Charis 4 | Umwege

Noch am selben Tag

Auf dem Außendisplay steht Garibaldi – Barcelona > Berlin. Ohne Probleme bin ich zum hinteren Waggon gegangen und ausgestiegen, stehe jetzt auf Bahnsteig zwei, der sich zusehends leert. Die elegante Maschine fährt fast lautlos an, ein breites Band leuchtend roter Schlusslichter zieht davon. Ihr nächster Halt ist Basel. Ich hingegen setze mich auf eine Edelstahlbank. Bruno aus Nancy habe ich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ebenso wenig Diego. Wenn das überhaupt sein Name ist. Ich fühle mich einen Moment lang als Sechzehnjähriger, der ratlos auf einem verlassenen Bahnhof sitzt, das Interrail-Ticket in den Händen, ohne Ahnung, welchen Zug er nehmen soll, um Glück oder Schönheit zu finden. Ich kann mich gut erinnern. Ein paar Jahre lang lebte ich in der irrigen Annahme, ich hätte es gefunden. Es knackt über mir. Eine Stimme kündigt den EuroRail von Wien nach Bordeaux an. Pünktlich. Direkt hinter mir auf Gleis eins. Soll ich einsteigen? Nein. Sie werden mich überall finden. Andererseits … dieser ominöse Widerstand will etwas von mir, was ihnen selbst offenbar zu riskant ist; oder nicht machbar? Was ich nicht verstehe, denn wichtige Menschen wurden schon immer ermordet. Von Fans, Fanatikern, Terrorgruppen oder Irren. Die technischen Möglichkeiten sind vielfältig, selbst, wenn man nicht in die Nähe der Zielperson kommt. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwo in dieser Geschichte ist ein Haken. Keine Seite handelt so, wie ich es tun würde.

Der Zug nach Bordeaux fährt ins Gleis, stoppt und der Bahnsteig füllt sich. Eine Frau löst sich aus der Menge und setzt sich neben mich. Koffer rollen an uns vorbei. Ein älteres Ehepaar und eine Mutter mit zwei Halbwüchsigen die auf Smartphones starren.
»Sie können Bruno aus Bern zu mir sagen«, murmelt die Frau und reicht mir ein süßes Stückchen, eingewickelt in eine Serviette.
»Nein, danke, ich habe gut gegessen im Zug«, lehne ich ab. Bruno aus Bern also. Wieder ein Gesicht, das zehn Minuten später aus meinem Gedächtnis verschwunden sein wird. Keine Auffälligkeiten. Einfach ein Gesicht.
»In fünf Minuten kommt der Regionalexpress nach Konstanz. Steigen Sie bitte ein. Bruno wird sie dort drin erwarten.«
»Bruno aus …?«
»Ich weiß nicht«, sagt sie und beißt in das Gebäck. Ein Kranz aus Puderzucker liegt um ihren Mund. Das ist jetzt eine Auffälligkeit.
»Ich habe das Gefühl, jemand nimmt mich auf den Arm. Verstehen Sie das?«
Sie beißt wieder ab, sieht mich kauend an und schüttelt den Kopf. »Ja, das habe ich mir gedacht«, sage ich ernüchtert, überlege einen Moment. »Und wenn ich nicht einsteige, sondern wieder nach Hause fahre?«, setze ich nach. Reinbeißen und kauen ist alles, was sie kann. Mich ansehen. Das letzte Stück stopft sie umständlich in den Mund, beide Wangen drücken sich nach außen. Sie schafft es kaum, die Lippen zu schließen. Mit den Puderzuckerfingern hebt sie die Stoffjacke an. Das Stück einer Waffe ist zu sehen.
»Verstehe. Willst du nicht mein Bruder sein, schlag ich dir den Schädel ein …« Die Puderzuckerdame grinst. Bruno aus Bern. Aus einer Innentasche holt sie ein Smartphone, aktiviert es über einen Code und hält es mir unter die Nase.
