Buch | Kapitel 5

Aufbruch

Niemand ist gekommen. Weder Menschen, die nach Johanna suchten, noch Pferd oder gar Kraut. Buch hatte Maga an Tals Haus vorbeigeführt, den Berg hinauf. Sie wohnten seit ihrer Ankunft in Bestemurs Haus. Wie früher. Magas Wunde ist zu einer krustigen Narbe verwachsen. Buch findet, sie ist gut verheilt. Nur manchmal verzieht sie das Gesicht. Buch tut, als würde er es nicht bemerken. Doch Buch ist nicht nur um Magas Wohlergehen besorgt, er ist ihr Schüler, merkt sich jedes Wort, schreibt es auf jedes Stück Papier oder in den dunklen Boden vor dem Haus. An einem Tag gehen sie hinaus, lernen Dinge um sie herum, am nächsten erklärt Maga Buch was Zeiten, Nomen, Verben und Adjektive sind. Drei Hellmonde später ist der Winter zu Ende und Buch ist nur eines wichtig: er spricht nun Englisch; so hatte sie die Sprache genannt.
Eines Morgens, als Buch den großen Fisch vom Rost der Esse nimmt und Maga sich gewaschen hat, holt sie die Metallkiste und legt sie auf den Tisch. Buch stellt zwei Tonschalen daneben, teilt den Fisch hinein, bringt geschabte Wurzeln und setzt sich. Sie sucht seinen Blick. »Du hast mich nie gefragt, was drin ist.«
Buch nimmt die Gräten vom weißen Fleisch, leckt sie sauber und schaut Maga lediglich an. Er weiß nicht, warum sie gerade jetzt die Kiste hervorholt. »Warum hätte ich das tun sollen?«
»Aus Neugier?«
»Die Kiste hat viel Unglück über uns alle gebracht. Ich will es gar nicht wissen.« Maga presst die Lippen fest aufeinander. Buch schiebt den Teller ein Stück näher zu ihr hin. »Willst du nicht deinen Fisch essen? Er schmeckt köstlich.«
»Doch, Buch, ich esse gleich, aber vorher …« Buch trennt von seiner Fischhälfte den Kopf ab, wirft ihn ins Feuer. Es zischt. Eine Gräte steckt im Zahnfleisch. Er zieht sie heraus und schaut das dünne Stück Knochen an. Maga ringt mit sich. Das kann er deutlich in ihrem Gesicht sehen. »Vorher muss ich dir etwas sagen. Und das ist sehr wichtig. Viel hängt davon ab.« Buch isst still weiter. Maga öffnet die Kiste, indem sie beide Daumen in zwei Vertiefungen drückt. Es klackt, der Deckel schwingt auf. Sie nimmt den blauen Beutel heraus, zieht an etwas, das Buch nicht sieht. Ein zweiter Deckel öffnet sich. Was sie herausholt ist einer Tonkachel ähnlich, dick wie eine Scheibe Brot und so groß wie Tauschs Hand. Maga drückt einen Finger auf diese Platte. Licht fällt in ihr Gesicht. Buch steht auf, geht um den Tisch herum. Die Platte ist das Licht. Zahlen und Worte stehen drauf. Linien am Rand, unterschiedliche Farben. Bestemurs Worte fallen ihm ein. Etwas wird passieren. Das weiß ich, seit ich dich gefunden habe. Das hier muss sie geahnt haben.
»Was ist das, Maga?«
»Ein Tablet.«
Das Wort klingt mehr als fremd. Er wiederholt es laut. »Das ist ein Tablet.«
»Genau.«
Buch denkt an ‚Die Geschichte der Menschheit‘. Viele Seiten voller Bilder mit großen Dingen, die von den Menschen Maschinen genannt wurden. Eine fremder als die andere. Bis zu einem Bild, das etwas zeigte, was Buch niemals vergessen würde. Flug zum Mond: am 16. Juli 1969 startet Apollo 11 zum Mond. Die riesige Saturn V trägt die Astronauten aus der Atmosphäre in einen Orbit, stand auf der rechten Seite unter dem Bild. Buch erschrak damals bis tief in die Eingeweide, denn was er sah, zeigte ihm deutlich, dass seine Welt nichts mehr mit dieser Welt auf dem Bild gemein hatte. Die Welt des Bildes war verschwunden. Damals spürte Buch ein starkes Unwohlsein und war kurz davor, Bestemur zu fragen, ob das Angst sein könnte.

»Du bist so schweigsam, Buch. Ich hoffe, du bekommst jetzt keine Angst vor mir.«
»Angst?« Es ist nicht nur für Maga die Zeit gekommen, über die untergegangene und die jetzige Welt zu berichten; auch Buch muss ihr die Wahrheit über sich erzählen. Er geht um den Tisch herum, holt den Stuhl und setzt sich neben Maga, die den Beutel wieder in die Kiste legt und den Deckel mit einem Klacken verschließt. Das Tablet legt sie auf den Tisch.
»Ich zuerst«, sagt Buch.
»Du zuerst? Was meinst du?«
»Ich bin ein Mensch ohne Gefühle. Ich kenne weder Angst, noch muss ich weinen oder kann das empfinden, was Bestemur Humor nannte. Wenn ich lache, tue ich das, weil ich die Momente erkenne, an denen ich lachen sollte.« Er wiegt den Kopf ein paar Mal hin und her. »Na ja, ich habe gelernt, das Lachen sehr gut nachzumachen.«
»Aha«, sagt Maga nur und starrt ihn an. »Jetzt wird mir klar, warum du so seltsam unberührt auf dem Boot standst oder neben dem toten Tausch. Ich dachte, du hast einen Schock oder bist eben sehr verschlossen, aber …« Maga kneift Buch in die Wange. Er zuckt nur wenig. »Auch keinen Schmerz?«
»Nicht in der Stärke wie du ihn spürst.«
Maga stößt einen Pfiff durch die Lippen. »Ich habe davon gelesen, aber begegnet ist mir noch nie ein Mensch, der keine Gefühle empfindet. Im Gegenteil. Meistens gibt es zu viel davon und wir kommen nicht mit ihnen zurecht.«
»Ich bin im Vorteil«, sagt Buch und grinst. Maga stutzt einen Augenblick, dann lacht sie laut, haut sich auf den Schenkel.
»Ehrlich, Buch, das nenne ich trockenen Humor!«
»Trockener Humor?«
Maga zieht die Nase hoch und wischt über die Augen. »Erkläre ich dir ein anderes Mal.«
»Jetzt du.«
Sie nimmt das Tablet in die Hand und wischt ein verwirrendes Muster.

