleine lassen. Danke.« Für zwei oder drei Sekunden starrt sie auf den Boden, den Fencheltee, meine Hand. Dann geht sie zügig hinaus und rennt beinahe die Ärztin über den Haufen.

»Hoppla«, rutscht der Ärztin heraus als sie beinahe stolpert und Luisa nachschaut. »Was war denn los?« Sie schließt die Tür und sieht mich streng an. »Sie sind doch nicht übergriffig geworden? Auf geile, alte Säcke habe ich keine Lust …«
»Sie wollte mich bekehren. Gehört das zum Service hier?«
»Natürlich!« Die Hände in die Hüften gestemmt, steht sie vor meinem Bett. Sicher zwei Meter groß und einhundert Kilo schwer. »Im Preis inbegriffen«, fährt sie fort. »Die Jugend leistet gute Arbeit bei uns. Freiwillig! Und die meisten Menschen in unseren Betten sind dankbar …«
»Ich nicht. Für mich ist nur eins wichtig: Wann kann ich gehen?«
»Auf eigene Verantwortung jederzeit!«, sagt sie, stellt sich neben mich, schlägt die Decke zurück und setzt das Stethoskop an. Ihr Blick sucht meine Augen. Sie ist eisern. Mit ihr ist nicht zu spaßen! Warum gerate ich in letzter Zeit nur noch an solche Menschen? Die Digitaluhr an der Wand rückt eine Minute weiter.
»Von wem wurde ich hierher gebracht?« Sie kräuselt die Stirn.
»Was ist das für eine Frage? Vom Rettungsdienst.«
»Nicht von einem etwas grobschlächtigen Mann?«
»Ich war nicht dabei, aber in der Akte steht ‚Rettungsdienst‘.« Wo ist Bruno?
»Ich gehe, sobald die Infusion leer ist«, erkläre ich. Sie tritt einen Schritt zurück, schaut auf den Beutel und fixiert mich dann.
»Haben Sie was ausgefressen? Oder sind irgendwo abgehauen?«
»Weder noch.«
Ihre Hände sind wirklich groß. Anstatt Ärztin, hätte sie Wettkampfschwimmerin werden können. »Es interessiert Sie also nicht, was Ihnen fehlt?«
»Nein.«
Für einen Moment schweigt sie, fühlt mit der Hand die Temperatur auf meiner Stirn. »Wie Sie wollen. Schwester Hiltrud wird Sie den üblichen Wisch unterschreiben lassen und den Zugang abnehmen.«
»Danke.«
»Trotzdem protestiere ich und möchte einwenden, dass …«
»Danke, Frau …«
»Dahlbender.«
»Danke, Frau Doktorin Dahlbender.« Trotz ihres beeindruckenden Habitus macht sie einen geknickten Eindruck. Verständlich. Schließlich verliert sie einen Privatpatienten. Wer auch immer mich dazu gemacht hat.

Im Foyer von Sankt Franziskus steht ein Getränkeautomat, aus dem ich zwei Flaschen Wasser ziehe und mit dem Smartphone des ominösen Widerstands bezahle. Was mich zu der Frage führt, wie es nun weitergeht. Mein eigenes Gerät ist weg. Das Tablet unter Kontrolle des Derivats. Um abzuhauen, brauche ich Geld. Lange stehe ich vor dem Eingang, starre in den wolkenlosen Himmel oder beobachte Menschen mit Krücken, einem Gips, vernarbten Gesichtern, trinke eine ganze Flasche leer, dann heftet sich mein Blick auf eine der Taxen. Ich nehme die Tasche, gehe auf eines zu, werfe das Gepäck auf den Fahrersitz und steige hinten ein.
»Ich brauche ein Geschäft mit Tablets und Prepaid-Smartphones«, sage ich zum Fahrer. Er nickt und fährt los. Auf die Subbelrather Straße Richtung Ringe. »Ich würde mich freuen, wenn es im Eigelstein ein solches Geschäft gäbe. Ein bisschen abseits normaler Einkaufsstraßen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er blickt kurz in den Rückspiegel, versucht zu erraten, wer da auf seiner Rückbank sitzt. Doch er schweigt. Mehr als ein Nicken kommt nicht als Reaktion. Also sehe ich aus dem Fenster. Menschen ohne Unterlass. Wie viele davon wohl bei der Abendländischen Jugend sind? Oder in der Abendländischen Erneuerung? Wie viele Anhänger hat mein Bruder? Und ist es den Menschen wirklich egal, ob ihr Leben, ihr Alltag mehr und mehr in Richtung einer religiös isolierten Insellage driftet? Wir überleben, uns geht es gut. Um die anderen kümmern sich Klimawandel, Hunger, Wasserknappheit, Extremwetter.

Wir biegen auf die Ringe ein. Die Platanen sind teilweise schon kahl, viele fehlen oder wurden ersetzt durch mir unbekannte Baumarten. Nach wenigen hundert Metern biegen wir rechts in die Lübecker Straße. In Sichtweite das Eigelsteintor. An der Ecke zum Gereonswall bremst der Fahrer abrupt und nickt mit dem Kopf auf die andere Straßenseite. Altuns Phone-Shop. Ich presse das Smartphone gegen den Scanner, bezahle auf Brunos Kosten, steige aus, öffne die Beifahrertür und wuchte die Rucksacktasche heraus und auf meinen Rücken. Irgendwas muss mir da einfallen. Auf Dauer ist mir das zu viel Gewicht.
»Danke«, sage ich. Er nickt und fährt davon. ‚Bargeld-Service‘ steht auf Altuns Ladenscheibe. Es ist schon wieder viel zu heiß. Schwitzend gehe ich die paar Meter und trete in einen vollgestopften Raum. Hinter der Theke thront ein sehr übergewichtiger Mann mittleren Alters. Eine Klimaanlage brummt und schaufelt eiskalte Luft über meinen Kopf.
»Willkommen, Bruder«, begrüßt er mich.
»Danke.«
»Was kann ich für dich tun?«
»Mir fünf Prepaid-Geräte verkaufen und Bargeld auszahlen.«
Sein Blick wird abschätzend, wandert über meine ganze Erscheinung, auf die große Tasche. Was sieht er? Einen alten Mann mit kurzen, grauen Haaren und grauem Mehrere-Tage-Bart. »Kein Problem. Kann ich sonst noch etwas tun? Ein wenig mehr Service?«
Ein wenig mehr Service? Was meint er damit? »Die Prepaid-Provider vielleicht nicht gerade aus Deutschland?«, rate ich mal drauf los. Er zieht eine Augenbraue hoch.
»Verstehe. Hab da Armenien, Türkei oder Georgien im Angebot.«
»Georgien klingt gut.«
Er nickt und legt fünf kleine Pappschachteln auf den Tisch.
»Und wie viel Bargeld?«
Gute Frage. Ausreichende Mittel stehen mir zur Verfügung, so war die Ansage. »Gibt es eine Auszahlungsbegrenzung?« Er grinst.
»Bruder, wo lebst du? Fünftausend Euro, weißte ja, Geldwäschegesetz und so …« Ich ziehe laut die Luft ein, drücke sie langsam wieder hinaus. Es schmerzt ein wenig in der Lunge oder im Zwerchfell. Vielleicht der Sturz vom Stuhl …
»Kann man da nix gegen machen?«, hake ich nach.
»Georgien«, erwidert er. »Wie viel soll es denn sein?«
Ohne groß zu überlegen, nenne ich einen Betrag von 50.000 Euro und lege das Smartphone auf den Tisch. Er zuckt mit den Schultern, nimmt es an sich und geht durch einen mit provisorischen Brettern und Schachteln völlig zugebauten Durchgang nach hinten. Wie komme ich auf 50.000 Euro?! Ich muss wahnsinnig sein, völlig übergeschnappt! Es dauert und nichts ist zu hören. Mir wird mulmig, ein flaues Gefühl kriecht meine Speiseröhre empor. Wenn er mich nun um die Ecke bringt? Aber alles bleibt ruhig, außer dass er wieder aus dem Nichts nach vorne kommt und einen Stapel Samsung-Boxen mit seinem Körperumfang umstößt. Es interessiert ihn nicht. Dafür grinst er, hält den Fingerscanner vor meine Nase und legt ein weiteres Gerät auf den Tisch. Fingerabdruck, einmal piepen.
»Einmal Piep ist gut, Bruder, du hast jetzt ein Konto in Tiflis. Der gewünschte Betrag ist drauf. Kannst jederzeit abheben. Allerdings ist die Provision nicht wenig«
»Behalt mein altes Gerät«, unterbreche ich ihn. »Da ist sicher noch mehr drauf. Wenn du schnell genug bist, kannst du dir deine Provision von dort holen. Danach solltest du aber schnellstens irgendwo Urlaub machen.« Einen Atemzug lang starrt er mich an, rennt wieder nach hinten. Weitere Schachteln fallen. Als er wieder erscheint, wirkt er glücklich, hält mir das Smartphone hin, ich presse erneut den Finger drauf. Ein Piep. Aus einem der Fächer nehme ich eine Stofftasche und packe alles ein.
»Behalt das Smartphone. Brauch es nicht. Ich hoffe, du hast mich nicht reingelegt. Falls doch …«
»Bei Allah, Jesus, Indra oder Manitu, wen immer du anbetest, Bruder! Bei Altun ist alles korrekt!«
Ich verschwinde aus seinem Laden und gehe zum Eigelsteintor, stelle mich unter den alten Torbogen, schweißnass und wie ausgetrocknet. Hätte ich im Krankenhaus bleiben sollen? Beruhig dich, Johannes! Wenn du tot umfällst, ist das Gröbste vorbei. Dann bist du aus dem Schlamassel draußen. Ein junges Pärchen schlendert an mir vorbei und beäugt mich misstrauisch. Einen armen, alten Irren. Ich muss lachen. Wie bin ich nur darauf gekommen, diesem Altun zu drohen? Kurzentschlossen gehe ich um das Stadttor herum zum Taxistand auf der anderen Seite, wuchte den Rucksack und mich hinein.