»Das gehört ab jetzt Ihnen. Sie verfügen damit über ausreichend finanzielle Mittel. Bitte geben Sie mir Ihr altes Gerät.« Ich seufze, lehne mich an das kühle Edelstahlgitter, lasse den Tausch ohne Widerworte geschehen. Je intensiver ich in diese Angelegenheit verwickelt werde, desto heftiger wird die Sehnsucht nach meinem Sohn. Bruno aus Bern gibt mir eine kleine Tube Creme.
»Nehmen Sie!«
»Was ist das?«
»Reiben Sie Ihr Gesicht damit ein. Jeden Morgen. Hat pflegende Wirkung gegen Altersfalten«, sie grinst. »Und Nanopartikel, die einfallendes Licht wie ein Prisma brechen. Sie werden ein wenig glänzen. Das verwirrt die Software der Gesichtserkennung. Von nun an weiß Charis nicht mehr, wo Sie sind.«
Was hat sie gesagt? Charis? »Was ist Charis?«
Ihre Mimik zeigt Mitleid. Ein alter Trottel, der überhaupt nichts weiß. »Die Politische Polizei der EU. Eine Abteilung innerhalb von Europol. Intern Charis genannt.«
»Eine Art Geheimdienst?« Sie grinst und zieht beide Augenbrauen hoch. Das lässt sie hässlich werden. Eine Antwort bleibt aus. Also das Gesicht einreiben. In der Tat riecht die gelblich-pastöse Masse nach Limonen und erfrischt. Nun denn, auf nach Konstanz. Meine Güte, in Konstanz war ich das letzte Mal vor knapp vierzig Jahren. Was soll ich da? Mit Daumen und Zeigefinger reibe ich durch die Augen. Vielleicht kann ich unterwegs Kontakt zu meinem Sohn aufnehmen. Ihm ein Treffen vorschlagen. Um Entschuldigung bitten. Nein, um Vergebung. Was auch immer. Nach so langer Zeit … es muss doch möglich sein, meine Schuld loszuwerden! Der Regionalexpress wird angesagt und Bruno aus Bern steht auf, greift meine Rucksacktasche und stellt sich an die Markierungslinie. Ich denke daran, sie vor den einfahrenden Zug zu stoßen. Das brächte mich ins Gefängnis und würde deren Plan vereiteln. Aber ebenso mein Vorhaben. Sie dreht sich um und lächelt grimmig. Ob sie Gedanken lesen kann? Mir wird ganz anders. Herzklopfen. Werde ich etwa rot? Ich will wieder zurück nach Le Bourget! In mein Haus. Meine Ruhe haben! Zügig fährt der Regionalexpress ein, bremst rapide und steht. Pünktlich. Bruno winkt mich zu sich. »Gute Reise«, sagt sie lapidar und stellt die Tasche in den Eingangsbereich. Die Flügeltüren schließen sich. Keine zwei Atemzüge später rollen wir an. Doppelstockwagen. Ich gehe die schmale Treppe hoch, setze mich unter das Panoramafenster und lege die Rucksacktasche auf den Nachbarsitz. Der nächste Halt ist Zürich-Kloten.

Ein paar Minuten später stehen wir im unterirdischen Haltepunkt von Kloten. Überall Bauarbeiten, Gerüste, Verschalungen, eine wuselnde Menge aus Arbeitern. Auf einer Tafel steht, dass der Flughafen zurückgebaut wird und ein EuroRail-Knotenpunkt entsteht, Verbindungen nach ganz Europa, lächelnde Gesichter, Händeschütteln. Wie in Mailand. Auflösung des Kopfbahnhofs. 2039 wird man fertig sein. Ich weiß zu wenig. Und ich weiß nicht, warum ich nicht schon von Canard dieses neue Smartphone bekommen habe. Das fällt mir gerade auf. Warum? Vielleicht um meine Spur im EuroRail-Europa zu verwischen. Es geht weiter. Aus dem Tunnel hinaus. Im Waggon ist kaum ein Fahrgeräusch zu hören. Ab und zu ein leichtes Rumpeln, wenn es über eine Weiche geht. Müdigkeit kommt, schleicht sich an, wie ein Fuchs ans Mauseloch. Bald sind wir in Winterthur. Von der unteren Ebene kommt ein junger Mann mit einer Art Bauchladen. Außer mir sitzen noch sieben weitere Personen im oberen Stock. Freundlich lächelnd arbeitet er sich vor. ‚Möchten Sie etwas trinken?‘, ‚Ein Sandwich?‘. Zwei Fahrgäste kaufen etwas, dann ist er bei mir. Ich komme ihm zuvor.
