Buch | Kapitel 4

Heute

Buch sitzt auf einem grauen Felsen am Fjord und liest die Geschichte eines Frederic Henry, mitten in einem Krieg zwischen Ländern, die Österreich und Italien genannt werden. Neben Buch liegt ein Atlas. Darin hat er Österreich und Italien entdeckt. Frederic, auf italienischer Seite, muss täglich verletzte Soldaten in ein Lazarett bringen. Dort werden Menschen geheilt, wie Kraut es tut. Bald trifft er eine Frau, die Catherine Barkley heißt und beide verlieben sich ineinander. Buch hatte vor zwei Tagen Kraut gefragt, ob sie ihm etwas über das Verlieben erzählen könnte. Kraut hatte nur gelacht und es auf irgendwann mal verschoben. Also suchte er Tausch auf, der begann zu stottern, fing dann an zu weinen und abends legte er auf Bestemurs Grab ein abgeschnittenes Bündel seiner wilden Haarpracht. Verliebtsein ist nicht einfach zu erklären, denkt Buch, legt die zerfledderten Seiten auf den Atlas und starrt hinüber zur rechten Fjordseite. Nichts bewegt sich. Weder die Luft, noch das Wasser. Es ist wie ein Spiegel. Aber verlieben muss sehr schön sein, stellt er sich vor. Immer, wenn in den Büchern etwas vom Verliebtsein erzählt wird, freuen sich die Menschen, sind gut gelaunt und möchten, dass es nie wieder aufhört. Oder die Worte erzählen von großem Unglück und schlimmen Gedanken. Manchmal kommt ein Kind dabei heraus. Hier in der Stadt gibt es nicht viele Kinder. Das Verlieben fällt den Menschen sichtlich schwer am Fjord. Wir werden immer weniger, hatte Kraut berichtet, als Buch sie nach der Liebe zwischen den Menschen gefragt hatte. Liebe ist selten wie ein guter Fischfang, das war ihr letzter Satz dazu. Aber wie verliebt man sich? Was braucht es dazu? Jemanden wie Catherine Barkley! Eine Frau also! Buch ist ein junger Mann. Also kann er sich nur in eine junge Frau verlieben. In einem anderen Roman hatte er einmal gelesen, dass ein Mann sich auch in einen anderen Mann verlieben kann und eine Frau ebenfalls in eine Frau. Buch ist verwirrt und schiebt die Gedanken auf Seite. Schwere Schritte nähern sich, ein Ächzen, Er sieht auf. Es ist Fisch, der kaum hinter seinem großen Netz etwas vom Weg sehen kann. Mit einem Ruck wirft er es neben Buch auf den Fels, knapp am Atlas vorbei.
»Guten Morgen, Buch«, sagt Fisch und drückt beide Hände in den Rücken. »Wir werden alle alt«, stellt er fest. »Du aber nicht, wie es scheint. Du siehst aus wie immer.«
»Ich bin schon siebzehn«, sagt Buch. »Das ist ziemlich alt.«
»Tja …«, Fisch zuckt mit den Schultern. »Ich frage mich, woher du wissen willst, wie alt du bist? Ich habe keine Ahnung, wie alt ich bin.«
»Weil ich die Tage aufschreibe, deshalb.«
Fisch zieht die Knochennadel aus der Tasche und kratzt sich am Kopf. »Ja, ich vergaß. Du kannst ja rechnen und schreiben …«
»Und lesen.«
»Klar, und lesen. Eines Tages werde ich das auch noch lernen. Aber erst muss ich das Netz reparieren. Zwei große Löcher verderben mir andauernd den Fang.«
»Ich helfe dir«, sagt Buch, klappt den Atlas zu, steckt ihn zusammen mit Frederic Henry in die Ledertasche und hilft Fisch, das Netz auf dem Fels auszubreiten.

Das Wasser auf dem Fjord kräuselt sich. Durchs Tal kommt ein warmer Wind. Buchs Haare wirbeln vor seinem Gesicht. »Die Löcher sind nicht groß«, stellt er fest. Fisch knurrt Unverständliches.
»Die Fische finden sie immer.« Er versucht das Garn durch die Öse zu stecken, hält die Knochennadel gegen den Himmel, trifft zweimal daneben, die Zunge fährt zwischen seinen Lippen hin und her. Er stöhnt. »Ein schlimmer Wind auf einmal«, jammert Fisch.
»Lass mich mal«, schlägt Buch vor, nimmt Garn und Nadel an sich. Er zielt und trifft auf Anhieb. »Und jetzt?«
»Moment.« Fisch gibt der Rolle auf dem Boden einen Tritt. Drei oder vier doppelte Armlängen wickeln sich ab. Die Rolle stößt an eine Felskante. Fisch schneidet das Garn ab, verzwirbelt das Ende.
»Da kommt was«, sagt Buch. Fisch streicht Tran aufs Garn, dreht sich zu Buch.
»Wo kommt was?«
»Da hinten, wo der Fjord um die Ecke verschwindet.« Lange schaut Fisch in die Richtung, in die Buchs Finger zeigt. Er verflucht im Stillen seine schlechter werdenden Augen.
»Was ist es denn?«
»Ein Boot. Zwei Segel.«
»Zwei Segel? Eines mit vier Ecken, das vordere mit drei Ecken?«
»Nein.« Buch schüttelt den Kopf. »Zwei Segel mit drei Ecken an zwei Masten.«
»Was siehst du noch?«
»Jemand steht am Ruder. Aber ich weiß nicht wer.«
»Vielleicht kehrt Boot endlich zurück.« Buch erinnert sich an Bestemurs Erklärung, warum niemand mehr das Schiff zerlegen konnte.
»Boot? Der vor langer Zeit einen neuen Eisen finden wollte?« Fischs Atmen hört sich an wie das Ablassen einer Ankerkette. »Die Segel gehen nach unten«, erklärt Buch. Fisch blinzelt, kneift die Augen zusammen und drückt den Oberkörper vor. Stück für Stück schält sich aus dem verwaschenen Bild die Form des Bootes und sich bewegende Ruder zu beiden Seiten.
»Klar, sie können hier im Fjord nicht kreuzen, also müssen sie rudern. Ich sehe drei Ruderpaare und das Boot ist breit. Mindestens sechs Ruderer plus Steuermann …« Fisch klopft auf Buchs Hinterkopf. »Geh! Hol Tausch und Kraut! Sag ihnen, ein großes Boot kommt! Sie sollen sich beeilen!«
»Mach ich!«
Buch rennt los und Fisch schüttelt den Kopf. Seit zahllosen Hellmonden hat er kein derartiges Boot mit so vielen Menschen gesehen. Er greift nach dem Fanghaken.

