Sein oder nicht sein

Kapitel 17

Eine Woche Urlaub und schon am ersten Tag will ich wieder arbeiten gehen, reiße dann doch das Kalenderblatt der letzten Woche ab, lese den Spruch und vergesse ihn gleich wieder. Das heutige Datum sticht ins Auge. Der 23. Februar 1987, vor zweiundvierzig Jahren wurde die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Dann sind heute Gedenkfeiern, Bürgermeister und wichtige Menschen treffen sich irgendwo, legen Kränze nieder. Der für mich wichtigste Mensch zieht heute um. Und nicht nur das: Ich habe Silvia angeboten, sie zu fahren. Mit der wenigen Habe, die sie hat. Im Opel nach Friedrichshafen. Als würde ich die Reise zu meiner eigenen Hinrichtung organisieren. Aber zugesagt ist zugesagt. Vier Mal hat sie die Frage wiederholt und jedes Mal habe ich genickt. Wir fahren um zehn Uhr los. Schnee ist erst mal keiner gemeldet, aber das kann sich auf der Alb in Windeseile ändern. Ein kurzer Blick in den Spiegel im Badezimmer. Der dort bin nicht ich. Ein Fremder ist zu sehen. Dieser Kerl im Spiegel hat die Prüfungen bestanden. Gratulation. Einer Übernahme steht nichts mehr im Weg. Wunsch: Paketzusteller. Draußen bei den Menschen mit all ihren Problemen, aber allein im Fahrzeug. Sommer, Winter, Regen, Wind, meine Ruhe. Das ist er, der Kerl im Spiegel. Ich hingegen drifte immer weiter ab vom Kurs. Es zieht mich irgendwohin auf eine planlose Reise. Zunächst zu Silvia, die einen gnädigen Vermieter hat und unter Zuhilfenahme eines Augenblauaufschlags einer Kündigung zum Ende des Monats sofort zugestimmt hat. Die Wohnung ist tipptopp, keine Bohrlöcher, Kaution gibt es umgehend, ein Konto bei einer Bank in Friedrichshafen ist schon eröffnet. Probezeit beim neuen Arbeitgeber? Geschenkt. Silvia weiß, was sie kann und geht davon aus, der neue Arbeitgeber ist hin und weg, wenn sie einmal angefangen hat. Ich nehme den Schlüsselbund, ziehe die warme Jacke über und lausche in die Zimmer. Alles still. Das ist mein Leben. Alles still.

Drei Koffer, zwei Taschen und ein großer Wanderrucksack. Lebensmittel hat sie der Nachbarin ein Stockwerk tiefer gegeben. Die hat zwei Kinder, ist alleinerziehend und dankbar für jede Hilfe. Eingeladen ist schnell, der Vermieter nimmt Schlüssel und Übergabeprotokoll, wünscht Silvia alles Gute, ich steige ein, zünde eine Lucky an und warte. Es ist bewölkt und knapp unter null Grad. Ich hoffe, die Autobahn ist einigermaßen frei. Silvia öffnet die Beifahrertür, schaut die Fassade hinauf, runter auf die Enz, dann steigt sie ein, pustet die Luft aus und schließt die Augen. Zwei, drei Mal hebt sich ihr Brustkorb, dann schnallt sie sich an.
»Okay, kann losgehen.«
»Es kann losgehen. Nichts vergessen?«
»Nein, nichts vergessen.«
»Stört es dich, wenn ich Musik mache?«
»Solange es nicht zu wild ist …«
Aus dem Kassettenregal nehme ich eine Mixkassette, schiebe sie ins Fach, starte den Motor. Velvet Underground beginnen mit Venus in Furs. Silvia sagt nichts, schaut aus dem Fenster zum Gymnasium auf der anderen Seite. Tank ist voll, Wischwasser aufgefüllt, Öl kontrolliert, Reifendruck ist 1a. Es geht los. Über KF und Jahnstraße fahre ich zur Calwer Straße, Holzgartenstraße und bald erreichen wir die Auffahrt zur A8.
»Kann ich das noch mal hören?«
»Klar.«
Sie spult zurück. »Wer ist das?«
»Velvet Underground. Zweite Hälfte der 60er im Dunstkreis um Andy Warhol. Lou Reed singt, spielt Gitarre und John Cale die Violine.«
»Das ist schön. Melancholisch und wenn ich in den Himmel schau, sehe ich seltsame Figuren. Ich glaube, sie kommen aus meiner Angst.«
»Was sind das für Figuren?«
»Tote Menschen auf toten Pferden.«
Den Berg hoch geht es nicht sehr schnell. Wir hängen hinter einem LKW. Ich lege die Hand auf ihren Oberschenkel und streiche auf und ab.
»Weißt du, wie das ist, wenn man immer fliehen muss?« Ich schüttle den Kopf und setze endlich den Blinker. »Du bist mitten in einem Strom, ein sehr breiter Strom. An den Ufern stehen die schönsten Sachen …«
»Ich, zum Beispiel.«
Sie lächelt. »Du, zum Beispiel. Aber nichts hält diesen Strom auf. Alles zieht vorüber. Unaufhaltsam.«
»Ich, zum Beispiel.«