»Hallo, junger Mann. Geben Sie mir bitte zwei von den belegten Broten. Vegan! Und ein Wasser.«
»Aber gerne doch.«
»Arbeiten Sie auch für die Abendländische Jugend?«, will ich wissen und nehme Wasser und zwei seltsame Verpackungen an mich. Er bemerkt meinen misstrauischen Blick.
»Eiweißfolie«, sagt er.
»Eiweißfolie?«
»Aus Algen. Wird als Folie gedruckt. Kann man essen. Probieren Sie …«
Meine Mimik lässt ihn lachen. Dabei bin ich mir nicht bewusst, etwas getan zu haben. »Ihr Blick verrät alles«, sagt er. »Das ist aber normal bei älteren Menschen. Die neue Welt eben. Eiweißfolie ist der Ersatz für Papier und Plastik. Meine Schwester und ich verwenden nur noch das Zeug. Ab nächsten Monat ist das ja auch gesetzlich vorgeschrieben.«
»Aha, Ihre Schwester und Sie?«
»Wir haben uns selbstständig gemacht und wollen ein Catering-Unternehmen aufbauen. EuroRail hat doch das Catering in den regionalen Zügen freigegeben. Haben Sie das nicht mitbekommen? Wir haben eine Lizenz für sechs der Linien.«
»Oh, ja, so am Rande«, lüge ich. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Schwester viel Glück.«
»Danke. Macht trotzdem sechzehn Euro«, sagt er und grinst. Ich lege einen Zwanziger auf den Bauchladen. »Ist gut so«, winke ich ab.
»Vielen Dank, der Herr. Und lassen Sie es sich schmecken!« Er zieht weiter, die Treppe hinunter. Eiweißfolie aus Algen. Ein Verpackungsgesetz. Na ja, allemal besser als Papier und Plastik. Ich rieche daran und beiße mutig hinein. Leicht salzig, ein wenig Schärfe. Wie eine Art Gewürzergänzung für das Sandwich. Es schmeckt gut, kann ich nur feststellen. Also dafür kann man meinen Bruder nicht töten wollen. Kein Plastik, kein Papier mehr, Flughäfen werden dekonstruiert, Transport über ein europaweites Bahnunternehmen … war es nicht das, was wir immer wollten? Über was wir als Teens und Twens diskutierten? Ein geeintes Europa? Ich esse auf, trinke halbleer, lehne mich zurück und schließe die Augen, denke an meinen Sohn. Kann man Sehnsucht so viele Jahre ignorieren? Man kann.

»Darf ich mich setzen?«
Was? Kenne ich die Stimme? Träume ich? Es ruckelt. Mehrere Weichen. Augen auf, Johannes!, mahne ich mich. Ein älterer Mann. Oder ein Mann mittleren Alters, der wesentlich älter wirkt. Schwer zu sagen. Das Licht ist gedämpft. In den Scheiben sieht man ein Bild des Waggoninneren; und den Mann neben mir stehen. Er kommt meiner Antwort zuvor, hebt die Rucksacktasche hoch, setzt sich und nimmt sie auf den Schoß.
»Ist das nicht zu schwer?«, frage ich, um überhaupt etwas zu sagen. Ich hätte seine Frage gerne mit ‚Nein, Sie dürfen sich nicht setzen!‘ beantwortet, aber ich ahne, dass es beim Wunsch geblieben wäre.