Der Mensch am Steuer versteht etwas von dem, was er tut. Mit Schwung geht das Boot in die Kehre. Ein paar laut gerufene Worte und die Ruder werden eingeholt, längs festgemacht. Mit dem Körper legt er sich gegen das Rudergestänge und das Boot treibt langsamer werdend auf den Steg zu.
»Alle Achtung«, sagt Fisch.
»Wir werden sehen«, erwidert Kraut und wirft einen Blick zu Tausch, der eine Eisenstange hinter dem Rücken versteckt hält. Ein Mann springt über die Reling auf den Steg, läuft mit dem treibenden Boot, fängt ein Tau auf, wickelt es zweimal um den Poller, dann stemmt er sich mit beiden Füßen gegen die Zugrichtung. Ein zweiter Mann kommt ihm zu Hilfe. Schließlich ziehen die anderen das Boot mit Haken an den Steg, gehen von Bord, vertäuen alles. Buch wartet abseits, wie Kraut es ihm aufgetragen hatte. Das hier wäre was für die Alten, so ihre Worte. Er hat nicht widersprochen, denkt aber, dass die Möglichkeit bestünde, an Bord Bücher und Geschichten zu entdecken. Schließlich kommen diese Menschen mit einem großen Boot von irgendwo aus einem bestimmten Grund in diesen Fjord. So oft passiert das nicht, sonst wüsste Buch es. Im Gegensatz zu Fischs Augen, erkennen seine alles. Auch dass der Steuermann gar kein Steuermann ist, sondern eine Steuerfrau. Bestimmt eine Frau wie Bestemur, auf die alle hören, die von allen respektiert wird. Sie springt mit einer Grätsche über die Reling auf den Steg und läuft zielstrebig auf Kraut zu. Die sechs Männer bleiben beim Boot. Kraut geht zwei Schritte vor. Die Steuerfrau ist fast so groß wie Tausch. Buch sieht zum ersten mal eine so große Frau. Und ihre Hand streckt sich Kraut entgegen.
»Ich grüße euch hier in Åndalsnes. Mein Name ist Johanna.« Kraut greift zu. Beide schütteln die Hände. Ein kurzer Arm im dreckigen Ledergewand und ein langer Arm in etwas, das Hose und Weste in einem ist. Buch stockt der Atem. Was hat die Steuerfrau gesagt? Johanna? Ein Name aus einem seiner Bücher. Er kommt mit dem Denken nicht hinterher. Sie heißt nicht, wie das, was sie tut oder woher sie kommt. Nicht Meer oder Steuer, nein, sie heißt, wie Menschen sich früher nannten, die Menschen in den Büchern.
»Ich bin Kraut. Die Heilerin in dieser kleinen Gemeinschaft.«
Johanna, die Steuerfrau, nickt und lächelt. Kraut deutet mit dem Daumen hinter und neben sich.
»Der Große da ist Tausch, und der Alte mit den schlechten Augen ist Fisch.«
»Sehr erfreut«, sagt Johanna und nickt auf die Seite. »Diese Männer sind meine Mannschaft. Und an Bord habe ich noch eine kranke Frau. In einem Dorf weiter im Norden wurde mir berichtet, dass es in dieser Stadt eine Heilerin gäbe mit weitreichenden Kenntnissen. Vielleicht würde Sie sich diese Frau einmal anschauen. Sie fiebert.«
Kraut sagt nichts für einen kurzen Moment. Dann nickt sie. »Buch! Geh zu mir, hol die drei Taschen hinter der Tür und den Lederbeutel auf dem kleinen Tisch und komm wieder her!«
»Mach ich!« Buch rennt los und Tausch dreht mit zwei Fingern die Eisenstange in der Hand.
»Gehört die kranke Frau zu ihrer Mannschaft?«
»Nein«, entgegnet Johanna. »Wir haben sie auf den Resten ihres Schiffes gefunden. In einer Art Boot, das sich zwischen den Trümmern verheddert hatte. Wir wissen nicht, woher sie kommt oder wie sie heißt, aber das, was sie in diesem Boot bei sich führte, ist möglicherweise für irgendjemand sehr wichtig.«
Kraut zieht die Kapuze vom Kopf, ihre Haare fallen nach allen Richtungen. Sie legt die Stirn in Falten und denkt an Bestemurs Worte, die vor vielen Jahren, als Buch noch ein kleines Kind war, sagte, dass eines Tages etwas geschehen wird. Etwas, dass Buch aus dieser kleinen Gemeinschaft hinaus in die Welt trüge. Denn nur dann ergäbe all das Geschehene einen Sinn. Kraut atmet tief ein und aus.
»Dann zeig mir mal die kranke Frau.«

