Buch | Kapitel 2

Vorgestern

»In ein paar Tagen sind wir wieder zurück«, versprach Bestemur, warf sich den Rucksack über, bedeutete Buch, die Tasche umzuhängen, dann brachen sie auf. Noch war der Tag nur eine Ahnung. »Wo beginnt der Tag?«, fragte sie ihn und Buch schaute zum Horizont.
»Er wird immer kürzer. Also im Südosten«, sagte er. »Und endet im Südwesten.«
»Ganz genau. Und wenn du einen Stab in die Erde steckst, dann ist Mittag, wenn …«
»Wenn Sonne, Stab und Schatten eine Linie sind und der Schatten nicht mehr kürzer wird.«
»So ist es. Aber wenn die Wolken der Sonne keinen Platz machen, sie für viele Tage verstecken, was ist dann mit deinem Weg?«
»Dann folge ich dem Moos, wie es nach Westen wächst, weil dort der Regen herkommt. Oder wenn ich nach Osten muss, wende ich mich von ihm ab …«
»Und?«
»Und dem Wind, der von Norden kommt, wenn es kühler wird und aus dem Süden bringt er die Wärme im frühen Jahr.«
»Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte Bestemur, die voranging, dem kleinen Wasserlauf ins Tal folgend. »Wenn wir bei Tal sind, essen wir eine Kleinigkeit und setzen den Weg fort. Vielleicht möchte Tal, dass wir ihm etwas aus der Stadt mitbringen.« Buch antwortete nichts. Mit all seinen Gedanken war er schon in der Stadt, von der er aber kein klares Bild zusammensetzen konnte. Alles blieb verschwommen. Nur mit einem Ohr hörte er auf Bestemurs Worte. »Buch! Jetzt lasse ich dich in der Nacht wandern. Der Mond gibt dir Licht und du willst nach Süden.«
»Du hast mir verboten, in der Nacht zu wandern, denn ich könnte mir zwischen Felsen oder in Bodentaschen einen Fuß brechen. Ich müsste sterben.«
»Sehr gut, Buch. Aber ich stelle dir nur eine Frage nach deinem Wissen, nicht nach deinem Tun.«
Buch dachte an die Nacht. Das Bild formte sich. Er schob den hellen Mond an den Himmel, malte die Sterne. »Ich sehe den Stern, der sich nicht bewegt. Er ist immer da, wie ein Berg in der Landschaft. Er ist Norden. Im hellen Mondlicht stecke ich einen Stab in die Erde, befestige ein Lederband, schließe ein Auge. Sind Stab und Nordstern übereinander, ziehe ich das Lederband. Das ist meine Linie nach Süden. Also ist rechts Westen und links Osten.« Buch sah Bestemurs nickenden Kopf, dann summte sie Töne. Hohe, tiefe, abwechselnd. Sie nannte es ein Lied. »Bestemur?«
»Ja?«
»Alle Menschen in den Büchern haben Namen. Sogar zwei, manchmal noch mehr. Sie nennen es Vorname und Nachname. Das bedeutet, früher gab es andere Namen als jetzt. Nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie und ließ einen Seufzer hören. »Früher war wohl alles anders als jetzt.« Der Wasserlauf machte einen Schlenker um einen Felsen herum, dann fiel er zwei oder drei Menschengrößen in die Tiefe. »Aufpassen jetzt! Es könnte rutschig sein.«
Buch heftete den Blick auf die grünen Graspolster, kleine, blaue Blüten auf ihnen, dunkelgrauer Fels hin und wieder, das Rauschen des Wassers schwoll an und stürzte nach unten, bildete feinen Nebel, der sich an Gras und Fels heftete. Der Duft von allem veränderte sich, wurde intensiv wie nach einem kurzen Regen. Alles riecht, dachte Buch. Jedes Ding hat nicht nur einen Namen, auch einen Duft. Bestemur setzte sich auf den Hosenboden und rutschte einfach den Abhang hinunter. Buch tat es ihr nach und als sie lachte, formte er den Mund gleich dem ihren. Sie mochte, wenn er lachte. Obwohl ihm nicht klar war, was daran toll sein sollte. Mit der Handschale nahm Bestemur etwas vom herabstürzenden Wasser und trank wenige Schlucke. Buch entdeckte Tals Hütte am gegenüberliegenden Hang. Schafe weideten zu beiden Seiten.

»Du kennst die Brücke, Buch. Über sie sind wir schon viele Male gegangen, als wir bei Tal waren. Sie sieht ein wenig kaputt aus, aber ist noch sehr stabil. Eines hast du jedoch noch nicht gesehen. Ich zeige es dir.«
Bestemur überquerte die Brücke, der inzwischen breiter gewordene Bach staute sich an einem Pfeiler und floss in Wellen links und rechts daran vorbei, gurgelte unter den Steinbögen hindurch. Bestemur war die wenigen Schritte zum Ufer hinuntergerutscht und zeigte mit dem Finger auf etwas. Buch rannte hinterher, schlitterte mehr als dass er ging und folgte ihrem Finger. Eine Zahl. 2006 stand dort in den Stein geschrieben. Mit was auch immer das jemand geschafft hatte.
»Zweimal eintausend und sechs dazu, das macht zweitausendsechs!«, rief er gegen das Rauschen des Wassers an. »Ich kann noch viel weiter zählen und rechnen!«
Bestemur zog die Hand zurück. »2006 ist das Jahr, in dem die Brücke gebaut wurde. Sieh mal genau hin. Kein Fels, kein Stein sieht so aus wie diese Brücke. Dort, wo sie nicht kaputt ist, ist sie glatt. Dort wo sie kaputt ist, kannst du Stangen erkennen. Dunkelrote und sie machen Flecken auf dem Stein. Das nennt man Stahl. Du hast bestimmt davon in einem Buch gelesen.«
»Stahl!«, rief Buch. Ja, über Stahl hatte er gelesen. Viel härter als die grauen Felsen. Bestemur kletterte den Hang hinauf und zog ihn mit. »Stahl«, wiederholte Buch. »2006 ist ein Jahr gewesen«, hängte er dran. »Aber wenn es das Jahr 2006 gegeben hat, dann gab es mal 2005 oder 2007, es gab einen Anfang, eine Null. Und welches Jahr ist denn jetzt?«
»Ich weiß es nicht, Buch. Vielleicht weiß das niemand.« Buch überlegte. Bestemur hob die Hand und winkte.
»Tal! Hallo! Hol das Fleisch! Wir wollen was essen!« Sie zog den Rucksack ab. Buch wollte das Bild mit der Zahl 2006 nicht mehr aus dem Kopf gehen. Gedankenstücke wie trockenes Gras im Wind. Er schaffte es nicht, sie zu halten oder zusammenzusetzen. In alle Richtungen flogen sie davon, machten eine Kehre, wirbelten wild durcheinander. Warum konnte er Worte zu Sätzen formen, aber kleine Bilder nicht zu etwas Großem?
»Ich will das endlich verstehen«, sagte er laut und stieß gegen Bestemurs Hüfte, weil sie stoppte und Tal umarmte. Von ihm ging ein seltsamer Geruch aus.
