Dienstag, 4. August 2037
Was werde ich noch brauchen? Nicht viel. Was ich vergessen habe, kann man problemlos unterwegs besorgen. Alle Möbel sind mit weißen Laken abgedeckt, ein Nachsendeantrag auf dem Mailaccount angemeldet und bei Richard habe ich mich verabschiedet. Er wollte wissen, ob für drei oder vier Wochen, aber ich konnte es ihm nicht sagen. Also nannte ich ihm einen Zeitraum von fünf Wochen. ‚Urlaub?‘, fragte er ungläubig. ‚Recherchen‘, gab ich ihm zur Antwort. Was ja auch ungefähr stimmte. Er akzeptierte es murrend. Ich versprach, unterwegs zu lektorieren, so wie ich Zeit hätte. Schließlich wünschte er mir viel Spaß und beendete das Gespräch.
Es ist kurz vor zehn vormittags. Der Lebensmittelservice ist da, um die verderblichen Nahrungsmittel abzuholen. Was für eine sinnvolle Idee. Es war Françoise, die mir vorgeschlagen hatte, alles abholen zu lassen, um es an Bedürftige zu geben. Sie sagte, es sei eine EU-eigene Einrichtung, ein staatlicher Dienst, der erst vor zwei oder drei Jahren europaweit ins Leben gerufen wurde — was ich doch glatt verpasst hatte. Das Bild meines Bruders fällt mir ein. Offenbar hat er ganz gute Ideen.
Am meisten Kopfzerbrechen macht mir jedoch Françoise. Ihr erzählte ich lediglich, ein paar Wochen für einen Roman recherchieren zu wollen. Natürlich wollte sie genau wissen, was ich denn recherchieren wolle. Welches Thema … ich blieb vage, wich ihr aus, aber ich sah ihr an, dass sie mir nur bedingt glaubte und mehr dahinter vermutete. Doch was hätte ich ihr sonst sagen sollen? Die Wahrheit? Und sie dadurch mit in die Sache hineinziehen? Ich log sie also zwangsweise an. Keine wirklich gute Voraussetzung für eine intensivere Bekanntschaft.
Nun sitze ich vor dem großen Rechner und gehe in Gedanken die Liste der Dinge durch, die ich eingepackt habe. Abgesehen von meinem Waschbeutel, sind das Kleider für eine Woche, das Tablet, Smartphone, Papiere und vor allem Bargeld. Ohne Bargeld fühle ich mich nackt. So weit, so gut. Ich sehe auf die Uhr. Das Taxi wird gleich kommen. Zeit zu gehen. Mit der Tasche in der Hand gehe ich nach unten, kontrolliere die Küche. Alle Geräte sind ausgeschaltet. Fast bereue ich es, kein Remotemodul in der Hauselektrik eingebaut zu haben. So hätte ich jederzeit von überall auf die elektrischen Einrichtungen im Haus zugreifen können. Aber wie hätte ich ahnen sollen, eines Tages für längere Zeit wegzufahren. Dieser Gedanke war mir so fremd geworden … ein Irrtum.
In diesem Moment fährt das Taxi auf den Hof. Es ist soweit. Ich gehe hinaus, schließe ab. Ein letzter Blick. Dann mit der Tasche zum Wagen. Der Kies knirscht unter meinen Sohlen. Die Taxitür öffnet elektrisch. Ein modernes Fahrzeug, Zweisitzer, ähnlich wie die alten Kabinenroller aus den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts. Allerdings mit Akku und Elektromotor. Passagier hinter dem Fahrer. Ich steige ein.
»Guten Tag, Monsieur Bernheimer«, begrüßt er mich über die linke Schulter.
»Guten Tag.«
»Stimmt das Fahrtziel? Busbahnhof Castellane?«
»Mh, das ist korrekt.«
»Bitte schnallen Sie sich an.«
»Ja, mach ich.«
Ich ziehe den Gurt über die Schulter und raste die Schnalle ein. Mein Blick fällt auf das Haus, auf fast fünfundzwanzig Jahre hinter diesen wunderbar kühlen Mauern. Kein einziges Mal war ich länger als maximal einen Tag weg gewesen. Nach Castellane, zu Françoise oder zum Gemüsehändler, dann und wann in den Supermarkt. Ab und zu nach Nizza. Es gibt nicht mehr viele Geschäfte hier, kaum noch junge Leute im Ort. Sie ziehen alle weg in die Zentren. Wie schnell ist doch die Zeit vergangen, wie schnell bin ich hier alt geworden. Und nun? Auf dem Weg zurück in die Welt? In was für eine Welt eigentlich? Ein Kribbeln läuft meinen Rücken hinab. Seit Ewigkeiten hatte ich dieses Gefühl von Neugier und angespannter Erwartung nicht mehr. Jetzt, in diesem Taxi, wird mir klar, dass ich wieder in die Welt möchte.
Verwundert stelle ich fest, dass wir schon fahren. Was für einen angenehmen Fahrstil der Taxifahrer doch hat. Ich lehne mich zurück und betrachte die nur noch teilweise bewaldeten Hügel. Erschreckt stelle ich fest, wie sehr sie sich verändert haben, seit ich vor vierzig Jahren zum ersten Mal hier Urlaub machte. Kaum noch größere Wälder, mehr einzelne Bäume, Buschwerk, die schroffen Hänge und Steilwände werden zunehmend sichtbar, hellgrauer Kalkstein der zerbröselt. Die Sonne bricht ihn auf. Die Seealpen trocknen aus.
»Was gibt es in den Nachrichten?«, frage ich den Fahrer unvermittelt. Du meine Güte, denke ich erstaunt. Was für eine Frage. Wie komme ich nur auf die Idee, eine so dämliche Frage zu stellen?
»Das Übliche«, meint er. »Ist ja eh jeden Tag dasselbe. Ich kümmere mich, ehrlich gesagt, gar nicht so sehr um die Nachrichten. Bin froh, wenn ich genug Fahrten habe, um über die Runden zu kommen.«
»Ah, ja, das kann ich verstehen.« Wir schweigen wieder und nach einer Viertelstunde Schweigen erreichen wir Castellane. Direkt vor dem Bussteig lässt er mich raus, zieht das Lesegerät. Statt des Smartphones, halte ich dem Guten einen Fünfziger unter die Nase. »Stimmt so.«
Er bedankt sich überschwänglich und fährt lächelnd von dannen. Ich schaue auf die Kirchturmuhr. In zehn Minuten kommt das Shuttle nach Nizza. Nach und nach werden es immer mehr Menschen. Die meisten habe ich noch nie gesehen, aber das eine oder andere Gesicht ist mir durchaus bekannt. Castellane hat ungefähr 1.300 Einwohner, wobei es jedes Jahr weniger werden. Die Gesichter auf dem Bussteig sind ausnahmslos ältere Semester. Wieder mein Blick auf die Uhr, aber in diesem Moment kommt der Bus, hält und wir bewegen uns auf den Einstieg zu. Ich lasse mir Zeit und stelle mich als letzter in die Reihe. Am Einstieg muss man das Smartphone an das Lesegerät drücken. »Nizza«, sage ich laut und der Betrag wird vom Konto abgezogen.
Es ist nicht viel Platz. Knapp dreißig Sitze und die meisten sind besetzt. Die Linie führt von Digne-les-Bains zwei Mal am Tag nach Nizza und zurück. Ich vermute – oder hoffe – dass die meisten Mitfahrer innerhalb der nächsten zwanzig Kilometer wieder aussteigen. Die hintere Sitzreihe ist komplett frei. Dort mache ich es mir bequem. Seltsam. Ältere Leute sitzen ungern ganz hinten. Vermutlich wird ihnen da immer schlecht. Das war schon in meiner Jugend so. Mir macht es nichts aus. Pünktlich um halb zwölf fahren wir los. Ich überlasse mich dem leichten Schaukeln und gemütlichen Brummen der Elektromotoren. Wer nicht aus dem Fenster sieht, starrt auf sein Smartphone oder eine Komwatch. Liest jemand ein Buch? Eine Zeitung? Nein. Die Zeiten sind vorbei.
Tatsächlich dauert es nicht lange und der Bus hat sich fast geleert. Kurz nach halb drei sind wir in Escragnolles und folgen der Route Napoléon. In Saint Vallier-de-Thiey legen wir fünfzehn Minuten Pause ein und warten auf einen anderen Bus, der Passagiere aus umliegenden Dörfern bringt. Zehn Minuten später geht es über den Kamm und vor uns liegt Grasse. Wieder fünfzehn Minuten Aufenthalt. Einige Passagiere steigen aus, andere kommen hinzu. Ich bleibe sitzen, betrachte das geschäftige, südfranzösische Treiben und döse ein.