Am Neumarkt bin ich ausgestiegen und habe Uber gerufen. Jetzt stehen wir am westlichen Ende der Kastanienallee in Marienburg. Laut der Infos wohnt hundert Meter weiter Christian Schmitz. Die Fahrerin blickt mich über den Rückspiegel an. »Wie lange wird es dauern?« Ich reiche zwei 100-Euro-Scheine nach vorne. Sie nickt. »Danke. Aber ich habe drei Kinder. Mein Ex bringt sie in vier Stunden nach Hause. Dann muss das Essen auf dem Tisch stehen.«
Vier Stunden … kurz vor achtzehn Uhr. Sie räuspert sich, klopft mit der Hand ein paar Mal aufs Lenkrad. »Wenn Sie auf jemanden warten oder beobachten wollen, ob diese Person kommt, warum rufen Sie sie nicht einfach an?«
»Auf die Idee kam ich auch schon, allerdings weiß ich nicht, ob das sinnvoll ist.«
Mit ihren großen, blauen Augen mustert sie mich im Rückspiegel. »Ich hoffe, hier läuft alles legal ab und das ist nicht so ne Mafiascheiße!«
»Mafia … nein, keinesfalls. Scheiße schon.« Noch zwei Hunderter. Sie stöhnt und dreht den Kopf weg, steckt die Scheine ein.
»Ehrlich, wenn ich das Geld nicht so nötig hätte, würde ich Sie rauswerfen …«
»Beruhigen Sie sich. Ihre Kinder werden pünktlich das Essen auf dem Tisch haben. Reicht Ihnen siebzehn Uhr?«
»Grad so. Ich wohne in Lövenich.«
»Lövenich? Sie können auf den Militärring …«
»Ach nee! So schlau bin ich auch.« Es ist besser zu schweigen. Auf den Beifahrersitz lasse ich noch einen Hunderter fallen. Er verschwindet in ihrer Hemdtasche.
»Die wachsen offenbar bei Ihnen in der Hose.« Sie grinst nicht.

Kurz nach halb fünf kommt ein Mann aus der östlich querenden Parkstraße. Die am Bürgersteigrand stehenden Bäume verdecken ihn teilweise. »Sie haben doch eine Kamera vor dem Rückspiegel. Können Sie an den Mann heranzoomen?«
»Klar.«
»Dann tun Sie es bitte.« Mit einem Wisch wechselt die Taxameter-Anzeige auf dem Bildschirm zur Kamerasicht. Mit Daumen und Zeigefinger vergrößert sie das Bild. »Nehmen Sie das auf?« Sie tippt mitten auf den Schirm.
»Jetzt ja.«
Eine alte Frau läuft an uns vorbei. Mit Hund. Er pinkelt offenbar an das Hinterrad. Meine Fahrerin verstellt den Außenspiegel. Dann flucht sie. Die alte Frau schaut ungeniert zu uns herein, starrt mich an. Der Mann kommt wieder hinter einem Baum hervor und geht durch ein Gartentor.
»Scheiße!«, rutscht mir raus.
»Scheiße? Was? Die Töle? Oder der Kerl?«
»Der Kerl …«
Die alte Frau zieht den Hund weiter, der unbedingt noch sein großes Geschäft loswerden will, aber ihm droht die Strangulation, und so gibt er nach.
»Was ist denn mit dem Kerl?«
»Ich wohne da vorne«, erkläre ich, »und habe meine Frau schon lange im Verdacht, dass …«
»Ah! Jetzt wird ein Schuh draus! Sie sind der Gehörnte.« Ihr Gesicht hellt sich auf, der Blick fast ein wenig fürsorglich – oder mitleidig. »Machen Sie sich nichts draus. Ich kann Sie mitnehmen zu meiner Freundin nebenan in Lövenich. Die ist einsam. Gegen ein wenig Zärtlichkeit …« Ich hebe die Hand. Sie schweigt. Der Kerl kommt wieder raus. Es ist Bruno. Mein Bruno. »Das war aber ne schnelle Nummer«, stellt meine Fahrerin erstaunt fest. »Gibt’s ja gar nicht. Vielleicht hat Ihre Frau Schluss gemacht?« Ich habe mit dem Tablet nach Christian und Paul gesucht. Natürlich. Sie wissen das und suchen mich. »Tun Sie mir einen Gefallen. Nehmen Sie mich mit zu Ihrer Freundin.« Ihr Lächeln im Rückspiegel ist voller Verständnis. Wir fahren nach Lövenich.