»Zieh dich aus und steig in den Bach«, sagte Bestemur mit harschem Ton zu Tal.
»Meinst du wirklich? Ist doch so kalt.«
»Wenn du so stinkst, betrete ich nicht deine Hütte.«
»Na gut.«
Er rannte zur kleinen Tenne, verschwand darin und trat nach kurzer Zeit nackt heraus.
»Wir gehen solange hinein«, erklärte Bestemur und zog Buch mit sich, während Tal schon kurz vor dem Bach war. Er rutschte die Böschung hinunter und schrie, jauchzte, das Wasser spritzte hoch und Tals Arme wedelten. Zwei Stufen, dann standen Bestemur und Buch in Tals Küche. Es roch nach Kräutern und Hammel.
»Ich mache Feuer. Du holst die drei Laibe Brot aus dem Rucksack. Sie sind für Tal.«
Buch nickte, hob die breite Lasche an und entnahm drei Laibe. Es waren immer noch vier drinnen.
»Geh bitte in die Tenne und hol drei Ballen Torf.«
»Mach ich.« Buch rannte in die Tenne. Dort lagen eine Menge Schaffelle auf dem Boden, ausgebreitet, alle in eine Richtung gekämmt. An der hinteren Wand hatte Tal die getrockneten Ballen gestapelt. Buch griff nach dreien und trug sie vorsichtig in die Hütte. Das Feuer brannte bereits. Bestemur war eine hervorragende Feuermacherin. Es konnte keine bessere geben, da war Buch sicher.
»Nehmen wir die Schaffelle mit in die Stadt?«
»Hast du sie schon entdeckt …«
Buch nickte und legte die Torfballen auf der Holzbank ab. »Brote und Felle nehmen wir mit zu Kraut. Wir tauschen bei ihr Tee und Medizin. Der Winter hat schon angeklopft. Er wird bald hereinkommen, und ich glaube, dieses Jahr bringt er mehr Kraft mit als bisher.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich kann es riechen.«
Tal kam hereingestürmt, rutschte mit feuchten Füßen über den Boden und stellte sich direkt vor den Ofen. Er bibberte. Seine Haut war so rot wie mancher Abendhimmel. Bestemur hielt ihm Kleider vor die Nase.
»Zieh dich an. Wir wollen weiter.« Schweigend stieg er in die wollene Hose, zog Pullover und Weste über, schlüpfte in die Fellschuhe. »Wie viele Schaffelle nehme ich mit?«
Tal zeigte beide Hände.
»Zehn. Mehr hast du nicht?«
»Die Räude hat mir ein paar Felle versaut.«
»Na gut. Dafür werden wir aber weniger Medizin und Kräuter bekommen. Hast du noch Pökelfleisch?«
Zweimal beide Hände.
»Buch kann drei Keulen tragen. Er ist kräftig genug. Vielleicht finde ich ein Pferd und tausche es gegen einen Handel. Für einen ganzen Sonnenumlauf einmal im Monat Pökelfleisch, Fisch, Brote und bittere Wurzeln. Das Pferd wird uns helfen, alles zu tragen und du wirst zusehen, dass mehr Lämmer auf die Welt kommen.«
Tal drehte sich, hielt die Hände übers Feuerloch, rieb sie aneinander. Dann schnäuzte er eine Menge Schleim aus der Nase in die Glut. Es zischte.
»Gut, Bestemur. So machen wir’s. Ich gehe rüber zu See und bitte ihn, seine besten Schafe auszusuchen, damit meine Hammel sie besteigen können. Dann machen wir halbe-halbe.«
»Abgemacht«, sagte Bestemur und klopfte Tals Schulter. »Jetzt hol einen Krug Bier und einen Brocken Pökelfleisch. Wir wollen was essen und trinken, dann geht es weiter.«


Das Tal wurde breiter, umso mehr, je tiefer sie kamen. Der Bach war ein Fluss geworden und Buch trug schwer an den gepökelten Keulen, aber er schwieg, setzte Fuß vor Fuß, starrte die meiste Zeit auf seine Schuhe. Bestemur ging voraus, einen hohen Turm Felle auf dem Buckel. Geschnürt und verzurrt am Rucksack. Auf der Brust trug sie zwei weitere Keulen. Gegengewicht hatte sie erklärt. Sie ging aufrecht, immer den Blick mal links, dann rechts, einen Stab in der Hand, den sie ab und zu auf dem steinigen Weg aufsetzte.
»Atemschaukel, Seite 89, Zeilen 5 bis 11.«
Atemschaukel! Seite 89! Buch blätterte auf. Im Kopf tauchten die Zeilen aus dem Dunkel.
»Und es kommt der Abend. Und alle kommen von der Arbeit heim. Und alle steigen in den Hunger. Er ist ein Bettgestell, wenn ein Hungriger den anderen Hungrigen zuschaut. Aber das täuscht, ich spüre an mir, der Hunger steigt in uns hinein. Wir sind das Gestell für den Hunger. Wir alle essen mit geschlossenen Augen. Wir füttern den Hunger die ganze Nacht. Wir mästen ihn hoch auf die Schaufel.«
Bestemur knurrte, hustete, blieb stehen und beugte sich ein Stück nach links, dann nach rechts. Der Turm aus Schaffellen wackelte bedenklich. »Ich werde wirklich alt«, seufzte sie. »Wenn wir ein Pferd tauschen können, reite ich zurück.«
»Ich werde dich stützen«, sagte Buch und war schon neben Bestemur. »Es macht Sinn, dich zu stützen, denn ohne dich möchte ich nicht hier sein.«
Sie richtete sich auf. Es knackte unter dem Rucksack, in ihrem Rücken. Kurz nur verzog sie das Gesicht. Buch blickte zu ihr auf. »Ist nicht mehr weit. Wenn wir auf der nächsten Erhebung sind, kannst du die Stadt sehen.«
Stadt, dachte Buch. Bisher hatte Bestemur ihn bei Tal gelassen. Nun durfte er das erste Mal mitgehen. Stadt, das waren viele Häuser. Viele Menschen. So stand es in allen Büchern. Ein Weiler, ein Dorf, eine Stadt. Und dann muss es etwas gegeben haben, in dem noch viel mehr Menschen lebten. Eine große Stadt, eine Großstadt. Bestemur hatte ihn nicht gelobt. Das fiel ihm jetzt ein, als sie ihren Weg fortsetzten. Etwas musste ihr weh tun. Aus dem Dunkel seines Denkens trat ein Gedanke ans Licht.
»Bestemur?«
»Hm?«
»Immer wenn ich aus einem Buch Zeilen aufsage, lobst du mich.«
»Das stimmt. Loben ist gut für dich.«
»Aber woher weißt du, dass ich es richtig aufsage? Du musst es ebenso wissen, denn sonst könntest du mich nicht loben.«
Bestemur blieb abrupt stehen und Buch rannte gegen ihr Bein. Sie suchte nach etwas, entdeckte einen Felsen, zu dem sie ging, sich drauf setzte und den Lederbeutel mit Wasser von der Hüfte nahm. Den ans Leder gebundenen Stopfen zog sie ab und trank einen großen Schluck. »Hier, trink du auch was.« Das tat Buch, setzte sich neben Bestemur und schaute ins Land. Ein See rechts des Weges, dahinter grünes Land, das drei Finger hoch war und den Himmel trug. Die Sonne im Rücken. Aber noch nicht in ihrem höchsten Stand. Also war der See fast im Norden, die Stadt im Westen.