Am Flughafen in Echterdingen beginnt es zu schneien. Kaum der Rede wert. Schneller als hundert fahre ich in der Regel nicht. Überholen lassen, eine Zigarette rauchen, Musik hören. Jim Morrison besingt die Riders on the Storm. Silvia schläft, die Lehne abgesenkt, meine dicke Jacke als Decke, ein Handtuch am Rahmen als Kopfkissen. Der Albaufstieg kommt, Kirchheim, dann teilt sich die Autobahn und nach dem Tunnel liegt etwas mehr Schnee. Ein Streuwagen ist vor uns, wirft Salz. Nicht mehr lange bis Ulm. End of the Night ist gerade fertig, When the Music’s Over beginnt. Noch eine Zigarette. Ist vielleicht besser, wenn sie schläft. Keine Gedanken, keine verletzenden oder verletzte Worte. Nur fahren. Meine Ideen, Pläne, Vorschläge zu einem Ortswechsel meinerseits sind ins Leere gelaufen. Zu wissen, dass man liebt und geliebt wird, es aber niemals annehmen kann, weil die Dämonen sonst wütend werden, hat alle Qualitäten für ein shakespearsches Drama. Wie soll ich das jemals in kleine Gedichte packen? Das wird mir nicht gelingen. Ich muss Geschichten schreiben, Romane. Ein besserer Schriftsteller werden, wenn ich denn überhaupt einer bin oder überhaupt etwas bin.

Ulm und Neu-Ulm liegen hinter uns, wir sind auf der B30 nach Süden, der direkte Weg nach Friedrichshafen. Noch einmal The End hören. Ich erinnere mich an Köln, Kino am Gürtel vor neun Jahren. Mit zwei Freunden haben wir Apokalypse Now gesehen. Erst neun Jahre und schon kommt es mir wie eine Ewigkeit vor.
»An was denkst du?«
Silvia ist wach. Wie lange schon? »Ich denke an Köln und einen Kinoabend vor neun Jahren. Wir haben Apokalypse Now gesehen.«
»Wer?«
»Zwei Freunde und ich.«
»Du denkst daran wegen des Songs?«
»Ja, auch wegen des Songs.«
»Vermisst du die Zeit?«
»Nein, nicht wirklich. An diesem Abend war noch nicht klar, dass ich wegziehen würde. Ein paar Tage später schon.«
»Hattest du eine Freundin?« Jim Morrison ist fertig. Ich lege eine andere Kassette ein. Beatles, das Weiße Album. Hatte ich eine Freundin? Seltsam, dass sie das fragt.
»Da gab es ein Mädchen, ja, aber sie war wie du mitten auf einem Strom, die schönen Dinge zogen vorüber, nichts konnte diesen Strom aufhalten.«
»Wie ich?«
»Ja, genau wie du.«
Silvia dreht sich auf dem Sitz, schaut mich an. Unter der Jacke taucht ihre Hand auf und berührt meine Wange. »Du meinst, genau wie ich?«
»Ich meine, genau wie bei dir.«
»Und niemand konnte ihr helfen.«
»Nein. Niemand.«
»Ihr habt euch geliebt?«
»Sehr geliebt.«
»Das ist schlimm. Jetzt passiert es ein zweites Mal.«
»Hast du einen Führerschein?«
»Hab ich.«
»Dann fahr du, bitte.« Ich halte auf dem Seitenstreifen, Warnblinker an. Wir wechseln und ich decke mich zu. Da ist ihr Duft an meiner Jacke. Die Tränen wische ich mit dem Ärmel ab. Eine Zigarette wird helfen.