Dunkles Brummen holt mich aus diesem Zustand zurück in die Realität. Die Elektromotoren bewegen uns aus dem Bussteig. Bis Le Cannet ist keine Haltestelle mehr. Es geht auf die Autobahn. Bei der Auffahrt auf die La Provençale fädeln wir auf die Automatikspur ein und überlassen uns dem Fluss der Fahrzeuge. Wir nähern uns Nizza. Am ehemaligen Flughafen überqueren wir die Var. Gleich darauf knickt die Autobahn nach links. Der Bus nimmt die Ausfahrt zur Promenade Edouard Corniglion-Molinier. Was früher einmal der Flughafen war, ist jetzt Stützpunkt der europäischen Grenzüberwachung Frontex und nicht einsehbar. Flugverkehr ist europaweit stark reduziert. EuroRail verbindet die Metropolen. Ich bin aufgeregt. Mit jedem Meter werde ich unruhiger. Fast meine ich, wieder Kind zu sein vor dem ersten großen Ausflug. Den Geruch von Ferne in der Nase.
Endlich biegen wir in den Boulevard Gambetta. Das Kribbeln ist kaum noch auszuhalten. Was bin ich doch für ein alter Trottel! Reisefieber! Wie kann ein Gefühl komplett in Vergessenheit geraten? Ich habe in einer Raumkapsel gelebt, irgendwo auf dem langen Flug zwischen zwei Planeten. Auch in der Innenstadt ist man unter der Kontrolle von Automatikfahrspuren, biegen rechts in die Avenue Thiers ein. Da sind die Gleisanlagen, weiter vorne der Bahnhof. Ich stehe auf, greife nach der Tasche und spüre einen deutlichen Harndrang. Meine Güte! Die erste Reise seit Urzeiten und ich muss auf die Toilette noch bevor es richtig losgeht.
Der Bus hält. Ich atme einmal tief durch, steige als letzter aus, wünsche dem Fahrer noch einen schönen Tag und mache mich auf den Weg zur Empfangshalle des Bahnhofs. Es ist viertel nach vier. Mein Zug fährt um zehn vor fünf. Noch genug Zeit für die Toilette und den Kauf eines Buches. Zuerst besorge ich ein Ticket am Automaten, halte das Smartphone dagegen und nenne mein Ziel. »Cologne, Allemagne!«, sage ich laut. Er versteht mich auf Anhieb und will wissen, welche Klasse ich fahren möchte. Erste Klasse, bitte. Der Automat zieht den Betrag ein und speichert das Ticket. Wann bin ich das letzte Mal mit dem Zug gefahren? Mir fällt es nicht ein. Hinter mir räuspert sich jemand. Ich drehe mich und entschuldige die Verzögerung.
Weiter geht es in Richtung der Ladengeschäfte, auf der Suche nach einem Buchladen. Vergeblich. Bleibt nur ein Zeitschriftenkiosk. Die Auswahl an lesenswerten Büchern in Papierform ist verschwindend gering. Meist nur Hörbücher, aber fast ausschließlich von Boulevardautoren oder Massenware. Sommer, Sonne, Liebe, Verwicklungen – und natürlich ein Happy End. Die Menschen werden sich nie ändern. In einem hohen Stapel, bestehend aus Büchern mit Deckeleinband und Taschenbüchern, entdecke ich auf einmal eine mir unbekannte Neuauflage einiger Steinbeck-Werke. Von einem mir völlig unbekannten Verlag. Insgesamt fünf Titel. Ich klemme sie alle unter den Arm, gehe zur Kasse und lege sie auf die Kassentheke. Die Verkäuferin schaut mich interessiert an.
»Sie mögen Steinbeck?«, fragt sie neugierig.
»Oh ja, sehr. Ein außergewöhnlicher Schriftsteller. Finden Sie nicht auch?« Sie wird rot. Warum, ist mir nicht klar.
»Ja, Monsieur, deswegen habe ich die Bücher hier. Ich dachte, das macht das kleine Lädchen hier ein bisschen besser, heller … ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, gebe ich nickend zur Antwort. »Aber warum verstecken Sie dann die tollen Werke in einem Stapel? Wenn Sie etwas mehr kulturellen Glanz in den Bahnhof bringen möchten, dann dürfen Sie die Bücher nicht verstecken. Besorgen Sie sich von einem Verlag ein großes Porträt von Steinbeck und stellen Sie es zusammen mit den Büchern in ihre Schaufensterscheibe. An einem solchen Charakterkopf werden nur die wenigsten gedankenlos vorbeigehen.« Sie sieht mich ungläubig an.
»Meinen Sie wirklich, das würde funktionieren?«
»Das wird funktionieren. Jede Wette. Einige Menschen werden stehenbleiben, andere werden hereinkommen, blättern und vielleicht einige Fragen an Sie richten. Wenn Ihnen die Literatur am Herzen liegt, dann müssen Sie es tun. Das sind Sie dieser Kunst und Ihrem Anspruch schuldig.« Sie überlegt offensichtlich und stützt das Kinn auf ihre kleine sommersprossige Hand.
»Ich werd’s mal ausprobieren, Monsieur. Was für Autoren würden Ihnen denn da noch einfallen?«
»Also, wenn ich an Charakterköpfe denke, die sich ausgezeichnet auf einem Plakat machen, natürlich nur in Schwarzweiß, dann fällt mir auf jeden Fall Beckett ein, Samuel Beckett. Und natürlich Aitmatow. Nicht zu vergessen Charles Bukowski.« Sie schreibt fleißig mit und ich nenne ihr noch einige andere Autoren mit Charakterköpfen. »So, das reicht fürs erste. Einmal im Monat machen Sie einen Leseabend hier im Bahnhof. Nach Feierabend. Am Anfang läuft das bestimmt schleppend an, aber warten Sie mal ab, das wird schon werden. Und vielleicht haben Sie sich nach einem Jahr einen kleinen, aber feinen Namen gemacht.« Sie sieht mich an wie hypnotisiert.
»Madame? Geht’s Ihnen gut?«
»Ja … natürlich geht’s mir gut. Vielen Dank, Monsieur, vielen Dank.«
Sie streckt mir die Hand hin. Eine zarte, sommersprossige, feingliedrige Hand. Ich nehme sie vorsichtig und drücke sachte zu. »Nach meiner Reise komme ich wieder vorbei und schaue mal nach, wie es Ihnen geht mit Ihrem dann neu eingerichteten Laden.« Vorsichtshalber lasse ich die Hand los. Sie lächelt, scannt die Bücher und packt sie in eine Papiertüte die ich im Rucksack verstaue.
»Wo soll es denn hingehen?«, will Sie wissen.
»Ich fahre nach Deutschland, meine Schwester besuchen.«
»Oh, nach Deutschland … und Sie haben da eine Schwester?«
»Ein paar Jahre älter als ich, aber noch ganz fit.«
»34,90 bekomme ich für die Bücher.«
Smartphone auf den Scanner. Ich hasse diese Bezahlmethode. Es piept einmal und ich habe keine Ahnung, ob alles korrekt abgelaufen ist. »Auf Wiedersehen, Madame …«
»Chevalier.«
»Chevalier? Was für ein hübscher Name.«
Sie wird wieder rot und schaut zur Seite. »Auf Wiedersehen, Monsieur. Und grüßen Sie Ihre Schwester.« Ich nicke und gehe in die Vorhalle. Zeit für einen Toilettengang und gar nicht einfach, in diesem Wald aus Schildern und Zeichen das WC-Symbol zu finden, aber schließlich entdecke ich die Toilette und stelle mich vor das Pissoir. Trotz meines fortgeschritteneren Alters hat sich noch keine erhöhte Frequenz beim Wasserlassen eingestellt. Das beruhigt mich. An der weiß gefliesten Wand stehen allerlei Sprüche. Klosprüche. Ich lese einen nach dem anderen. Dabei fällt mir auf, dass die meisten mit ein und derselben Handschrift geschrieben sind. Meist Bibelzitate. Korinther, Paulus, Lukas und was weiß ich noch alles. Die Klosprüche, die keine Bibelzitate sind, beziehen sich aber ausschließlich auf die selbigen. ‚Verpisst Euch!‘, ‚Jesus war schon immer tot‘ oder der hier: ‚Wer glaubt, lügt!‘ Ich schaue nach beiden Seiten. Überall dasselbe. Bibelzitate und Antworten darauf. Komisch. Als ob es sich hier um eine Art Privatfehde handelt. Ich wasche die Hände. Selbst der Waschraum und die Spiegel sind auf diese Art verschmiert. Was ich nirgendwo entdecken kann, ist ein lustiger Spruch, etwas humorvolles, selbstironisches oder so einen Standardklospruch wie ‚Kilroy was here‘. Die Zeiten sind offenbar vorbei.