»Buch, vielleicht habe ich dich vor vielen Jahren aus einem bestimmten Grund gefunden. Vielleicht, weil ich ein bisschen das kann, was du kannst.«
»Es ist mir erst jetzt eingefallen, dass du mich nur loben kannst, wenn ich alles richtig sage. Also musst du es auch kennen.«
»Es ist ganz genau so wie du vermutest. Aber …« Sie überlegte und kraulte Buchs schwarze Haarpracht. »Aber es ist nicht ganz wie bei dir. Die Stellen, die ich dich frage, habe ich mir gemerkt. Das sind aber nicht viele. Vielleicht haben sie etwas Besonderes, ich weiß nicht. Du aber, Buch, du kannst dir alles merken. Du bist wie ein tiefer, bodenloser Brunnen. Egal, was und wie viel man hineinkippt, alles bleibt dort drinnen und du kannst es jederzeit wieder hervorholen.«
»Ja, ich weiß.«
»Du bist jetzt über acht Jahre alt. Mehr als 3.000 Tage. Ein Leben ohne dich, mag ich mir nicht vorstellen. Du bist in meinem Herzen.«
»Habe ich da Platz?«
Bestemur brach in schallendes Gelächter aus. Stützte beide Hände auf die Knie. Mit dem Lachen kam der Husten. Aus dem Hemd zog sie zwei trockene Blätter, steckte sie in den Mund, kaute, hustete nach. Dann atmete sie tief ein. Buch erkannte in diesem Augenblick, dass die Zeit eines jeden Menschen endlich ist. Dass die große, alles umspannende Zeit einfach weitermarschiert, ohne anzuhalten, ohne sich umzudrehen, und wessen eigene Zeit aufgebraucht war, den ließ sie zurück am Wegesrand.

Bestemur und Buch näherten sich immer mehr einem großen See an. Unter ihren Füßen fanden sich seit geraumer Zeit Reste von grauen und schwarzen Steinplatten, zwischen denen Gras, Schilf und Moos nach allen Seiten wucherte. Buch erkannte, dass die Steinplatten eine Linie bis zum See bildeten. Wie ein Weg. Häuser standen links und rechts, manche nur wenig kaputt, andere vollkommen zerstört. Aus den weniger kaputten stieg Rauch und füllte den Himmel mit Schwaden, die nicht weiterzogen, eher wie durchsichtige Finger in einiger Höhe verharrten. Menschen verbrannten Torf. Aus Türen schauten Kinder, Frauen, dann Männer, die neben den Häusern Torfballen an eine Wand setzten, etwas reparierten oder nur herumsaßen. Bestemur hob die Hand, winkte, nickte nach allen Seiten, bis sie vor einer mächtigen Schilfbarriere standen und nach links schwenkten, der grauen Plattenlinie folgend.
»Bestemur?«
»Ja?«
»Laufen wir auf dem, was in den Büchern Straße genannt wird?«
»Ja. Eine Straße. Zwischen zwei Orten. Auf ihnen konnten die Menschen besser und schneller reisen.«
Gerade als Buch ein Gedanke kam, passierten sie das Ende des Schilfes und er konnte zum ersten mal die ganze Wasserfläche sehen. Berge links und rechts und weit entfernt am Horizont. Er blieb stehen und ließ den Blick schweifen. Auf der gegenüberliegenden Uferseite zwei Häuser. Sehr klein und sehr kaputt. Tiere dazwischen. Vielleicht Pferde. Auf die Entfernung so winzig wie der Nagel vom kleinsten Finger. »Dass es einen so großen See gibt, hätte ich nicht gedacht.« Bestemurs Hand legte sich auf seinen Kopf.
»Das ist kein See. Das ist ein Fjord.«
»Ein Fjord?« Buch dachte an all die gelesenen Wörter. Fjord war ein neues. Und er fragte sich, wie viele Worte es noch gibt. Mehr als Gras auf Tals Weiden? »Ist ein Fjord ein sehr großer See?«
»Nein, ein Fjord ist ein Tal von der Küste ins Land hinein. Das Meer kommt bis hier her. Was du dort siehst, ist das Meer.«
»Das Meer«, wiederholte Buch leise. »Das Meer. Und es ist so groß.«
Bestemur lächelte und packte Buchs Hand. »Lass uns gehen. Es ist nicht mehr weit.«

In Bestemurs Büchern war eine Stadt voller Menschen. Voller Leben. Männer, Frauen, Kinder, alte und junge Menschen. Sie besaßen Hunde, Katzen, Pferde, Schafe und Kühe. Und Autos, von denen Buch sich nicht vorstellen konnte, wie sie aussahen oder was an ihnen besser war als an einem Pferd. Als sie die Stadt erreichten, hatte Buch genau diese Bilder im Kopf. Doch was er sah, ergab keinen Sinn. Nur Reste von Häusern. Sogar sehr große Reste von sehr großen Häusern. Ab und zu entdeckte er welche, an denen nicht so viel kaputt war. In ihnen wohnten Menschen. Rauch über den Dächern, der hinaus in den Fjord zog. Einige Dächer so flach wie das Wasser, andere geneigt wie auf Bestemurs Haus. Sie verließen die Straße Richtung Wasser. Buchs Augen waren überall, auf allem Neuen so lange, bis er das Bild deutlich vor seinem inneren Auge sehen konnte. Dann stolperte er und wäre fast gestürzt, hätte Bestemur ihn nicht aufgefangen.
»Du musst schon darauf achten, wohin du läufst.« Buch nickte und senkte den Kopf. Auf was war er da getreten?
»Das ist aber keine Straße«, stellte er fest.
»Nein, das nennt man Gleise. Auf ihnen kann man laufen. Sie führen durchs Land.«
»Man kann auch stürzen.« Bestemur lachte kurz und strubbelte durch Buchs Haare. Sie folgten dem Gleis, aus dem bald mehrere wurden, die nebeneinander ausgerichtet lagen. Ein großes Gebäude rechts und auf einem herabhängendem Schild entdeckte er Buchstaben. Ein Wort. Langsam sprach er es aus.
»Åndalsnes. Was ist Åndalsnes?«
»So hat die Stadt einmal geheißen.«
»Und wie heißt sie jetzt?«
»Jetzt?« Bestemur fiel auf, dass sie noch nie einen Gedanken daran verschwendet hatte. Wem sollte es nützen, wie eine Stadt hieß? »Sie heißt einfach nur Stadt.«
»Aber sie ist bestimmt nicht die einzige Stadt. Es macht keinen Sinn, alle nur Stadt zu nennen. Woher soll man wissen, wohin man gehen muss?« Bestemur sagte nichts, verließ die Gleise hinter dem Gebäude, erreichte eine weniger kaputte Straße, nahm den Pfad zwischen zwei Häusern. Buch trottete hinter ihr her, versunken zwischen den Gedanken an viele Städte mit nur einem Namen. Dann stoppte Bestemur und Buch lief auf. Vor beider Augen ruhte das Wasser und Bestemur sah, wie Buch erstarrte. Sein Mund stand offen.