Vinzenzallee in Lövenich. War ich schon mal in Lövenich? Nicht mehr als zwei oder drei Mal in meiner Jugend. Gehört zu Köln, ist nicht Köln. Das ist die Meinung derer, die innerhalb der Ringe leben. Vor vielen Jahrzehnten jedenfalls. Josefine, inzwischen kenne ich den Namen der Uber-Fahrerin, schließt die Tür auf und wir treten ein. Reihenhaus, von außen zerfallen, von innen wenig besser. »Ich will nicht, dass meine Kinder dich sehen. Sie kommen sonst bloß auf komische Gedanken.«
»In Ordnung. Wohnt deine Freundin nebenan?« Sie kickt die Schuhe weit von sich und schlüpft in Sandalen.
»Ja. Wir gehen aber hinten über den Garten. Die Nachbarn vorne sehen alles.« Also durchs Wohnzimmer in den Garten. Mehr eine Wiese mit teils abgestorbener Thuja-Hecke drumherum. Durch eine Lücke gelangen wir auf das daneben liegende Grundstück mit kleiner Terrasse vor dem Haus. Josefine klopft an die Tür.
»Lili, Schatz! Mach auf. Ich bin’s!«
Es dauert eine halbe Minute, schätze ich, dann macht eine Frau mittleren Alters auf. Sie steckt in einem himmelblauen Bademantel, die nassen Haare locker hochgesteckt, ein Glas mit bräunlich schillernder Flüssigkeit in der Hand.
»Josefine? Was schleppst du mir denn da an?«
»Geld«, sagt Josefine knapp, was umgehend Wirkung zeigt. Gesichtsausdruck, Haltung, alles wird um Stufen freundlicher.
»Kommt rein.«
»Nee«, lehnt Josefine ab. »Ich muss jetzt schnell Essen machen. Die Kinder kommen bald. Lass ihn heute Nacht bei dir pennen. Seine Alte hat nen hübschen anderen …«
Lili überlegt nicht lange, winkt mich herein und gibt Josefine einen Kuss auf die Wange. Dann schließt sie die Tür und mustert mich von oben bis unten. »Ganz schön alt«, stellt sie fest. »Wie heißt du denn, mein Guter?«
»Alexander.«
»Also Alex. Na, dann setz dich mal Alex. Nimm ruhig die Couch. Und stell deine wuchtige Tasche in den Flur.« Immerhin ist die Wohnung sauber, die besagte Couch ziemlich neu. Lili verschwindet, ich folge ihr, stelle die Rucksacktasche neben eine Tür mit ‚Scheißhaus‘-Plakette in Kopfhöhe und gehe in die Küche. Dort finden sich ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Ich setze mich an die Wand. Lili beobachtet mich, während sie zwei Gläser mit Whiskey füllt. »Traust mir nicht, was?«
Das beantworte ich zuerst mit einem Kopfschütteln. »Zwei einsame Herzen, die sich zusammentun. Die eine schleppt die Männer an, die andere nimmt sie aus und packt sie zerlegt in die Kühltruhe. Geteilt wird schwesterlich.« Lili lacht los. Wiehernd, fast hysterisch. Ein Glas kippt um, der Whiskey läuft von der Arbeitsplatte auf den Boden. Sie kann gar nicht mehr aufhören, rutscht an der Spülmaschine nach unten, auf ihren Hintern. Mit Tränen im Gesicht sieht sie mich vom Boden an. Prustet immer wieder los. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird es ruhig und sie putzt die Sauerei weg. »Ich habe keine Kühltruhe«, erklärt sie nebenbei. »Kann ich mir nicht leisten, bei den Strompreisen. Müsste deiner Theorie nach ja schon ziemlich voll sein.«
»Hast du ein Fahrzeug?«
Sie unterbricht das Saubermachen. »Ja, allerdings nur so einen Kabinenroller. Passt nur eine Person rein und der Einkauf.«
Ich lege fünf Hunderter auf den Tisch. »Den muss ich mir heute Nacht für zwei Stunden ausleihen.« Lili kratzt sich im Nacken, säubert den Rest und kippt das noch volle Glas in einem Zug runter. Dann setzt sie sich auf den anderen Stuhl und starrt auf die Scheine.
»Fünfhundert Euro für zwei Stunden?« Ihr Kopf neigt sich zur linken Schulter. »Willst wohl deine Alte kontrollieren, was?«
»Ertappt.«
»Okay. Abgemacht. Wir lassen das Geld hier liegen. Kommst du wieder, nehme ich es.« Sie beugt sich vor. Der Bademantel gibt einen tiefen Einblick frei. Ich kann bis zu ihrem Bauchnabel sehen, die beiden großen Brüste, dunkle Warzen. »Gibt es noch etwas, das ich für dich tun kann?«
»Nein, danke.«
»Ich sehe aber noch gut aus. Warte, bis ich mich zurechtgemacht habe …«
»Das stimmt. Sie sehen gut aus. Aber das ist es nicht, was ich will.«
»Was willst du denn?«
»Nur zwei Stunden den Kabinenroller, etwas essen und morgen bin ich weg.«
Lili seufzt und steht auf. »Ich wette, du kriegst ihn nicht mehr hoch«, mutmaßt sie und holt einen Beutel Kartoffeln unter der Spüle hervor. »Essen kostet außerdem extra.« Schulterzuckend lege ich die letzten beiden Hunderter auf den Tisch. Morgen werde ich Geld abheben müssen. Wer weiß, was noch alles auf mich zukommt. Das Geld des Widerstands aus dem Fenster werfen, macht auf alle Fälle Spaß.

Lili weckt mich unsanft. Rüttelt wie ein Mixgetränk an mir. Nach dem Essen bin ich auf ihrer Couch eingeschlafen, der Teller steht noch auf dem kleinen Tisch. »Ist zwei Uhr, Alex. Die richtige Zeit, um unterwegs zu sein.« Benommen nickend setze ich mich aufrecht und stecke den Rest der Bratkartoffeln in den Mund.
»Die waren gut, nicht?«
Waren sie zwar nicht, aber … »Ja, ziemlich lecker. Du kannst gut kochen …« Die Müdigkeit zwingt mich zum Gähnen. Lautstark. Schultern heben, Arme ausstrecken. Lili nimmt neben mir Platz, streichelt den Bart an meinem Kinn.
»Grauhaarige Männer finde ich gar nicht schlecht. Meist sind die viel zärtlicher als die jungen Holzfäller, auch wenn du ein bisschen alt bist.« Mir ist nicht nach einer Antwort. Ich sehe sie nur von der Seite an. Lili ist zurechtgemacht, wie sie sagen würde. Um zwei Uhr in der Nacht. Keine Ahnung, was ich hier mache. Ich muss verrückt sein, von allen guten Geistern verlassen.
»Bekomme ich die Steckkarte zum Auto?«
Sie zieht Luft durch die Nase. »Okay, ich sehe schon, du bist ein Stück Stein …« Offenbar verärgert, steht sie auf und greift in eine kleine Handtasche.
»Steht in der Einfahrt. Schon mal so ein Ding gefahren?«
»Ich hatte auch mal einen.«
»Na dann …«