Auf dem Smartphone steht jetzt die Verbindung mit Bahnsteig und Uhrzeit. Es piept zur Erinnerung. Genua-Mailand, Gleis drei, Abfahrt 16:50. Zeit zu gehen. Die Rucksacktasche auf dem Rücken, mache ich mich auf den Weg zum Gleis. In der Unterführung ist nicht sehr viel los, und die Rolltreppe hinauf zum Bahnsteig leer. Jetzt hoffe ich auf einen angenehm leeren Zug. Zumindest mein Abteil würde ich gerne für mich alleine haben. Ich setze mich auf eine Bank. Viertel vor fünf. Ein Regionalzug fährt ein. Er kommt aus Menton und fährt nach Marseille weiter. Ich sehe nach links. Von dort muss mein Zug kommen. Mein Magen ist ganz verkrampft. Warum bin ich nur so nervös? So angespannt? Habe einen ganz trockenen Mund. Noch ein Blick nach Westen. Nichts. Was ist, wenn er nicht pünktlich eintrifft? Einfach warten. Es weht ein warmer Wind. Der Regionalzug fährt ab. Eine Sprecherin gibt die bevorstehende Ankunft des Zuges bekannt. Ein EuroRail mit der Nummer 478, dem man den Namen Garibaldi gegeben hat. Er kommt aus Barcelona und fährt nach Berlin. Ein Zug in die alte Heimat; was mal Heimat war. Ich höre ein Summen und schaue nach links. Er ist schon fast da. Wie leise er ist … und schnittig. Mit sanftem Zischen kommt er zum Stehen, die Türen öffnen automatisch und einige Menschen steigen aus. Am Einstieg verlangt das Authentifizierungssystem mein Smartphone, überprüft die eingetragene Fahrkarte und meine Personalien. Ich werde akzeptiert und erst jetzt werden die inneren Abteiltüren freigegeben. Auf den Displays steht, dass die erste Klasse im hinteren Bereich liegt, also mache ich mich auf den Weg. Tatsächlich hält sich die Anzahl an Passagieren in Grenzen. Selbst in der zweiten Klasse gibt es noch genug Sitzplätze. Als ich das Bordrestaurant durchquere, setzen wir uns in Bewegung. Endlich kommen die Erste-Klasse-Waggons. Ohne in die Abteile zu schauen, gehe ich zum zweiten durch, der allerdings ein Großraumwagen ist. Also noch einen weiter. Dann habe ich endlich Glück. Ich nehme das zweite freie Abteil. Ein kurzer Blick ins folgende. Vor und hinter mir frei. Das ist mir am liebsten. Nicht zu viele Menschen zu Beginn. Ich stelle die Rucksacktasche auf einen der vier vorhandenen Sitze, zwei auf jeder Seite, gegeneinander versetzt. Eine kluge Lösung, gut für lange Beine. Seitlich dazwischen gibt es kleine Tische mit Kommunikationspanel. Ich lasse mich in den Sitz am Fenster fallen. Er gibt kurz nach und stellt sich pneumatisch auf mich ein. Ein leises Zischen und es wird richtig gemütlich. Wie angenehm.
Nizza liegt schon hinter uns und durch das Glas der Abteiltür versuche ich einen Blick auf das Meer zu erhaschen, doch in diesem Moment kommt schon der erste Tunnel. Auf dem Display der Zuginformation werden Geschwindigkeit und weitere Informationen eingeblendet. Ich bin fasziniert und genieße das sanfte Dahingleiten bei dieser Geschwindigkeit. Wir fahren schon zweihundert Stundenkilometer. Ankunftszeit in Genua ist um halb sechs. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich zurück. Meine letzte Zugfahrt … wann habe ich die erlebt? Mir will es partout nicht einfallen. Was wird mich jenseits meiner kleinen Welt erwarten? Eines steht fest: Das Töten meines Bruders steht nicht auf dem Plan. Aber das muss dieser Widerstand ja nicht mitbekommen. In meinem Kopf hat sich ein Gedanke festgesetzt, nein, ein Foto. Mein Sohn. Und die Information, dass er Vater wird; und ich Großvater. Ich muss einfach versuchen, einiges geradezurücken. Wer weiß, wie lange mir noch bleibt. Und meinem Bruder werde ich sagen, dass es Menschen gibt, die ihm schaden wollen oder dem, was er aufbaut. Zunächst muss ich aber das tun, was mir das Linux-Derivat sagt. Diesen ominösen Widerstand misstrauisch zu machen, ist sicher nicht ratsam. Mithin erst einmal die Anweisungen befolgen. Und die erste Anweisung lautet, mich am heutigen Tag in diesen Zug zu setzen und nach Köln zu fahren. Gut, ich hätte es ignorieren können. Aber was dann? Kommt morgen der große Rächer, um mich zu beseitigen? Nein. Ich ahne, warum sie mich ausgesucht haben. Weil möglicherweise nur ich in die Nähe meines Bruders kommen werde. Ich bin Familie.
Es klopft an die Abteiltür. Mein Puls beschleunigt. Wer kann das sein? Ich öffne die Augen und sehe eine junge Frau mit einem kleinen Blechwagen. Sie lächelt mich an. Ich nicke ihr zu und sie drückt auf den Türöffner. Es zischt. Die Fahrgeräusche werden lauter.
»Guten Tag, Monsieur. Sie sind zugestiegen?«
»Das ist richtig.«
»Darf ich fragen, wohin Sie fahren?«
»Nach Köln.«
»Oh, das ist eine weite Fahrt. Darf ich Ihnen etwas zur Unterhaltung anbieten?«
»Nein, vielen Dank, ich habe in Nizza einiges an Literatur gekauft. Aber haben Sie vielleicht etwas zu trinken?« Sie schüttelt den Kopf.
»Tut mir leid. Speisen und Getränke dürfen wir nicht verkaufen. Nur Zeitschriften und Bücher. Aber im Bordrestaurant bekommen Sie eine reichliche Auswahl an Speisen und Getränken.« Irgendwie macht sie einen traurigen Eindruck, also frage ich sie nach ihrem Sortiment.
»Gern, Monsieur, schauen Sie mal …«, sie bückt sich, holt einige Magazine aus einer Schublade, kommt ins Abteil, setzt sich mir gegenüber und legt alles auf den Tisch neben mir. Ich blättere durch und verdrehe die Augen.
»Madame, das sind ja alles religiöse Zeitschriften. Haben Sie denn nichts anderes?« Sie schaut mich entgeistert an.
»Aber Monsieur … natürlich sind das alles christliche Zeitschriften …« Religiöse oder christliche Zeitschriften, wo ist da der Unterschied?, frage ich mich im Stillen.
»Von welchem Verein sind Sie denn?«, will ich wissen. Das arme Ding ist völlig verdutzt. Offenbar bin ich tatsächlich ein Fossil. Sie bringt die Zeitschriften zurück in den Wagen und setzt sich dieses Mal neben mich. Ich hatte gehofft, sie würde weiterziehen. Ihr Mund formt ein süßes Lächeln. Fast bin ich versucht, Sarkasmus an ihr loszuwerden, verkneife es mir, denn möglicherweise will ihr junges Herz einfach ein gutes Herz sein.
Sie ist hübsch, aber auf dem hübschen Gesicht liegt so etwas wie ein Schatten, wenn ich es so ungenau benennen darf. Mir fällt kein besseres Wort ein. Es ist mehr ein gewinnendes Lächeln, eines, dem man nicht widerstehen kann. Ein Missionslächeln. Nachsichtig ohne sein Gegenüber im Zweifel zu lassen, wer den tiefen Durchblick im Leben hat. Das ist es.
»Monsieur …«, säuselt sie. »Sie haben so ein ehrliches Gesicht. Ich glaube nicht, dass Sie mich auf den Arm nehmen wollen. Schauen Sie, ich bin bei der Abendländischen Jugend, einer Organisation, die von der EU und der Abendländischen Erneuerung gegründet wurde. So eine Art Stiftung. Für ein halbes Jahr arbeiten wir für die Jugendorganisation ehrenamtlich. Das wird auf unser Studium angerechnet. Oder aber auf die Ausbildungszeit, wenn man ganz normal ins Berufsleben einsteigt.«
»Aha, na, wenn Sie das sagen.« Da gibt es irgendwo einen Haken. Eine Frage. Ich komme nur nicht drauf.
»Haben Sie etwa noch nie davon gehört?« Ihr entgeistertes Gesicht lässt mich fast lachen.
»Nein.«
»Wirklich?»
»Ganz im Ernst, junge Dame.«
»Ja, aber, sehen Sie keine Nachrichten? Social Media? Wie informieren Sie sich denn?«
»Gar nicht, wenn’s geht.« Ich setze mich aufrecht und ein Seufzer kommt, den ich eigentlich zurückhalten wollte. Mir fällt die Frage wieder ein. »Sagen Sie mal, was ist denn mit den anderen jungen Leuten, die nicht bei dieser Jugendorganisation sind. Bekommen die das halbe Jahr nicht gutgeschrieben?«
»Doch, doch. Dieses ehrenamtliche halbe Jahr muss jeder Jugendliche leisten. Manche gehen ins Altersheim, andere in Kindergärten oder sonst wohin. Man muss aber trotz allem bei der Abendländischen Jugend Mitglied werden, selbst wenn man woanders die Arbeit verrichtet; und das bis zum jeweiligen Ausbildungsende.«
»So lang?«
»So lang ist das ja gar nicht. Wenn einer nur drei Jahre lang ne Lehre macht, war’s das. Ein anderer studiert fünf Jahre und ist halt länger dabei.«
»Und wo ist dann der Sinn?«
»Der Sinn ist, alle Jugendlichen an das soziale Miteinander heranzuführen. Helfen, unterstützen, Anteilnahme und so weiter … das ist doch nicht schlecht. Oder?« Sie sieht mich erwartungsvoll an.
»Hm, ja, das ist eigentlich eine gute Idee. Schließlich habe ich auch mal so was in der Art gemacht. Das kann den Horizont schon etwas erweitern.«
»Genau, Monsieur! Und was haben Sie …« Bevor sie mich nach meinem Zivildienst ausfragen kann, unterbreche ich lieber gleich.