»Das Schiff«, sagte sie feierlich. Stück für Stück musterte Buch das, was Bestemur Schiff genannt hatte. Ein Bild in seinem Kopf verglich es mit dem kleinen Boot, das Fisch benutzte, um auf dem See das Netz auszubringen. Das hier war nicht Fischs Boot. Allerdings schwamm Fischs Boot auf dem Wasser. Er ruderte hinaus und kehrte auch wieder heim. Das Schiff hier war zur Seite geneigt. Kaum noch Weiß an den Wänden. Schwarze Flecken neben großen braun-roten Stellen, Löcher, die in dunkle Tiefen führten. Viele Fenster und Türen, kaputt, wie alles hier.
»Bestemur?«
»Hm?«
»Ich möchte wissen, was passiert ist. Die Worte aus den Büchern bekommen Formen. Sie sind wie Luft, die zu Nebel wird, der zu Eis gefriert. Die Worte formen sich. Ich sehe, was Gestern war und dass wir es nicht mehr haben. Ich will wissen, warum das so ist!«
»Ich weiß, Buch. Ich weiß. Sie zog ihn an ihre Seite, die Hand an seiner Schläfe. Mit den Fingern kraulte Bestemur den Kopf, in dem sie so viel vermutete. Sie weinte die Tränen, die er nicht hatte. Was konnte sie ihm sagen?


»Wenn wir hineingehen, nichts anfassen! Tausch ist ein sehr eigener Mann. Verstanden?«
»Verstanden.«
Eine Frau trat aus dem Haus, Bestemur zog Buch in ein Dunkel, an das sich die Augen erst gewöhnen mussten. Das wenige Licht verschwand zwischen einer nicht überblickbaren Zahl von Gegenständen in Regalen, auf dem Boden, in allen Größen, Formen und Mengen.
»Ich grüße dich, Tausch!«, rief Bestemur aufs Geratewohl ins Zwielicht, ohne dass Buch jemanden entdecken konnte. Aus einem Eck hinter den Regalen kroch ein Brummen herüber. Dann sah Buch eine Hand, groß wie ein Pferdehintern. Der Mann zur Hand trat hervor, im fahlen Licht der Größe eines Pferdes nicht unähnlich. Das Gesicht eingepackt in einen nach allen Seiten wuchernden Bart. »Ich habe Brot, Schaffelle und mein Flickzeug dabei. Gib mir alle deine kaputten Hosen, Westen, Schuhe, das Loch in deinem Kopf …« Bestemur lachte. Buch suchte nach dem Grund ihrer Heiterkeit. Tausch wankte zwischen all den Dingen auf beide zu. Er könnte die Sonne verdunkeln, vermutete Buch.
»Schön, dich zu sehen, meine Gute. Und wen hast du denn da mitgebracht?«
»Das ist Buch. Zeig ihm was, egal was, und er kann es sich merken.«
»Hallo, Buch«, knurrte Tausch, griff nach unten, packte Buchs Weste und hob ihn mitsamt Pökelfleisch und Rucksack hoch. Direkt vor den Bart. Buch blickte in die jungen Augen eines Lamms. Neu auf der Welt. Aus dem Dunkel des Mutterbauchs, hinein ins Licht.
»Ich grüße dich, Tausch«, erwiderte Buch in Erinnerung an Bestemurs Begrüßung. Tausch lachte, was sich anhörte, als würde am Talende ein Felssturz alles unter sich begraben. Vorsichtig setzte er ihn wieder ab.
»Weißt du, ob Kraut etwas braucht, was ich tauschen kann?«
»Ja, das weiß ich zufällig, weil sie mich danach gefragt hat. Einen Topf. Einen großen Topf. Aber Eisen ist gestorben. Wir haben niemand, der aus dem Schiff etwas herausschneiden kann. Boot ist beim letzten Dunkelmond aufgebrochen, um jemand zu finden, der das kann. Es wird dauern, bis er wieder zurück ist.«
Bestemur zieht Luft durch einen Mundwinkel. Mit einem großen Eisentopf kann sie nicht dienen. »Und kann ich irgendwo ein Pferd bekommen?«
»Lass mir Pökelfleisch, Schaffelle und Brote da, dann besorge ich dir eins. Fürs Flicken kannst du dir nehmen, was du tragen kannst.«
Tauschs Arm reckte sich vor und Bestemurs Hand verschwand in der Pranke. »Abgemacht. Wo können wir schlafen?« Tausch reckte den Finger empor.
»Oben. Du kochst uns, dann sind wir quitt.«
»Danke.«
»Alles vergolten«, winkte Tausch ab. Bestemur legte die Schaffelle auf seine Unterarme, packte die Brote oben drauf, hängte alles Pökelfleisch über seine Schultern. Tausch wankte nicht. Er nickte und trug die Dinge nach hinten. Bestemur tätschelte Buchs Rücken.
»Tausch ist ein guter Kerl.«
»Groß wie ein Pferd«, stellte Buch fest und Bestemur lachte schon wieder. Es gefiel Buch, wenn sie lachte. »Und jetzt?«, fragte er dann.
»Jetzt erzählst du deine erste Geschichte.«

Der Weg führte hangaufwärts, über eine Brücke, das zugewachsene Gleis darunter. Buch entdeckte am Rand ein sehr kaputtes Etwas. Zwei Rollen auf der Seite. Vorne und hinten. Er brachte die paar Schritte bis dort hinter sich, umrundete das Ding. Auch auf der anderen Seite Rollen. Innendrin so etwas wie Stühle, aber darauf würde niemand mehr sitzen wollen. Bestemur war schon ein Stück weiter. Rasch schloss er auf.
»Was war das für ein Ding?«
»In einem Bilderbuch habe ich so was schon gesehen. Die Menschen sind früher damit gefahren und nannten es ‚Auto‘. Vielleicht von ihrem Haus in die Stadt.«
»Aber wie ist dieses Auto denn gefahren?« Bestemur schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich kann es dir nicht erklären. Und ich kenne auch niemand, der das kann.«
»Dann muss ich Bücher finden, die das können«, sagte Buch und rannte voraus, drehte sich, ließ den Blick schweifen. Über den ganzen Fjord, der sich im Westen zum Meer öffnete. Buchs Pfad hat hier begonnen, dachte Bestemur, aber hier wird er nicht enden. Bald wird er sich auf den Weg machen. Sie blickte auf die Seite und kniff ein Auge zu.