»Geht schon. Danke der Nachfrage.« Ein wenig seltsam sieht es schon aus. Seine Nase, zehn Zentimeter vor der Reißverschlusslasche, hat kaum Platz. Wenn der Zug scharf bremst, wird er sich stoßen. Immer noch sind nur sieben weitere Fahrgäste hier oben; bei 24 Sitzplätzen. Ich bin die Nummer acht und nun mein Nachbar als die Neun. »Sie müssen in Konstanz übernachten«, sagt er gegen meine Tasche. »Ich wette, Sie sind müde von der langen Fahrt. Außerdem kenne ich ein gutes Restaurant mit köstlichem Essen. Was sagen Sie dazu?«
»Ich nehme an, Sie sind Bruno aus Konstanz?«
»Ich bevorzuge Bruno vom Bodensee.«
»Na gut, Bruno vom Bodensee. Ein Restaurant und eine Übernachtungsmöglichkeit also … ich bin einverstanden.«
Er lächelt meinen Rucksack an. »Ich freue mich.« Was ich denke, will ich ihm nicht aufs Auge binden und schweige lieber. Bruno vom Bodensee … das ist lächerlich. In drei Minuten sind wir in Kreuzlingen und weiteren fünf Minuten in Konstanz. In einem hat er recht: Ich bin müde.

Bruno vom Bodensee geht voraus und trägt dankenswerterweise die schwere Tasche. Es macht ihm offensichtlich nichts aus. Sein Schritt ist schnell. Aus dem Bahnhofsgebäude hinaus, über die Straße in die Fußgängerzone hinein. Nach etwa hundert Metern erreichen wir ein Restaurant. Einige Gäste sitzen davor. Bruno geht ohne Umschweife hinein. ‚Seehof‘ steht über der Tür. Drinnen ist es erstaunlich leer.
»Ist schon ziemlich spät, aber hier bekommen wir bis Mitternacht noch ein warmes Essen«, erklärt er und geht schnurstracks auf den hintersten Tisch zu, eine Art Séparée in einer gemauerten Nische. Die Sitzbank wie ein ‚U‘ um den Tisch. Sehr dunkles Holz, voller Kerben und eingeritzter Namen oder Datumsangaben. »Hier haben sich einige verewigt«, stellt er fest. Ich will nur nicken, nichts sagen, mich hinsetzen. Ihm möglichst gegenüber. Bruno legt den Rucksack auf die Bank und drückt sich hinter den Tisch. Umgehend kommt eine junge Frau.
»Guten Abend, Herr Fahlbusch.« Sie nickt Bruno zu. Fahlbusch heißt er also. Vielleicht … naja, wer weiß, wie viele Namen er auf Lager hat.
»Guten Abend, Stephanie. Für mich das Übliche.« Das muss sie sich nicht notieren auf dem kleinen Block in ihrer Hand. Mit einem fragenden Blick schaut sie her und setzt den Stift an.
»Und was darf ich Ihnen bringen?«
»Haben Sie veganes Essen?«
»Natürlich. Fast ausschließlich. Ich empfehle das Tagesmenü. Gegrilltes Gemüse, Reis und eine Safransauce.«
»Das hört sich gut an. Und einen Pfefferminztee.«
»Kommt sofort.«
Sie geht und Bruno lehnt sich an.
»Bruno vom Bodensee oder Herr Fahlbusch … wenn das Ihr richtiger Name ist …«
»Wer weiß?« Er grinst. Auch an ihm kann ich keine besonderen Merkmale entdecken. Wie die Brunos vor ihm, lässt ihn die Unscheinbarkeit in der Menge verblassen.
»Wissen Sie, warum ich unterwegs bin?«
Er verneint.
»Das erfahren wir nicht, wir fragen auch nicht und wenn es uns jemand erzählen will, müssen wir es unterbinden.« Seine Gesichtszüge werden ernst, starr, sind angespannt.
»Unterbinden? Wie? Mit allen Mitteln?« Die Antwort bleibt aus und mein Pfefferminztee kommt. Vor Bruno stellt sie ein Weizenbier auf den Tisch. Wir bedanken uns.
