Paul und die Jungs | Kapitel 9

Sackgassen

Paul schläft noch. Nehme ich an. Die Zimmertür ist zu. Vater köpft sein Frühstücksei und macht ein zufriedenes Gesicht. »Wunderbar. Genau richtig. Dotter läuft noch ein wenig. Nicht zu fest, nicht zu weich. Hat sich gelohnt, der neue Eierkocher, was?«
»Man muss trotzdem die richtige Menge Wasser einfüllen und die Eier anpiksen«, erwähnt Mutter. »Ganz von selbst macht er das auch nicht.«
»Wohl wahr«, seufzt er. »Irgendwann in der Zukunft wird alles von selbst passieren. Wie in Perry Rhodan oder Raumschiff Enterprise«, setzt er nach, löffelt den unteren Teil vom Ei komplett aus der Schale und steckt es in den Mund. Direkt hinterher schiebt er ein Stück Toastbrot hinein. Ein Druck auf seine Wange, und alles würde auf dem Tisch landen.
»Rudolf … muss das sein?«
»Mhm!«
»Es gibt ein Problem«, sage ich und beide starren mich an. »Es ist Paul.«
»Lass hören«, fordert Mutter mich auf. Ich puste die Luft langsam aus und sehe beide an. Es muss sein, ermutige ich mich im Stillen.
»Paul mag Jungs. Das war sicher der Grund, warum er die Schule verlassen hat, weil … weil er sich in mich verliebt hat. In Marsdorf hat er einen Typ kennengelernt, ein gewalttätiges Arschloch. Bei ihm ist Paul eingezogen. Weil dieser Typ ihn immer im Betrieb küsst, ist er rausgeflogen und die anderen haben Paul fertig gemacht …«
»Inwiefern fertig gemacht?«, hakt Mutter ein.
»Rosa Sachen geschenkt, dumme Sprüche und du weißt, er hat keine harte Schale …«
»Die Idioten«, brummelt Vater und verliert zwei Klümpchen Eigelb.
»Paul kann nicht mehr dort arbeiten. Das würde ihn vollends auf den Boden bringen. Und aus der Wohnung von diesem Idioten hab ich ihn gestern rausgeholt.«
»Und jetzt ist er wieder daheim?«
»Nee, Mama, da will er nicht hin. Er kann nicht alleine sein. Du weißt, wie seine Mutter arbeitet.« Sie nickt. »Er braucht im Moment ein richtiges Zuhause, jemand muss da sein«, vollende ich den ersten Teil meiner Idee. Vater trinkt einen Schluck Kaffee und sieht mich über den Tassenrand hinweg an. Mutter legt den Kopf schräg.
»Und mit einem richtigen Zuhause meinst du …«
»So ungefähr, Mama, da meine ich hier.«
Ich weiß, dass sich die beiden jetzt angucken, beiße also lieber in mein Toastbrot und klopfe das Ei auf.
»Also, ähm …«, beginnt Vater, wird wieder still, kräuselt die Augenbrauen. Bevor er weitermachen kann, muss ich mit dem zweiten Teil weitermachen. Schnell ein Schluck O-Saft.
»Und natürlich braucht er eine neue Lehrstelle. Denn in Marsdorf lassen sie ihn nur noch die Halle fegen. Da lernt man ja nix. Und Paul kann gut arbeiten, hast du selbst gesagt, Papa.«
»Du bist also mit einem fertigen Plan an den Frühstückstisch«, stellt Mutter fest und sieht mich belustigt an. Ich mache eine Verlegenheitsgeste. Was soll ich da sagen? Sie kennt mich. Vater lehnt sich zurück, kratzt seinen Hinterkopf. Sein Blick wird unstet, als ginge er in Gedanken die einzelnen Schritte zu einer Lösung durch. Nach einem weiteren Schluck Kaffee blickt er Mutter an. Sie hat ihre Entscheidung schon längst getroffen, das ist ihr deutlich anzusehen.