Das große Haus kam näher. Von allen in der Stadt, war es am besten erhalten. Sogar das Dach konnte man noch als ordentlich bezeichnen. An vielen Stellen fehlte die oberste Schicht auf den Außenwänden, aber Kraut sorgte dafür, dass sie mit Lehm zugeschmiert wurden. Kaputte Fenster hatte sie mit Brettern verschlossen, was bei den meisten der Fall war. Für die Stadt war sie so etwas wie Bestemur für Buch, Berg und Tal. Eine Mutter. Die Mutter der Stadt. Auf halber Hügelhöhe war das Haus erreicht. Auf den Steinen vor dem Haus lagen unzählige Kräuter, um in der Luft zu trocknen. Lederriemen waren überall gespannt, voller Pflanzen, von denen Bestemur keine Ahnung hatte. Stängel und an Schnüren festgemachte Blätter verbreiteten verwirrende Düfte. Wurzeln in Schilfkörben, Pilze in allen Farben und Formen, Buch schritt staunend hindurch. Untersuchte alles mit einem genauen Blick. Bestemur trat durch die offene Tür, entdeckte Kraut, die mit einem schweren Kiesel etwas in einem Tiegel verrieb.
»Bestemur«, sagte sie nickend.
»Kraut.«
»Wie geht es Berg und Tal?«
»Berg wird den nächsten Winter nicht überleben. Das Licht verlässt langsam seine Augen. Und Tals Rücken nähert sich immer weiter dem Gras an.«
»Dann wirst du bald nur noch diesen Jungen um dich haben. Wie nennst du ihn gleich?«
»Buch.«
Kraut goss heißes Wasser in den Tiegel. Eine Wolke betäubenden Duftes strömte durch den Raum. Sie legte den Kiesel beiseite und kam mühsam um den langen Holztisch herum, stellte sich vor Bestemur, umarmte sie für einen Moment, dann entdeckte sie Buch im Türrahmen und tippelte auf ihn zu. »Du bist also Buch.«
»Der bin ich.«
»Lass mich deine Augen sehen, Junge.« Sie zog den Lederhandschuh aus, hob die rechte Hand vorsichtig unter Buchs Kinn und drückte es hoch. Buch schwieg, bewegte sich nicht von der Stelle. Kraut war sicher einen Kopf kleiner als Bestemur und nicht viel größer als Buch. »Wo hast du ihn gefunden?«
»Auf dem Pass zum Bergsee. Seine Eltern waren tot. Nicht länger als vom Morgen zum Mittag.«
Kraut streckte ihren Kopf vor, rückte mit der Nase ganz dicht an Buch heran und schnüffelte. Den Kopf hinab, seine Brust, die Hände.
»Er ist kerngesund. Sein Duft ist klar wie Winterluft. Das hast du gut gemacht, Bestemur.«
»Danke.«
Kraut ließ von Buch ab, deutete mit der Hand auf einen Tisch. Zwei Bänke links und rechts. »Setzen wir uns. Ich habe frischen Kräuterlikör angesetzt. Er wird euch schmecken und hilft gegen alles.«
»Ich brauche für uns Heilkräuter und Tee, Salben und etwas Likör kann auch nicht schaden.«
»Natürlich. Es ist alles da. Was kannst du anbieten?« Kraut setzte sich langsam auf die Bank. Die Hände auf dem Tisch, den Oberkörper abgestützt. Bestemur ihr gegenüber. Buch rutschte dicht an sie heran.
»Du wirst alt, Kraut.«
»Wer nicht.«
»Ich habe Tausch all mein Pökelfleisch, Brote und Tals Schaffelle gegeben für ein Pferd, damit wir mehr transportieren können. Also bleibt nur noch flicken.«
»Sieh mich an, Bestemur. Ich werde immer kleiner. Da reißt nichts mehr auseinander. Und auf den Tischen tanze ich auch nicht mehr. Was sollte da noch kaputt gehen?«
»Deswegen habe ich Buch dabei. Du kannst nicht lesen. Buch kann lesen. Aber nicht nur das. Buch kann sich einfach alles merken. Er muss es nur einen Augenblick anschauen. Nicht wahr, Buch?« Der nickte kräftig. »Buch liest die Bücher der Menschen vor uns. Und er kann dir ihre Geschichten erzählen. Wir hören etwas über das, was war. Einen Abend lang. Das sollte dir etwas wert sein.«
Kraut blickte zwischen Bestemur und Buch hin und her. Wieder und wieder. Ihre dichten Augenbrauen hoben und senkten sich dabei. Dann brummelte sie etwas Unverständliches, stand auf, holte Likör, drei Gläser und Wurzeln in einer Lehmschale, stellte alles auf den Tisch.
»Buch soll nichts trinken. Sein Kopf muss klar bleiben. Er kann Wasser aus dem Beutel nehmen, wenn er Durst hat.«
Kraut nickte, füllte zwei Gläser und setzte sich erneut. Mit zwei Fingern zog sie eine Wurzel aus dem kleinen Haufen und biss hinein. Es roch bitter. Dann endlich nickte sie und streckte die Hand über den Tisch. »Ich bin einverstanden. Aber wenn es mir nicht gefällt, musst du mir Pökelfleisch, Schaffelle und Brot bringen. Noch vor dem Winter.«
»Auch ich bin einverstanden.«
Buchs Gedanken kreisten um die gelesenen Bücher, bewegten alle Seiten hin und her, schließlich landeten sie auf dem kleinsten von ihnen, über dessen Worte er noch heute grübeln musste, denn ihre Bedeutung ließ Buch an die Sonne denken, ohne die es keinen Tag gibt. Und es gab einen Jungen wie ihn auf diesen Seiten. Auf den Armen von Mama und Papa, und dass er, Buch, niemals auf diesen Armen sein würde. Er musste nur die Worte nehmen, sie aus den Seiten lösen, zusammensetzen und so erzählen, dass die Zeit nicht zum Beherrscher wurde und er jene Worte, deren Bedeutung er nicht kannte, nicht aussprach.
»Iss keine Wurzel«, sagte Kraut. »Sie macht aus deinem Mund einen leeren Schlauch. Du wirst nur noch schlecht reden können.«
»Mach ich nicht«, erwiderte er.