Freitag, 7. August 2037

Es ist zwar ein Opel, aber die Funktionalität ist identisch mit meinem Peugeot. Über den Militärring fahre ich Richtung Marienburg, exakt jede Geschwindigkeitsvorgabe befolgend. Auf WDR4 gibt es die Wiederholung eines Interviews mit dem Chef der Euroregion Maastricht-Lüttich-Aachen vom Vortag. Der Zustand der Flüsse Maas und Rur bereiten ihm Kopfzerbrechen. Trinkwasserversorgung, Zuleitung von Wasser aus Entsalzungsanlagen an der belgischen Küste, einbringen in die Grundwasserspeicher. Er dankt dem Minister für Wasser und Klima in Brüssel für die finanziellen Zuwendungen, lobt die Abendländische Erneuerung und hofft, dass die Wahlen in ein paar Monaten einen Erfolg für die Partei bringen. Unter den gegebenen, sich negativ entwickelnden Umständen, macht mein Bruder wohl alles richtig. Und die Umstände sind nun mal stärker als der Mensch. Zwar haben wir es selbst verursacht, aber eine Selbstkontrolle unseres Verhaltens abgelehnt. Pandoras Büchse ist seit langem geöffnet und achtlos weggeworfen. Es brennt an allen Ecken und Enden. Wenn es jetzt keinen Zusammenhalt gibt, können wir den Laden dicht machen. Ist der Weg deshalb falsch? Ist er nur falsch, weil er nicht breit genug ist für alle Menschen? Der E-Motor summt, Akku ist voll, nichts los auf dem Militärring. Ab und zu ein Taxi. Wann war ich das letzte Mal so hin und her gerissen? Als ich nicht wusste, wie ich meinen Sohn zurückgewinnen kann, ihn an meinen Bruder verloren habe. Schließlich war ich damals noch der Erziehungsberechtigte und hätte klagen können. Und heute? Töten oder nicht? Habe ich ein Motiv? Meinen Sohn, sagt der Widerstand. Aber wieder würde ich jemanden töten, den er liebt. Nein. Ich habe kein Motiv. Und deswegen werde ich es nicht tun. Ich denke an Shakespeare. So ähnlich müssen seine Dramen entstanden sein. Von vornherein ausweglos der menschlichen Psyche folgend.

Am Militärringkreisel nehme ich die Bonner Straße, einen knappen Kilometer weiter die Marienburger Straße. Alles ist ruhig. Nur wenig Licht in den Häusern. Wunderschöne alte und neue Einfamilienhäuser. Keine billige Wohngegend. Lövenich dagegen schon. An der Ecke zur Kastanienallee bleibe ich stehen – und kann es sehen. Blaulicht. Mindestens zwei, vielleicht drei Polizeifahrzeuge. Aus einem Impuls heraus beschleunige ich und fahre die leicht abschüssige Allee entlang. Vorbei an Einsatzfahrzeugen, in Vorgarten und Hof aufgestellten Scheinwerfern, einem weißen Zelt, Menschen in weißen Schutzanzügen. Niemand achtet auf mich. Warum nicht? Jemand fährt nachts um kurz nach halb drei an solch einem Ort vorbei. Fällt das nicht auf? Wieder vor zur Marienburger, zum Rheinufer und zurück nach Lövenich. Radio aus. Die Stille in so einem E-Auto ist fast perfekt. Christian Schmitz … war er vielleicht verheiratet? Alles, was ich weiß, ist fast fünfzig Jahre alt. Und so weit entfernt sind auch Trauer oder Mitleid. Nur eine Erkenntnis bleibt mir. Dieser ominöse Widerstand hat eine Grenze überschritten und wird es wieder tun. Soll ich zu Paul Wertheimer nach Porz fahren? Nein, denn ich ahne, dass mich dort eine identische Situation erwartet. Es bleibt in dieser Logik nur eine Lösung: Ich muss mit meinem Bruder Kontakt aufnehmen.

Lili schläft auf der Couch. Warum ist sie nicht ins Bett? Wohin soll ich mich jetzt legen? Es ist viertel vor vier. Aufgewühlt von diesem Erlebnis in Marienburg, werde ich vielleicht gar nicht schlafen können. Im Kühlschrank steht eine Flasche Reissdorf. Bei dem vielen Geld, dass ich Lili gegeben habe, ist diese eine Flasche sicher im Preis inbegriffen. Mit einem Messerknauf öffne ich das Bier, setze mich neben ihren zurechtgemachten Kopf in den abgewetzten Kunstledersessel und trinke langsam das kühle Nass. Es ist wie ein Flashback. Der Geschmack, das Gefühl, wenn es die Kehle hinabläuft. Seltsames passiert. Ich muss weinen. Melancholie greift nach meinem Inneren. Wie ein alpines Massiv aus Leere, Jahre ohne Inhalt, einer Existenz am Leben vorbei. Gegen die Tränen tue ich nichts. Zusammen mit dem Kölsch schmecken sie sogar gut. Ich erinnere mich, dass Weinen schön sein kann. Als schlage man damit wieder eine Wurzel in den Boden. Ausgerechnet hier bei Lili in Lövenich, einer gestrandeten Existenz, mit verwehender Schönheit und miserablen Kochkünsten. Passend zu meinen Gedanken beginnt sie zu schnarchen. Ich trinke aus und schließe die Augen.

Unangenehme Wärme weckt mich. Helles Sonnenlicht drückt durch die geschlossenen Lider und kitzelt meine Nase. Ein traumloser Schlaf. Ich weiß sofort, wo ich bin und was ich heute Nacht gesehen habe. Bei dieser Hitze im Zimmer muss es mindestens elf Uhr sein. Langsam öffne ich die Augen und sehe Bruno auf einem Stuhl vor mir sitzen. Keine zwei Meter weg. Er lächelt freundlich. »Schau mich nicht so ungläubig an«, raunt er. »Hast du wirklich gedacht, du könntest uns entkommen?«
Ich nicke.
»An Naivität bist du ja nicht zu überbieten«, erwidert er und streckt sich. Lili fällt mir ein. Sie hat geschnarcht als ich eingeschlafen bin. Schnell drehe ich den Kopf nach links. Da liegt sie. Die Haut so weiß wie die Raufasertapete an der Wand. Ein dünner Draht um den Hals, entlang einer blau-roten Linie.
»Du hast sie doch nicht etwa gern gehabt?«
»Sie war ein Mensch«, entgegne ich Bruno. »Ebenso wie Christian Schmitz und Paul Wertheimer«, setze ich nach. Bruno nickt. Dann steht er auf.
»Sie war ein Auftrag. Ebenso wie Christian und Paul. Mach dich fertig. Wir gehen«, sagt er knapp.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
Er greift in seine Hosentasche, kramt eine Art dicke Münze hervor, präsentiert sie auf seiner Hand. »Ein GPS-Tracker in deiner Rucksacktasche.«
Ein GPS-Tracker in meinem Rucksack? Hat er das wirklich gesagt? Kann es einen größeren Idioten geben als mich? Wie naiv kann man sein? Sprachlos starre ich auf das runde Stück Technik. Er steckt es wieder ein. Josefine fällt mir ein … und die erwähnten Kinder. Wut packt nach mir, eine enorme Kraft reißt mich aus dem Sessel. »Hast du etwa auch die Frau von nebenan mitsamt Kindern getötet?«
»Aber nein«, entrüstet Bruno sich. »Diese Josefine wird ihre Freundin Lili hier finden und kann aussagen, dass sie dich mit Lili bekannt gemacht hat. Die Ermittler werden das Geld entdecken und auf ein banales Kapitalverbrechen schließen. Die Uber-Kamera hat ja ein schönes Foto von dir.« Er grinst breit. »Ehrlich gesagt, ohne mich bist du am Arsch«, setzt er mit süffisantem Unterton nach.
»Danke, Bruno. Besten Dank!«