Buch steht vor dem Haus. Das oberste Rund der Sonne glüht noch einmal auf, bevor sie hinter den Bergen im Westen verschwindet. Tal kommt ihm in den Sinn. Wie gerne äße er mal wieder einen Lammbraten, gespickt mit Wurzeln und Kräutern, die er vom Rand des Wasserlaufs sammeln würde. Ein solches Essen macht Sinn. Zusammen mit Bestemur, Berg, Tal, Kraut und Tausch. Vielleicht müsste ich diese Menschen lieben, denkt er, kann ich aber nicht.
»An was denkst du?« Maga hat sich genähert. Geräuschlos. Buch fragt sich, wie sie das macht. Maga kann geräuschlos und sehr schnell sein.
»An die Menschen, die verloren sind.«
»Aber du bist nicht traurig. Also was bist du dann? Kannst du es erklären?« Buch spürt Magas Hand auf seiner Schulter. Er ist gewachsen. Vor zwei Wochen hatte er Hosenbeine, Ärmel und den Bund der Weste mit Leder verlängert. Er blickt über die Schulter. Fast auf gleicher Höhe mit ihren Augen.
»Etwas zu beschreiben, das ich nicht kenne, ist nicht einfach. Ich müsste Worte aus den Büchern nehmen. Aber das ist nur ein ungefähres Bild. Lange habe ich überlegt, was Bestemur oder die anderen für mich waren. Vielleicht ist es am besten, wenn ich sage, dort, wo sie in meinem Leben standen, sind tiefe Löcher im Boden. Finster. Einen Stein hineinfallen zu lassen, würde nur zeigen, dass sie ohne Grund sind. Löcher, die ins Nichts führen. Es ist unangenehm in diese Finsternis zu blicken.« Maga stellt sich neben Buch. Eng, berührt seine Hüfte, Schulter, das Bein. Es ist nicht unangenehm, findet er. Aber einen Sinn kann er nicht erkennen, denn die Menschen sind nun einmal weg. Alle Menschen. Wenige sind noch übrig. Trost ist also sinnlos. »Wie viele Menschen lebten auf der Erde?«
»Elf Milliarden.«
»Eine Elf mit neun Nullen.«
Maga nickt und zieht das Tablet aus der Hosentasche. Sie schiebt eine runde Fläche von links nach rechts. Aus rot wird grün. Aus kleinen Linien werden viele breite. »Hier sind wir.« Das Bild wechselt. Buch erkennt das Tal. Maga zieht zwei Finger auseinander. Es wird größer. Alles ist zu sehen. Als stünde Buch dort oben am Himmel, die Augen nach unten gerichtet.
»Wie kann das sein?«
»Das sind alte Satellitenaufnahmen. Heute sieht es vor allem an den Küsten ganz anders aus, aber man kann sich ein wenig nach diesen alten Aufnahmen orientieren.«
»Satellitenaufnahmen?«
Maga atmet tief ein und aus. Buch weiß, dass diese verlorene Welt schwer zu beschreiben ist. »Du musst es mir nicht erklären. Es genügt, wenn ich weiß, dass wir Menschen all das geschafft haben, nun aber nichts mehr davon existiert.«
»Dass nichts mehr existiert, ist nicht ganz richtig. An sehr wenigen Orten schon. Aber du hast recht, wenn du sagst, dass die Menschen besonders gründlichen waren.« Buch denkt an Johanna und dass sie für diese Kiste töten wollte.
»Die Menschen unten am Fjord sind gute Menschen. Johanna aus Stavanger war kein guter Mensch. Ist deshalb die Welt verschwunden? Weil es keine guten Menschen waren?«
Maga lässt sich Zeit. Finger und Hände in Bewegung, der Kopf wiegt hin und her. Er muss Geduld haben. Maga holt wieder das Bild vom Tal auf das Tablet zurück. Mit zwei Fingern schiebt sie es zusammen. Immer weiter steigt das Auge empor. Bald ist blaues Wasser zu sehen, die Erde wird rund. Buch sieht einen blauen Kreis mit weißen Wolken, braunen und grünen Flächen. »Das Bild kenne ich aus dem Buch Geschichte der Menschheit. Das ist die Erde auf der wir leben.«
»Ja, das ist die Erde. Die meisten Menschen schaffen es nicht, das Bild in ihr Herz und ihren Kopf zu lassen. Sie verstehen es nicht. Es waren und sind gute Menschen, aber nicht sehr klug.«
»Deine Worte machen Sinn. Wie Tausch. Ein guter Mensch, aber nicht sehr klug.«
»Ja«, sagt Maga und legt den Arm um Buchs Schultern. »Aber es nicht alles zerstört. Nicht dort, wo ich herkomme. Dort haben wir etwas aufgebaut und dort muss ich wieder hin.« Von Osten kommt die Nacht, schiebt ihren Schatten ins Tal. Die Farben verschwinden und Buch weiß, was Bestemur mit Veränderungen gemeint hatte. Er kann sie jetzt sehen.

Buch füttert die Pferde. Das frühe Jahr ist bald vorüber. Maga nennt es Frühjahr. Sie hat keine Schmerzen mehr. Doch eine große Unruhe fällt Buch seit einigen Tagen an ihr auf, frühes Aufstehen, hin und her laufen vor dem Haus, sie schaut einige Male am Tag auf das Tablet und nachts steht sie manchmal draußen, die Augen zum Himmel gerichtet. Vielleicht zählt Maga die Sterne. Buch verwirft den Gedanken. Niemand kann sie zählen. Er bekommt einen Kopfstoß von einem der Pferde und denkt, er würde gerne lachen. Denn es ist bestimmt lustig, ins Stroh zu fallen. Kraut fällt ihm ein. Wie lange er sie schon nicht mehr gesehen hat.
»Vielleicht sollte ich euch wieder zu Pferd in die Stadt bringen. Wir brauchen euch nicht. Dort aber könntet ihr eine große Hilfe sein.«
»Ich habe einen anderen Vorschlag.« Buch zuckt zusammen. Er kann sich nicht daran gewöhnen, dass Maga leise wie aufsteigender Rauch sein kann. »Ich muss weg, Buch. Es wird Zeit. Schon viel zu lange habe ich hier meine Zeit verschwendet.«
»Ich verstehe nicht, was du mit verschwendet meinst? Hast du die Tage hier sinnlos verbracht? Ist das nicht dein Zuhause geworden?« Maga lächelt. Aber es ist wie Buchs Lächeln. Aufgezogen wie eine Mütze. Ihr Blick wandert von Buch zu den Pferden, die Futterluke hinaus, irgendwohin.
»Tut mir leid, Buch. Das hat dich verletzt.« Maga stutzt. »Nein, so etwas empfindest du ja nicht. Aber es hätte dich verletzt, würdest du empfinden. Und dafür möchte ich mich entschuldigen.«
»Ich möchte es nur verstehen.«
»Natürlich. Komm mit.« Maga geht aus dem Stall. Buch schaut unschlüssig zu den Tieren. Tausch schnaubt. Dem anderen Pferd hätte er auch einen Namen geben sollen. Er schließt die Halbtür hinter sich. Maga hat die Kiste auf den Tisch gelegt, mit den Daumen geöffnet und den blauen Beutel herausgeholt. »Setz dich, bitte. Da du immer noch denkst, dass dieser Beutel der Grund für die toten Menschen ist, wird es Zeit, dir diesen Zahn zu ziehen.« Buch setzt sich, schneidet ein Stück Pökelfleisch ab und steckt es in den Mund. Mit der Zunge fühlt er über alle Zähne. Einer fester als der andere.
»Obwohl ich es mag, mit dir hier zu sein, muss ich meine Aufgabe zu Ende bringen. Die Menschen, mit denen ich unterwegs war, sind dafür gestorben. Auch ihnen bin ich es schuldig.«
»Was denn?«
Maga lockert die Schnüre, zieht die Öffnung des Beutels auseinander und holt kleine Stapel gefalteten Papiers heraus. Eine Menge davon. Sie nimmt eines, entfaltet es langsam und vorsichtig mit den Fingerspitzen. Eine Art kleiner Stein kommt zum Vorschein. Dunkelbraun, etwas runzlig. »Das ist der Samen einer Traubeneiche.« Buch will es in die Hand nehmen. Maga faltet das Papier zu und legt es mit den anderen in den Beutel zurück, verschnürt ihn. »Zu feuchte Finger. Der Beutel und der Koffer halten die Samen trocken. Sie müssen unbedingt trocken bleiben.«
»Du meinst Samen wie die Wurzeln, die wir essen?«
»Ja, im Koffer transportiere ich eine Menge davon. Aber nur bestimmte.«
»Etwa von dieser Traubeneiche …«
»Ein Baum.«
»Ein Baum«, wiederholt Buch und sucht in seinen Erinnerungen nach dem Wort. »In Büchern ist von Bäumen die Rede und in einem Bildband habe ich eine große Pflanze gesehen, unter der ein Mensch saß. Sie war bestimmt fünf oder sechs Mal so groß wie Tausch. Dort stand: Ein Mann sitzt unter einem Baum und liest. Also das sind Bäume?«
»Das sind Bäume. Früher einmal die besten Freunde der Menschen.«
»Früher heißt, heute sind sie es nicht mehr?«
»So kann man das sagen. Es gibt sie noch. Weiter im Süden, aber nicht mehr so viele, wie nötig wäre.«
»Das hat damit zu tun, was du erzählt hast. Was die Menschen kaputt gemacht haben.«
Maga schiebt die Kiste ein Stück nach hinten und schneidet ebenfalls vom Fleisch ab, betrachtet es von allen Seiten. »Ich habe dir nicht alles erzählt. Im Norden gibt es auf einer Insel ein großes Haus. Gebaut in einen Berg. Das war unser Ziel. Unsere Aufgabe war, Samen von Bäumen zu holen, die sehr widerstandsfähig sind, viel Wärme und Trockenheit aushalten. Wir werden sie anpflanzen.«
»Kann man sie essen?« Maga stutzt, schaut Buch für einen Augenblick mit großen Augen an, dann schüttelt sie sich vor Lachen. »Ich werden nie verstehen, was Humor ist«, sagt Buch, nimmt Maga das Pökelfleisch aus der Hand und isst es.