»Vier Wochen hier wohnen, einverstanden?«, schlägt er vor. »Und die Lehre kann er von mir aus beginnen, aber ich muss zuerst eine weitere Lehrstelle bei der Handwerkskammer melden. Bis dahin werde ich ihn auf Teilzeit einstellen, zwanzig Stunden in der Woche. Ist das okay?« Mutter lächelt ihn an und drückt seine Hand.
»Danke, Mama und Papa.«


Paul schläft nicht. Er sitzt vor dem Fenster an der Arbeitsplatte, auf der ich meine Revell-Modelle zusammenklebe und starrt auf das Nachbarhaus. Oder durch es hindurch. Ich schließe die Tür, gehe die wenigen Schritte zu ihm und lege die Hand auf seine Schulter. Keine Regung. Das Bett ist wie frisch gemacht. Hat er überhaupt darin geschlafen? Ich setze mich langsam auf die Überdecke und mustere sein Profil. Gestern habe ich ihn geküsst. Und heute Morgen kommt es mir immer noch normal vor, in etwa so wie im Schwimmbad eine Portion Pommes kaufen, auf der Bank sitzen, die gelben Streifen durch die Mayonnaise ziehen, die Sonne dabei genießen. Katharinas Bild entsteht neben Pauls Kopf. Ich liebe sie und habe große Sehnsucht nach ihr, dem Lachen, der Stimme, ihren klugen, grünen Augen. Alle beide fügen sich in ein gemeinsames Bild. Ich frage mich, ob ich immer noch auf demselben Planeten bin wie vor einem Jahr.
»Meine Eltern sind einverstanden, dass du erst mal vier Wochen hier bleiben kannst. Und wenn du eine Lehre zum Glas- und Gebäudereiniger machen möchtest, mein Vater nimmt dich gerne.«
»Und dann?«, fragt er tonlos gegen die Scheibe.
»Was meinst du? Dass du hier wohnen kannst? Oder die Lehre?«
»Wo soll ich nach den vier Wochen hin?«
»Ich glaube, das müssen wir auf uns zukommen lassen. Wir werden noch mal mit deiner Mutter reden. Den Grund, warum sie im Eigelstein bleiben will, kennen wir nicht genau. Wegen Geld oder so. Aber vielleicht kann man das Problem ja lösen.« Sein Vater fällt mir ein. »Was ist eigentlich mit deinem Paps? Kannst du nicht bei ihm wohnen?« Paul starrt unbeirrt durch die Scheibe. Das macht mich nervös. Als würde ich mit einer Statue reden.
»Deswegen war ich gestern bei ihm. Er hat ‚Nein‘ gesagt. War mir aber vorher schon klar. Arschloch bleibt Arschloch.«
Ich lasse meinen Oberkörper aufs Bett fallen, stelle einen Fuß auf Pauls Stuhlkante. Jetzt schaut er mich an. Die schwarzen Augen kommen mir noch um einiges dunkler vor, endloser. Ich weiß plötzlich, warum er über die vier Wochen und das Danach nachdenkt. Weil ich ihn geküsst habe, ich Idiot. Weil ich es reizvoll fand, es wollte, einen Steifen dabei bekommen habe, aber mein Herz nicht die Sprünge vollführt, die es bei Katharinas Anblick tut. Paul ahnt, dass meine Empfindungen nur zum Teil ihm gelten und ich in seinen schwarzen Augen und scharf geschnittenem Gesicht vielleicht nur Lust entdecke; Freundschaft mit ein bisschen Kitzel? Er hat Angst vor Enttäuschung. Ich will sofort in der Matratze versinken und kann mich noch nicht mal verstecken in diesem kleinen Gästezimmer. Paul hat starke Gefühle für mich und das, was ich für ihn empfinde, kann die letzte Barriere nicht überwinden, was bedeutet, ich nutze ihn aus. Der Gedanke reißt mich hoch, runter vom Bett. In den Regalen stehen all die Revell-Modelle der letzten Jahre. Sauber lackiert und mit Hoheitszeichen versehen.