Ein ziemlich ramponiertes Taxi steht vor der Haustür. Bruno wirft meine Rucksacktasche in den Kofferraum und setzt sich auf den Fahrersitz. »Vorne einsteigen, bitte.« Das tue ich, schnalle mich an und suche nach Menschen hinter Gardinen, an Fenstern. Niemand ist zu sehen.
»Du traust mir wohl nicht?«
Die Ladeanzeige des Akkus gibt noch dreißig Prozent aus. Er aktiviert das Taxameter und fährt los. »Natürlich nicht. Du würdest es an meiner Stelle auch nicht tun.« Er steuert den Militärring an, fährt aber nach Norden.
»Kann ich das Radio einschalten?«
»Nur zu.«
Auf dem Display steht WDR2 als einziger Sender. Dann eben WDR2. Eine pfeifende und grölende Menge ist zu hören. Sie skandieren irgendeine Parole. Es dauert etwas, bis ich erkenne, dass es Englisch ist. Die Sprecherin sagt, dass die Situation in Sacramento zunehmend eskaliert. Viele Menschen wollten jetzt mehr Unabhängigkeit von Washington, andere ganz aus dem Bund austreten. Ein junger Mann erzählt, dass Kaliforniens Bruttosozialprodukt ausreichend wäre, um als eigener Staat zurechtzukommen. Sie hätten die fortschrittlichsten Umweltgesetze, betont er und würden nicht länger zusehen, wie republikanische Staaten ihnen Steine in den Weg legen. Dann eine Überleitung zu einem seriös redenden Erzähler nach Austin, Texas, der den Ausgang einer offenbar stattfindenden Abstimmung in einigen südlichen Staaten als schon gewonnen prophezeit. Was für eine Abstimmung? »Was für eine Abstimmung meint der?«
Bruno setzt den Blinker und fährt auf die Mercatorstraße. »Die Herauslösung einiger Bundesstaaten.«
»Du meinst, es ist mal wieder soweit und einige Südstaaten wollen einen eigenen Staat gründen?«
»Viel mitbekommen hast du ja wirklich nicht in deinem bisherigen Leben, was?« Eine Straßenbahn überholt uns auf der linken Seite als wir die Autobahn queren.
»Doch. Ab und zu. Solche Bestrebungen gab es immer wieder, aber dass es so real ist, ist mir irgendwie entgangen.« Bruno lacht auf.
»‚Irgendwie entgangen …‘, eine schöne Umschreibung für ‚mich interessiert nichts‘.« Danke, Bruno, denke ich und schaue aus der Seitenscheibe. Ich ahne, wohin wir fahren. Ein besseres Versteck wird es in ganz Köln nicht geben.

Wir parken zwischen zwei Müllcontainern in der Osloer Straße, steigen aus, Bruno meine Rucksacktasche auf der Schulter. Zielstrebig geht er auf den östlich gelegenen Block zu. Vor dem Eingang müssen wir durch einen Pulk Jugendliche. Bruno stellt mitten unter ihnen meine Tasche auf den Boden, öffnet sie, nimmt das Tablet heraus. Die Gesichter der Jungen und Mädchen sind misstrauisch, angespannt, voller Neugier. »Hab Klamotten für Euch. Nehmt, was passt. Den Rest bringt ihr rüber zur Kirche ins Kleiderlager.« Dann geht er durch die ramponierte Glastür, vorbei an aufgerissenen Briefkästen, zerlegten Fahrrädern, kaputten Kinderwägen zu einem der drei Fahrstühle. Mir bleibt nichts, als ihm zu folgen. Mit einem grässlichen Quietschen öffnet sich dessen Schiebetür. Die Stockwerke muss man anhand der Knöpfe abzählen, alle Leuchtsymbole sind zerstört. Wir fahren in die siebte Etage. Die Fahrstuhlkabine setzt sich ruckartig in Bewegung, schaukelt hin und her, vibriert, schrappt nach einigen Metern an etwas entlang. Ich sehe uns abstürzen. Bruno hat die Augen geschlossen. Vielleicht hat ihn der Gestank hier drin ohnmächtig werden lassen.
»Auf den Wänden stehen ja ganze Romane«, sage ich in die Stille.
»Du bist ja Schriftsteller. Vielleicht entdeckst du große Literatur.«
»Eher verzweifelte oder zynische Literatur.«
»Das ist doch große Literatur, oder?« Bruno öffnet die Augen, sieht mich kurz an. Dann stößt er sich von der Blechwand ab und tut einen Schritt auf die Schiebetür zu. Als hätte er genau die Fahrzeit im Kopf. Wir bleiben stehen, knarzend und ächzend verschwindet das Metall in der Wand. Vor uns ein halbdunkler, übelriechender Flur. Direkt gegenüber eine Wohnung. Bruno schließt auf. Schon wieder ein Loch. Bis auf ein Zimmer, das außerordentlich gut renoviert ist. Nur der Geruch …
»Willkommen in deinem neuen Zuhause …«
»Warum eigentlich hier? Warum nicht wieder in die Stammstraße?«
»Wir bleiben nie lange an einem Ort. Das versteht sich von selbst, oder?«
»Aus deiner Sicht, ja, aus meiner Sicht nicht. Das bedeutet, dass ich hier ebenfalls nur kurz sein werde.« Er antwortet nicht, gibt mir stattdessen das Tablet.
»Falls du deine Mails kontrollieren willst.« Mehr sagt er nicht, wendet sich ab und verschwindet in der Küche. Ich seufze und suche das Bad. Eine Dusche käme mir gelegen.
»Bruno?«
»Was?«
»Ich brauche Kleider!«
»Der Kleiderschrank in deinem Zimmer ist voll. Alles, was dein Herz begehrt.« Ein hämisches Lachen folgt.

Das Duschwasser war kontingentiert. Ob das an dem Ort lag, an dem wir uns aufhielten? Einigermaßen erfrischt gehe ich in die Küche. Auf dem Tisch stehen ein Topf mit Spaghetti und Tomatensauce, zwei Teller und zwei Flaschen Kölsch. Bruno klopft mit dem Messerende auf das zerfurchte Holz, einmal pro Sekunde, wenn ich richtig mitzähle. »Wie kann man nur so lange duschen? Das ist Wasserverschwendung«, stellt er fest.
»Was redest du da? Das Wasser ist begrenzt. Zuteilung nach Wohnung und Person. Steht doch auf dem kleinen Schild überm Wasserhahn.«
»Ah ja, stimmt. Hab ich vergessen.« Er will mich auf den Arm nehmen, ärgern, an meine Grenze bringen. Anders kann ich mir das Gerede nicht erklären. Aber gut, das kann ich ebenso …
»Wusste ja gar nicht, dass du kochen kannst. Kann man das essen?«
Er lässt das Messer fallen. »Kann man. Setz dich! Ich habe Instruktionen.« Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Instruktionen bedeuten immerhin Informationen. Vielleicht kann ich daraus irgendwie einen Gewinn schlagen. Vorsichtig nehme ich Platz. Auch dieser Stuhl hat seine beste Zeit lange hinter sich. Bruno nimmt zwei Gabeln, schöpft mir einen Berg Spaghetti auf den Teller, hebt den Topf und gießt großzügig Tomatensauce drüber.
»Du hast bei den Besten gelernt«, rutscht mir raus.
»Heute ist der siebte August«, ignoriert er die Stichelei. »Übermorgen der neunte August. Fällt dir dazu was ein?« Die Frage bringt mich völlig aus dem Konzept. Neunter August? Gerade war ich noch bei in Tomatensauce schwimmenden Spaghetti.
»Atombombenabwurf auf Nagasaki«, sage ich. »Und gestern Hiroshima.« Bruno dreht die Pasta auf seiner Gabel, beugt sich bis kurz über den Teller, schlürft das Knäuel samt Sauce in den Mund. Die letzte der langen Nudeln schleudert rote Tropfen auf mein T-Shirt.
»Du bist ein wirklicher Prolet«, stelle ich fest. Er grinst und kaut mit dicken Wangen. Ich schätze, das mit den Atombomben war die falsche Antwort. Mit Gabel und Messer zerstückle ich alle Nudeln, löffle den geschmacklosen Mix in den Mund. Weder Salz noch Pfeffer stehen auf dem Tisch und auch sonst nirgends in der kleinen Küche. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie ein solch schlechtes Essen bekommen. Ich schweige jedoch, mache den Teller leer und trinke das Kölsch. Bruno sagt ebenfalls nichts. Vielleicht wartet er auf eine Inspiration meinerseits zum neunten August. Da wird er lange warten können. Nach einem gepflegten Rülpser aus Brunos Kehle steht er auf und geht zum Fenster.
»Du bist ein denkwürdiges Arschloch«, sagt er zur verdreckten Scheibe. »Mein Job ist es, auf dich aufzupassen. Am liebsten jedoch würde ich dich hier aus dem Fenster werfen und den Aufprall unten genießen.«
»Tu dir keinen Zwang an.« Er dreht den Oberkörper und wirft mir einen bösen Blick zu. Fast ahne ich sein das Zittern dahinter, aufkochende Wut. »Am neunten August starb deine Mutter. Richtig?« Seine Stimme ist aus Eiswürfel gemacht. Ich muss ihn loswerden. »Du warst auf der Beerdigung, zusammen mit deinem Bruder. Danach hast du das Grab in diesem einsamen Eifeldorf nie mehr besucht.« Er kommt einen Schritt näher. »Nicht ein einziges Mal. Nicht so dein Bruder. Jedes Jahr ist er an zwei Tagen dort. Zu ihrem Tod und dem deines Vaters.«