»Morgen gehen wir«, sagt Maga, schaltet das Tablet an und zeigt es Buch. Sie sitzen auf der Steinbank, die Bestemur vor vielen Jahren mühevoll am Brunnen errichtet hatte.
»Wir?«
»Du gehst mit.«
»Du meinst, dort hin, wo du herkommst?«
»Natürlich, Buch. Du wirst sehen, eine ganz neue Welt wird sich vor dir auftun.« Buch schweigt. Sein Blick geht übers Tal, Richtung Fjord, hinauf zum Joch zwischen den Bergen, wo Bergs Hütte liegt. Da sind so viele Bilder in seinem Kopf. Schöne Bilder. Erinnerungen. »Denk dran«, erinnert ihn Maga. »Du hast einen Vorteil.«
»Welchen?«
»Keine Empfindungen. Also auch kein Heimweh.«
»Davon habe ich gelesen. Man empfindet Schmerz, wenn man einen Ort verlässt, mit dem man verbunden ist.«
»Ganz genau. Ich habe sehr großes Heimweh.«
»Wirklich? Und tut es weh?«
»Jeden Tag, Buch.«
Er mustert sie genau. Sie unterscheidet sich in nichts von der Maga heute Mittag oder heute Morgen. »Ich kann nichts sehen«, stellt er fest.
»Um es sehen oder ahnen zu können, bräuchtest du ebenfalls diese Empfindung, damit du weißt, wonach du suchen musst.«
»Das macht Sinn.«
Maga nickt und legt den Finger aufs Tablet. »Schau hier!« Eine blaue Linie, die durch grünes Land führt, ist deutlich sichtbar. »Hier oben im Norden sind wir. Entlang dieser Linie geht es nach Süden, bis zu einer Stadt namens Kristiansand. Dort werden wir einen Mann treffen, der uns mit seinem Schiff nach England bringt. Mit einem weiteren Schiff geht es zu einer Insel, die früher Irland genannt wurde. Das ist unser Ziel.«
Still verfolgt Buch die blaue Linie. Eine Zahl fällt ihm auf. »Da steht 704 Kilometer. Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass wir sehr wahrscheinlich vierzehn Tage unterwegs sein werden bis Kristiansand.«
»Zu Fuß?«
»Zu Fuß.«
Buch runzelt die Stirn. So weit und so lange haben ihn seine Füße noch nie getragen. »Wieso nehmen wir nicht die Pferde?«
»Wenn du die Linie vergrößerst, wirst du sehen, dass wir an manchen Stellen über die Berge müssen, über den einen oder anderen Pass. Ich weiß nicht, ob die Pferde das schaffen. Du darfst nicht vergessen, dass diese Bilder 240 Jahre alt sind. Die eingezeichneten Wege existieren nicht mehr oder sind in einem schlechten Zustand. Es gab Bergrutsche, Steinlawinen, Überschwemmungen, all das kann uns den Weg versperren.«
»Die beiden Pferde können uns aber eine große Hilfe beim Tragen sein. Wenn es keine Hindernisse gibt, reiten wir auf ihnen und kommen schneller voran. Zu Fuß gehen können wir immer noch.«
Maga muss tief durchatmen. Buch trägt das Wissen der Bücher in sich. Aber es ist ohne Leben. Es sind nur Worte. »Du musst bedenken, dass Pferde seltene Tiere sind. Ihr hattet viel Glück in diesem einsamen Fjord. Doch woanders sind Pferde begehrt, und wenn Menschen etwas begehren, dann werden sie auch töten.« Maga legt eine Hand auf die Buchs, streicht mit dem Daumen über seinen Handrücken. Dann nimmt sie das Tablet und macht ein Bild von ihm.


Buchs Oberkörper schwankt hin und her, vor und zurück. Einzig an der Mähne kann er sich halten. »Das ist wie auf Fischs Boot, wenn Wind das Wasser bewegt.« Maga hockt einem geraden, steifen Stab ähnlich, die Beine unter Pferds Bauch geklemmt. Mit ihren Hüften gleicht sie das Schaukeln aus. Sie lacht.
»Es war eine gute Idee, Buch. Du hast mich überzeugt. So können wir viel mehr Vorräte mitnehmen. Zurücklassen können wir die Tiere immer noch.«
»Sag ich doch! Aber was ist, wenn die Pferde den Weg nicht schaffen?«, gibt Buch zu bedenken und meint, sich übergeben zu müssen.
»Es sind Kaltblüter. Du musst keine Bedenken haben.«
»Kaltblüter?«
»Ja. Besonders ruhig, besonders kräftig und ausdauernd. Die können viel aushalten.«
»Also ich bin kein Kaltblüter«, stellt Buch fest. Maga stoppt. Sie kann sich vor Lachen kaum auf dem Pferderücken halten. Buch sieht sie schon fallen. Tränen sind in ihren Augen. Nach einer Weile schnalzt sie mit der Zunge und es geht weiter den Hang hinauf, entlang des Wasserlaufs. Der Pass ist bald erreicht. Bestemurs Gesicht nähert sich Buchs innerem Auge. Ihr strenger Blick. Wie Eisen, so hart. Hier oben hat er schwimmen gelernt. Im eiskalten Wasser des Bergsees. Das Loch im Boden, das Bestemurs Tod gerissen hat, ist sehr groß und Buch hat den Eindruck, es würde langsam größer werden, je weiter die Zeit fortschreitet, je älter er wird. Sein Pferd schnaubt und bewegt den Kopf auf und ab. Sie kommen um eine Felskante herum. Der See liegt vor ihnen.
»Hier habe ich schwimmen gelernt«, sagt er zu Magas Rücken.
»Wer hat dir das beigebracht? Bestemur?«
»Hat sie, ja. Von dem Fels dort drüben hat sie mich ins Wasser geworfen. Da musste ich schwimmen, sonst wäre ich gestorben.« Er sieht wie Maga den Kopf schüttelt.
»Das glaube ich nicht. Bestemur wäre hinterher gesprungen. Deinen Erzählungen nach, hat sie dich sehr geliebt.«
»Das hat sie bestimmt.«
»Na also, man lässt nicht das, was man liebt, durch eine Dummheit im See ertrinken.«
»Nein, das macht keinen Sinn.«
Maga wählt die rechte Seeseite. Von den Hängen ist viel Schotter und Gestein herabgerutscht. Große Felsen vor dem Ufer haben das meiste davon aufgefangen. Eine stets wachsende Barriere.
»Am Ende des Sees zweigen wir nach rechts ins Tal. Auf der Karte ist unten ein Dorf abgebildet. Vielleicht gibt es Menschen. Du bleibst immer hinter mir. Wir sind auf der Durchreise und haben nur das dabei, was uns ernähren kann, können also nichts abgeben, falls jemand fragt.«
»Verstanden. Aber wenn es nicht ausreichend Gras oder Wasser für die Pferde gibt, kann ich Geschichten erzählen. Dafür tauschen wir dann Futter ein.«
»Eine gute Idee.« Sie dreht sich zu Buch und blickt ihm fest in die Augen. »Du wirst sprechen. Immer. Wir beraten vorher, was du sagen kannst. Wenn die Menschen meine Sprache hören, werden sie misstrauisch. Was sie nicht verstehen, ist in ihren Augen ein Angriff auf sie. Das wird nur Ärger nach sich ziehen.«
»Und wie soll ich erklären, dass du nicht redest?«
»Ich bin deine Schwester und stumm auf die Welt gekommen. Ganz einfach.«
»Einverstanden.« Maga ist meine Schwester, denkt Buch. Er weiß, was das ist, aber nicht, wie es sich anfühlt. Keines der wenigen Kinder in der Stadt hatte Bruder oder Schwester. »Vielleicht hatte ich ja wirklich eine Schwester oder einen Bruder und sie oder er lagen tot neben meinen Eltern, so dass Bestemur nur mich mitnehmen musste.«
»Wir können niemand mehr fragen«, sagt Maga, ganz konzentriert auf den steinigen Weg. »Du musst aufpassen, wohin dein Pferd tritt! Wenn es sich den Fuß bricht, müssen wir es töten! Bald kommt der Abstieg ins nächste Tal.«
Buch blickt über den See, den gegenüberliegenden Hang hinauf. Er meint, ein Schaf gesehen zu haben neben einem Felsvorsprung und denkt an Tal, der mitsamt seiner Tiere einfach verschwunden ist.
»Hast du eine Schwester oder einen Bruder?« Buchs Pferd tritt Geröll los, das die wenigen Schritte zum See hinunterkullert und im Wasser landet. Er hört das Platschen ein zweites Mal, einen Atemzug später. Bestemur hat Echo dazu gesagt.
»Ich hatte zwei Schwestern und dann noch einen Bruder«, sagt Maga. »Róisín und Ira, meine Schwestern. Eine ist seit vielen Jahren verschollen. Die andere starb auf dem Weg zu dem Haus, in dem die Samen liegen.«
»Und der Bruder?«
»Auch gestorben.«
»Also schaust du in drei finstere Löcher im Boden. Wie ich.« Maga antwortet nicht und Buch sieht über ihrer Schulter das Ende des Sees.