Buch will unbedingt auf das Boot, aber beim Anblick der Männer löst der Wunsch sich schnell auf. Er trottet hinter Tausch her, der die kranke Frau auf den Armen in das große Haus trägt, in dem Kraut lebt. Tausch ist das Gewicht nicht anzumerken. Vor ihm laufen Johanna und Kraut einträchtig nebeneinander, als würden sie sich seit vielen Hellmonden kennen. Buch wechselt von links nach rechts, versucht so viel wie möglich von ihrem Gespräch aufzuschnappen. Etwas zu fragen traut er sich nicht. Tausch summt ein Lied. Die kranke Frau ist kaum zu erkennen, eingewickelt in Felle und mit einer Wollmütze auf dem Kopf.
»Wie viele Menschen leben hier?«
Buch gefällt Johannas Stimme. Weich wie ein Lammfell.
»Wir sind 31. Im letzten Jahr sind einige leider von uns gegangen und es kommen nicht gerade viele Kinder zur Welt. Es wird also nicht mehr lange dauern, bis der Fjord ödes Land ist.«
»Es ist wie überall«, sagt Johanna. »Auch wir haben damit zu kämpfen.«
»Dann kommen Sie viel herum?«
»Ja, entlang der Küste. Wir tauschen. Nach Norden bringen wir, was man aus Metall fürs Leben herstellen kann und auf dem Heimweg nehmen wir Fleisch und Felle mit.«
»Heimweg«, sagt Kraut betont. »Wo ist denn ihr Heim?«
»Stavanger. Waren Sie schon einmal dort?«
Kraut nickt. »Einmal als junge Frau. Dort habe ich bei einer Alten die Heilkunst gelernt. Dann bin ich zurück nach Åndalsnes. Und hier werde ich sterben.«
»Es ist gut, einen Ort zu haben, an dem man sterben möchte«, meint Johanna. Danach ist es still. Buch stolpert, fällt beinahe vor Johannas Füße. Sie lächelt ihn an.
»Wer ist der Junge?«
Sie kann mich ja fragen, denkt Buch. Bin ich niemand?
»Ein Findelkind. Im Osten gibt es einen Pass ins Landesinnere. Dort hat ihn jemand gefunden und aufgezogen. Ihm alles beigebracht, was sie wusste. Lesen, schreiben, rechnen. Er weiß mehr als wir alle zusammen. Und er kann sich einfach alles merken.« Johanna nickt anerkennend und lächelt immer noch.
»Einfach alles?«
»Einfach alles«, bestätigt Kraut.
»Und wie heißt er?«
»Buch.«
»Buch?« Johanna lacht. »Buch! Das ist mal ein sinnvoller Name.«
»Er heißt so, weil er das am besten kann.«
»Was?«
»Geschichten erzählen aus alten Büchern.« Johanna streckt die Hand aus und Buch läuft an Krauts linke Seite.
»Einen wie ihn könnte ich brauchen«, erklärt Johanna. »Für den Kompass, die Küstenlinie, unsere Tauschgeschäfte, einfach für alles.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagt Kraut und dreht sich zu Tausch. »Aber wir geben ihn nicht her. Seine Geschichten sind wie ein heller Tag für uns alle.«
»Überhaupt nicht geben wir ihn her«, bekräftigt Tausch. Die Frau auf seinen Armen stöhnt, blinzelt und entdeckt Tauschs enormen Bart. Tausch knurrt.

Das Feuer in der Esse springt fast über die Steinbegrenzung, so intensiv brennt es. Niemand im Raum ist ohne Schweiß auf Stirn und Nacken. Kraut hat Tausch nach Hause geschickt. Buch bringt sauberes Wasser in einer Schale. Die Frau ist nackt und Krauts Finger tasten sie ab, drücken den Bauch an vielen Stellen, klopfen auf die Brust, den Rücken, Krauts Ohr auf der Haut. Sie mustert die Zunge, die Mundhöhle, Ohren. Noch nie hat Buch gesehen, dass Kraut so gründlich ist. Am Ende legt sie zwei Finger an den Hals, dann an das Handgelenk der Frau, ist zufrieden und deckt sie mit zwei Wolldecken zu.
»Und? Was meinen Sie?«
»Ich sage, sie ist sehr erschöpft. Sehr tief erschöpft. Nicht nur hier drin«, Kraut legt die Hand auf ihre Brust. »Auch im Kopf. Dann kommen die Krankheiten. Türen und Fenster sind offen. Das Unheil kommt herein.«
Johanna dreht den Becher mit Kräuterschnaps. »Sie meinen, Ruhe und kräftige Brühe bringen das wieder in Ordnung?«
»Das meine ich.«
Johanna trinkt in einem Zug aus. »Wie lange?«
»Sieben Tage.«
»Gut.«
»Das im Kopf wird aber nicht in sieben Tagen geheilt sein«, fährt Kraut fort. »Ihre Augen wandern bei geschlossenen Lidern hin und her, die Lippen bewegen sich. Ihre Träume sind voller Ängste. Diese Heilung braucht länger.«
»Ich möchte nur wissen, woher sie kommt, wo ihr Ziel liegt und was in der Metallkiste ist. Sehen Sie sie an. Niemand hier, in Bergen, Stavanger oder Trondheim hat solche Kleidung.«
»Nein, solche Kleidung habe ich noch nicht gesehen, das stimmt. Aber sie ist ein Mensch wie Sie und ich. Und so wie wir auch, möchte sie gesund werden. Das geht nur mit Ruhe.«
»Aber ja, sieben Tage. Dürfen meine Männer und ich hierbleiben?«
»Natürlich. Wenn Sie noch Metalltöpfe haben, schlage ich einen Handel vor. Kräutertee, Schnaps und Elixier gegen Wundbrand kann ich anbieten. Oder Sie suchen Tausch auf, der hat sicher etwas, was Sie interessieren könnte.«
»Geben Sie mir den jungen Mann mit. Er kann drei Töpfe haben. Wenn Sie ihnen gefallen, überlasse ich sie Ihnen für die Gesundung der Frau.«
Kraut blickt zu Buch. In seinen Augen ist Feuer. Sie seufzt. »Du kannst mitgehen. Aber komm sofort zurück. Du musst mir hier zur Hand gehen.«
»Mach ich.«