Nebel über dem Bodensee. Dafür ist er bekannt um diese Jahreszeit. Scheint allerdings die Sonne, wird Silvia den Vorarlberg sehen, den Säntis und das Appenzeller Land, vor sich das Schwäbische Meer. Nicht die schlechteste Gegend, um sich ein neues Zuhause aufzubauen. Mit der Fähre ist sie in einer knappen Stunde in Konstanz, kann Richtung Bregenz oder Romanshorn fahren. Ich beneide sie ein kleines bisschen. Die Wohnung ist komplett möbliert, Einbauküche, Bad, alles vorhanden. Die Besitzerin ist im Pflegeheim gestorben, dementsprechend rustikal ist die Einrichtung, dem Sohn der Besitzerin ist es egal, ob seine Mieterin die Möbel auf den Sperrmüll stellt oder behält. Geld ausgeben muss Silvia erst mal nicht.
»Typische Oma-Wohnung«, stelle ich fest.
»Mich stört’s nicht. Mit der Zeit werde ich das eine oder andere austauschen, aber ich habe ein Bett, ein Bad und eine Küche. Was will ich mehr?«
»Mich?« Sie lacht auf und hustet dabei. »Ich bleibe gerne hier. Ist ne schöne Gegend«, schiebe ich nach. Dann steht sie auf, sucht in allen Hängeschränken nach etwas Bestimmtem und findet eine Kanne, einen Filterbehälter samt Filter und Kaffeepulver, hängt die Nase in die Packung und runzelt die Stirn.
»Schon ziemlich alt. Soll ich einen Kaffee machen?«
»Nein, wer weiß, wie alt der schon ist. Ich habe das Auto, wir gehen einkaufen und danach was essen.«
»Gute Idee. Die Gegend erkunden wäre von Vorteil.«
Alles ist von Vorteil, um Zeit zu schinden, denke ich und stehe auf. »Du bist kühl. Warum?« Ihr Blick bleibt an mir haften. Als würde ich nicht kapieren, um was es geht.
»Du weißt, warum ich kühl sein will. Nicht muss. Ich muss nicht kühl sein, aber uns beiden fällt es umso schwerer, je weniger kühl wir sind, oder?« Sie ist mir über. Ganz klar. Vier Jahre mehr Lebenserfahrung? Ist es das? Oder hat sie einen Schutzschirm aufgebaut, der jedem romulanischen Warbird zur Ehre gereicht? Alles, was ich in meiner naiven Hoffnung sage, kann sie nur verletzen.
»Schreib bitte einen Zettel. Ich gehe einkaufen. Du kannst solange dein Zeug einräumen.« Sie lehnt sich an die Spüle, verschränkte Arme.
»Bist du sicher?«
»Klar.«
»Na gut, dann schreibe ich mal.«