Das Tal ist leer. Keine Menschen, keine Tiere. Keine Geräusche. An beiden Hängen erkennt Buch hellgraue Stümpfe auf dem Boden, von denen Abzweigungen in vielen Formen zwischen Geröll verschwinden. Dazwischen Gras, Schilf und eine unübersehbare Anzahl Blumen. Rote zumeist, gelbe und auch blaue. »Die sehen aus wie Stühle«, stellt er fest und deutet auf eine Reihe der hellen Stümpfe.
»Das waren Bäume. Meist Fichten oder Lärchen. Dieses Land war voller Bäume. Du hättest sie nicht zählen können. Dann kamen immer mehr Stürme und die Trockenheit. Am Ende blieb nichts, als die Bäume zu fällen und zu verbrennen im Winter. Wenn Regen kam, dann so viel, dass er den Boden hinwegtrug, in die Fjorde hinein oder ins Meer. Auf einem kargen Boden wächst kein Baum. Aber viele Sümpfe entstehen. Das ist es, was ihr heute verbrennt im Winter. Die toten Pflanzen.«
»Du meinst die Torfballen?«
»Genau. Pflanzenreste, vermodert ohne Sauerstoff.«
»Sauerstoff?«
Maga atmet tief ein. »Das, was du einatmest. Ein Teil davon nennt man Sauerstoff.« Buchs Gedanken wirbeln durcheinander. Er muss sortieren. Sortieren ist wichtig. Und die Bilder aus dem Buch mit den Maschinen. Die Menschen hatten doch all die Maschinen.
»Aber haben die Menschen nicht ihre Maschinen genommen, um Hilfe zu haben?«
»Wenn du ein Essen kochst, hast du die Hilfe des Feuers, nicht wahr?«
»Ja.«
»Maschinen brauchen ebenfalls Hilfe. Man nennt es Energie. Feuer ist Energie. Alles, was du benutzt, muss irgendwo herkommen und geht auch wieder irgendwohin. Ist nicht mehr genug da, bleibt alles stehen.«
»Aha!«, sagt Buch und denkt an die Lederschürze, die er einst vor die Esse hielt und Bestemur fragte, wie die Wärme von den Flammen zu ihm käme. »Und über dem Feuer ist der Rauch. Und der ist auch warm. Also nimmt der Rauch von der Wärme mit in den Himmel. Und ein anderer Teil wärmt meine Haut und die Luft im Raum und … und alles zusammen …«
»… steckt in dem Torfballen. Das Feuer setzt die Energie frei«, vervollständigt Maga Buchs Gedanken. »Und je mehr Menschen es werden, desto mehr Feuer braucht man. Reicht es nicht mehr für alle, beginnt der Streit.«
»Wie bei Johanna«, erinnert sich Buch. »Jemand möchte etwas unbedingt haben. Und andere müssen sterben.« Maga dreht den Kopf. Ihre Lippen sind schmal. Buch sucht vergeblich den warmen Blick.
»Das sind sehr einfache Gedanken, sehr einfache Worte, Buch. Ich war nicht dabei, aber so in etwa ist es passiert. Die Bäume sind gestorben, die Menschen haben kräftig dabei geholfen, dann haben sie sich selbst getötet und am Ende blieb nichts. Kein Wissen mehr. Kein Leben. Nur noch überleben. Du siehst, wie wichtig es ist, was wir gerade tun.«
Buch nickt. »Es macht sehr viel Sinn.«


Buch hat gezählt. Vor zwei Tagen sind sie aufgebrochen. In eine stille Welt hinein. Maga schläft wenig. In der Nacht ist sie die meiste Zeit wach. Zumindest immer dann, wenn Buch sich umdreht, um dann einen kleinen Stein unter dem Leder zu entfernen, den er durchs Fell spürt. Maga muss sehr gute Augen haben. Er denkt an ihre Schwestern. Eine ist auf dem Weg zum Samenhaus gestorben, hat Maga gesagt. Aber an was? Warum ist sie gestorben? Vielleicht werde ich sie fragen, nimmt er sich vor und schläft darüber wieder ein. An diesem dritten Tag beginnen sie den Abstieg aus einem schmalen Hochtal. Die Pferde setzen Huf vor Huf, gleichmütig. Als wäre es das, was sie seit vielen Jahren tun. Der Pfad führt um einen Felsvorsprung und vor Buchs Augen öffnet sich ein weites Tal. Am Ende eines großen Sees ist deutlich eine Stadt zu erkennen. Viele Gebäude unterhalb grüner Hänge.
»Bäume«, sagt Maga und deutet auf eine Stelle rechts der Stadt. »Wo Bäume wachsen, sind Menschen. Das steht fest.« Sie stoppt und zieht das Tablet aus der Weste, hält es in Richtung der Stadt und macht ein Bild. Dann vergrößert sie es. Buch bringt sein Pferd neben ihres.
»Was suchst du?« Sie deutet auf Rauchsäulen über einigen Gebäuden, schiebt das Bild nach rechts.
»Weiter links ist eine Sandbank. Dort werden wir den Fluss überqueren, reiten die Anhöhe hinauf und überqueren die Hügel ins nächste Tal. Wir sollten die Menschen umgehen.«
»Sie sind vielleicht wie Kraut und Tausch. Nehmen uns auf für einen Tag. Wir können essen und in einem guten Bett schlafen.«
»Vielleicht«, erwidert Maga und steckt das Tablet weg. »Aber auf vielleicht werde ich mich nicht verlassen. Das Ziel ist wichtig. Nicht diese Stadt.«
»Aber …«
»Denk dran: Ich bin eine Fremde. Und Fremden ist nicht zu trauen. So fühlen die Menschen und dann denken und handeln sie entsprechend.« Maga drückt beide Fersen in die Seite des Pferdes und reitet weiter.
»Ich denke nur«, sagt Buch, aber Maga ist schon zu weit weg. Er schnalzt mit der Zunge. Tausch läuft los.