Buch starrte auf seine Hände, legte sie übereinander, nebeneinander, spreizte alle Finger. »Da ist ein Mann, eine Frau und ein kleines Kind«, begann er. »Ein Sohn. Coyotito ist sein Name. Juana, der Name der Mutter und Keno der seines Vaters. Sie leben sehr weit weg. An einem großen Meer. Sie haben nur ein kleines Haus, ein Boot, denn der Mann fängt Fische und sucht jeden Tag nach etwas Schönem, dass er Perle nennt. Früh am Morgen steht er auf, rudert hinaus aufs Meer, springt ins Wasser und sucht. Viel zu essen haben sie nicht, aber sie sind eine …«, Buch schaut zu Bestemur. »Eine kleine Familie und freuen sich über den kleinen Coyotito. Sie lachen und essen und leben. Das Meer ist gut zu ihnen. Dann kommt etwas aus dem Dunkel. Eine Gefahr und niemand sieht sie. Coyotito bekommt eine große Wunde. Es heißt, es war ein Skorpion und dieser Skorpion ist so gefährlich wie vom Berg in den Abgrund zu stürzen. Juana und Keno bringen Coyotito zu einem Kräutermann, der heißt Doktor. Aber der will etwas von ihnen, dass sie nicht haben. Ein Tausch, um Coyotito wieder gesund machen zu können. Juana und Keno haben aber nichts zu tauschen. Sie müssen wieder gehen. Juana und Keno weinen. Der Tod möchte Coyotito holen und kommt näher.« Buch atmet tief ein und aus. Vor sich sieht er Keno, wie er ins Wasser springt. »Keno findet aber eine Perle. Eine sehr große. Wie er noch nie eine gefunden hat. Sie muss glänzen und ist schwer. Er hat nun endlich etwas zum Tauschen. Der Kräutermann Doktor kommt und hilft Coyotito, aber nicht auf einmal. Er muss noch viele Male kommen. Alle Menschen wissen nun von der großen, glänzenden Perle. Sie muss so viel wert sein wie zehn Pferde. Deswegen möchte Keno die Perle verkaufen. Das ist so wie tauschen, nur gegen etwas, das alle brauchen können. Geld nennen sie es. Damit kann er dem Kräutermann etwas geben für die Hilfe, bekommt noch Kleider und Essen dafür und sie müssen nicht mehr in einem kleinen Haus leben. Coyotito kann lesen lernen und schreiben, so wie Bestemur Buch das Lesen, Schreiben und Zählen gelehrt hat. Alle Menschen wollen die Perle, aber nichts dafür geben. Nur ihren Glanz haben. Der Kräutermann kommt auch nicht mehr. Keno will sie nicht hergeben für nur ein Pferd, denn für sie bekommt er viel mehr. Also kommen die Menschen, verletzen ihn, wollen die Perle an sich nehmen.« Buch trinkt einen Schluck Wasser. Krauts Augen ruhen auf ihm wie erstarrt. »Juana und Kenos Bruder Tomas reden und wissen, dass niemand ihnen helfen wird. Sie sind allein. Alle wollen nur die Perle. Keiner fragt nach Coyotito oder wie es ihnen geht. Juana sagt, die Perle bringe ihnen nur Unglück. Also soll Keno die Perle zurück ins Meer werfen. Aber der will nicht. Niemals wieder wird er eine so große Perle im Meer finden. Deswegen steht Juana noch vor der Sonne auf, nimmt die Perle, will sie ins Meer werfen, aber ein anderer Mensch kommt und will sie an sich nehmen. Keno bringt diesen Mensch um. Mit der Perle gehen sie zurück zum kleinen Haus. Aber es ist nicht mehr da. Das Feuer hat das kleine Haus und Kenos Boot gefressen. Die Anderen haben alles angezündet. Sie müssen zu Kenos Bruder Tomas. Doch die Menschen suchen sie. Überall. In der Nacht packen sie Coyotito, die Perle, alles was sie an sich haben und wollen in die Stadt. Dort will Keno die Perle gegen Geld tauschen. Aber die Menschen laufen ihnen nach. Durch die Nacht. Keno vertreibt sie, und dabei passiert es.« Buch schaute zu Bestemur, dann zu Kraut, die ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. »Dabei passiert es. Keno tötet Coyotito. Das wollte er nicht. Nur die Perle tauschen, das Leben gut machen. Jetzt haben Juana und er keinen Sohn mehr. Der Tod hat ihn geholt. Alle Menschen haben das gesehen und Keno nimmt ihnen dafür aus Zorn das Leben. Einem nach dem anderen. So viele Leben verlassen die Leiber. Juana und Keno gehen ans Meer und werfen die Perle wie einen Kiesel ganz weit hinaus ins Wasser, wo sie versinkt.«
Buch verstummt. Mit einem Mal weiß er, was die Worte für eine Bedeutung haben. Er kann dieser Bedeutung nachspüren, ihre Pfade verfolgen. Ihren Sinn erkennen. Bestemur trinkt einen Schluck Likör, Kraut beißt in die Wurzel. »Ich weiß jetzt, warum die Menschen Bücher geschrieben haben«, sagte er in die Stille. Keine der beiden antwortete. »Das Buch soll Menschen helfen, zu sehen und zu verstehen. Nicht wahr, Bestemur?« Bestemur schenkte sich erneut ein und nickte dabei.
»Ich wusste, du bist etwas Besonderes. Du hast recht, Buch. Du hast wahrlich recht.« Sie trank das Glas leer. Beide sahen zu Kraut, die immer noch mit geballten Fäusten gegenüber saß, den Kopf gesenkt. Über die runzlige Haut liefen Tränen.

»Ich bin sehr stolz auf dich.« Buch blickte zu Bestemur auf. Stolz sein bedeutet, sie freute sich über ihn. Er hatte etwas besonders gut gemacht. Immer, wenn sie das sagte, war ihr Gesicht heller, die Haut rosiger, das Lächeln breiter und die Augen feuchter. Eine Veränderung, für die Buch nur Worte aus den Büchern nehmen konnte. Etwas passierte in Menschen, wenn sie stolz waren, weinten oder lachten. Wie das Leuchten am Horizont, von dem man wusste, es kommt ein Gewitter, obwohl weder ein Blitz zu sehen, noch Donner zu hören war. Menschen konnten strahlen wie die Sonne, ohne eine Sonne zu sein. Das gab Buch Rätsel auf. Warum fand er keinen Weg zum Weinen, Lachen oder konnte stolz auf etwas sein?
»Danke.«
Sie erreichten das Haus, in dem Tausch all die Dinge verwahrte. Traten ein und Buch spürte etwas Kaltes seinen Rücken hinabkriechen. Das Zwielicht umhüllte beide. Wie ein Schutz vor dem Gestern und dem Morgen. Die schweren Schritte Tauschs hinter einem Regal. »Da seid ihr ja wieder. Ich hoffe, Kraut hat euch gegeben, was ihr gesucht habt.«
»Hat sie«, sagte Bestemur.
»Über ein Essen würde ich mich freuen«, grummelte Tausch, trat ums Regal herum. Wie konnte ein Mensch nur so groß werden?
»Dann mache ich uns etwas zu essen.« Sie zog Buch mit sich, quer durchs Zwielicht, zu einer Stiege, über die beide auf knarzenden Stufen einen Boden erreichten, der das genaue Gegenteil der Unordnung war. Alles hatte seinen Platz, überall war es sauber, so gut es ging. Kaum Staub. Zwei Schilfbesen in einem Eck, eine Metallschaufel hing an der Wand. Bestemur ging gezielt in einen zweiten Raum. »Komm, Buch. Du kannst mir helfen.«
»Gerne. Ich wollte schon immer kochen lernen.«
»Na dann, hier …« Bestemur warf Buch zwei braune Steine zu, die keine Steine waren. Kleine Wurzeln krochen auf der einen Seite heraus. »Was ist das?«
»Zwiebeln. So etwas Feines haben wir nicht im Tal. Du nimmst ein Messer und schneidest die braune Haut weg, dann einmal in der Mitte teilen. Aus jeder Hälfte machst du dann halbe Ringe.«
Buch starrte auf eine der Zwiebeln, Bestemurs Worte kreisten vor seinem inneren Auge. Er packte zu. Braune Haut muss weg. Auf dem Tisch lag ein Messer. Er setzte an und schälte die Zwiebel, dann die zweite, teilte sie und spürte ein Jucken in der Nase. Die halben Ringe. Alles duftete nach dem weißlichen Saft, der aus dem Fleisch der Zwiebel austrat und auf den Tisch tropfte. Buch musste niesen. Mit seinen Augen passierte etwas. Er schniefte, konnte kaum noch was sehen.