Es gibt einen Norma, fast ums Eck. Bäckerei, Metzgerei, Apotheke und Kneipen. Alles da, was man für das tägliche Leben benötigt. Sogar Menschen. Nicht zu wenig. Aus einer Kneipe kommen drei junge Männer, nicht mehr nüchtern. Zum Seeblick steht über dem Eingang. Vom See ist allerdings nichts zu sehen. Ich gehe hinein, an die Theke, setze mich. Zwei Rotomaten, ein Flipper, Dartscheibe an der Wand. Theke und Wände dahinter sind aus Nut- und Federbrettern gezimmert. Das ist wirklich das untere Ende der Zivilisation.
»Und?«, sagt die Frau an der Zapfanlage. »Neu hier? Hab dich noch nie gesehen.«
»Ich dachte grad, ich kenne dich von irgendwo her.« Sie lässt das Zapfen und starrt mich an.
»Mich? Du kennst mich? Nee, da muss eine Verwechslung vorliegen. Hab dich noch nie gesehen. Und ich kann mir Gesichter merken, glaub mir. Brauchste in dem Job.«
»Kann sein. Wahrscheinlich sogar. Bin ja auch ein bisschen jünger als Sie.«
Die Gute stellt das Glas mit mehr Kraft auf die Spüle als es ihm gut tut. Es bekommt einen Sprung. Sie flucht, kippt es aus und schmeißt es unter der Spüle in einen Behälter. »Na, hör mal. So viel älter bin ich aber sicher nicht. Steh noch gut im Saft.«
»Ja, stimmt auch wieder.«
Sie grinst. »Also, was willste?«
»Southern Comfort mit Cola und Zitronensaft.«
Ihre Augenbrauen rucken ein Stück hoch. »Wie? Also, so was haben wir nicht. Cola, okay. Zitronensaft presse ich dir, aber Southern Comfort trinkt hier niemand.«
Mit beiden Händen reibe ich übers Gesicht. Ich bin müde. Mehr als müde. Einfach für den Rest meines Lebens schlafen, das wäre es jetzt.
»Ich empfehle dir mein Spezialgetränk. Gibt es normal nur abends, aber weil du neu bist …«
»Nehme ich.«
Sie stülpt die Lippen vor, nimmt ein 0,4er-Glas und füllt etwas Hellbraunes ein, leicht sprudelnd. Dann ordentlich Mescal dazu und einen dunkelroten Saft. Zwei Eiswürfel hinein, dann bekomme ich mein Getränk. Es wird schon schmecken. Ein großer Zug, ohne lange zu überlegen. Mit der Zunge schiebe ich es durch den Mund und gleich den nächsten Schluck.
»Gar nicht schlecht. Was ist das?«
»Almdudler, Mescal und Johannisbeersaft.«
»Eine gefährliche Mischung.« Sie grinst, hält die Hand über die Theke. Ich greife zu.
»Sara ohne ›h‹.
»Heinrich, mit ›H‹
Sara ohne ›h‹ lässt nicht los, dreht meine Hand nach allen Seiten. »Du hast wahrlich schöne Hände. Ziemlich kräftig.«
»Danke.«
Immer noch hält sie an mir fest. »Jetzt bist du dran mit einem Kompliment. Ich mag Komplimente.«
»Ich kann nicht, Sara.«
»Woran hängt’s?«
»Ich hab vor ner Stunde meine Freundin hierher gefahren, die jetzt nicht mehr meine Freundin ist. Sie ist umgezogen und ich hab ihr geholfen. Jetzt muss ich wieder heim. Aber ich liebe sie. Sie ist in meinem Kopf und überall in mir. Deswegen kann ich nicht. Hat also nix mit dir zu tun.«
»Scheiße«, sagt Sara und lässt los. »Ich mach dir noch nen Sara Spezial.«
»Danke.«


»Warum tust du das?«
»Was?«
»Trinken?«
Ich hole alles aus dem Rucksack, ordne es auf dem Küchentisch. Zewa, Kaffee, Butter, Marmelade, Brot und Käse, nichts hab ich vergessen. Für fünfzig Mark eingekauft. »Der ist gar nicht weit weg, der Norma. Dreihundert Meter, zweimal rechts rum. Da gibt es noch einen Bäcker, ne Metzgerei und ne Apotheke.«
»Du musst es mir ja nicht sagen. Fährst du jetzt?«
»Ja, bin dann gleich weg.«
»Du hast Alkohol getrunken. Ohne Führerschein ist auch nix mit Postzusteller.«
»Ich werde nicht zur Post gehen.«
»Du bist bei der Post.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Ja, ich weiß.« Sie räumt den Einkauf weg, riecht in den Kühlschrank und verzieht das Gesicht. »Einen neuen Kühlschrank werde ich auf jeden Fall kaufen. Der hier lebt. Gut, dass Winter ist.«
»Ja, gute Idee«, sage ich und denke an etwas, das explodiert. Wenn ich noch mehr solchen Mist höre und rede, fahre ich mit dem Opel in den Bodensee. Silvia stellt die Packung Pfefferminztee neben den Brotkasten, macht drei Schritte auf mich zu und legt die Arme um mich. Drückt so fest sie kann.
»Denk nicht, dass mir alles leicht fällt. Im Gegenteil. Aber ich weiß, was passieren wird. Du wirst es erdulden. Dann passiert es wieder. Und noch mal, eine endlose Folge von kalt und warm. Das kann ich nur mit mir selbst ausmachen. Es wäre unverantwortlich, dir das aufzubürden, selbst wenn du jetzt denkst, alles würde gut mit der Zeit. Niemand weiß es. Vielleicht ist es eines Tages einfach verschwunden.«
»Ich muss jetzt gehen«, flüstere ich in ihr kurzes Haar, so zerzaust wie es ist, wird sie das noch anpassen müssen, bevor sie den Job antritt. Ich weiß nur nicht, ob ihre Haare das wissen.
»Du kannst hier bleiben, dich ausruhen. Schlaf den Alkohol weg.«
»Kann mich unterwegs irgendwo hinstellen und dösen.«
»Dachte ich mir.«