Die Erkenntnis springt mich an wie ein Alptraum. Das ist es, was sie wollen! Meinen Bruder auf dem Friedhof töten! Und nur ich werde durchgelassen, so ihre Hoffnung, denn ich bin Sohn und Bruder! Meine zwei zitternden Hände auf den Oberschenkeln, unterm Tisch … ich will nicht, dass Bruno es sieht. Er soll sich nicht an der Wut sattsehen, die ich mit dem Alkohol aufgegeben habe, meinte verloren zu haben vor so vielen Jahren. Da ist sie wieder!
»Was weißt du schon über meine Eltern und das was passierte, als wir noch kleine Familie spielten?« Das Zittern meiner Stimme kann ich nicht zurückhalten.
»Red dich nur raus«, kontert er, dreht sich wieder zum Fenster. Konzentriert fixiere ich das Messer, sehe meine Hand danach greifen.
»Und wann fahren wir zum Friedhof?«
Bruno lacht gegen die Scheibe. Ein verächtliches Lachen. »Du bist so berechenbar«, höhnt er. Mit der linken Hand stelle ich beide Teller zusammen, dann auf die dreckige Spüle.
»Mag schon sein …« Meiner Wut die Pforte zu öffnen, fällt nicht schwer. Sie rammt das Messer mit all ihrer Kraft in Brunos Hals. Knapp über dem Hemdkragen. Ein Ratschen wie reißendes Papier. Wie einfach es ins Fleisch geht. Tief. Sein Ellbogen trifft meine Schläfe und mir wird für einen Moment schwarz vor Augen, fühle mich taumeln, dann fallen. Mit dem Kopf an den Türrahmen. Es wird sofort wieder hell, dann ist er über mir. Breitbeinig. Mit der linken Hand zieht er den Stahl heraus und schreit. Ein seltsames Bild. Dem rot gefärbten Metall folgt ein Strahl Blut, versiegt, der nächste Schwall kommt. Dann quillt es nur noch. Seine Beine geben nach. Er sackt auf mich herunter. Fast können wir uns küssen. »Du Arschloch …«, gurgeln die Worte aus seinem Mund, zusammen mit Unmengen Blut, das warm und klebrig meine Brusthaare färbt. Alles riecht nach rostigem Eisen. Das Licht in seinen Augen erlischt, tritt zurück und lässt den Tod herein. Muskeln erschlaffen und Brunos Gewicht presst mich auf den Boden. Da ist nicht nur mein klopfendes Herz, das ich noch nie so laut gehört habe, auch ein Gluckern in seiner Kehle lässt mich frieren, heftig atmen. Jetzt muss ich mich am Spülbecken waschen. Ein Lachanfall schüttelt mich. Was habe ich da gerade gedacht? Egal. Mit Mühe schiebe ich Brunos Körper auf die Seite und ziehe mich an der Spüle hoch. Ein roter Bach mäandert über den dreckigen PVC-Boden.

Der Blick aus dem verschmierten, fast blinden Schlafzimmerfenster auf Chorweiler ist deprimierend. Den Menschen dort unten vor den Hauseingängen, neben den Müllcontainern, auf den maroden Spielplätzen, wird egal sein, ob das Abendland sich christlich erneuert. Das Brot auf dem Teller soll nicht verschimmelt sein, es muss Wasser geben. Möglichst keine Stürme, Tornados oder Hitzewellen. Vor allem aber muss das weniger Werdende für diejenigen ausreichen, die schon hier wohnen. Nicht für jene, die übers Meer kommen oder den Landweg nach Europa nehmen. Das ist es, was die Menschen interessiert. Dafür nimmt man gerne ein wenig Glauben in Kauf. Bin ich damit einverstanden? Nein. Aber das ist nicht mehr meine Welt. Nicht mehr mein Kampf. Ich denke an Bruno.
Nun bin ich ein Mörder. Ganz im Sinne des Gesetzes. Selbst wenn ich einen Affekt erklären kann und es Totschlag wird. Der Widerstand will nur meinen Bruder eliminieren. Ob er den vielen Klimaflüchtlingen Brot geben kann – oder geben will – möchte ich bezweifeln. Am Ende bleibt die Frage nach der Macht. Frisch gewaschen, saubere Kleider, ein Käppi mit dem Logo eines Taxiunternehmens auf dem Kopf und eine Sonnenbrille vor den Augen, das ist nun Frank Bernheimer. Die SIM-Karte aus dem Tablet breche ich in kleine Teile und spüle sie die Toilette runter. Das Gerät selbst überlasse ich der Mikrowelle. Der Verlag und Monika sind nicht mehr wichtig. Kurz denke ich an Françoise, aber ihr Leben wird weitergehen, auch ohne mich.