»Bestemur! Ich werde krank!«, rief er und legte das Messer weg, rieb die Augen, worauf es noch schlimmer wurde, das Brennen und Jucken. Nichts klappte mehr. Er sah nichts, in seiner Nase steckte Schleim, das Atmen fiel ihm schwer. »Bestemur!«
Statt einer Antwort hörte er lautes Lachen und ein klatschnasses Tuch legte sich auf sein Gesicht, wischte hin und her, in die Augen. Dann verschwand es. »Nicht reiben«, sagte Bestemur, deutlich belustigt. Wieder das Tuch. Wie schön kaltes Wasser doch war. Noch ein zweites und ein drittes Mal durch die Augen. Dann sah er wieder etwas und blickte in Bestemurs Gesicht. Die Zwiebeln hatte sie auf die Seite geschoben.
»Siehst du, jetzt weißt du, wie es ist, wenn man weint. Alles verschwindet hinter einem Vorhang aus salzigem Wasser. Man ist zu nichts mehr fähig.« Buch schmeckte den Geschmack der Zwiebeln auf der Zunge. Ein bisschen süßlich, wie das braune Moos auf den schwarzen Felsen. Bestemur hatte das mit Absicht getan. Ihm die Zwiebeln gegeben. Er sollte wissen, wie das Weinen wirklich ist.
»Aber wenn du weinst, Bestemur, dann schneidest du keine Zwiebeln.« Sie knuffte seine Schulter.
»Du kluges Kerlchen. Nein, keine Zwiebeln. Die Menschen haben so was wie eingesetzte Zwiebeln. Wenn unser Herz schwer wird, dann kommt das Weinen von selbst. Wir sind dann traurig, spüren Schmerz in unserer Brust. Weinen befreit uns von diesem Schmerz.«
»Dann ist weinen gut?«
»Ja, weinen ist wie atmen in dunklen Zeiten.«
»Jetzt schneide ich aber keine Zwiebeln mehr.«
»Schneid sie einfach unter Wasser.« Er starrte sie an. Das stand aber in keinem Buch. Das machte Sinn. Und wenn es Sinn machte, war es gut.

Etwas so Feines hatte Buch noch nie gegessen. Tausch rülpste und hielt sich den Bauch. Bestemur lehnte an der Wand. Alle Töpfe und Teller waren restlos leer. »Wenn du nicht mehr da oben leben willst, kommst du zu mir, Bestemur. Dein Essen ist die Sonne eines jeden Tages.«
»Du meinst, ich soll für dich kochen?«
Er sah sie überrascht an. »Ja. Ist da so abwegig? Die Geschäfte gehen gut, wir haben alles, das Dach ist dicht. Es würde uns an nichts fehlen.«
»Ich kann Berg und Tal nicht allein lassen.«
Tausch stand auf, stellte Geschirr und Besteck zusammen und räumte alles in den Zuber, kippte einen Eimer Wasser drüber, dann setzte er sich wieder, öffnete den Krug und schenkte sich von einer gelblichen Flüssigkeit ein. »Du bist ein guter Mensch, Bestemur«, sagte Tausch und leerte das Glas in einem Zug. »Und du hast einen Geschichtenerzähler an deiner Seite. Was meinst du, Buch, könntest du uns nach dem guten Essen eine Geschichte erzählen?«
Buch suchte einen Punkt an der Wand hinter Tausch. Er nickte langsam, immerzu, blätterte in seinem Kopf. Da gab es ein Buch, dessen Sinn er folgen konnte, aber nicht, was die Menschen darin fühlten. »Das mache ich gerne. Und zwar erzähle ich euch von dem Jungen und dem Meer. Einem ganz weit entfernten Meer. Ich weiß nicht, wo es ist, aber man kann bestimmt nicht hinlaufen. Dort ist es kalt und das Meer bringt den Menschen das Leben oder den Tod. Ganz wie es will. Der Junge ist vielleicht so alt wie ich. Er heißt Kirisk. Und so wie Buch zum ersten Mal mit Bestemur in die Stadt durfte, besteigen Kirisk, sein Vater, ein Onkel und ein alter Mann das Boot, fahren hinaus aufs Meer bis zu einer Insel. Sie nehmen Wasser mit und was zu essen. Die Insel ist bestimmt so etwas wie der Felsen in unserem See oben im Tal. Dort kann man hin rudern, sich ausruhen. Aber Kirisk und die drei Männer müssen sehr lange rudern, denn das Meer ist groß. Auf der Insel leben Tiere, die sie Robben nennen. Ich weiß nicht, was das ist, aber sie sind vielleicht wie unsere Schafe, denn man kann ihre Haut benutzen und ihr Fleisch essen. Zum ersten Mal macht Kirisk den Weg, denn er soll jetzt ein Mann werden und zeigen, was er gelernt hat. Die Männer erzählen sich Geschichten, als ob das Meer und das Drumherum etwas Lebendiges wäre und alle Menschen nur kleine Kiesel in einem Meer aus Kieselsteinen.«
Buch holte tief Luft. Er schmeckte die gebratenen Zwiebeln im Mund und schmatzte. »Auf der Insel muss Kirisk töten. Das tun, was alle Männer dort lernen müssen, um zu leben. Der Robbe die Haut abziehen, das Fleisch in Salz legen, das Fett in Eimer packen. Als sie fertig sind, steigen sie wieder ins Boot, machen sich auf den Heimweg, aber der Nebel kommt. Er legt sich übers Meer wie der Nebel im Tal nach dem Winter. Sie wissen nicht, wohin sie rudern sollen. Und sie haben nicht viel Wasser. In einem Buch steht, das Wasser im Meer ist salzig wie Tränenwasser. Man kann es nicht trinken, ohne zu sterben. Was sollen sie tun? Der alte Mann weiß, dass nur das Sterben helfen kann. Er verlässt das Boot ins Meer. Aber sie wissen immer noch nicht, wohin sie rudern sollen und haben Durst. Also verlässt der Onkel das Boot, damit das Wasser reicht. Doch die Zeit vergeht und der Nebel ist kein Freund. Sie wissen einfach nicht, wo sie hinmüssen. Also verlässt auch der Vater das Boot, um Kirisk das Leben zu geben. Der ist nun allein und hat das Wasser aller Männer. Es gibt noch etwas, das er eine weiße Eule nennt, die in der Luft sein kann, aber ich weiß nicht, was das ist. Kirisk kommt wieder nach Hause und seine Mutter ist so froh und weiß, dass getan werden musste, was getan wurde, um Kirisk am Leben zu halten, denn das Meer ist mächtig und holt, wen es will und wann es will. Das war die Geschichte vom Jungen Kirisk und dem Meer.«

Bestemur und Tausch schwiegen. Sein Blick ruhte auf ihr. Langsam wanderte seine rechte Hand über den Tisch. Bestemur ließ ihre liegen, als Tauschs Finger sie berührten. Buch staunte. »Ich habe die Worte nicht alle verstanden«, sagte er. »Der Sinn ist, dass alles Trinkwasser auf dem Boot nur ausreicht, wenn sie genau so schnell zurück sind, wie auf dem Hinweg. Aber der Nebel kommt und sie wissen nicht wohin. Die Stunden vergehen, die Tage. Der älteste Mann lebt am kürzesten, also muss er ins Wasser. Alle müssen weg, bis auf Kirisk, dessen Leben am längsten dauert. Das macht Sinn.« Tauschs Hand lag immer noch auf der von Bestemur, die keine Anstalten machte, sie zurückzuziehen. »Warum waren die Männer so traurig? Warum haben sie geweint? Es ist doch besser zu leben, als zu sterben. Oder?«
Jetzt zog Tausch die Hand zurück und starrte Buch an. Zog die Finger durch den Bart. Allerlei Zeug purzelte heraus. »Was ist mit ihm, Bestemur? Stellt er wirklich solche Fragen?«
»Das tut er, Tausch. Buch ist etwas Besonderes. Niemand von uns kann ihm das Wasser reichen.« Tausch zog die Augenbrauen zur Nasenwurzel.