»Was hat das aber mit diesen religiösen, Entschuldigung, christlichen Zeitschriften zu tun? Ist das auch förderlich für ein soziales Miteinander?«
»Aber Monsieur, das ist doch der Unterbau aller Hilfe, Anteilnahme und Fürsorge. Glauben Sie nicht?«
»Warum sollte das der …«
Sie kichert. »Aber Monsieur, das meinte ich nicht mit meiner Frage. Ich möchte wissen, ob Sie glauben. An einen Gott.«
»Was?«
»Na, an Gott, an unseren Herrn Jesus Christus, daran, dass er für uns am Kreuz gestorben ist, um uns zu erlösen.«
Jetzt muss ich doch einen sehr schweren Seufzer loswerden. »Ich glaube nicht.« Sie kneift ein Auge zu und fixiert mich mit dem anderen.
»Sie glauben nicht, dass Sie glauben? Jetzt wollen Sie mich aber ein bisschen auf den Arm nehmen, oder?« Ich ignoriere ihre Frage und will mehr über diese Jugendorganisation wissen.
»Was hat man denn davon, ein soziales Halbjahr in dieser Jugendorganisation abzuleisten, anstatt beispielsweise in einem Pflegeheim?«
»Wenn Sie Mitglied in der Abendländischen Jugend sind, aber woanders die Tätigkeit ausführen, wird nur das halbe Jahr angerechnet. Arbeiten Sie aber direkt für die Stiftung, haben Sie viel mehr Vorteile. Im Studium bekommen wir Hilfe bei der Wohnungssuche oder werden – bis wir eine Wohnung finden – bei anderen Teilnehmern einquartiert. Wir dürfen umsonst an Freizeiten teilnehmen, Ausflügen, Jugendlagern und was weiß ich noch alles. Wir bekommen zinslose Darlehen, falls es mal knapp wird im Studium. Auszubildende bekommen Unterstützung, also beispielsweise Nachhilfe für die Berufsschule oder ergattern eher Stellen in EU-eigenen Betrieben … also, da kommt schon einiges zusammen.«
»Ja, das scheint mir auch so. Das klingt mehr nach einer Studentenverbindung.«
Ihr Blick wird mitleidig. »Die meisten Studentenverbindungen haben in ihrer Satzung die Ziele der Abendländischen Jugend und kommen so ebenfalls an einige der Vorteile.«
Ich bin erstaunt. »Tatsächlich? Ist das Vorschrift?«
»Nein, aber ohne diese Ziele keine Vorteile. Das ist dann nicht immer einfach.« Ich presse ein kurzes Lachen heraus.
»Also Druck mit einem freundlichen Lächeln.«
»Was ist denn daran verkehrt? Die Gemeinschaft ist wichtig. Denken Sie an die frühen Gemeinden. Deren Zusammenhalt war stark durch den Glauben. Da musste es diese Ziele geben. Und natürlich sollen die jungen Menschen dafür auch belohnt werden …«
»Natürlich, das verstehe ich.«
Sie lächelt wieder. Um ihre Mission nicht scheitern zu lassen, bitte ich um ein Magazin. »Lassen Sie mir doch einfach eine Zeitschrift hier. Sie können auswählen, welche.«
»Ist gut, Monsieur, das freut mich. Vielleicht finden Sie darin ja Artikel, die Ihnen auf Ihrem Weg helfen.« Sie steht auf, zieht ein Exemplar aus der Schublade und ich einen Zehner. »Nein, Monsieur. Machen Sie mir die Freude, Ihnen die Zeitschrift schenken zu dürfen.«
»Bekommen Sie dann keinen Ärger?«
»Nein, das ist uns sogar ausdrücklich erlaubt. Wir sollen nur angeben, für was genau wir etwas verschenkt haben.«
»Und was geben Sie in meinem Fall an?«
»Dass ich einem Schaf den Weg auf die Weide des Herrn ermöglicht habe …«
»Ein nobles Ansinnen«, entgegne ich und lächle sie an. Hoffentlich durchschaut sie es nicht. Die Weide des Herrn liegt nicht auf meinem Weg. Ich nehme die Zeitschrift und bedanke mich freundlich. Sie zieht weiter und ich schließe nicht nur die Abteiltür sondern ziehe zudem noch den Vorhang zu. Endlich wieder alleine. Dieses Lächeln war eindeutig überirdisch. Nicht von dieser Welt. Zu viel für mich nach Jahren größtmöglicher Enthaltsamkeit. Ich lege die Zeitschrift auf den Sitz neben mir und lehne mich wieder zurück. Wir sind in einem Tunnel. Bald kommt Genua.
Es gibt einen kleinen Ruck. Ich habe das Gefühl, als streift ein kühler Luftzug meinen Hals und öffne die Augen. Hat jemand die Klimaanlage nachjustiert? Mich fröstelt. Vor dem Fenster ziehen die Berge Liguriens vorbei. An den Steilhängen kleben kleine Dörfer mit roten Ziegeldächern, engen Gässchen. Genua liegt schon hinter uns. Die Strecke verlässt die Küste in einer großen Schleife und mehreren Tunneln, bis sie sich unter die Autobahn nach Mailand einordnet. Brücken und Tunnel werden teilweise zweistöckig genutzt, ansonsten laufen die beiden Strecken parallel. Ich verspüre großen Hunger, verschließe das Abteil mit dem Smartphone und gehe in Fahrtrichtung zum Speisewagen.
Es ist angenehm leer. Der Kellner weist mir einen Fensterplatz zu und bringt sogleich die Karte. Er probiert es zuerst auf Spanisch, als ich aber auf Französisch antworte, wechselt er umgehend in ein fast akzentfreies französisches Idiom. Wie viele Sprachen er wohl beherrscht? Ich wähle ein Gemüseomelette mit einem vegetarischen Nizzasalat und als Getränk eine Flasche Barolo, einen Bricco Luciani Cascina del Monastero aus dem Jahr 2030. Auf der Weinkarte werden einige wirklich gute Tropfen aufgeführt. Der Kellner tritt völlig entspannt und routiniert an den Tisch, trotz der hohen Geschwindigkeit, zieht den Korken und legt ihn auf ein Tablett, schenkt eine Winzigkeit in mein Glas. Ich rieche daran, nehme einen Schluck und wälze ihn im Mund. Ein fantastischer Wein.
»Ausgezeichnet, Monsieur«, nicke ich ihm bestätigend zu. Er füllt das Glas zur Hälfte, dreht gekonnt ab und verschwindet mit einem Lächeln in der Küche. Ich sehe aus der getönten Scheibe auf eine unwirklich dunkle Welt. Ausnahmsweise sind wir nicht in einer der langen Röhren, sondern überqueren ein teilweise bewaldetes Tal. Einige größere Flächen dazwischen sind schwarz, verrußt, Baumgerippe stehen oder liegen kreuz und quer. Waldbrände. Von Jahr zu Jahr werden es mehr und die Bäume weniger. Es wird wieder dunkel. Die Automatik dimmt das Licht. Im spiegelnden Glas sehe ich ein Gesicht. Ein Mann rechts von mir, an einem Platz auf der gegenüberliegenden Seite. Warum ist mir das Gesicht nicht schon früher aufgefallen? Sein Blick nutzt die Scheibe, um mich anzusehen. Ich drehe den Kopf, schaue ihn an und nicke leicht. »Monsieur.«
Er sieht mir unverwandt in die Augen und bewegt dabei ganz sachte die Lippen. So etwas wie ein gemurmeltes Guten Abend ist zu erkennen. Ich erinnere mich an die Mail dieses gewissen Bruno Nancy. Bruno würde sich um den Umzug kümmern, stand in einer Zeile. Könnte dieser Mann Bruno sein? Letztendlich bin ich neugierig. Es hat Ähnlichkeit mit einem Spiel. Vielleicht war Canards nicht ausgesprochene Drohung lediglich heiße Luft. Ich bin unterwegs, um meinen Sohn zu finden, noch einmal mit ihm zu reden … oder vielleicht doch ein guter Großvater zu sein. Ich Narr! Tatsächlich war ich bis vor ein paar Tagen der Meinung, meine Lebensflucht würde in den Bergen um Le Bourguet ein Ende finden. Mitnichten. Nun hat mir jemand Feuer unterm Hintern gemacht. Menschen, die vielleicht nicht so freundlich sind, wie sie vorgeben.
Der Mann schaut mich weiterhin an. Ich deute mit einer Hand auf den freien Sitz an meinem Tisch. »Monsieur … wollen Sie sich vielleicht zu mir setzen? Zusammen isst es sich viel gemütlicher.« Er lässt sich das nicht zweimal sagen, kommt ohne eine Miene zu verziehen an meinen Tisch und setzt sich. Ich rufe den Kellner und bestelle ein zweites Weinglas, mache aber sogleich ein zerknirschtes Gesicht.