Auf der Anhöhe bietet sich Buch ein Ausblick, der alles Denken aus seinem Kopf räumt. Die beginnende Nacht im Rücken, liegt eine orangerote Decke auf den Bergen im Westen. Die in Schnee gehüllten Gipfel leuchten in derselben Farbe. Unterbrochen von dunkelgrauen Flächen. Maga stoppt und sieht sich um, kommt zurück.
»Wir können hier übernachten. Das Gras ist frisch und hoch gewachsen. Die Pferde wird es freuen. Was meinst du, Buch?« Er nickt, ohne die Augen vom Band aus Feuer zu lassen. Maga folgt seinem Blick.
»Ich möchte weinen«, sagt er.
»Warum?«
»Weil es so …«
»Weil es so wunderschön ist?«
»Das meine ich, ja. Etwas wie das, muss wunderschön sein, das Herz berühren, es muss kribbeln. In einem Buch habe ich gelesen, wie ein Mann sagt: Ich könnte in die Knie gehen vor diesem Anblick. Er hat versucht, zu beschreiben, was er gefühlt hat, nicht wahr?«
»Lass und das Lager aufschlagen«, schlägt Maga vor und rutscht vom Rücken des Pferdes. Sie nimmt Taschen und Säcke runter, breitet die Lederdecke aus. Buch kann zusehen, wie das Blau im Himmel dunkler wird, das Rot hinter den Bergen herabsinkt.
»Wohin verschwindet die rote Farbe?« Er steigt ab, zieht alles vom Rücken Tauschs und lässt ihn grasen. Maga schneidet Fleisch und schabt eine Wurzel. Die Wasserbeutel sind noch halbvoll. Morgen würden sie frisches Wasser suchen müssen.
»Hier, iss erst mal was. Setz dich.« Tausch zupft das Gras und Magas Pferd reibt den Rücken an einem Felsen. Buch legt sein Nachtlager zurecht, wickelt die Decke um sich herum und sitzt mit überkreuzten Beinen neben Maga, nimmt ihr das Fleisch ab und steckt es in den Mund.
»Wir haben noch ein großes Rückenstück. Wird das reichen bis Kristiansand?«
Maga zuckt mit der rechten Schulter. »Ich denke schon. Aber wenn nicht, macht das nichts. Unterwegs können wir genug Fisch fangen, wickeln ihn mit Salz in Leder.«
»Du hast Angst davor, auf Menschen zu treffen, und etwas einzutauschen. Vielleicht eine Geschichte von mir gegen …«
»Nein, Buch! Ich habe keine Angst. Ich möchte das Risiko eines Zwischenfalls so weit als möglich reduzieren.«
»Was ist Risiko?«
»Risiko ist all das, was passieren kann, von dem du aber nicht weißt, wann oder ob es passieren wird und falls ja, wie schlimm es werden könnte. Nutze das, was du weißt und nicht das, was du nicht weißt.«
»Das macht richtig Sinn.« Die anrückende Nacht hat das Orangerot endgültig vertrieben und Buch denkt an seine Frage, wohin es verschwunden ist. Maga schneidet einige Scheiben vom Fleisch, legt sich hin und zieht die Decke über sich. Langsam kaut sie, Stück für Stück.
»Wie alt bis du, Maga?«
»Wenn meine Informationen stimmen, bin ich 38 Jahre alt. Geboren wurde ich in Cork, einer Stadt im Süden Irlands, im Jahr 2322, an irgendeinem Tag im April. Du kennst die Namen der Monate?«
»Ich habe davon gelesen in Büchern, aber niemand spricht von diesen Monaten, also habe ich mich nicht weiter drum gekümmert.«
»Nun, der April ist der vierte von zwölf Monaten im Jahr. Aber ist auch nicht so wichtig.« Maga grinst. Ihre weißen Zähne leuchten im Dämmerlicht. Buch legt sich hin, stützt den Kopf auf die Hand. Die Farbe des Himmels ist vergessen. Maga beißt von einer Scheibe Fleisch einige Ecken ab, bis es fast rund ist, legt es auf die Lederunterlage. »Bisher war es nicht wichtig, ob es Monate mit Namen gibt«, stellt er fest. »Ich frage mich, ob es Wissen gibt, das unnötig ist?«
»Es gibt kein unnötiges Wissen. Du benötigst es nicht immer, aber trotzdem formt es in deinem Kopf ein großes Ganzes. Jedes Stück trägt dazu bei.« Buch schweigt. Er schreibt Magas Worte auf das Papier in seinem Kopf und malt es in den Lehm vor Bestemurs Haus.
»Wie kann ich wisssen, ob das, was ich lerne, richtig ist?«
»Indem du es von allen Seiten betrachtest. Ein Fels sieht von allen Seiten aus wie ein Fels. Er ist hart und vergleichbar mit anderen Felsen. Also kannst du sagen, dies ist ein Fels.« Buch legt den Kopf aufs Leder und starrt in den Himmel. Maga isst das Fleisch, zwei Wurzeln dazu, dann tut sie es Buch gleich. Die Sterne schälen sich aus dem letzten Licht des Tages. »Die Sterne dort oben kann ich aber nur von hier unten sehen. Woher weiß ich, dass es sie gibt?«
»Ich habe zuhause ein großes Buch über all das. Darin findest du Möglichkeiten, auch das zu überprüfen. Es wird mein Geschenk an dich, wenn wir angekommen sind.«
»Wirklich?«
»Versprochen«, sagt Maga.


Buch will Bestemur unbedingt sagen, dass er mit Maga reitet und sie ihm noch so viel beibringen kann. Aber er kann Bestemurs Antwort nicht verstehen. Ihr Mund bewegt sich, und doch kommt nur Stille hervor. Stille Worte. Bestemurs Pferd schnaubt, aber Buch sieht kein Pferd. Doch es schnaubt. Dieses Mal lauter und Bestemur löst sich auf, verblasst in der Dunkelheit. Da ist die Nacht und viele Wolken unter dem gleißenden Band der Sterne. Buch sieht Tausch hinter dem Felsen verschwinden. Das ist nicht Bestemurs Haus. Nicht Krauts große Küche. Es ist das Nirgendwo. Er dreht sich zu Maga. Sie ist weg. Maga ist weg! Statt ihrer ein Mann, kniend neben Magas Decke.
»Sag mir, Junge, wo ist dein Freund?« Buch will schreien vor Schreck, Angst haben, aber er hat keine Angst, da ist nur Unruhe. Er muss pinkeln, schlägt die Decke weg und kommt noch etwas steif hoch. Er gähnt. »Du denkst, wir wollen nur unsere Zeit vertreiben, was, mein Junge?« Eine zweite Stimme hinter ihm. In seinen Blick tritt ein Mann, der sich nach den Taschen bückt, sie öffnet und darin wühlt. »Kleider! Wasserbeutel! Wurzeln …«, stellt er fest und wirft alles achtlos ins Gras. Die Pferde schnauben. »Immerhin Pferde. Das ist doch was! Sind wir euch nicht umsonst gefolgt!«
»Also, wo ist dein Freund?«, wiederholt der Kerl ihm gegenüber; immer noch in den Knien. Wenn ich das wüsste, denkt Buch.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht abgehauen?«
»Vielleicht abgehauen …« Der andere Mann tritt heran und schaut sich um. Das Band der Sterne gibt viel Licht, doch immer wieder schieben sich Wolken dazwischen. Buch kann trotzdem die Gesichter sehen. Er muss sich die Männer nicht merken. Sie sind wie Sand im Wind. Schnell verweht, ohne Formen und Farben. »Wir nehmen dich mit. Du kannst für uns arbeiten. Könnte sogar sein, du bringst uns wertvolles Essen, wenn wir dich eintauschen«, sagt der Knieende und steht auf, stößt mit dem Fuß Buchs Decke hin und her.
»Ich bin mehr wert als nur etwas zu essen. Ich bin ein Geschichtenerzähler«, gibt Buch zu bedenken. »Ich kann lesen, schreiben und rechnen.«
Die Beiden sehen sich an. »Ist das so?«, fragt der rechte und Buch meint, in dessen Stimme etwas herauszuhören, was ihn zweifeln lässt, dass die Frage ernst gemeint ist.
»Ja! Das ist so«, erwidert er und sieht ein Messer zwischen den Köpfen auftauchen. Ein Schnitt links, dann rechts. So schnell, dass Buch nur die Bewegung ahnt, Blut quillt aus zwei klaffenden Wunden, die sich immer weiter öffnen. Köpfe und Körper kippen nach hinten. Ein Gurgeln, mehr ist da nicht. Tapsige Schritte, beide fallen auf den Rücken. Buch sieht Maga. Sie wischt das Messer an der Hose des einen ab, steckt es weg und packt zusammen.
»Wir müssen weiter«, sagt sie. Die große Wolke gibt das Licht frei, fremde Farben, ein graues Blau oder umgekehrt, das Blut ist schillerndes Schwarz, läuft unaufhaltsam ins Gras. Buch packt zusammen, verschnürt alles auf Tauschs Rücken. »Im Dunkeln werden wir nicht reiten, nur die Pferde an der Leine führen. Ich gehe voraus.«
»Das macht Sinn«, sagt Buch und greift nach Tauschs Lederriemen. Im Schutz der vielen Lichter geht es den Hang hinab. Ich habe viel zu viele Worte in mir, grübelt Buch. So viele Bücher habe ich gelesen und kann mich an jeden Buchstaben erinnern, aber es ist, als wären es nur tote Worte. Verbrannte Körper. Gras, von Bestemur geschnitten, von der Sonne getrocknet, auf den Boden im Stall gepackt. Es ist kein lebendiges Wissen. Maga hat Wissen. Sie weiß, wie das Leben in die Welt kam. Wie es arbeitet. Ich weiß nichts. Buch ahnt, dass dies so bleiben wird. In diesen tiefen See würde er niemals eintauchen können. Die Wege in seinem Kopf sind zu schmal. »Ich bin traurig«, sagt er leise und wünscht sich, traurig zu sein. Den Schmerz der Traurigkeit zu spüren.
»Ich bin immer bei dir«, flüstert Maga im Halbdunkel.