»Paul?«
»Hm?«
»Ich fahre heute Nachmittag zu Katharina.«
»Freut mich für dich.«
Ich muss mich neben ihn setzen. Mitsamt Stuhl drehe ich ihn zum Bett und setze mich wieder auf die Matratze, greife seine Hände.
»Ich bin in sie verliebt. Oder es ist Liebe, keine Ahnung, wo da der Unterschied ist. Aber so tief wie für sie, empfinde ich nicht für dich. Und doch habe ich auch Sehnsucht nach dir. Frag mich nicht, wie das geht. Das ist wie … ja, wie ein Kerl, der dich am Schopf in kochendes Wasser taucht und danach ins Eiswürfelbecken schmeißt. Und umgekehrt. Wieder und wieder. Alles was ich sage oder tue, kann sie verletzen oder dich verletzen. Was soll ich tun?« Er blickt mich lange an.
»Ich weiß es nicht, Heinrich. Ich weiß nur, dass ich dich liebe.« Da ist es, das Wort. Liebe. Paul liebt mich. Egal, was ich tue, sage oder bin. Er liebt den, der hier wie ein Trottel vor ihm sitzt und sich schämt. »Wenn ich hier wohne, sehe ich dich täglich. Du bist um mich herum. Dein Geruch, deine klugen Worte, deine Schlagfertigkeit, wie du etwas erklären kannst. Ich sehe meine Liebe, weiß aber, das wird nichts. Darf ich auf einen Kuss hoffen, wenn du mal nicht an Katharina denkst? Wie soll ich das aushalten, Heinrich?« Ich sehe seine Hände in meinen und lasse los. Das müssen Nadelstiche sein.
»Du hast recht …«
Einem Blitz gleich fällt mir die Party ein. Jürgen, Dieter und Sabine. Dass ich nicht schon eher auf diese Möglichkeit gekommen bin! »Eventuell gibt es noch eine Alternative, Paul!«, platzt es aus mir heraus. Fast wäre ich wieder aufgesprungen. Er sieht mich überrascht an. »Denk mal an Jürgen, den Besitzer vom Comic-Laden. Er lebt mit einem Mann zusammen. Gleich morgen werde ich zu ihm gehen und fragen, ob er wohnungsmäßig einen Ausweg weiß. Was meinst du?« Es arbeitet in Paul. Das ist deutlich zu sehen. Stirnrunzeln und die geschürzten Lippen. Er wird sich hoffentlich gerade an Jürgen erinnern.
»Und die Lehre kannst du bei meinem Vater machen«, schiebe ich nach. Alles wird gut, denke ich. »Aber bis das geklärt ist, kannst du hier wohnen. Ist nicht so gut, wenn du bei deiner Mutter in der Wohnung hockst, immer leise sein bis sie aufsteht, und dann ist sie auch schon wieder weg. Zu viel allein sein ist scheiße. Hier hast du meine Mutter und …« Ich wiege den Kopf hin und her. »Du kannst mit ihr über alles reden. Tu es.« Paul beugt ruckartig den Oberkörper nach vorne, legt die Arme um mich. Wange an Wange, so sitzen wir da. Ich muss an Katharina denken.