Auf dem Weg zum Boot begegnen sie nur Wenigen. Da ist die alte Tuch auf der Brücke. Tausch steht vor seinem Haus und stellt zwei Fässer aufeinander. Buch kann das Kribbeln in seinem Bauch nur schwer deuten. Woher kommt es? Kann es eine Krankheit sein? Wäre nur Bestemur noch da. Sie würde ihm den Weg durch all die Gedanken weisen, die auf ihn einstürmen.
»Für einen Geschichtenerzähler bist du recht schweigsam, Junge.«
Buch schaut zu Johanna auf.
»Möchten Sie eine Geschichte hören?«
»Nein, gerade nicht. Ich frage mich aber, was ein Junge wie du an diesem einsamen Ort tut? Wo ich herkomme, könntest du ein gutes Leben führen.«
»Aber mein Leben ist doch gut.«
Johanna lacht. »Natürlich, weil du nichts anderes kennst.«
»Das macht keinen Sinn. Wenn ich ein anderes Leben kennenlerne als das, was ich hier habe, bedeutet es nicht, dass es besser ist, nur weil es sich von diesem hier unterscheidet. Es bedeutet nur, dass es anders ist.«
»Das sagen immer die, die nichts anderes kennen, als ihre eigene kleine Welt. Ich aber sage dir, du wirst hier verkümmern.«
Buch kräuselt die Stirn. »Verkümmern?« Johanna ignoriert die Frage, räuspert sich und sucht den Himmel nach etwas ab, das Buch nicht entdecken kann. Vielleicht das Wetter?
»Ich biete dir an, dich mitzunehmen nach Stavanger. Es ist eine große Stadt. Über zweitausend Menschen leben dort. Und ich bin in einer Position, die es mir erlaubt, dich gut leben zu lassen.« Johanna streicht über Buchs Haare. »Glaub mir, mein Junge, es wird dir gefallen.«
Buch schüttelt die Hand ab. Das Kribbeln im Bauch verschwindet nicht. Ganz im Gegenteil. Er kratzt sich an der Stelle, will endlich am Boot ankommen, um Kraut die drei Töpfe bringen zu können – und will unbedingt zu dieser Frau, die ein Geheimnis mit sich trägt.
»Ich will bei Bestemur bleiben«, sagt Buch entschlossen.
»Wer ist Bestemur?«
»Sie hat mich gefunden.«
Der Steg taucht hinter der Felsenerhebung auf, von den Männern ist nichts zu sehen.
»Vielleicht kann sie ja mitgehen. Offenbar ist sie eine sehr schlaue Frau.«
»Sie ist tot.« Buch spürt Johannas Blick auf sich. Er starrt fest geradeaus. Eine Reise auf diesem Boot ist verlockend und gleichzeitig Buchs Qual. »Ich möchte nicht. Eine Reise macht nur Sinn, wenn man sie freiwillig tut«, lässt er Johanna wissen und ist zufrieden mit dieser Antwort. Bestemur hätte es genau so gesagt. Auf dem Deck wird einer der Männer sichtbar. Er winkt. Johanna hebt die Hand.


Johannas Ankunft hat viel Aufregung in die kleine Gemeinschaft gebracht. Messer, Töpfe, Pfannen, Schaufeln, Spaten, Hacken, alles Mögliche liegt auf dem Steg und Tausch trägt heran, was er aufbieten kann. Johanna lässt zwei Fässer Tran an Bord schaffen, drei Rückengestelle voller Felle, Knochenmehl für Seifen, ein Fass vom guten Wurzelschnaps, Pökelfleisch für einen ganzen Winter. Johanna hat Kraut gegenüber deutlich gemacht, dass sie jedes Jahr zwei Mal kommen möchte, um zu handeln. Vielleicht spricht sich herum, dass das Leben hier gut sein kann und aus der kleinen Gemeinschaft könnte in Bälde etwas viel Größeres heranwachsen. Es ist der fünfte Tag nach Ankunft des Bootes und die unbekannte Frau sitzt auf Krauts Bett mit überkreuzten Beinen, trinkt Brühe und beobachtet.
»Sie ist ohne Zweifel wieder völlig gesund«, stellt Kraut fest. »Aber …« Schweigen folgt, das in Kopfschütteln übergeht. Buch gibt der Frau eine Schale mit Wasser, nimmt ihr die Brühe ab und lächelt in einem durch. Er kann sich nicht erinnern, freundlichere Augen gesehen zu haben in seinem kurzen Leben.
»Sie hat so warme Augen«, sagt er, trinkt den Rest der Brühe, stellt die Schale auf den Tisch und mustert jede Linie in ihrem Gesicht.
»Warme Augen? Was soll das sein?«
»Bestemurs Augen waren hart wie Eisen«, beginnt er. »Tals Augen wie die seiner Schafe und bei Berg konnte ich nie was entdecken. Aber hier sehe ich eine warme Wiese voller Blumen im frühen Jahr, die Sonne über uns, ein Lachen und es glänzt.«
Kraut rülpst. »Ich frage mich, ob du nicht schon zu viele Bücher gelesen hast.«
»Aber nein! Wie könnte man denn zu viele Bücher lesen?« Die Frau setzt die Schale ab und sagt einen ganzen Satz. Kraut kratzt sich den Kopf und Buch erstarrt. »Was hat sie gesagt?«
»Keine Ahnung, mein Junge. Vielleicht redet sie rückwärts.«
»Rückwärts? Davon steht aber nichts in den Büchern.«
»Die Bücher …«, seufzt Kraut. »Jedenfalls ist sie wieder gesund und ich nehme an, Johanna will das wissen. Also geh zu ihr. Vielleicht kann sie ja mal das Handeln vergessen und sich hierher bemühen. Ist schließlich meine Zeit, die ich dafür vergeude.«
»Die Frau soll bei uns bleiben«, sagt Buch und steht auf.
»Warum sollte sie das tun? Niemand weiß, woher sie kommt oder wohin sie unterwegs ist, vielleicht nicht mal sie selbst. Wir können sie ja nicht mal verstehen!«
»Dann lernen wir es eben!« Kraut stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch, hat die Frau im Blick, die abwechselnd von Buch zu ihr schaut und vielleicht doch mehr versteht, als sie zeigen möchte. Kraut schüttelt den Kopf und geht zur Tür. »Ich hole Torfballen. Danach gehe ich zu Tausch. Wir werden eine Versammlung einberufen.« Buch ballt die Faust.
»Fist«, sagt die Frau und macht ebenfalls eine Faust.
Buch zögert. Dann wiederholt er das Wort. »Fist. ‚Fist‘ ist Faust?« Er holt ein Buch, schlägt am Ende die leeren Seiten auf und schreibt ‚Faust‘ aufs Papier. Die Frau streckt ihre rechte Hand aus, Buch legt den Kohlestift hinein. Sie schreibt ‚Fist‘. Und ‚My name is Maga‘. Buch stutzt.
»Diese Worte kann ich ja beinahe lesen«, flüstert er und streicht mit dem Finger über das, was da steht, bleibt dann auf ‚My‘ hängen.
»Mai«, sagt die Frau und zeigt auf sich selbst. »My name is Maga. And your name?«
Wenn sie My sagt und auf sich zeigt, muss das ‚Mein‘ heißen und ‚name‘ ist wie ‚Name‘ und ‚is‘ wie ‚ist‘. Er hebt das Buch hoch.
»Book«, sagt die Frau, die Maga heißt. »Book«, wiederholt Buch. Das macht Sinn, denkt er. Ähnliche Worte. Aus den Wortbildern in seinem Kopf formt er einen Satz.
»My name is book.« Die Frau, die Maga heißt, zieht beide Mundwinkel nach oben, reibt sich die Nase. Sie muss niesen.
»Sorry! So your name is book? That’s funny! Why?« Buch grinst. Er weiß, was sie gesagt hat. Wie kann jemand Buch heißen? Wie kann überhaupt jemand wie ein Ding heißen? Wo doch alle Menschen in den Büchern viel bessere und schönere Namen haben. Das ist toll, denkt er, sieht Maga lachen. Kraut kommt herein, in beiden Händen Torfballen. Sie bleibt stehen, lässt sie fallen.
»Was ist denn hier los?«