»Wir werden ohne Pause durchreiten. Wenn die beiden Nichtsnutze gesucht werden, und man sie entdeckt, macht vielleicht jemand Jagd auf uns. Und unsere Spuren sind dank der Pferde deutlich sichtbar.« Buch und Maga durchreiten ein sehr breites Tal auf der westlichen Hangseite nach Süden. Ein großer Fluss rauscht in Talmitte, mäandert in weiten Bögen nach beiden Seiten. Ab und zu erkennt Buch Reste von Häusern und größere Gebäude mit Maschinen.
»Transportbänder. Auf sie hat man Steine oder Erde geladen, damit auf Lastwagen befördert oder in Ziegelöfen. Einmal gebrannt, sind sie sehr stabil. So hat man Häuser gebaut«, erklärt Maga. »An solchen Orten halten sich meist Menschen auf. Die Gebäude trotzen den Stürmen. Außerdem kann man den Stahl der Maschinen tauschen.«
»Wie lange werden wir noch unterwegs sein?«
»Die nächsten 100 Kilometer kommen wir schneller voran. Wir erreichen ein Hochtal. Auf Menschen werden wir dort kaum treffen. In einem der Seen finden sich bestimmt Fische, die wir pökeln können. Am Ende des Hochtals müssen wir wieder wachsamer sein.«
»Auf der Karte habe ich gesehen, dass es auch einen Weg übers Wasser nach Süden gibt. Hätten wir nicht mit einem Boot fahren können?« Maga dreht sich um, schüttelt den Kopf und schaut wieder nach vorne.
»Erst mal ein Boot haben. Dann einen erfahrenen Menschen, der weiß, was er tut, die Küstengewässer kennt, dann auf keine anderen Boote treffen, deren Männer dir an die Gurgel wollen, dich ausrauben und ins Meer werfen. Die größtmögliche Sicherheit bietet der Landweg. Sind wir erst einmal in Kristiansand, wird es einfacher. Dort haben sich immerhin ein paar Strukturen gebildet.«
»Strukturen?«
»Menschen, die eine Anführerin gewählt haben, Regeln folgen, so etwas wie eine Polizei, also Leute, die aufpassen, dass alles friedlich bleibt. Aber das gilt nur für Kristiansand.«
»Polizei … wieder so ein Wort. In einem der Bücher gab es einen Polizisten. Also ein Mann, der bei einer Polizei ist. Aber ich verstehe nicht wirklich, was das bedeutet. Ist Polizei gut oder schlecht? Wenn sie Menschen schützt, dann nur die guten? Oder auch die schlechten Menschen?« Buch denkt für einen Moment nach. »Und ist Kristiansand eine große Stadt?« Maga kratzt ihren Rücken, beide Hände nach hinten gebogen. Es muss sie ordentlich jucken dort. Und sie schweigt. Hat sie überhaupt verstanden, was Buch erzählt hat? Oder ist sie der Fragen überdrüssig? »Ich weiß, ich frage zu viel. Ich würde gerne traurig sein, denn mein Buchwissen hat nichts mit der wirklichen Welt zu tun. Ich bin wie ein junges Lamm. Herumspringen, aber weiß nichts vom gefährlichen Leben.«
Maga reitet auf eine Anhöhe zu, eine karge, steinige Fläche, von Wind und Wetter in Jahrhunderten abgenagt. Es fällt ihr schwer, Buch zu antworten, also schweigt sie und setzt sich ein Stück ab, treibt ihr Pferd an, die zwei Männer vor Augen. Das Blut unter dem Licht der Sterne. Eine Tages wird es ihr nicht mehr gelingen, alle Geräusche richtig zu deuten, aufzupassen, wachsam zu sein.
Die Hufe auf dem Granit holen sie aus den Gedanken. Maga dreht das Pferd zum Tal, steigt ab und nimmt die Kiste aus dem Sack, zieht aus einem unteren Fach eine schwarze Folie, breitet sie auf dem Pferderücken aus.
»Was ist das?« Buch stoppt neben ihr, steigt ab und dehnt sich. Es knackt in seinem Rücken.
»Das Tablet und der Koffer brauchen Strom. Das ist eine Folie mit Solarzellen. Ich falte sie auf und stecke Koffer und Tablet an zwei Kabel. Dann esse ich etwas Fleisch, lasse das Pferd trinken und es geht weiter.« Buch schweigt. Maga schaut ihn aus den Augenwinkeln an. Still beißt er in eine Wurzel, legt zwei in die Hand und füttert Tausch. Ihr kommt der Gedanke, dass es besser gewesen wäre, Buch nicht mitzunehmen. Der Akku des Koffers meldet fünfzehn Prozent, das Tablet zehn Prozent Ladung. Sie hebt es über sich und macht mehrere Fotos vom zurückliegenden Weg, dann filtert sie. Sechs unförmige, dunkelrote Stellen sind am Taleingang zu sehen. Formen sind zu erahnen. Menschen auf Pferden. Maga stöpselt den Stecker ein und schneidet Fleisch ab.


»Die Nacht ist hell und hier oben auf dem Felsplateau lässt es sich gefahrlos reiten. Etwaige Risse oder Löcher erkennen wir an den Schatten. Wir reiten nebeneinander.«
»Was hat sich geändert?«
»Geändert hat sich, dass ich zwei Männer getötet habe und wir nun verfolgt werden.«
»Hat dir das dieses schwarze Ding gesagt?«
»Nein. Das schwarze Ding hat das Licht der Sonne aufgefangen und in Strom umgewandelt für Koffer und Tablet.«
»Ich weiß nicht, wo ich den Sinn darin finden kann«, sagt Buch und schließt parallel auf zu Maga.
»Tu mir einen Gefallen und konzentriere dich auf den Weg. Wir werden verfolgt. Es ist wichtig, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen. Wenn sie nichts mehr finden, sind wir vielleicht bald in Sicherheit. Wenn ein Pferd Mist hinterlässt, nehmen wir ihn in einem Beutel mit.«
»Wirklich?«
Maga seufzt. »Ja, das ist mein Ernst. Unser Leben hängt davon ab, was wir tun. Also musst du auf mich hören.«
»Woher weißt du, dass hinter uns Menschen sind?«
»Die Kamera hat es gezeigt. Sechs Menschen auf sechs Pferden.« Buch denkt an die Männer. Sieht die klaffenden Wunden. An die aus dem Nichts erscheinende Maga, schnell wie der Wind. Ein leiser Tod. Was hätte er tun sollen ohne sie? Vielleicht wäre er gestorben. Sechs Menschen. Sicher Männer. Auf sechs Pferden. Unruhe kriecht durch Buchs Unterleib. »Ich muss mal pinkeln«, sagt er, stoppt das Pferd und steigt ab.
»Pinkel den Hang hinab, damit es auseinanderläuft und bald verdunstet. Keinen See machen.«
»Mach ich nicht«, erwidert er und sieht Maga die Kamera hochhalten. Die Unruhe ist groß, zwickt und zerrt an ihm. Buch erleichtert sich, starrt hinauf zum Lichtband. »Können sie uns sehen?«
»Nein, das denke ich nicht. Sie haben sich getrennt. Drei auf der linken, drei auf der rechten Seite des Flusses. Schwierig ist es nur, abzuschätzen, wie wichtig ihnen diese beiden Männer waren und ob ihr Anführer etwas im Kopf hat.«
Buch steigt wieder auf Tausch. Der Rücken des Pferdes ist warm, das Leder riecht angenehm. Solange er hier sitzt, kann ihm nichts passieren, stellt er sich vor. Tausch wird aufpassen. Nein, wird er nicht, sagt Bestemurs Stimme in seinem Kopf. Ein Pferd ist nur ein Pferd.
»Komm! Wir müssen weiter.« Maga reitet an. Im Tal erkennt Buch einen See. Wie Metall, so glänzt er unter den Sternen. Keine Wolke ist am Himmel und auch kein Mond ist zu sehen. Dafür reicht das Lichtband von Südwesten bis nach Nordost, ist durchsetzt von grauen und ockerfarbenen Schleiern.
»Gut, dass Tausch seinem Freund vertraut, denn du könntest ihn nicht lenken, so wie du in den Himmel starrst. Im Dunkeln ist das sehr gefährlich.«
»Alles dort oben sieht aus, als wäre es schon immer da.«
Maga atmet hörbar durch die Nase aus. »Ich glaube, du hast eine romantische Ader.«
»Eine was?«
»Romantische Menschen fühlen Erhabenes, Großes, wenn sie besondere Dinge sehen oder mit ihnen in Kontakt kommen. Das passiert dir nicht. Du tust das nicht mit Gefühlen, nur mit Worten. Aber das ist nicht minder Schwärmerei.«
»Ich bin jemand zwischen zwei Welten. Einer alten, die nur in Büchern und deinen Erklärungen existiert und meiner kleinen Welt, mit ein paar Schafen, Pferden und Menschen, die von einem Tag zum anderen leben. Wo soll ich also hin?« Maga bringt ihr Pferd näher an Tausch, beugt sich zu Buch und legt die Hand in seinen Nacken. Langsam kraulen ihre Finger über die von der Nacht kühl gewordene Haut.
»Wo soll ich hin … diese Frage haben sich die meisten Menschen gestellt, egal zu welcher Zeit. Ich mir auch.« Sie löst sich von Buch und vergrößert den Abstand. Die Nacht wird empfindlich kalt und Buch legt bald die Decke um sich. Wenn er sich dreht, sieht er den Nordstern. Bald döst er ein und Tausch folgt einfach seinem Freund.