»Aber er ist noch ein Kind. Kinder stellen nicht solche Fragen. Ich kenne jedenfalls keins.«
»Buch tut das.« Wieder wühlte Tauschs Hand im Bart. Noch mehr Unrat fiel heraus.
»Und du hast ihn gefunden?«
»Ja, oben am Pass zum Bergsee. Einen Tag später und er wäre tot gewesen.«
»Das ist Schicksal«, hauchte er und trank zwei Gläser voll des gelblichen Zeugs hintereinander. Bestemur erhob sich. Ihr Blick ruhte einen Moment auf Tausch, dann ging sie die wenigen Schritte zum Zuber und begann das Geschirr zu säubern. Buch suchte ein einigermaßen sauberes Tuch und trocknete ab, was Bestemur ihm reichte. Die drehte sich um.
»Sag mal, Tausch, was ist eigentlich mit den Büchern passiert, auf die der verstorbene Buch aufgepasst hat?«
Tausch bohrte in der Nase.
»Sind immer noch dort. Brot passt auf sie auf. Was sollten wir mit dem Kram tun? Niemand kann lesen. Oder stottert sich was zusammen, das weder du noch ich verstehen.«
»Warum lernt niemand lesen?«, fragte Buch, sah kurz zu Tausch und kontrollierte dann die Sauberkeit einer Tonschale im fahlen Licht.
»Für was?«, wunderte sich Tausch. »Das Leben ist gut zu uns. Wir haben alles. Es werden sogar von Hellmond zu Hellmond immer mehr Fische.«
»Lesen lernen macht Sinn«, sagte Buch. »In den Büchern steht viel übers Leben.«
»Ich weiß alles«, entgegnete Tausch und kippte zwei weitere Gläser in sich hinein. »Mir musst du nichts mehr beibringen.«
»Wir werden morgen früh zu den Büchern gehen und ein paar mitnehmen«, entschied Bestemur. »Was ist mit dem Pferd?«
»Ich bringe das Pferd in ein paar Tagen. Es ist ein gesundes Tier und wird euch da oben gute Dienste erweisen.« Bestemur nickte und Tausch erhob sich schwerfällig. Er wankte zum Bett, legte sich hinein. Im nächsten Moment atmete er ruhig, murmelte vor sich hin. Bestemur deckte ihn zu.


»Die Bücher sind ganz allein«, sagte Buch und Bestemur dachte, dass es schön wäre, würde Buchs Stimme eine traurige sein; aber das war sie nicht. Er stellte einfach fest, dass alle Bücher allein waren. Nur das. Dann fiel ihr auf, dass er Bücher immerhin gleich den Menschen setzte. Das gefiel ihr. Sie folgte dem Gedanken, während Buch sich vorsichtig durch Kisten und Regale arbeitete.
»Buch, denkst du, dass Bücher allein sein können?«
»Ich denke es nicht, nein. Ein Buch ist ein Ding. Aber ein Mensch hat es geschrieben. Und viele andere Menschen hineingesteckt. Vielleicht welche, die er kannte. Also steckt in einem Buch das Leben Vieler. Es macht Sinn, sie nicht allein zu lassen.«
»Sonst sind die Leben verloren«, führte Bestemur Buchs Denken weiter.
»Ja, vielleicht. Sind die Worte der Menschen noch auf Papier, ist nicht alles verloren. Sind sie weg, wird sich niemand mehr an sie erinnern.« Buch zog ein sehr großes aus einer Kiste und legte es ins Licht, das durch ein kleines Fenster unterhalb der Decke seinen Weg ins Halbdunkel fand. Beim Öffnen knarzte es, Staub wirbelte auf.
»Hast du etwas entdeckt?«
»Die Fjorde in Norwegen«, steht oben drauf. Auf dem Bild sieht es fast so aus wie draußen.«
»Die Fjorde in Norwegen«, wiederholte Bestemur. »Es gibt noch viele Fjorde. Ich kenne drei. Eines Tages, lange bevor ich dich fand, kam ein Boot, das einen Mann brachte. Er wollte weiter nach Norden und erzählte uns, aus einer großen Stadt zu kommen, die er Stavanger nannte. Ich weiß nicht, wo das ist, aber sicher an einem Fjord.«
»Du hast gesagt, du warst mal in einer großen Stadt. Hatte die einen Namen?«
»Tromsø.«
»Das klingt aber seltsam. Wo ist das?«
»Tromsø liegt weit im Norden.«
Buch starrte auf das Wort ‚Norwegen’ und schob den seltsamen Namen dieser Stadt auf Seite. »Die Fjorde in Norwegen macht nur Sinn«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf das Wort, »wenn Norwegen das ist, wo alle Fjorde zu finden sind. Und wenn wir in den Fjorden leben, dann leben wir alle in Norwegen.«
»Das macht Sinn«, bestätigte Bestemur.
»Coyotito lebte in einem Land das Mexiko heißt. Dann ist Norwegen auch ein Land. Also gibt es noch viele … wie sagt man? Viele Lande? Alle haben einen Namen.«
»Alles Ding hat einen Namen«, stellte Bestemur zufrieden fest. »Wir haben so viele von ihnen vergessen.«
»Ich will das ändern«, sagte Buch und schloss den Deckel. »Das hier nehme ich mit. Jetzt will ich Bücher mit Bildern lesen. Ich will sehen, wie die Welt aussieht.«
»Eine gute Idee. Wenn Tausch das Pferd bringt, können wir noch mehr Bücher holen.« Buch rieb die Hände und hauchte wärmenden Atem zwischen sie. Es wurde von Morgen zu Morgen kälter. Der Winter rückte heran.

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