Tauschs linke Hand verschwindet zur Hälfte im Bart. Aus seinem Vorrat hat er der Frau, die Maga heißt, Hosen, Wollsocken, Lederschuhe und einen Pullover samt Weste mitgebracht. Sie sitzt am Tisch neben Buch und Kraut. Der alte Brot und Fisch gegenüber.
»Kratz den Dreck auf den Boden, nicht auf den Tisch«, weist Kraut ihn zurecht, trinkt das Glas Wurzelschnaps auf einen Zug leer und will rülpsen. Mit Blick auf Maga lässt sie es bleiben. »Ich will wissen, was ihr denkt. Morgen sind die sieben Tage vorbei und Johanna wird ablegen. Natürlich mit Maga. Das hat sie gesagt. Doch Buch, der – durch welches Wunder auch immer – diese seltsame Sprache schon ein Stück weit versteht, sagt, sie wolle hier bei uns bleiben.« Kraut lässt die Worte wirken, ist sich aber nicht sicher, ob sie allzu tief in die Schädel der drei Männer eingedrungen sind. »Habt ihr verstanden, was ich gesagt habe?«
»Natürlich«, sagt Buch und lächelt Maga an. Kraut verdreht die Augen. Tausch bohrt in der Nase.
»Warum soll sie nicht hierbleiben können?«, wirft er ein und gibt Fisch einen Tritt. »Sag du auch was.«
»Kann hierbleiben. Wir sind nicht mehr viel.«
»Bin auch dafür«, erklärt Brot. »Vielleicht kann ich ihr das Brotbacken beibringen. Meine Finger schmerzen jeden Tag mehr.«
Kraut ist weit vornüber gebeugt, als würde sie den Tisch küssen wollen. Sie atmet hörbar. »Auch ich habe nichts dagegen. Aber, und da muss man nicht lange raten, diese Johanna wird etwas dagegen haben. Mein kleiner Finger zuckt. Das bedeutet, ein Sturm zieht auf.« Tausch drückt ein Auge zu.
»Was denn für ein Sturm?«
»Ärger«, sagt Kraut. »Diese Johanna bedeutet Ärger. Sie ist wie ein Lamm, wenn der Handel läuft. Tut er das nicht … na, denk mal an die Hunde, die vor ein paar Hellmonden die Gegend unsicher gemacht haben.«
Tausch grummelt. »Diese Hunde haben wir alle zu Pökelfleisch verarbeitet.«
»Ach, Tausch«, seufzt Kraut. »Johanna und ihre Mannschaft sind aber keine dummen Hunde.« Fisch klopft mit den Knöcheln auf die Tischplatte.
»Warum will Johanna diese Frau mitnehmen? Ist sie etwa ihr Eigentum?«
»Eigentum?«, fragt Buch. »Warum sollte jemand eines anderen Eigentum sein?«
»Ja, eben«, bekräftigt Fisch. »Warum?«
»Ich verwette meinen Schnaps, dass es um diese Metallkiste geht, die Johanna erwähnt hat und die verschlossen ist. Dort drin vermutet sie sicher ein wertvolles Ding. Sie ist Händlerin und hat betont, eine hohe Position in Stavanger zu haben. Sie weiß also, was sie will. Ich war in Stavanger. Solche Menschen darf man nicht unterschätzen.«
»Dann soll sie diese Kiste eben behalten«, schlägt Tausch vor. »Wir brauchen hier keine Kiste. Wir haben alles.«
»Genau«, pflichten Brot und Fisch einstimmig bei. Kraut schenkt sich ein, trinkt leer und schaut ins Glas.
»Das Problem ist wohl, sie bekommt diese Kiste nicht auf ohne Maga. Also muss Maga erst die Kiste öffnen, dann wird Johanna nichts dagegen haben, wenn sie hier bleibt.«
»Eisen hätte diese Kiste sicher geöffnet«, mutmaßt Fisch. »Aber Eisen ist lange fort.«
»Ich bekomme jede Kiste auf«, ist sich Tausch sicher.
»Vielleicht hat Johanna es schon versucht«, wendet Buch ein. »Sie hat sechs Männer und bestimmt gutes Werkzeug. Eine Kiste, die so gut gemacht ist, dass wir sie nicht öffnen können, muss sehr wertvoll sein.«
Alle schauen Buch an. Er kann an den Gesichtern erkennen, wie die Gedanken in ihren Köpfen miteinander ringen. Schließlich holt Kraut tief Luft. »Wertvoll hin oder her. Wir brauchen sie nicht. Maga soll die Kiste öffnen, dann wird Johanna gehen und das war’s.«
»Das macht Sinn«, sagt Buch. Maga streicht über seine Haare. Kraut schaut ihr in die Augen. Ein warmer Blick. Buch hat recht. Das macht Sinn. Mit Maga hat etwas Helles Krauts Haus betreten. Sie kann es förmlich sehen. Das alles macht mehr als nur Sinn.
»Buch! Morgen früh gehst du zu Johanna und bittest sie, hierher zu kommen. Sag ihr, wir hätten einen Vorschlag zu machen.«
»Natürlich.«
»Und jetzt setz dich hin und versuch so viele Wörter wie möglich zu lernen. Ich will Magas Geschichte hören. Und wenn es die ganze Nacht dauert!«
Buch schaut zu Maga. Er ahnt, dass sie weiß, um was es geht. Ihre Kiste.