»Entschuldigung, Monsieur, ich habe Sie gar nicht gefragt, ob Sie einen Wein mit mir trinken wollen. Darf ich Ihnen von diesem exzellenten Barolo anbieten?«
»Sehr gerne«, nickt er verhalten. Seine Gestik und Mimik sind äußerst sparsam, kaum dass man daran irgendwelche Gefühlsregungen erkennen kann. Er spricht Französisch, das stark katalanisch eingefärbt ist.
»Sie kommen direkt aus Barcelona?«, frage ich ihn.
»Aus Mataró, etwas nördlich von Barcelona. Meinen katalanischen Dialekt bekomme ich nie weg. Ich habe es probiert.« Er lächelt kaum merklich. In diesem Moment bringt der Kellner ein Glas, stellt es vor mein Gegenüber und will einschenken, aber ich schicke ihn weg.
»Danke, Monsieur, das mache ich schon.«
»Sehr wohl, Monsieur. Das Essen ist gleich fertig.«
Ich nehme die Flasche und deute auf sein Glas. »Darf ich?«
»Bitte.«
Langsam läuft der tiefrote Barolo aus der Flasche. Er duftet fantastisch. Ich setze ab und drehe den Flaschenhals nach rechts weg. Es klackte metallisch, als ich die Flasche auf das Edelstahltablett zurückstelle. Vor dem Fenster ist Dunkelheit. Tunnel an Tunnel. »Sie sind ein Weinliebhaber, so viel kann ich schon sagen«, meint er. Ich reiche ihm die Hand über den Tisch.
»Frank Bernheimer.«
Er zögert kurz. Für einen winzigen Moment steht die Zeit still. Der Zug und alles in ihm verharrt scheinbar in einer schwebenden Ruheposition. Wie ein Schnitt durchs Universum. Dann läuft alles wie gewohnt weiter. Es gibt solche Momente, denke ich. Momente, in denen Zeit völlig aufgelöst wird, für Bruchteile einer … ja, was? Minute? Sekunde? Menschliche Begriffe für Unbeschreibliches?
Der Mann nimmt die Hand. »Ich bin Diego Gomez Costa.«
Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. »Das ist aber ein schöner Name.«
»Nichts ungewöhnliches in Spanien. Allerweltsnamen.«
»Wollen wir anstoßen?« Ich hebe das Glas und halte es über den Tisch. Wir stoßen an. Dabei blickt er mir in die Augen. Wir nicken uns zu und trinken einen großen Schluck. Er stellt schmatzend den Barolo auf den Tisch.
»Ein außergewöhnlicher Wein. Sie haben einen sehr guten Geschmack, Señor.«
»Nennen Sie mich Frank. Warum so kompliziert?«
»Gut Señor, ich meine Frank. Lassen wir die Förmlichkeiten. Ich bin Diego.«
»Diego … das erinnert mich an etwas, aber ich komme nicht drauf.« Der Kellner kommt mit dem Essen. »Da ist mein Omelette. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe großen Hunger.«
»Das ist kein Problem.«
»Wunderbar.« Mit einem eleganten Schwung landen Omelette und Salat auf der Tischdecke. Ich nehme das Besteck und fange sofort an.
»Ist das ein vegetarischer Nizza-Salat?«, fragt der Katalane.
»Ja, ich bin Vegetarier.«
»Aha.«
Ich kaue und schaue auf die Zuginfo. Noch vierunddreißig Minuten bis Mailand. Es schmeckt ausgezeichnet. Frisch, das Ei nicht zu weich, das Gemüse knackig und fein gewürzt. Der Kellner bringt Diegos Scampi, gegrillt, dazu frisches Weißbrot, Olivenöl und eine rote Habanero-Paste.
»Das sieht natürlich auch nicht schlecht aus«, sage ich kauend. »Früher habe ich mir auch so etwas bestellt. In meinen jungen Jahren war ich oft in einem spanischen Lokal um die Ecke. Da gab es herrliches Essen, herrliche Weine und tolle Stimmung.« Ich seufze. »Das ist schon lange her.«
»Mir scheint, du bereust es, Vegetarier zu sein.«
»Nein, ganz und gar nicht. Es ist eine Entscheidung. Mehr nicht.« Er sieht mich an, tunkt Brot in die Paste, legt eine Garnele drauf und steckt alles in den Mund. Diego kaut langsam, präzise und bewusst. Keine Sekunde lässt er mich dabei aus den Augen.
»Der Mensch ist ein Raubtier. Er tötet, um zu leben«, erklärt er. Ich nehme einen Olivenkern aus dem Mund und lege ihn an den Tellerrand.
»Das ist richtig. Aber das heißt ja nicht, dass er bis in alle Ewigkeit ein Raubtier bleiben muss, nur weil es ihm bis hierher geholfen hat eines zu sein. Das widerspräche aller bisherigen und noch möglichen kulturellen Entwicklung.« Diego setzt sich aufrecht, spannt den Oberkörper, als würde er mit einem Vortrag beginnen wollen.
»Das ist interessant. Die meisten Vegetarier erzählen mir immer, sie wollen nicht, dass Tiere getötet werden oder möchten abnehmen, sie wollen dies und das nicht. Du aber sagst, dass der Mensch durch einen solchen Prozess zu einem besseren Wesen wird? Einem … Homo superior vegetariensis? Das Erlangen einer solchen Entwicklungsstufe würde ihm zu neuer Kultur verhelfen?« Er bricht ein Stück vom Weißbrot ab. »Also denkst du an eine Zukunft, die weit vor uns liegt … warum?«
Ich sehe zu, wie er einer Scampi den Kopf abdreht, mit dem Schwanz in die Habanero-Paste tunkt und in den Mund steckt. Dann sehe ich den Ring an seiner linken Hand. Der ist mir vorher noch gar nicht aufgefallen. Es ist die stilisierte Linie eines Fisches.
»Nicht wenige Menschen denken doch recht weit in die Zukunft. Wenn Eltern ein Konto für die Kinder anlegen oder eine Lebensversicherung einrichten, einen Bausparvertrag, dann haben sie die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre im Blick. Bei mir ist das Thema eben ein anderes.«
»Aber ist das Thema so wichtig, um es zu mehr als zu seinem eigenen Ziel zu machen?« Seine Frage reizt mich. Ich schenke uns beiden vom Barolo nach und sehe auf die Zuginfo. Noch fünfundzwanzig Minuten bis Mailand. Ich werde es bei einer kurzen Antwort belassen, denn der Fisch macht mich stutzig.
»Gab es nicht schon immer Ziele, Ideen, Möglichkeiten, die weit in der Zukunft lagen, von denen aber der jeweilige annahm, sie könnten für die Menschheit Besserung bringen?« Diego nimmt einen großen Schluck und spült seine Scampi hinunter. Dann lächelt er mich an. Ein bisschen zynisch vielleicht.
»Oho, du willst aber nicht sagen, dass deine Ziele denen eines Galilei oder eines Columbus ähnlich sind? Wäre das nicht vermessen? Haben diese Visionäre nicht auch alle Fleisch gegessen?« Er stützt die Ellenbogen auf den Tisch, faltet beide Hände und legt das Kinn darauf ab. Das Lächeln verschwindet. Dafür kann ich den Fischring gut sehen. Woher kenne ich das Symbol? Als wir aus einem Tunnel kommen, fällt es mir ein. Ein christliches Symbol. Ich will ihn reizen. Schließlich ist es ja ein Spiel.
»Galilei, Columbus und all die anderen … Kinder ihrer Zeit. Selbst Jesus verteilte Fische und aß sie. Jeder oder jede hat die Visionen, die das Leben und die Erfahrung für ihn parat hat. Hauptsache Vision, das ist ja zunächst mal völlig wertefrei.« Als ich Jesus und seine Fische erwähne, habe ich auf eine Reaktion gehofft, aber leider vergebens, dabei bin ich mir inzwischen sicher, dass Diego etwas mit mir zu tun hat, mit dieser Geschichte, die Canard mir so locker vom Hocker erzählte. Ich will ihn weiter provozieren. »Dieser Ring an deiner Hand, der Fisch, das ist doch ein christliches Symbol, oder?«, ich deute auf den Ringfinger der linken Hand. Er blickt kurz auf den Ring und nickt.
»Ja, Ichthýs, das griechische Wort für Fisch. Die Speisung der Fünftausend. Du kennst dich aus?«
»Nein, nicht wirklich.« Er widmet sich seinem Essen und ich dem Omelette. Warum schweigt er jetzt? Also noch einen draufsetzen. »Hatte Jesus eine Vision? Wenn es ihn denn gegeben hat?« Er sieht kauend vom Teller auf und mich an. Da ist es! Das Beben. In seinen Augen. Eine Unruhe. Der See ist nicht mehr still, ein Stein wurde hineingeworfen und zieht Kreise.
»Ich jedenfalls glaube, dass es ihn gegeben hat«, antwortet er. »Und ja, er hatte eine Vision, eine zentrale Vision. Eine mächtige Vision. Die Menschen können sich daran orientieren.« Jetzt ist seine Stimme stolz und fest. »Du glaubst nicht?«, setzt er nach.
»Nein«, schüttle ich den Kopf. »Ist das schlimm?«
»Das kommt darauf an …«
»Auf was?«
Er zieht unmerklich die Luft ein, sein Oberkörper spannt sich unter dem Hemd. »Ob du glücklich werden möchtest«, sagt er leise. »Bist du glücklich?«, will er im gleichen Atemzug wissen.