Als ich die Tür öffne, lächelt Sara. Ich setze mich auf den selben Hocker, zünde eine Lucky an und schau ihr zu.
»Noch einen Sara Spezial?«
»Gerne.«
»Hast du dich verabschiedet?«
»Hab ich.«
»Wie war’s?«
Prompt verschwimmt mein Blick, ich kann es nicht unterdrücken. Warum auch? Drei Schnapsleichen hier drin, eine an der Theke, der Kopf keine fünf Zentimeter über dem Holz, die anderen beiden an je einem Fenstertisch. Sie sind Statuen. Dauerinventar.
»Weißte was? Ich ruf meine Cousine an. Die kann bis heute Abend die Theke übernehmen. Wir gehen zu mir hoch.« Sie löst einen Schlüsselbund von einer langen Kette am Hosenbund. »Geh da links durch, zweiter Stock, nur eine Wohnungstür. Ich komme gleich nach. Deinen Drink bring ich mit hoch.« Ich würde zu allem Ja sagen. Hauptsache, es passiert etwas, egal was. Mit einem Nicken, nehme ich den Schlüssel und gehe hinauf zu Saras Wohnung. Von hier oben hat man tatsächlich einen kleinen Blick auf den See. Auf das Nebelmeer. Es gibt nur wenig Platz, Dachgeschoss mit Kniestock, Regale mit viel Tinnef, Kram, kleine Figuren, alles sehr sauber, akkurat hingestellt, ausgerichtet und doch wie ein Museum. Sie wohnt allein. Das hier ist ihr kleines Himmelreich. Sprüche an der Wand aus Abreißkalendern. Weisheiten, die niemand von sich gegeben hat, außer der Marketingabteilung.

Nach einer Viertelstunde klopft es. Ich öffne. Sara geht sofort ins Badezimmer. Ich trinke ihren Spezial. Daran könnte ich mich gewöhnen. Dieses Mal ist mehr Mescal drin. Mitten im Zimmer steht eine Zweier-Couch, exakt ausgerichtet, Kork unter den Stahlfüßen, eine Decke als Schutz darüber gelegt. Ich weiß nicht, ob ich sie wegnehmen muss oder nicht. Also setze ich mich davor auf den Boden. Es klickt und Sara kommt aus dem Badezimmer. Sie hat eine Schlabberhose an, Jogginghose, zwei Nummern zu groß, die hochgebundenen Haare trägt sie nun offen. Vorsichtig setzt sie sich hinter mich, ein Bein links, eins rechts meiner Schultern.
»Ich hoffe, du denkst nicht zu schlecht über mich.«
»Warum sollte ich das?«
»Na ja, wir kennen uns ein paar Minuten und ich geb dir meinen Wohnungsschlüssel. Du hast grad deine Freundin verloren und ich …«
»… und du nutzt das aus?«
»So in etwa.«
»Ich hätte ja den Schlüssel nicht nehmen müssen.«
»Aber du hast. Warum?«
»Ich weiß nicht. Ich wollte jetzt nicht allein sein.«
Sie nickt. »Bei mir kannste das Jetzt weglassen.«
»Wie alt bist du?«
»43. Sieht man das?«
»Nein, absolut nicht. Was aber auch egal wäre oder ist. Verzeih, wenn ich neugierig bin, aber mit 43 … hat man da nicht meist eine Beziehung? Eine Ehe? Und Kinder?«
»Wenn nicht alles in die Hosen gegangen wäre, dann hättest du recht« Sara nimmt mir den Spezial aus der Hand, trinkt ihn leer, stellt das Glas auf den Boden und legt sich hin, rutscht dicht an das Rückenteil. »Würdest du dich neben mich legen?« Das tue ich. Sie greift nach dem Stück der Decke, das über der Lehne liegt und hüllt uns ein. Ihren Kopf schiebt sie auf meinen Oberarm. Sie duftet nach einem herben, bitteren Parfüm. »Und mich einfach fest in den Arm nehmen? Ja?«
Ich nicke. Saras Haare kitzeln meine Nase. Ich spüre den Mescal, höre sie ruhig atmen. Ich glaube, sie schläft gleich ein. Vielleicht sollte ich das auch tun.