In Buchs Kopf findet sich in dieser Nacht keine Müdigkeit. Der Morgen zeichnet erste hellblaue Streifen an den Horizont. Buch musste etwas Wasser loswerden, betritt Krauts Küche und wäscht sich die Hände. Dann geht es weiter mit dem Lernen der fremden Sprache. Maga nimmt sich Gegenstand auf Gegenstand, sagt den Namen dazu. Sie hat registriert, dass er – einmal laut und klar ausgesprochen – in Buchs Kopf zusammen mit einem Bild des Gegenstands fest hineingeschrieben ist. Samt der Aussprache.
»I am Maga.«
»You are Maga. I am Book.«
»You are Book.«
»Table«, sagt Maga, auf den Tisch deutend.
»Tisch«, wiederholt Buch. Dabei sieht er zu Kraut, die – an die Wand gelehnt – auf ihrem Bett sitzt und döst. Hin und wieder beginnt sie zu schnarchen.
»Kraut is snoring.«
»Kraut schnarcht.«
Maga und Buch lachen. Kraut räuspert sich, öffnet kurz die Augen und legt sich hin. Die Torfballen glühen in dunklem Rot. Maga steht auf und geht zur Tür, kehrt um und wiederholt es.
»Maga is going to the door.«
»Door … das klingt wie Tür. Und du gehst. Maga geht zur Tür.« Buch steht auf und geht zur Tür. »Book is going to the door.«
Maga folgt ihm. »I have to go to the boat.« Buch schweigt und sieht zu ihr auf. Ihr Blick ist fest. Die Wärme aus ihm gewichen. Sie muss zum Boot. Und Buch ahnt, es hat mit der Kiste zu tun. Dann geht Maga in die Knie, greift nach Buchs Schultern und sieht ihm direkt ins Gesicht. »It is important!« Es ist … es ist … wichtig! Etwas ist wichtig! Am Abend die Schafe in den Stall bringen, ist wichtig! Buch nickt, schaut zu Kraut, löst sich aus Magas Griff, zieht die Weste über und öffnet leise die Tür.
»Book and Maga are going to the boat«, sagt Maga leise. Buch geht vor, wartet bis Maga draußen ist und schließt sachte die Tür. Die Wärme verschwindet. Es ist kühl. Buch schüttelt sich, umgreift seinen Oberkörper mit den Armen. »Es ist kühl hier draußen«, sagt er.
Maga tut es ihm gleich. »It is cool out here.« So viele gleiche Worte, denkt Buch. Das muss eine Bedeutung haben. Sie kommen über die Brücke. »We are going over a bridge.«
»Wir gehen über die Brücke«, sagt Buch leise vor sich hin. »Oder über eine Brücke«, verbessert er sich und sieht hinüber zu Tauschs großem Haus. Alles ist dunkel, nur aus dem Schornstein kommt ein wenig Rauch. Wenn nun Johanna gar nicht damit einverstanden ist, dass Maga hier bleiben will? Was wird passieren, wenn die Männer Maga und Buch auf dem Boot festhalten? Am liebsten würde er Tausch wecken und mitnehmen.
»Bestemur würde jetzt sagen: Buch, ich habe Angst. Aber Buch hat keine Angst. Er denkt nur darüber nach, dass er jetzt Angst haben sollte.«
Maga sieht ihn nur an. Vielleicht hat sie ein wenig verstanden, denn sie legt die Hand auf Buchs Haare und krault darin. Beide sehen nicht, dass Tausch in der dunklen Türöffnung steht, beobachtet, was passiert, wer so früh Richtung Steg unterwegs ist. Er findet, es lohnt sich immer, früh aufzustehen, greift nach einer Hacke und folgt den Zweien.