»Nein, ich bin zufrieden. Glück ist ein Windhauch in der Stille des Alltags.« Diego kaut wieder. Trinkt einen Schluck. Ich habe das Gefühl, er würde mir gerne an die Gurgel gehen. Über den Tisch springen. Jetzt, ein paar Kilometer vor Mailand.
»Das klingt nach einer zurechtgelegten Antwort«, erwidert er. »Glück finde ich im Glauben. Nichtglauben ist Unglück.«
»Dann habe ich wohl kein Glück gefühlt bisher.«
Er mustert mich abschätzend. »Dann wird es Zeit zu glauben und das Glück in dein Leben zu lassen. Wer will schon ohne glücklich gewesen zu sein sterben?«
»Ist es schlimm, unglücklich zu sterben? Man stirbt. Mehr nicht.«
Diego lehnte sich zurück und sieht mich an. Dann winkt er den Kellner herbei und bestellt für uns zwei Milchkaffee. Ich verdrücke die letzten Reste vom Omelette und schweige. Ebenso wie er. Vielleicht weiß er auch nicht, wie weit er sich aus dem Fenster lehnen kann. Woher kennt er meine Vorliebe für Milchkaffee? Ist es klug, ihn darauf anzusprechen? Andererseits … was soll passieren? Mit der Serviette wische ich den Mund sauber, falte sie zusammen und lege sie unter das ordentlich im Teller abgelegte Besteck. Diego sieht mir aufmerksam zu. Als würde er erwarten, dass ich nun weiter rede. Also tue ich ihm den Gefallen. »Weißt Du, wie ich dem Kellner zeige, ob das Essen geschmeckt hat?« Er schüttelt den Kopf. »Schau«, ich deute auf den Teller, »liegen Serviette und Besteck auf diese Art, dann hat es mir gemundet. Zerknülle ich dagegen die Serviette und werfe sie achtlos auf den Teller, war das Essen miserabel. Ganz einfach. Das ist so eine Regel in Restaurants. Ich schätze, die meisten Küchen kennen sie.«
Er starrt einen Moment auf seinen Teller mit der zerknüllten Serviette. Ich kann noch einen draufsetzen. »Es hat dir nicht geschmeckt? Und trotzdem bist Du glücklich, wie ich annehmen darf?«
»Es hat mir geschmeckt. Und ja, ich bin glücklich.«
»Aber der Koch wird annehmen, es hat dir nicht geschmeckt und wird sich Gedanken machen, er wird vielleicht unglücklich sein. Zwar glaubt er an Jesus, aber der kann ihm in diesem Moment nicht das Glück einer sauber gefalteten Serviette geben. Der Koch hat offenbar versagt.« Der Kellner bringt unsere Milchkaffees und räumt den Tisch ab.
»Hat es Ihnen geschmeckt?«, stellt er die Standardfrage.
»Wie Sie sehen, hat es mir ausgezeichnet gemundet«, antworte ich und nicke in Richtung meines Tellers. Der Kellner grinst mich an und sieht etwas betrübt auf Diegos Teller, den er schweigend abräumt.
»Auf was willst du hinaus?« Seine Stimme klirrt vor Kälte.
»Eigentlich auf nichts. Glück bedeutet für jeden etwas anderes. Vielleicht ist der Koch glücklich, wenn er sieht, dass einem Gast das Essen geschmeckt hat. Möglicherweise ist er aber schon so routiniert und abgeklärt, dass es ihm gar nicht auffällt.« Ich tue einen Löffel Zucker in meinen Milchkaffee und rühre bedächtig um, damit der Schaum nicht verletzt wird. »Ich denke, du verwechselst Glück mit Zufriedenheit, Diego. Glück sollte nicht dauerhaft eingenommen werden. Dann wird es zu einer Droge. Was sie ja auch ist. Eine Hormonausschüttung. Je mehr man sie erfährt, desto abhängiger wird man. Wir machen um diese chemische Reaktion ein kulturelles Großaufgebot an vielerlei Gefühlen und Beschreibungen, Erwartungen und Abhängigkeiten. Nimm Glück als das, was es ist: ein temporärer Zustand schöner Gefühle. Schön, wenn man es erlebt, aber bei zunehmender Einnahme rutscht man in die Unwirklichkeit.«
Ich nippe am Kaffee. Ausgezeichnet. Die Zuginformation teilt uns mit, dass wir in wenigen Minuten Mailand erreichen werden. Der Abend senkt sich über das Piemont. Die abgetönten Zugfenster verstärken den Eindruck. Vertrocknete, verkrüppelte Kirschbaumplantagen säumen die Strecke. Diego sieht für einige Minuten hinaus. Draußen kommen bewässerte Baumanlagen, dann wieder braune Felder und immer wieder Dörfer. »Es war einmal schön hier, und das wird es auch wieder«, sagt er leise gegen die Scheibe. »Das Land der Piemont-Kirsche.«
»Hier hat es mir noch nie gefallen«, erwidere ich. »Ich mag es nicht, wenn es so flach ist.«
Er sieht mich an. »Du bist abgebrüht. Aber du lebst ohne Glauben. Das wird dir zum Verhängnis werden.«
»Ich habe den Eindruck, als ob mich in den letzten Tagen der Glaube anderer Leute verfolgt.«
»Wie darf ich das verstehen?«
Ich suche sein Gesicht, seine dunklen Augen nach Reaktionen ab. Aber entweder er hat sich im Griff oder tatsächlich nichts mit allem zu tun. Egal, ich trinke den Milchkaffee leer und gebe dem Kellner ein Zeichen, dass ich bezahlen möchte. »Ich bin müde, Diego. In meinem Alter muss man viel schlafen. Ich werde mich ein bisschen aufs Ohr legen. Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich dich einladen. Es würde mich glücklich machen.« Er breitet die Hände aus und überhört meine Anspielung gekonnt.
»Vielen Dank. Eine noble Geste. Ich hoffe, ich kann mich revanchieren.«
Der Kellner tritt an den Tisch, legt den Bon hin und ich scanne ihn, gebe die Überweisung mit dem Fingerabdruck frei. Dazu noch einiges an Trinkgeld.
»Vielen Dank, Monsieur.«
»Gern geschehen.«
Diego steht auf. »Danke für die Einladung, Frank. Vielleicht komme ich später noch auf einen Kaffee vorbei. In welchem Wagen bist du?« Ich erhebe mich ebenfalls und sehe ihn an. Würde es mich freuen, wenn er käme? Vielleicht hatte er doch mit all dem etwas zu tun und ich habe ihn aus der Reserve gelockt.
»Erste Klasse, hinter dem Großraumwagen.«
»Sehr gut. Bis dann.«
Er geht nach vorne zu den Waggons der zweiten Klasse. Unter meinen Füßen vibriert es. Der Zug verringert die Geschwindigkeit rapide und ich muss mich kurz am Sitz festhalten. Als das Vibrieren vorüber ist, mache ich mich auf den Weg ins Abteil. Wir haben Mailand erreicht und durchfahren die Außenbezirke der Stadt.
Sanft setzen wir uns wieder in Bewegung. Leider nicht aus Mailands altem Kopfbahnhof. Aber die Logik liegt auf der Hand. Schnelle Züge haben in Kopfbahnhöfen nichts verloren. Es müssen Durchgangsbahnhöfe sein. Allerdings habe ich mir dieses Wissen gerade aus der Website von EuroRail geholt. Ich habe dunkel ein Bild von Mailands Kopfbahnhof im Gedächtnis. Sein Flair, die Düfte, das Menschen- und Stimmengewirr. Unser nächster Halt ist Zürich. Im Gang vor dem Abteil bleibt es ruhig. Kein zugestiegener Fahrgast hat sich hierher verirrt. Ich hole den mobilen Rechner aus der Tasche und schalte ihn an. Das Derivat aktiviert sich, etabliert das Betriebssystem. Über den zugeigenen Router logge ich mich im Netz ein und rufe Mails ab. Nichts wichtiges dabei, auch keine Nachricht von Bruno oder wie immer ich ihn nennen soll. Aus Berlin vom Verlag ebenfalls keine Mails. Seltsam. Sollte ich nicht den gescannten Roman erhalten? Ich blicke auf die Zuginformation. Wir fahren 240 Stundenkilometer und werden in zehn Minuten Arona erreichen. Die Alpen kommen näher. Diese Geschwindigkeiten bringen mich durcheinander. Wer sagt mir jetzt, was ich tun soll? Ich bin eine Marionette ohne Fäden, so habe ich den Eindruck. Ob sich da jemand einen Scherz mit mir erlaubt? Aber nein, Guerlaine war kein Scherz. Und der zerschmetterte Wagen schon zweimal nicht. Mit einem Ruck stehe ich auf, drehe mich zur Abteiltür … und erstarre. Durch die Scheibe sehe ich den Kellner, wie er zu mir hereinblickt. Seine Haltung verrät mir, dass er das schon länger tut, nur habe ich es nicht bemerkt. Er führt die rechte Hand an die Abteiltür und öffnet sie. In diesem Moment sind meine Muskeln gespannt wie Bogensehnen. Ein Fluchttier. Jederzeit bereit … nur wohin fliehen in einem Zug? Ich setze mich wieder. Er kommt herein, wortlos, zieht Tür und Vorhang zu, nimmt gegenüber Platz. Eine halbe Ewigkeit schweigen wir uns an. Dabei ist es lediglich eine Minute, laut Zuginfo.