»Darf ich Ihnen eine allgemeine Frage stellen?« Bruno trinkt einen großen Schluck, bringt ein langgezogenes ‚Ah‘ raus und nickt.
»Nur zu.«
»Was könnte man gegen die aktuelle Regierung für Argumente ins Feld führen? Was macht sie falsch? Was läuft schief?« Bruno kneift ein Augen zu und presst die Lippen aufeinander. Ich nehme den Teebeutel aus der Tasse.
»Über Umwege zum Ziel, was? Aber wie dem auch sei … es ist ja kein Geheimnis, lediglich ganz gut verdeckt unter den Sorgen des Alltags.« Er trinkt halbleer, setzt ab und schweigt dann. Will er mich ärgern? Auf die Probe stellen?
»Sie denken, ich will Sie auf den Arm nehmen. Mitnichten, Bruno. Es interessiert mich. Und, sagen wir mal so, die letzten Jahre war ich etwas abwesend, hab nicht so viel mitbekommen …«
»Dann haben Sie das getan, was alle tun. Solange es den Menschen gut geht, verzichten sie gerne auf weitere Fragen.«
Er hat recht. Und wiederum auch nicht. Denn das Leben ist komplex geworden. Allein die exponentielle Zunahme an Informationsquellen. Die sich rasant entwickelnde Technik und wie ein Damoklesschwert hängt über allem eine tiefgreifende Bedrohung des Lebens durch den Klimawandel. »Kann man den Menschen vorwerfen, dass sie überfordert sind?«
Bruno winkt ab. »Hören Sie auf mit dem Quatsch. Die meisten Menschen wollen ja gar nicht gefordert werden. Wie kann man sie dann überfordern?«
»Na, immerhin tut sich doch sehr viel, seit Europa sich zusammengetan hat. Wenn ich da nur an EuroRail denke … noch vor fünfzehn Jahren undenkbar.« Brunos Essen kommt. Ein großer, gemischter Salat mit verschiedenen, gegrillten Pilzen. Die junge Frau wünscht ihm einen Guten Appetit.
»Von mir auch einen guten Appetit. Sieht wirklich gut aus.«
»Danke. Und ist gesund. Wir werden alle älter, nicht wahr?«
Wir werden alle älter, wiederhole ich in Gedanken und sehe belustigt zu, wie er die Pilze mit der Gabel sortiert. Die junge Frau kommt erneut und stellt einen großen Teller voller Grillgemüse und Reis auf den Tisch, dazu eine Schale Safransauce.
»Vielen Dank.«
Meine kulinarischen Vorlieben sind diesen Leuten bestens bekannt. Was mich frustriert, denn ich hatte vor, mehr über den Widerstand zu erfahren. Sie wissen offenbar alles über mich, aber ich kann bisher kaum etwas über die bisherigen Brunos sagen. Und daran wird mein Bruder doch sicher interessiert sein. Seufzend gieße ich die Sauce über den Reis. Hellgelb, fast orange und dann dieser herbe Safranduft …

Die Übernachtungsmöglichkeit entpuppt sich als eine Gartenlaube im Konstanzer Norden. Nicht gerade ein Luxushotel, aber so eingerichtet, dass zwei Personen darin leben können. Getrennte Schlafzimmer, kleine Küche in Kombination mit Esstisch und einer Couch. Und im Vorbau Dusche und Toilette. Bruno nimmt aus dem Kühlschrank zwei Flaschen Bier, bietet mir eine an.