Einer von Johannas Männern sitzt auf dem Vordeck, schneidet mit einem Messer Scheiben vom Kastenbrot, legt es neben sich auf die Ankerwinde. Aus einer Tasse steigt Dampf. Maga und Buch erzählen, wiederholen, tauschen die Worte, nähern sich langsam und entlocken dem Mann nur einen kurzen Blick. Er hebt die Hand, dann steckt er den Rest der Brotscheibe in den Mund.
»Ich grüße dich«, sagt Buch. Mehr als ein Knurren kommt nicht zurück. »Wir wollen zu Johanna. Ist sie schon wach?«
Kauend nickt er und deutet mit der einen Hand Richtung Kajüte auf dem Hinterdeck. »Geht nur. Sie war schon pinkeln. Also wird sie jetzt einen Tee trinken.«
»Danke«, sagt Buch. Er klettert über die Reling. Maga folgt ihm. Die Tür in diese Kajüte geht auf und Johanna kommt heraus. Buch winkt. »Ich grüße dich, Johanna. Schau, Maga ist wieder gesund.«
»Das sind gute Neuigkeiten. Dann können wir heute wieder ablegen. Unser Laderaum ist voll, dank der vielen guten Dinge, die wir bei euch eintauschen konnten. Das wird mir eine Menge Profit einbringen.«
»Profit?« Buch entdeckt gern neue Worte. Er grübelt. Bringt etwas ein, hat sie gesagt. Also kein Tausch.
»Vergiss es, Junge. So handhaben wir das in Stavanger oder Bergen. Nicht hier.« Johanna kommt näher und streckt sich, gähnt ausgiebig, sieht sich um. Über den ganzen Fjord streift ihr Blick. »Es ist schön bei euch. Sehr ruhig. Ganz anders als zuhause. Ich wette, es gibt hier viele Pilze.«
Buch will etwas über die Pilze hier erzählen, aber Johanna dreht sich weg, zum Wasser, schnäuzt hinein.
»Hast du es dir überlegt, Junge? Kommst du mit uns?«
»Da musste ich nicht überlegen. Das hier ist mein Zuhause, so wie Stavanger dein Zuhause ist. Wer verlässt schon gerne sein Zuhause?«
»Schade«, sagt Johanna zum Wasser. »Aber du hast recht. Wer verlässt schon gerne sein Zuhause.« Sie wendet sich wieder Buch zu, steht sechs oder sieben Schritte vor ihm, nickt beiläufig. Buch will sagen, dass Maga hier bleiben wird, und dafür die Kiste öffnet. Doch in diesem Moment fällt ihm ein, dass niemand Maga gefragt hat, ob sie die Kiste überhaupt öffnen und aus der Hand geben will? Dann sieht Buch das Messer in Johannas Hand. Kaum sichtbar im Licht der dunkelblauen Streifen im Osten. Er hört Maga hinter sich etwas sagen, hastige Schritte. Johanna reißt die Augen auf. Ein Laut, der ein Schrei hätte werden sollen, doch wie ein Gurgeln endet. Ein Schatten springt aufs Deck und Maga an Buch vorbei. Sie geht auf die Knie und rutscht Johanna zwischen die Beine. Johanna fällt. In ihr Messer. Das kann Buch deutlich sehen. Der Blick ist so überrascht.
»Wieso?« kommt aus ihrem Mund. Der Schatten rennt in die Kajüte und Buch erkennt Tausch, in beiden Händen Werkzeuge. Einfach durch die Tür rennt er. Buch starrt, Holz splittert. Dann Schreie von drinnen. Nicht mal, wenn Tal Schafe geschlachtet hatte, gab es solche Geräusche. Wieder ein Krachen, Tonschalen zerspringen auf dem Boden. All das höre ich genau jetzt, denkt Buch und vor ihm zieht Maga das Messer aus Johannas Bauch, rammt es ihr in die Kehle wie Tal seine Klinge bis zum Knauf in einen Schafhals gepresst hat. Buch weiß, was passiert. Das Blut kommt in einem Strahl, verschwindet und kommt, Johanna röchelt, Maga zieht die Klinge heraus und rennt in die Kajüte. Was ist zuerst? Und was höre ich nicht, und doch ist es dort drinnen? Schreie. Tausch sagt Worte, die er noch nie bei ihm gehört hat und Magas Rufe sind laut. Schon wieder schneidet die Klinge in Fleisch. Ein Geräusch wie reißendes Bauchfett. Dann ist es still. Das Boot wankt unter den Bewegungen, kleine Wellen schlagen gegen die Pfähle des Stegs. Maga kommt heraus. Wie gebadet in einer Suhle aus Blut und Eingeweiden. Buch fröstelt. Sie läuft auf ihn zu, drückt Buch an sich, er hört das Messer fallen. Sie weint. Ein Knurren kommt aus der dunklen Kajütenöffnung. Tausch!

»Das war sein letzter Atemzug«, stellt Kraut fest und drückt sich mühsam hoch. »Er hat vielleicht unser aller Leben gerettet.« Buch steht mit dem Rücken an Maga gelehnt, unter deren Arm eine kleine Metallkiste klemmt. Er blickt auf Tausch, der große, unbezwingbare Tausch. Fisch kratzt sich den Kopf. Das Blut unter dem großen Körper trocknet bereits. Nicht nur dort. Überall ist Blut. Auch Maga riecht nach Krauts Eisentöpfen. Kraut dreht sich zu Fisch. »Hol ein paar Helfer. Ladet alles aus, was im Stauraum ist. Bringt es zu Tausch. Es gehört jetzt uns. Danach zieht ihr das Boot in die Mitte des Fjords, kippt ein Fass Schnaps aus und zündet es an. Nichts darf übrig bleiben.«
»Machen wir«, versichert Fisch. In Krauts Gesicht arbeitet es. Zusammengepresste Lippen, hochgezogene Augenbrauen, dann fällt ihr Blick auf Maga. Sie beugt sich vor und drückt ihr in die Hüfte. Maga stöhnt auf.
»Kommt!«, fordert Kraut beide auf und schiebt sie aus der Kajüte. »Wir müssen ihre Wunde versorgen.« Von welcher Wunde redet sie, überlegt Buch. Die Erkenntnis ist wie ein Sturz vom Felsen über Bergs Hütte. Ein harter Aufprall. Hastig dreht er sich zu Maga, aber in ihrem Gesicht findet er keinen Schmerz. Tief atmet er die kühle Morgenluft ein. Der Tag ist angekommen und über dem östlichen Tal klettert die Sonne empor. Schweigend klettern sie über die Reling und lassen den Steg hinter sich. Buch dreht sich nicht um. Magas Hand liegt auf seiner Schulter.
»My hand is on your shoulder«, sagt sie leise. In Buchs Kopf formen sich seine Worte dazu. Er weiß jetzt, was er tun muss, um sie zu verstehen. Alles ist in den Büchern. Ein wenig anders geschrieben oder unterschiedlich ausgesprochen, aber solange er weiß, um was es geht, kann er sich den Rest denken. Doch erst muss er wissen, was Kraut gesehen hat.
»Wir versorgen ihre Wunde. Ich denke, sie ist nicht schlimm, aber dann müsst ihr die Stadt verlasst«, sagt Kraut.
»Warum sollen wir die Stadt verlassen?«
»Denk daran, was Johanna gesagt hat. Sie ist ein wichtiger Mensch in Stavanger. Jemand wird sie vermissen. Nach ihr suchen. Dann treffen sie vielleicht auf das Dorf, das sie hierher geschickt hat. Wir wissen nicht, wer noch alles von Maga und ihrer Kiste weiß. Es kann also sein, dass wir bald Besuch bekommen.«
»Aber von was sollen wir leben?«
»Ihr könnt im Haus von Tal wohnen, bis sie wieder gesund ist. Ich werde Pferd sagen, er soll euch zwei seiner Tiere geben. Essen könnt ihr Wurzeln und Fische aus dem See. Wenn mal der Winter vorbei ist, und niemand hat nach Johanna oder Maga gesucht, ist an eine Rückkehr zu denken. Für den Anfang genügen vier oder fünf große Keulen Pökelfleisch.«
»Das macht Sinn. Und ich weiß, wie man Wurzeln sät, zieht und erntet«, sagt Buch mit ernster Stimme. »Außerdem bin ich ja jetzt ein Mann.«
»Da drauf würde ich mir nichts einbilden«, erwidert Kraut. Sie schweigen bis zu Krauts Haus, gehen in die Küche. Buch legt Torfballen nach. Schnell wird es warm.
»Buch! Du gehst zu Tausch und holst neue Kleider für Maga. Die blutigen werden wir sofort verbrennen. Und bring zwei Brote mit.«
»Wer übernimmt jetzt Tauschs Geschäfte?«
Kraut zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Das klären wir in einer Versammlung. Jetzt geh!«