Am Wochenmarkt in Chorweiler steige ich in die S-Bahn, fahre zum Hauptbahnhof, hebe den Maximalbetrag vom georgischen Konto ab und setze mich in ein Café. Die Verbindungssuche nach Dahlem listet einige Züge auf. Ich entscheide mich für morgen früh um kurz nach acht ab Gleis sechs. Eine Stunde später bin ich dann in Kall, dann mit dem Bus nach Dahlem. Erst mal dort, werde ich schon eine Möglichkeit finden, nach Ilkenrath auf den Friedhof zu kommen. Alles weitere wird sich ergeben, daran habe ich keinen Zweifel. Ohne Gepäck oder Begleitung fühle ich mich frei. Wirklich frei. Wie schon sehr lange nicht mehr. Eine Last ist von mir abgefallen. Aber welche? Soll ich das ergründen? Selbst das Heimweh nach meinem Haus ist verschwunden. Habe ich mir durch all die Jahre etwas vorgemacht? Mir eingeredet, eine neue Heimat gefunden zu haben. Ich sollte einen der vielen Menschen in der Bahnhofshalle fragen, die hastig suchend, einsam oder in quirligen Touristengruppen, an Familie, Freunde oder nichts denkend, zu den Gleisaufgängen ziehen oder von ihnen ausgespien werden. Halb Europa trifft sich in Köln. So jedenfalls mein Eindruck. Das Käppi tief im Gesicht, reihe ich mich in die Menschenmasse ein, Richtung U-Bahn-Abgang. Mit der 16 fahre ich zum Chlodwig-Platz, miete für die folgende Nacht ein Zimmer im Hotel Severin und spreche dabei gebrochenes Kauderwelsch aus Französisch und Deutsch. Danach schlendere ich durch die belebte Südstadt in die Alteburger Straße. Am Eck zur Teutoburger Straße ist ein Eiscafé, zur Hälfte gefüllt und klimatisiert, veganes Eis im Angebot.

»Bonjour« werde ich beim Hineingehen los, setze ein »Guten Tag« nach. Die Fensterplätze sind belegt, im hinteren Eck habe ich einen Tisch für mich. Das ist mir recht. Kaum sitze ich, kommt eine Frau mittleren Alters mit der Karte, wischt mit einem Lappen über Tischfläche, Bank und Stühle. Auf ihrer linken Halsseite ist ein Fisch eintätowiert. Ruhig bleiben! Sicher nur Zufall.
»Einen Cappuccino, bitte.«
»Kommt gleich.«
Sie geht hinter die Theke. Ich spüre Angst. Bin ich unter Beobachtung? Wie können sie wissen, wo ich bin? Vielleicht ist ja ein Sender an mir? Oder in mir?
Früchteeis steht auf der Karte. Ich denke an Bruno aus Friedrichshafen, die offenbar nicht vom Widerstand war, sterben musste auf eine grausame Art. Ein Widerstand, der nicht minder miese Methoden anwendet.
»Ein Cappuccino, der Herr.« Vorsichtig stellt sie die übervolle Tasse ab. »Noch was?«
»Das Früchteeis, aber ohne vegane Sahne, bitte.«
»Kommt sofort.«
Über der Theke hängt ein großer Flachbildschirm. Lokalsender. Der Zustand des Rheins, Niedrigwasser, keine Schifffahrt möglich. Gibt es Aussicht auf Regen? Nein. Nicht die nächsten fünf Wochen. Das wenige Wasser aus den Alpen bleibt im Bodensee hängen. Der Konstanzer Ablauf soll ausgebaggert werden. Staustufen entlang des Mittelrheintals, an den Zuflüssen. Jeder Tropfen muss aufgehalten und gesammelt werden. Die Frau mit dem Fisch bringt das Eis. »Danke.« Sie lächelt. »Schönes Tattoo. Was bedeutet das?« Sie fährt mit Zeige- und Mittelfinger über das Symbol und ist für einen Moment abwesend.
»Ichthýs, ein christliches Symbol. Die Speisung der Fünftausend.«
»Hat das nicht auch der Papst auf seinem Ring?«
Ein mitleidiger Blick, freundlich und nachsichtig.
»Fast. Er trägt den Fischerring mit Petrus und dem Netz in seinem Boot. Petrus war ein Fischer.«
»Ah …«
»Sie kennen sich nicht so aus, was?«
»Nicht wirklich.«
Ein Gast ruft nach der Rechnung. Sie nickt mir zu. »Komme!« Ihr ist anzusehen, dass es noch mehr zu erzählen gäbe, aber Job ist Job. Auf dem Schirm ist eine Statistik zu sehen. Warum ist der Ton aus? Trinkwasser, Abwasser, Verbrauch pro Kopf, wo gibt es Rationierung … Ich rühre den Cappuccino und trinke zwei, drei Schluck. Schmeckt wirklich gut. Menschen werden interviewt. Die Fischfrau geht mit dreckigem Geschirr an mir vorbei, konzentriert.
»Können Sie den Ton bitte lauter stellen? Ich würde das gerne hören.«
»Hm«, brummt sie, auf Tassen, Teller, Gläser und Besteck achtend. Aus einer Schublade bringt sie Bluetooth-Kopfhörer.
»Danke.«

Eine Frau vor dem Dom sagt, dass sie nicht bereit sei, das wenige Wasser mit irgendwelchen Menschen aus dem Süden zu teilen. Aus dem Süden Europas oder aus Afrika, ist die nächste Frage des Reporters. Sie druckst herum. Europa könne man ja nicht mehr sagen, seit wir alle Europa sind, naja, aber Afrika, ja, das käme gar nicht infrage. Also findet sie die Grenzschließungen des Präsidenten gut? Aber ja, irgendjemand musste es ja tun. Endlich! Sie macht ein entzücktes Gesicht. Werden Sie ihn also wählen? Natürlich. Solange aus Italien und Spanien nicht zu viele Menschen kommen … Überblendung auf einen älteren Herrn, ebenfalls auf der Domplatte. Ob Leander Meissner richtig gehandelt habe, als er dem russischen Präsidenten Hilfe zusagte bei der Katastrophe von Bilibino. Bilibino? Natürlich, erklärte der Interviewte sofort. Und ob es auch richtig sei, die überschüssige Energie den Russen zu geben? Jederzeit. Wir wollen ja keine zweite Ukraine. Ein instabiles Russland sei immer auch ein instabiles Europa. Dann entschuldigt er sich, seine Frau hätte heute Geburtstag und er müsse noch einkaufen. Bilibino?
Ich trinke den Kaffee leer und widme mich dem Früchteeis. Es schmeckt fantastisch. Die Fischfrau lächelt mir zu. Sie schaltet auf einen anderen Kanal. Der Parteitag der Abendländischen Erneuerung beginnt heute in Brüssel. Irgendeine Reporterin ist direkt vor Ort und mein Bruder fährt gerade in einem weißen Tesla vor. Die Tür geht auf und heraus kommt ein Mann, der niemals mein Bruder sein kann. Ich beuge mich vor. Zwei winkende Hände. Ist er das? Ich stehe auf, gehe um den Tisch herum, direkt an die Theke. ‚Leander Meissner‘ steht am unteren Rand. ‚2. Präsident der Europäischen Union‘ spricht heute auf dem Parteitag der Abendländischen Erneuerung. Und morgen, am Sonntag, wird er das Grab seiner Mutter in der Eifel besuchen, um einen kleinen Gottesdienst abzuhalten, zusammen mit dem Pastor der Gemeinde. Winken, der Blick in die Kamera. Seine Augen. Er ist es eindeutig! Was ist mit ihm passiert? Überblendung in die Halle. Ein anderer Reporter. Massen von Menschen, Fischsymbole auf Fahnen, Transparenten, Ansteckern.
»Meine Güte«, rutscht mir raus. Die Fischfrau stellt sich neben mich und schaut auf den Schirm. »Würde ich nicht wissen, dass er nur ein Mensch ist, könnte man denken, er ist zurückgekehrt, nicht wahr?« Ich will fragen, wer zurückgekehrt sein soll, aber sie hat gar nicht mit mir geredet. Ihr Blick ist an den Schirm geheftet. Mit einem tiefen Atemzug ziehe ich mich auf die Bank zurück. Die letzten Löffel Fruchteis. Dann pule ich die Stöpsel aus den Ohren. Die Menschen im Eiscafé sehen ebenso auf das Bild über der Theke. Lächeln, Worte, ein Smartphone fotografiert Theke und Bildschirm … ich bin in einem anderen Film.
Die Umgebung verschwimmt, so sehr starre ich auf einen Punkt im Nirgendwo, in mir, auf die Bilder in meinem Kopf, die rasend schnell, in chaotischer Abfolge vorbeiziehen, auftauchen und wieder verschwinden. Vater, Mutter, Leander … wann ist alles zerbrochen? Ich existiere immer im Jetzt. Die Vergangenheit ist die eines anderen Menschen, der sich in mir versteckt. Die Zukunft ist nicht die meine. »Was ist mit Ihnen?« Nur die Augen haben mich Leander erkennen lassen. »Hallo? Ist Ihnen nicht gut?« Jemand schüttelt mich. Die Fischfrau. Was sagte sie?
»Doch, doch, alles in Ordnung. Hab nur an was gedacht.«
»Das muss aber weit weg gewesen sein. Dachte schon, Sie kippen von der Bank.«
»Keine Panik. Mir geht’s ganz gut für mein Alter.«
»Jo, so alt sind Sie doch noch nicht …«
»Immerhin 66 Jahre.« Sie verzieht das Gesicht. Schon wieder Mitleid. »Wissen Sie, was Bilibino ist?«
Sie stutzt. »Junge, wo kommen Sie denn her? Gucken Sie keine Nachrichten?«
»Selten«, erwidere ich ausweichend. Nein, hätte ich sagen müssen. ‚Interessiert mich nicht‘ oder so was in der Art.
»Den Russen ist doch ihr Atomkraftwerk in Bilibino im Permafrost versunken. Zack, Kernschmelze! Gottseidank ist das weit weg in Sibirien. Die anderen mussten auch vom Netz wegen zu wenig Kühlwasser.« Sie nickt zur Bestätigung. »Und wir helfen nun aus.«
»Aha … und ist das gut?« Jetzt sieht sie mich seltsam an, weicht sogar einige Zentimeter zurück.
»Waren Sie die 30 Jahre in Ossendorf, oder was?« Sie wundert sich zurecht.
»Ich wohne in Südfrankreich. Weitab jeglicher Zivilisation.«
»Echt?«
»Qui, Madame.«
Die Fischfrau richtet sich auf. Ein junges Pärchen ist hereingekommen. Mit einem Zwinkern zieht sie ab. Ich schaue mal, was es auf der Karte noch an Eisspezialitäten gibt.