Der Tag ist jung und Wolken sind aufgezogen. In der Höhe muss es heftige Winde geben, der das helle Grau über Maga und Buch immer wieder zerreißt. Hier unten ist davon kaum etwas zu spüren. Maga steckt das Tablet in die Weste. »Das Pökelfleisch reicht noch für vier Tage. Die Wurzeln ebenso. Wasser gibt es genug, aber das Gras wird weniger. Wir müssen so schnell als möglich das Hochtal hinter uns bringen.«
»Kein Fisch?«
»Nein. Kein Fisch.« Maga deutet auf eine quer verlaufende Gipfelreihe, die das Tal im Süden begrenzt. »Von dort haben wir einen guten Überblick. Wir werden sehen, ob die Verfolger noch hinter uns sind. Das Gelände ist trittsicher. Wir reiten schneller!«
»Und wenn sie auch schneller reiten? An uns vorbei?« Maga macht eine Verlegenheitsgeste und treibt ihr Pferd an. Tausch folgt und bis Buch einen Rhythmus im Auf und Ab findet, vergeht eine gewisse Zeit. Dann jedoch grinst er, wundert sich bald und entdeckt ein starkes Kribbeln im Unterleib. Maga kann es nicht sehen. Sie ist ihm drei Pferde voraus und sehr konzentriert. Links und rechts wachsen Moose auf orangebraunen Steinen und größeren, flachen Brocken. Das gleichmäßige Klacken der Hufe ist weithin hörbar. Ob die Verfolger sie töten würden? Was würde Bestemur tun? Buch weiß die Antwort nicht. Er sieht Magas Rücken, einen kleinen See lassen sie rechts hinter sich. Auf seiner Westseite ist ein kleines Haus zu erkennen, dunkelbraun, umgeben von Steinen. Buch möchte schlafen, doch die Bewegungen Tauschs lassen das nicht zu. Er muss auf den Weg achten. Das Ende des Tals nicht aus den Augen lassen. Magas Rücken ist sein Nordstern.

Buch kann das Ende des Tales noch nicht erfassen, seine Erschöpfung ist zu groß, die Gedanken wie vom Wind weggefegt. Der Abend ist da und ein großer Berg ragt rechter Hand in die Wolken. Über seine linke Flanke geht es abwärts in eine Senke, neben der sich eine Steilwand erhebt, die von der rechten Seite erstiegen werden kann. Maga deutet auf diese Seite. »Dort werden wir eine Pause machen. Ich werde nachsehen, was hinter uns geschieht. Also hinauf!« Sie reitet vor und Buch folgt ihr ohne Widerworte. Eine Pause machen, etwas essen und trinken, die Pferde brauchen Wasser. Als sie den schmalen Grat erreichen, wird ihm klar, dass die Pferde dort nicht hinaufkönnen. Sie binden die Riemen um eine Felsnadel und sofort beginnen die Tiere, das Moos von den Steinen zu zupfen, lecken alles ab, als wäre jeder Brocken voller Salz.
»Gib ihnen Wasser. Ich klettere auf die Kuppe.« Buch nickt, sieht Maga mit der Kiste aufsteigen, versorgt Tausch und Magas Pferd mit Wasser und Wurzeln. Dann setzt er sich und spürt den Schlaf kommen. Nicht einmal die Kälte dringt zu ihm durch. Immer wieder driftet er in einen Traum, wacht auf, als er zu kippen droht, schaut sich um und es beginnt erneut. Ein stetes Wandern zwischen Traum und Nacht. Bis ihn ein Klaps auf den Hinterkopf in die Realität zurückholt.
»Niemand zu sehen von da oben, aber auf der anderen Seite ist ein kleiner See und eine Hütte. Rauch steigt auf. Lass uns nachsehen, ob wir dort eine Rast einlegen können.« Buch steht auf. Maga nimmt beide Riemen und führt die Pferde um den Grat herum. Er muss ihr nur folgen.


Die Tiere schnauben unüberhörbar. Flackerndes Licht hinter schmalen Ritzen. Die Hütte ist nur noch ein paar Pferdelängen entfernt. »Denk dran. Ich bin stumm«, erinnert Maga ihn. »Du musst reden. Erzähl nicht zu viel. Denk dir eine Geschichte aus, in die wir beide passen. Lass dich nicht auf sinnloses Gerede ein und wenn die Frage nach unserem Ziel aufkommt, sagst du Oslo.«
»Was ist Oslo?«
»Eine Stadt. Mehr weißt du nicht. Es geht ja nur ums Geschichten erzählen.« Buch nickt. Sie binden die Pferde an einen Eisenstab, der im Boden steckt. Eine große Mulde mit frischem Wasser ist dahinter. Über einen kleine Rinne kommt es aus einem höher gelegenen kleinen See. Es sieht aus, als wären Fische in dieser Mulde. Jemand fängt Fische und bewahrt sie darin auf. Den Pferden ist es egal. Sie trinken und eine Tür geht auf. Das Flackern des Feuers ist auf den Steinen vor der Hütte sichtbar, zusammen mit einem Schatten.
»Wer ist da?«
Buch tritt ins Licht. »Mein Name ist Buch. Das ist meine Schwester Bestemur. Ich bin Geschichtenerzähler und wir sind auf dem Weg nach Süden. Vielleicht dürfen wir uns hier etwas ausruhen?«
»Ich will euch besser sehen. Kommt ins Licht.« Buch nimmt Magas Hand, zieht sie zu sich und beide machen zwei Schritte ins Licht hinein. Die Wärme des Feuers ist deutlich zu spüren.
»Deine Schwester, was?«
»Ja.«
»Wieso sagt sie nichts?«
»Sie kann nicht sprechen. Schon seit ihrer Geburt nicht. Hat noch nie geredet.« Buch kann den Mann nur schwer erkennen im Halbdunkel. Sein Gesicht steckt hinter einem dichten Bart, dafür sind auf dem Kopf nur wenige Haare, die aber sehr lang. »Dürfen wir eintreten?«
»Geschichten erzählen, sagst du?«
»Ich bin ein guter Erzähler.«
»Na, meinetwegen. Kommt rein.« Er macht Platz, tritt rechts neben die Tür. Buch geht hinein, Maga folgt ihm. »Ist ziemlich groß, deine Schwester«, hört Buch.
»Ist ja auch älter als ich.«
»Setzt euch. Von dem Schnaps könnt ihr nehmen. Davon habe ich reichlich.«
»Danke.« Es ist nur ein Raum, die Esse in der Mitte, links ein Tisch. Gerade groß genug für drei Menschen. An der rechten und der hinteren Wand je zwei Strohmatratzen auf dem Boden. Säcke mit Torfballen dazwischen und es riecht nach gesalzenem Fisch. Buch und Maga nehmen Platz auf den Hockern, der Mann setzt sich ebenfalls. Sein Blick ruht auf Maga, die Augen zusammengekniffen, lässt er sie nicht aus den Augen. »Was für eine Geschichte soll ich erzählen?«
»Trinkt erst mal was.« Er schenkt ein und obwohl Buch ihn nun gut genug sehen kann, bleibt er doch wie ein leeres Papier. Als säße ihm gegenüber eine Hülle. Äußerlich ein Mensch, aber ohne Inhalt. Buch probiert den Schnaps und bekommt einen Hustenanfall. Der Kerl lacht. Maga lässt ihr Glas stehen.
»Wieso trinkt deine Schwester nichts?« Buch findet keine Worte und hustet in einem durch, räuspert sich. Beim Schlucken fühlt sein Hals sich an wie ein steiniger Weg. »Na, mir egal, ob sie trinkt oder nicht. Du erzählst jetzt was. Hauptsache eine Geschichte. Hier oben hört man nicht so viele Geschichten.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagt Buch und beginnt mit dem Mann namens Edige, der mit seiner Familie in einem kleinen Aul in der Steppe Kasachstans, unweit der Eisenbahnlinie lebt und die Gleise kontrollieren muss, Weichen gangbar halten, im Winter den Schnee räumen. Das Leben ist so einfach wie das von Buch und Bestemur, erklärt Buch. Eines Tages stirbt ein Arbeiter und Edige will ihn nach alter Sitte beerdigen. Die traurigen Menschen des Aul ziehen durch die Steppe zu einer Begräbnisstätte. Um sie herum aber passiert Seltsames. Raketen steigen in den Himmel, so viele und etwas Großes passiert, etwas, dass Welt und Himmel zerstören wird und alles mittendrin. Die trauernden Menschen verstehen es nicht und tun das, was ihre Traditionen ihnen sagen.
Buch blickt zu dem Mann, dessen Kopf bis kurz vor die Tischplatte gesunken ist. Er schnarcht. Maga stupst ihn mit dem Finger an. Nichts. Sie steht auf, zieht Buch mit hoch, deutet auf das unbenutzte Bett. Buch versteht und legt sich hin. Im Nu ist er eingeschlafen.