Als Buch draußen ist, zieht Maga die Kleider aus. »Die Hüfte ist ein dankbarer Ort für eine Messerwunde. Ein Schnitt. Lang, aber nicht tief«, stellt Kraut fest. Sie holt Moos, vermengt es mit Schnaps und drückt es drauf, bedeckt die ganze Wunde damit und wickelt ein langes Stück Leinen darum. »Damit es sich nicht entzündet«, Maga nickt und Kraut deutet auf die Metallkiste, setzt sich und schenkt Schnaps in zwei der Gläser. Sie trinkt eines aus, füllt nach. Maga nimmt gegenüber Platz.
»Was ist da drin?«
Maga trinkt ebenfalls, verzieht das Gesicht und hustet. Kraut lacht und füllt das Glas ein weiteres Mal. Maga stellt die Kiste auf den Tisch. Sie glänzt silbern, wie frisch poliertes Metall. Auf einer Seite ist ein Griff und etwas, für das Kraut keine Worte hat, aber sie entdeckt zwei kaum sichtbare grüne Punkte. Sie leuchten wie kleine Sonnen. Maga legt beide Daumen in Vertiefungen. Es klackt. Langsam öffnet sie den Deckel. Drin ist nichts außer einem blauen Stoffbeutel. Ein wundervolles Blau. Kraut ist für einen Moment wie gebannt. Der Stoff schimmert, je nachdem wie das Licht einfällt. Der Beutel ist mit Schnüren zugezogen.
»Das ist alles? Ein Stoffbeutel? Wegen dieses Beutels haben wir jetzt den ganzen Ärger? Und einen toten Tausch?« Sie seufzt schwer und trinkt einen großen Schluck aus der Flasche. Maga schließt den Deckel. Es klackt ein zweites Mal.

Über den beiden Pferden liegen die Lederschürzen, je zwei schwere Leinensäcke, Felle, verschnürtes Pökelfleisch. Kraut dreht Buchs Kopf am Kinn vor ihr Gesicht. »Die Wunde darf sich nicht entzünden! Du weißt, was du zu tun hast.«
»Ja,« sagt Buch. »Einmal am Tag Moos und Schnaps drauf, das Leinenband auskochen.«
»Sehr gut, mein Junge. Du wirst noch ein Heiler. Sie muss sich ausruhen! Das kann einen Hellmond dauern! Auch wenn es verheilt ist, kann sich noch etwas entzünden.« Sie blickt zum Himmel, in alle Richtungen. »Es wird nicht regnen. Bis heute Abend seid ihr im Tal. Wenn Gefahr droht, schicke ich Pferd los, euch warnen. Geht dann hoch zu Bergs Hütte. Zur Not über den Pass. Hast du verstanden?«
»Ja, Kraut.«
»Denk immer dran, einen Blick zurückzuwerfen. Schau immer, was hinter dir ist!«
»Ich merk es mir.«
Kraut lächelt. »Ich weiß. Für alle Tage.«
»Auf Wiedersehen«, sagt Maga. Kraut zieht die Brauen nach oben.
»Sie lernt nicht weniger schnell als du.«
»Wir sehen uns wieder«, sagt Buch und schließt die Arme um Kraut, drückt fest.
»Natürlich. Ist ja nicht so weit.«
Buch schaut nicht auf. Dreht sich und nimmt die Riemen von Pferd. »Ich nenne es Tausch«, sagt er. »Komm, Tausch! Es geht los.« Kraut will eine Hand heben, lässt es aber bleiben. Schnell sind beide unten an der Brücke, schwenken auf die Gleise ein und sind verschwunden. Fisch kommt aus dem Haus.
»Abschiede sind nichts für mich«, sagt er und schnieft.
»Meinst du etwa für mich?«
»Ich … ich weiß nicht. Dachte immer, du …«
Kraut wirft ihm einen Blick zu und geht ins Haus, stellt einen der neuen Eisentöpfe auf die Esse, gießt Wasser hinein. Sie weiß, dass alles bisher Geschehene genau jetzt endet. Berg, Tal, Bestemur, Tausch und nun ist Buch weg. Nun ist sie wieder allein.

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