Warum sagt er nichts? Er sieht mich weiterhin wortlos an. Wie man es doch immer wieder schafft, an einem Menschen vorbeizusehen, ihn zu ignorieren, Details, Aussehen, die Augenfarbe. Der Kellner hat blaue Augen und leicht rötliche Haare. Ein paar Sommersprossen tummeln sich im Gesicht. Er besitzt einen wachen Blick. Und doch ist er für mich und alle anderen Gäste nur der Kellner. Würde ich in einem Monat nach diesem Gesicht gefragt, wüsste ich kaum noch Details. Er ist kleiner als ich, einen Kopf etwa. Dafür wirkt er drahtig. Es wird Zeit, das Schweigen zu brechen.
»War das Trinkgeld nicht in Ordnung?«
Mit einem Mal lächelt er. Was so ein Lächeln für Probleme lösen kann, ist schon denkwürdig, als fiele alle Spannung aus der Oberleitung und der Zug der Unruhe rollt langsam aus. »Das Trinkgeld war angemessen. Vielen Dank«, antwortet er. »Deswegen bin ich nicht hier, aber das werden Sie sich wohl gedacht haben.« Ich bestätige ihm das nickend. »Monsieur Bernheimer, ich kenne Ihren Namen nur vom Abrechnungsvorgang. Ich weiß nichts über Sie. Vergessen Sie das nicht.« Er wird mir ansehen, dass ich überrascht bin. Halb Europa kennt offenbar meinen Namen. Ich erwarte seine weiteren Worte, aber es kommt nichts mehr.
»Und wie darf ich Sie nennen?«
»Wie wäre es mit Bruno?«
»Bruno aus Nancy … das ist eine schöne Stadt, Nancy. Finde ich zumindest. Es muss Ihnen gefallen, dort zu wohnen.«
Er bewegt den Kopf hin und her und schürzt die Lippen. »Ich habe schon besser gewohnt.«
»Wie geht es Monsieur Canard?«, will ich von ihm wissen. Er sieht mich überrascht an.
»Ich kenne keinen Monsieur Canard. Was veranlasst Sie zu dieser Frage?«
»Nun … Monsieur Canard hat mir ein bisschen was von der Organisation erzählt, und was ich in Zukunft tun soll, für Sie, die Welt oder wen auch immer …«
Bruno lächelt wieder. »Sie sind ein vorsichtiger Mensch. Aber ich kenne trotzdem keinen Monsieur Canard.«
Ich seufze. »Also, was jetzt?«
»Ich kann Sie beruhigen. Ich kenne wirklich keinen Monsieur Canard. Und er wird mich auch nicht kennen. Aber ich weiß, auf was Sie hinaus wollen. Niemand kennt den anderen. Das dient der Sicherheit.«
»Aha. Ja, das kann ich verstehen.«
Mir fällt Diego ein. »Sagen Sie mal, Bruno, was halten Sie von meinem ehemaligen Tischnachbar?« Bruno schaut zum Fenster hinaus. Das Licht hat sich verändert draußen. Die blaue Stunde ist angebrochen. Wir fahren zwischen Dämmerung und Dunkelheit am Lago Maggiore entlang. Wie gern würde ich jetzt am See sitzen und mir einen Cappuccino schmecken lassen. Alleine an einem Tisch in einem Café, im Eck, viele Glastüren nach draußen, die alle offen stehen und den Seewind herein lassen … dann fällt mir auf, dass dem See einiges an Wasser fehlt. Die braunen Ränder am Ufer … das sind sicher an die fünf Meter. Die Bootsanleger liegen tief unten.
»Vergessen Sie Diego«, höre ich Bruno sagen, während ich immer noch auf den See blicke, »oder wie immer er heißen mag. Er wird uns in Ruhe lassen.« Er macht eine kleine Pause. »Wichtig ist, dass wir beide hier im Abteil sitzen.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er uns in Ruhe lässt? Vielleicht wacht er gerade auf und macht sich auf den Weg hierher. Schließlich wollte er auf einen Kaffee vorbeikommen.«
»Vertrauen Sie mir«, sagt Bruno mit überzeugtem Unterton in der Stimme.
»Verstehe.« Ich kratze meinen Hinterkopf, mehr aus einer leichten Müdigkeit heraus. Dann fahre ich mit der Hand durch die Haare, übers Gesicht und gähne ausgiebig. Mein Bart ist schon wieder gewachsen und plötzlich bin ich mir nicht sicher, ob ich Rasierzeug eingepackt habe oder nicht. Na ja, falls nicht, werde ich welches kaufen. Ich strecke mich und mustere Bruno sehr genau. Vielleicht sollte ich ihn mir doch besser einprägen. Vielleicht sollte ich mir überhaupt alles was passiert, sehr genau einprägen. Ein Meer aus Fragen schwappt in meinem Kopf, aber ich kann keine einzige fassen und aussprechen. Alles wirbelt durcheinander, taucht auf, wieder unter, verwirrt mich. Es ist besser, nicht zu viel zu fragen und lieber abzuwarten, was passieren wird. Was mir Bruno mitzuteilen gedenkt.
»Ich hoffe, Diego ist nicht tot …«
Bruno sieht mich überrascht an. Dann lächelt er. »Wichtig ist nur, dass wir in Zürich den Zug verlassen.«
»Wir verlassen den Zug in Zürich?«
»So ist es.«
Ich hole tief Luft und lege die Hände auf meine Oberschenkel. Wir werden also nicht nach Köln fahren? »Ich empfände es als angenehm, wenn Sie mir etwas Einblick in ihre Pläne für mich geben könnten. Wäre das zu viel verlangt, Monsieur Bruno aus Nancy?«
Bruno lacht leise und schaut mich an. »Sie sind ein komischer Kauz, Monsieur Bernheimer. Ihre Sprache ist antiquiert, aber Ihr Gespräch mit Diego hat mich fasziniert. Sie geben Kultur vor, kennen sich im Wein aus, in Gepflogenheiten des Kellnerns. Keine Ahnung, was wir von Ihnen wollen, aber es muss wichtig sein.«
»Würden Sie mir ein paar Fragen beantworten?«
Bruno schnalzt mit der Zunge und nickt langsam mit dem Kopf. »Warten Sie es ab«, weicht er aus. »Bis wir in Zürich sind, müssen Sie sich gedulden. Ich gehe jetzt wieder nach vorne. Meine Pause ist um. Verlassen Sie nicht mehr das Abteil. Kurz vor der Ankunft gehen Sie zum letzten Wagen und steigen dann aus. Warten Sie, bis der Zug wieder abfährt. Jemand holt Sie ab.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verlässt Bruno aus Nancy das Abteil. Da sitze ich nun mit meinen vielen Fragen und betrachte in der Scheibe mein schwach erkennbares, dümmlich drein schauendes Gesicht. Also nicht nach Köln. Gut. Ein weiterer Gedanke drängt sich mir auf. Werden vielleicht mir bekannte Menschen überwacht? Françoise etwa? Kommen sie durch mich in Gefahr? Damit muss ich rechnen. Da fällt mir Diego ein. Der Fisch an seinem Finger. Woher wusste Diego, dass ich hier im Zug sitze? Oder ist er nur ein harmloser Spanier mit einem Faible für Glaube und seltsame Gespräche? Mein Bauchgefühl sagt mir etwas anderes. Ich werde also überwacht. Von beiden Seiten. Natürlich! Mein Bruder ist der Präsident der EU. Da wird er ja wohl Leute haben, die ihm sagen, was sein älterer Bruder so macht. Das würde ich ebenso tun. Wenn es etwas in meinem Leben gibt, was ich hasse, dann aufkeimende Paranoia. Ich seufze und mein Blick fällt auf die Zeitschrift, die das Mädchen der Abendländischen Jugend dagelassen hat.
Die Abendländische Erneuerung. Was für eine Bezeichnung. Wohl die Zeitschrift der gleichnamigen Partei. Ich beginne zu blättern. Vom Editorial grinst mich die Chefredakteurin an. Vielleicht eine Polin, dem Namen nach zu urteilen. Ich schaue im Impressum nach. Es ist die französische Ausgabe, aber gedruckt wurde sie in Polen in einer insgesamten Auflage von über zwanzig Millionen in allen Amtssprachen Europas. Zwanzig Millionen! Das muss man sich mal vorstellen! Eine Partei kann doch gar nicht so viele Mitglieder haben … obwohl … europaweit? Schließlich leben in der EU knappe 500 Millionen Menschen. So gesehen sind zwanzig Millionen gar nicht so viel. Die Chefredakteurin erinnert an die Parlamentswahlen im Oktober diesen Jahres. Alle Mitglieder werden aufgefordert, ihr Möglichstes, ihr Bestes zu geben, um die Abendländische Erneuerung auch dieses Mal wieder zur stärksten Fraktion werden zu lassen.