Einen Ananasbecher und zwei Eiskaffee später verfolge ich eine Reportage über Frontex. Ich würde es eher als Werbefilm bezeichnen. Es ist schon achtzehn Uhr durch und alle Plätze sind besetzt. Eine junge Mutter hat sich mit zwei Kindern zu mir gesellt, weil nichts anderes frei war. Es gibt je zwei Kugeln Vanille für die Kleinen. Die Mutter trinkt einen Milchshake. Ihre Kommunikation läuft sehr ruhig ab. Die Kinder nörgeln nicht, schauen gebannt den Frontex-Einheiten zu, die mit schnellen Booten über das Mittelmeer jagen und Trawler oder andere Boote aufbringen, die Menschen umladen und zurück nach Tripolis oder Tunis bringen. Alles sehr ordentlich und kontrolliert ablaufend. Die Werbefilm-Flüchtlinge bekommen ein Rettungspack, eine Flasche Wasser und etwas Geld. Sie bedanken sich. Die Mutter nickt, den Strohhalm im Mund.
»Ich will auch Polizist werden«, sagt der Junge, was die Mutter eindeutig entzückt. Ich grinse freundlich. Die Schwester des Kleinen sieht mich an. »Du bist aber alt«, stellt sie fest.
»Das stimmt«, gebe ich ihr recht, der Mutter zuvorkommend.
»Verzeihung, das hat sie nicht so gemeint. Sie ist ein bisschen vorlaut …«
Ich zwinkere der Kleinen zu. »Sie hat recht und ist ehrlich. Machen Sie sich keine Gedanken.«
»Danke«, haucht sie und wird rot.
»Boah«, entfährt es dem Jungen. Ein Frontex-Schnellboot in voller Fahrt. Es wird aus dem Wasser gehoben. »Super!«
Aus der Tasche hole ich einen Fünfziger, stehe auf und lege ihn der Fischfrau – die eine Kolonne Zahlen in die Kasse tippt – vor die Nase. »Stimmt so.«
»Boah!«, sagt der Junge lauter. Das Boot macht einen Hüpfer und schlägt auf dem Wasser auf. Ich beuge mich zu ihm runter.
»Die Flüchtlinge, die nicht im Film gezeigt werden, erschießt man«, sage ich und verlasse das Eiscafé. Es gibt Aufregung hinter mir. Ich werde ins Hotel gehen und schlafen.

Am Chlodwigplatz überquere ich den Ubierring. Bei Merzenich ist eine Menge los. Feierabend und die Menschen kaufen Brot. Vor dem Severinstor räumen die Stadtgärtner ihren Arbeitsplatz. Neue Bäume werden gepflanzt. Afrikanische Kirsche steht auf einem Schild. Verträgt den Klimawandel sehr gut. Aus einem Impuls heraus betrete ich die Bäckerei, kaufe ein süßes Teilchen, eine kleine Flasche Wasser und stelle mich an einen der Stehtische. Zwischen zwei Bauwagen ist der Hoteleingang zu erkennen. Parken ist während der Pflanzarbeiten verboten, weswegen keine Autos zu sehen sind. Nach ein paar Minuten fährt das orangefarbene Fahrzeug der Stadtgärtnerei vom Platz. Nur am Knick vor dem Severinstor steht ein weißer Lieferwagen. Keine Fenster im Laderaum. Sehr sauber und ziemlich neu. Düsseldorfer Kennzeichen. Im Merzenich wird es langsam leerer. Die Verkäuferin hinter der Kaffee-Theke sortiert neue Teilchen in die Auslage.
»Entschuldigung, wie lange haben Sie geöffnet?«
»Bis 22 Uhr.«
»Danke.«
Paranoia, denke ich, trinke Wasser und genieße das süße Stückchen. Eine Apfel-Kirsch-Tasche mit Pistazienkrümel und Zimt. Es ist halb sieben und mein Blick wechselt zwischen Lieferwagen und Hoteleingang. Im Zimmer habe ich nichts liegen lassen, was kein Wunder ist, da ich nichts mehr dabei habe außer den Prepaid-Geräten, dem Smartphone für das Konto und Bargeld. Eine weitere Flasche Wasser später, es ist kurz vor halb acht, kommt eine Frau aus dem Hotel und geht zum Lieferwagen, verschwindet auf der nicht sichtbaren Seite. Gleich darauf geht ein Mann denselben Weg zurück, betritt das Hotel. Links und rechts des Lieferwagens gehen ab und zu Leute vorbei, aber nicht diese Frau. Und auch der Mann muss in ihm gewesen sein. Fahrer oder Fahrerin gibt es nicht. Um viertel nach Nacht sind die Brezeln ausgebacken. Ich kaufe drei Stück, zwei Flaschen Wasser, dazu eine Stofftasche und ein Merzenich-Basecap, das ich sofort aufziehe. Die Verkäuferin grinst. Dann gehe ich mit einem Pulk angeregt diskutierender Touristen zur Haltestelle der Linie 16. Drei Minuten später bin ich auf dem Weg Richtung Bonn.

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