»Nein, danke. Bier ist nicht so mein Getränk. War es noch nie.«
Er öffnet seins und lässt sich auf die Couch fallen. »Die Biertrinker werden seltener. Der Wassermangel macht sich überall deutlich bemerkbar.«
»Ja, das ist auch bei mir zuhause ein Problem. Der Weinanbau ist kontingentiert.« Es juckt auf meinem Hinterkopf. Ich ignoriere es. »Aber das sorgt auch dafür, dass die wenigen Weine wesentlich besser sind. Keine Massenware mehr.«
Bruno lacht. »Ja, und deswegen können sich das nur noch die leisten, die ein bisschen mehr verdienen.«
»Ist Bier in Deutschland über Quoten geregelt?«
Er stutzt und macht ein Gesicht, als wollte ich ihn auf den Arm nehmen. »Sie wissen aber reichlich wenig aus dem Alltagsleben, oder? Natürlich! Es gibt Lizenzen. Und die sind teuer. Wo es kaum noch Grundwasser gibt, bekommt man gar keine Lizenz. Und wenn man das Wasser aus den Entsalzungsanlagen nimmt, erhält man eine grässliche Brühe. Das Zeug will ja niemand trinken.« Bruno setzt an und zieht die Flasche halb leer. Ein kräftiger Rülpser folgt.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, kommentiere ich und nehme am kleinen Esstisch Platz. Aus dem Rucksack hole ich das Tablet und schalte es an.
»Das hat mir schon meine Frau vorgeworfen«, murmelt Bruno.
»Was?«
»Dass ich ein ungehobelter Klotz bin.«
»Wo ist Ihre Frau?«
Bruno überlegt offenbar. Dann trinkt er die Flasche leer und stellt sie neben sich auf den Boden. Wieder ein Rülpser. »Geschieden«, sagt er nur. Das Derivat ist aktiv. Im Maileingang jede Menge Nachrichten. Eine von Moni, Monika Hertzfeld, Richards Assistentin. Das wird der angekündigte Roman sein.
»Was sagten Sie? Geschieden?«
»Ja. Vor mehr als zehn Jahren. Und bei Ihnen? Gibt es da irgendwo eine Frau?« Es ist kein Anhang an Monikas Mail. Ich tippe drauf, der Text wird eingeblendet.
»Nein, keine Frau. Ich lebe alleine. Ist mir lieber.«
Bruno lacht. Ein verwundetes Lachen. Man hört die Narbe in seinem Inneren. »Genau! Das sage ich auch immer. Ohne die Frauen ist man besser dran …« Ich lächle. Keine Ahnung, warum. Was steht da? Etwas greift nach meinem Hals und drückt zu. Ruckartig stehe ich auf. Der Stuhl kippt um. Nein! Das kann nicht sein!
»Nein!«, wiederhole ich laut.
»Was?!«, höre ich Bruno rufen. Er stemmt sich hoch. Ich lese die Nachricht noch einmal. ‚Johannes! Du musst kommen! Richard ist tot! Wurde überfallen in seiner Wohnung … stell Dir vor! Was machen wir denn jetzt? Bitte! Du musst kommen! Melde Dich sofort!‘
»Wer ist Richard?«
Ich antworte nicht. Richard überfallen? In der Wohnung? Und nun tot? Es zieht mich vor die Tür der Laube. Eine schwache Lampe beleuchtet den Kiesweg zur Hecke. Am Himmel stehen Schäfchenwolken. Regen? Wer tut Richard so etwas an? Schritte neben mir. Bruno mit der zweiten Flasche Bier.
»Wer war denn dieser Richard?«
»Ich glaube, er war mein einziger Freund.«
»Scheiße!«, rutscht es ihm heraus. Darauf muss er wohl trinken und tut es ausgiebig.
»Mehr als Scheiße … er war auch mein Arbeitgeber. Also, nicht dass ich noch arbeiten müsste. Bin in Frührente, aber ein bisschen Geld verdienen, kann nicht schaden.« Ich drehe den Kopf zu Bruno. Er hat schon wieder eine neue Flasche in der Hand. »Außerdem war er mein Verleger.«
»Was? Ihr Verleger? Sie sind ein Schriftsteller?«
»Durchaus, ja, ich schreibe.«
»Na, jetzt bin ich aber platt. Sie sind mein erster Schriftsteller in all den Jahren …« Bruno prostet sich selbst zu und macht die Flasche leer. Wo er das bloß alles hin kippt?
»Ich will schlafen, Bruno. Ist das in Ordnung?«
»Klar, lassen Sie uns die Betten machen.«

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