Davon hatte mir Canard erzählt. Dass die Abendländische Erneuerung stärkste Fraktion sei. Zugegebenermaßen liegt der letzte Besuch eines Wahllokals schon Jahrzehnte zurück. Es ist mir egal, wer regiert. Ich blättere weiter und überfliege das nachfolgende Inhaltsverzeichnis. Diverse Kandidaten werden vorgestellt, aus den verschiedensten Regionen Europas. Brave Bürger. Liebe und freundliche Gesichter. Menschen von nebenan, alles angenehme Nachbarn. Die meisten Artikel beschäftigen sich wohl mit den politischen Erfolgen der Partei innerhalb der EU. Und natürlich ist Gott immer als Berater dabei. Aber vielleicht werde ich ja ungerecht. Ich weiß ja gar nicht, was bisher alles erreicht wurde. Wer weiß, vielleicht sind ja alle zufrieden. Ich bin es und Madame Colombier offensichtlich auch. Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, als ob alles schlimmer würde oder sich die Menschen schlechter fühlen als vor zwanzig Jahren. Mal abgesehen vom rasant fortschreitenden Klimawandel.
Weiter hinten ist noch ein Interview mit meinem Bruder abgedruckt. Ich lege das Heft weg und schaue auf das Infodisplay. Bellinzona liegt hinter uns. In wenigen Minuten tauchen wir in den Gotthard-Basistunnel ein. Wir fahren 250 Stundenkilometer. Nicht mehr weit bis Zürich. Ich kann mich nicht bremsen, die Neugier zwingt mich, wieder auf die Zeitschrift zu schauen. Je weiter ich von Zuhause weg bin, desto mehr will ich wissen. Desto mehr merke ich aber, dass ich nichts weiß. Das Interview. Ein Bild meines Bruders springt mir förmlich entgegen, drängte sich fast auf. Da sitzt er, in einem wirklich gut aussehenden, fein gebügelten, blauen Hemd. Die Ärmel hochgekrempelt. Er hat graue, kurze Haare. Sein Schreibtisch wirkt aufgeräumt und ist recht groß. Natürlich hat er jemanden, der bei ihm Ordnung hält; schätze ich. Als Präsident hat man so was. Ich denke kurz an sein Kinderzimmer und muss schmunzeln. Zeit und Entfernung relativieren. Das ist es, was ich gerade in der Scheibe sehe. Hinter meinem Gesicht. Ein Lichtring, dann eine Serie von Lampen in gleichmäßigem Abstand. Wir sind in der Tunnelröhre für die nächsten 56 Kilometer.
Er blickt in die Kamera, als gäbe es sie nicht. Als wäre hinter der Kamera keine Wand, sondern ein Fenster in das Zentrum der Milchstraße. Der Blick ist ehrfürchtig – und furchteinflößend. Dieser Ausdruck in seinen Augen irritiert mich. Mir wird klar, dass der Mensch am Auslöser ihn nicht dazu aufgefordert hat, denn den Blick kenne ich. Allerdings ist er um Dimensionen intensiver als damals. Fast etwas hypnotisierendes. Vielleicht ist es die Macht. Das Empfinden der Macht. Das Genießen der Macht. Als Droge? Oder mächtiges Werkzeug. Ich empfinde Widerwillen und löse mich von der Wirkung des Fotos. Auf der rechten Seite beginnt das Interview.
Interview mit dem EU-Präsident und Vorsitzenden der Abendländischen Erneuerung, Leander Meissner
AE: Herr Präsident, wie geht es Ihnen?
LK (lächelt kurz): Danke der Nachfrage. Ich fühle mich sehr gut. Und wie geht es Ihnen?
AE: Bestens, vielen Dank. Herr Präsident, in zwei Monaten sind Wahlen zum EU-Parlament. Was denken Sie, wird ihre Partei dieses Mal stärkste Fraktion?
LK: Ich glaube fest daran. Gerade vorgestern kam ich von einer zweiwöchigen Rundreise durch die Union nach Hause. Sie glauben nicht, was ich dort alles erleben durfte. Die Zustimmung der Menschen zu unserer Politik ist mir fast unheimlich. Das zeigt doch, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
AE: Sie regieren die Europäische Union seit vier Jahren und sieben Monaten. Sind diese für Sie denn eine Erfolgsgeschichte?
LK: Nicht nur für mich. Für alle Menschen der Europäischen Union. Und das sind etwas mehr als 500 Millionen. Überlegen Sie einmal, was wir in dieser Zeit alles geschafft haben …
AE: … zum Beispiel?
LK: … zum Beispiel die fast lückenlose Sicherung der Außengrenzen. Denken Sie an die Terroranschläge in Rom oder Hamburg. Die Terroristen kamen über die Meere. Natürlich gibt es keinen hundertprozentigen Schutz. Aber dank unserer Maßnahmen sind wir nahe an einhundert Prozent.
AE: Sind 100 Prozent Sicherheit das Ziel?
LK: Das Ziel ja, aber wir werden dieses Ziel nicht erreichen. Nicht so, wie die Welt momentan funktioniert. Aber das ist wie so vieles in der Politik: 100 Prozent sind schwer bis gar nicht zu erreichen. Das praktische Leben birgt immer Unsicherheitsfaktoren. Selbst in unserem Glauben kommen wir nicht oft auf die 100 Prozent. Obwohl wir uns täglich bemühen.
AE: Woran liegt das?
LK: Zweifel. Und wir sind Menschen. Wenn wir unsere tägliche Arbeit vor dem Angesicht der Gesellschaft prüfen, so sind wir zweifellos auf dem richtigen Weg. Aber vor den Augen Gottes müssen wir ganz andere Prüfungen bestehen. Und manches Mal kommen dem Menschen Zweifel, ob er diese Aufgaben gottgerecht erfüllen kann.
AE: Die Sicherheit der Menschen ist eine solch besondere Aufgabe?
LK: Natürlich. Eine der wichtigsten Aufgaben eines Präsidenten der Europäischen Union. Die Welt um Europa herum ist chaotischer geworden, unsicherer. Wir können uns von dieser Welt nicht isolieren, denn Europa hat viele unübersichtliche Grenzen. Wäre Europa auf einer Insel, würde es uns wesentlich leichter fallen. Das Thema Sicherheit liegt jeden Tag auf der Wiedervorlage der Regierung.
AE: Was wird es zu diesem Thema noch für Maßnahmen geben?
LK: Zunächst einmal bemühen wir uns, die DNA-Erfassung aller Europäer noch in diesem Jahr abzuschließen. Sie wissen, dass wir das für Neugeborene seit dem 01. Januar 2037 generell eingeführt haben. Seit dem 01. Januar 2034 haben wir die DNA-Erfassung bei der Einreise für ausnahmslos alle Besucher, so dass wir direkt am Einreisepunkt einen Abgleich mit vorhandenen Daten durchführen können. Das berührt übrigens auch die Themen ‚Einschleppen von Viren oder bakteriellen Erregern‘ und ‚Internationale Verbrechensbekämpfung‘. Hier sind unsere Scanner-Verfahren weltweit führend. Die Statistiken zur Verbrechensbekämpfung geben uns recht. Vor allem traditionelle Delikte wie Mord, Totschlag, Raub und Erpressung sind enorm zurückgegangen, deren Aufklärung an die 90%-Marke gestiegen.
AE: Wie gehen Sie mit der Kritik um, einen zweiten ‚Eisernen Vorhang‘ geschaffen zu haben?
LK: Natürlich habe ich mit diesen Argumenten gerechnet, wenngleich sich auch nicht mehr viele an den wahren ‚Eisernen Vorhang‘ erinnern können, so hat er doch als geflügeltes Wort überlebt. Aber bedenken Sie, für was der ‚Eiserne Vorhang‘ stand: Für Unfreiheit in Meinung und Glauben, Unterdrückung, Opportunismus – für einen Totalitarismus, den wir in der EU nicht haben. Der Glaube und die Freiheit sind unsere obersten Güter. Sie zu schützen ist oberstes Ziel. Ein effektiver Weg ist die DNA-Erfassung. Wir müssen nur dafür Sorge tragen, dass die Daten nicht zu ungesetzlichen Zwecken missbraucht werden. Dafür sorgen wir durch Gesetzgebung und strenge Kontrollen.
AE: Wer sorgt denn für die Kontrollen und inwieweit ist diese Kontrolle für den EU-Bürger transparent?
LK: Das ausführende Organ ist die Politische Abteilung der EU. Und als Kontrollorgan fungiert der Innenausschuss, der sich aus Mitgliedern aller Fraktionen zusammensetzt. Natürlich liegt die meiste Arbeit bei den regionalen Behörden …
Das Weiterlesen fällt mir zunehmend schwerer. Ich blicke aus dem Zugfenster. Müdigkeit rollt heran wie eine kräftige Dünung. Im gedimmten Abteillicht sehe ich das Gesicht eines Fremden. Mein Gesicht. Und dahinter nichts als eine Betonröhre. Also schließe ich die Augen und lege mich zurück. Der pneumatische Sessel reagiert darauf, senkt die Lehne und fährt eine Fußstütze aus. Bis Zürich werde ich dösen.