Das Feuer ist schwächer geworden. Die starke Hitze einer sanften Glut gewichen. Maga rüttelt an Buch, bis er ganz bei Sinnen ist. »Steh auf, bleib wach und pass auf. Ich werde jetzt ein wenig schlafen,« flüstert sie. Buch kommt mühsam hoch, setzt sich auf den Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Der Kopf des Mannes liegt auf dem Tisch. Er schnarcht. Maga zwinkert Buch zu, legt sich unter die Decke und schläft ein. An den Wänden tanzen Schatten langsam über Ritzen und aufgehängte Felle. Buch denkt an die Pferde. Ob sie wohl Fisch essen würden? Fisch macht satt und ist bestimmt gut für ein Pferd. Schließlich kann ein Mensch gut von Fisch leben, warum also nicht ein Pferd? Es hat wohl noch nie jemand versucht. Buch würde der erste Mensch sein, der ein Pferd mit Fisch füttert. Dann fällt dieser Gedanke in ein tiefes, dunkles Loch und er schläft ein.

Ein Krachen rüttelt an Buchs Bewusstsein, gefolgt von einer lauten Stimme. Eine Männerstimme. »Stirb«, schreit sie und erstirbt mit einem Winseln. Buch springt auf, den Rücken an der Wand. Etwas sticht in seine Hüfte. Kurz und heftig. Vor ihm krümmt sich der Mann, die Knie angezogen. Er zittert. Maga steht breitbeinig über ihm. »Sieh mich an!«
Sie spricht meine Sprache? Buch ist verwirrt. Der Mann schüttelt den Kopf. Ein jämmerliches Krächzen entkommt der Stelle im Bart, an der Buch den Mund vermutet. Maga sieht her. »Hol dir eine neue Hose aus dem Sack!« Ihre Stimme erinnert Buch an ein fernes Gewitter. Eine neue Hose? Warum? Er starrt an sich herunter, entdeckt nur noch Lumpen, Fetzen seiner Hose. Zerrissen oder zerschnitten. Nackt steht er auf dem Boden. »Zieh dir eine Hose an, Buch! Hast du gehört?«
»Ja«, entgegnet er ohne sich an die Frage erinnern zu können. Ich habe nichts an, ist ein greller Gedanke in seinem Kopf. Warum? Magas Hand wird ein schneller Schatten und ihr Messer fährt dem Mann in die Kehle. Zweimal. Die Atemluft entweicht der Wunde, das Blut wird zu einem See. Buch erinnert sich an die Hose. Als er einen Fuß nach vorne setzt, reißt etwas. Er schreit und kniet auf der Matratze.
»Da ist was in meinem Rücken!« Maga vergewissert sich, dass der Mann tot ist, macht zwei Schritte und steht hinter Buch.
»Ein Holzsplitter. Als du aufgesprungen bist, an der Wand entlang, hast du ihn dir ins Fleisch getrieben. Warte!«
Buch wartet. Er kann ihn spüren, den Splitter. Die Stelle wird immer kühler. Maga holt das Tablet, tippt darauf herum und ein Licht geht an. So hell, wie Buch noch keines gesehen hat. Aus einem Seitenfach der Kiste holt sie ein Werkzeug.
»Du bist sicher, dass du nur wenig Schmerzen spürst?« Er nickt. »Gut. Ich werde dir sagen, was ich tue und warum. Nichts von diesem Splitter darf in der Wunde bleiben. Ich werde jetzt das Messer waschen, über dem Feuer erhitzen, um es zu desinfizieren. Dann schneide ich entlang des Splitters, nehme ihn heraus und kontrolliere, ob restlos jedes Stück entfernt ist. Danach verschließe ich die Wunde.« Maga beugt den Kopf zu Buch. »Ich glaube, dass es weh tun wird, aber es ist lebenswichtig. Nichts darf drin bleiben. Verstanden?«
Buch schließt die Augen. »Verstanden.«
»Also, dann los. Leg dich auf den Bauch.«


Buch kann sich vorstellen, was Maga tut, denn es wird nicht anders sein, als das, was Tal mit einem verletzten Schaf getan hat oder Bestemur mit Pferd. Die Tiere haben jedoch mehr Schmerz empfunden. Für ihn ist es nur ein Ziehen und Kneifen. Deutlich fühlt er das warme Blut seine Hüfte herablaufen.
»Wenn es blutet, ist es gut«, erklärt Maga, »denn das bringt den Dreck raus. Ich werde jetzt ein paar Fotos machen und sie vergrößern. So kann ich genau sehen, ob noch etwas drinsteckt.«
Buch schweigt und sieht neben sich den toten Mann, die gebrochenen Augen. Was ist es, das einen solchen Körper am Leben hält? Ihn denken, reden und fühlen lässt? Und nur wenige Messerstiche löschen das alles aus. Er dreht den Kopf auf die andere Seite. Sehen kann Buch nichts, aber es fühlt sich an, als würde er mit dem Finger in der Nase bohren. Stumpfes Drücken, mehr ist da nicht.
»Ich habe genug herausgeschnitten und bin mir sicher, dass nichts mehr drinsteckt. Jetzt werde ich Jod in die Wunde träufeln.«
»Was ist Jod?«
»Eine dunkelbraune Flüssigkeit, die deine Wunde säubert. Aber ich muss dich warnen. Es könnte mehr weh tun, als du gewohnt bist.«
»Verstanden.«
Es knirscht. Buch spürt eine eiskalte Flüssigkeit. Mit ihr kommt brennender Schmerz. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Er beißt in die rechte, schreit die Faust an, beißt fester und spürt Tränen kommen. Buch weint. Wie kann es nur einen so tiefen und endgültigen Schmerz geben? Er endet langsam wie die Nacht, verklingt im Körper, in Buchs Bewusstsein. Maga holt ein anderes Werkzeug und es piekt ein paar Mal. »Ich hefte die Wunde zu.«
Buch ist egal, was sie gerade macht. Hauptsache dieser Schmerz verschwindet. Und die Tränen. Dann legt sie ein weißes Tuch über die Wunde und sich neben Buch, deckt sie beide zu und streicht die Tränen aus seinem Gesicht. »Du weinst. So heftig war der Schmerz?«
»Ich wusste nicht, dass es so große Schmerzen geben kann.«
»Tut mir leid. Es gibt noch wesentlich stärkere.«
»Ich bin froh, dass ich nur einen kleinen Teil davon empfinde.«
»Ja …« Maga atmet tief durch und schließt die Augen.
»Maga … was ist passiert? Was hat der Mann getan?«
Sie zieht die Unterlippe ein, schnalzt mit der Zunge. Buch weiß, dass die Menschen so etwas machen, wenn sie nach Worten suchen, etwas nicht erklären können oder die Erklärung sehr schwer fällt. Er wartet.
»Du hast dem Dreckskerl gefallen, nehme ich an. Schließlich bist du ein hübscher, junger Mann. Und du bist eingenickt, also hat er gedacht, er könnte dir an …« Maga schweigt.
»An was?«
»An das zwischen deinen Beinen. Deinen Penis. Mit was du pinkelst.«
»Oh … das heißt Penis?«
Sie lächelt. »Ja, so nennt man das Körperteil. Hat dir nie jemand etwas darüber erzählt? Dass Frauen es nicht haben? Und wie das alles so funktioniert?«
»Erzählt? Nein, aber bei den Schafen oder Pferden habe ich es schon gesehen. Es hat nie lange gedauert und bald darauf wuchs ein Lamm oder ein Fohlen. Etwa so wie trinken und auf Klo gehen.« Maga seufzt und schüttelt den Kopf.
»Wir werden das jetzt nicht klären können, denn wir müssen weiter. So leid es mir tut, aber das alles hätte nicht passieren dürfen. Den Toten können wir nicht vergraben. Zu steinig. Alles verbrennen geht auch nicht, das würde man kilometerweit sehen. Also lassen wir alles, wie es ist und hoffen, dass unsere Verfolger wirklich aufgegeben haben.«
»Ich schaff das schon.«
Maga zieht ihn zu sich. Er nimmt zum ersten Mal ihren Geruch wahr, der ihn an Salz erinnert.

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