Ich nehme den erstbesten Zug. Auch wenn er etwas teurer ist. Der Fahrplan zeigt einen IC von Hamburg-Altona nach Basel. Ein einigermaßen leeres Abteil genügt mir, aber alle sind zu voll. Also entscheide ich mich für einen dieser neuen Großraumwaggons. Hauptsache niemand neben mir. Dann sitze ich endlich, mache die Augen zu und fühle mich sofort wie auf dem Zehn-Meter-Turm. Kopfüber in das mit Idioten aller Größen und jeden Alters gefüllte Menschenbecken springen. Es ist kaum Platz. Beim Eintauchen erkenne ich nur Gedanken, Wortfetzen, Schreie, Echos von Personen und dazwischen ich. Auf dem Weg zur Oberfläche, kaum Platz, Füße, Arme, Köpfe, ein einziges Gestrampel. Da pinkelt jemand ins Wasser. Es färbt sich lila und der Bademeister holt ihn mit dem Rettungsring raus. Das Becken ist mein Kopf, der nicht zur Ruhe kommt. Ich muss Luft holen, sonst gehe ich unter. Mit all diesen Gedankenfetzen um mich herum. Kaum strecke ich eine Hand durch die schillernde Wasseroberfläche, sagt eine Stimme, dass wir in wenigen Minuten Bonn Hauptbahnhof erreichen. Schon? Wohin ist die Zeit verschwunden? Der Zug reduziert das Tempo. Ich stehe auf und gehe in den Einstiegsbereich. Erst nach vollständigem Halt öffnen, steht auf der Plakette über der Tür. Was sonst? Ein Schaben auf dem Boden. Ehepaar mit Rollkoffer. Es werden mehr und mehr am Ausstieg und die starke Verzögerung drückt uns gegeneinander. Ich spüre ein Ausatmen im Nacken. Der Bahnsteig. Endlich. Dann kommt der Zug zum Stehen, es klickt in der Tür und ich öffne, mache einen großen Schritt auf den tieferliegenden Asphalt; wieder zwischen Menschen. Mir ist nach losrennen und gebe dem Impuls nach.

Die Treppe hinab zur Unterführung, vorbei an allen möglichen Hindernissen, auch zweibeinigen. Auf der anderen Seite die Stufen empor und ich stehe im Bahnhof. Noch eine Stunde Zeit, bis Katharina kommt. Das reicht für Currywurst mit Pommes rotweiß und Spezi. Mit dem Essen gehe ich hinaus auf den Bahnsteig von Gleis eins, suche eine Bank. Langsam genieße ich die heiße Wurst und beobachte die vorbeiziehenden oder wartenden Menschen. Tränenreiches Winken beim Abschied, ein Kuss, Freude bei der Ankunft. Am Ende gibt es keine Auffälligkeiten unter ihnen. Ein Gesicht wie das andere, ein Koffer wie der andere. Höre ich Gespräche, drehen sie sich um belangloses Zeug. Oder ich verstehe es nicht, weil die Sprache unbekannt ist. Diplomaten und deren Familien aus dutzenden von Ländern. Sicher alle irgendwie mit den Botschaften verbunden. Ich vergesse meist, dass Bonn die Hauptstadt ist. Mehr ein Dorf als Stadt, aber das hat ja auch etwas Heimeliges. Die Wurst ist weg, Pommes ebenso, noch der letzte Schluck Spezi, dann werfe ich alles in den Mülleimer links von mir und strecke die Beine lang. Katharinas Stimme im Telefon fällt mir ein, das Unbehagen im Unterton. Etwas ist geschehen. Da bin ich mir fast sicher. Ein D-Zug fährt ins Gleis. Wien-Amsterdam steht auf dem Zuglaufschild. Hoffentlich ist Paul nach Hause gegangen, um sich mit Kleidern einzudecken. Dann kann er morgen oder übermorgen anfangen zu arbeiten und hängt nicht sinnlos in seinem Zimmer herum. Ein Blick auf die Uhr. Seufzend stehe ich auf und gehe zum Hauptausgang. Ein Blick zum Himmel. Gleichmäßiges Grau, eher Hochnebel als Regenwolken. Also dann, auf zur Haltestelle. Katharinas Straßenbahn wird gleich kommen.


Sie steigt als letzte aus und zögert für einen Moment. Bleibt einfach vor dem Einstieg stehen, sucht noch nicht mal nach mir. Die glänzenden Augen sind stumpf. Einige der Menschen, die einsteigen wollen, schauen sie verwundert an, ein Mann murmelt irgendwas. Ich mache ein paar Schritte auf sie zu, greife die kleine Hand und ziehe sie über die Straße Richtung U-Bahn-Station. Dort drücke ich den schmalen Körper gegen den großen Laternenmast. Sie ist wie ein Roboter oder ein alter Hund. Lässt alles mit sich machen.
»Katharina! Was ist denn mit dir?« Keine Antwort. Nur ein Blick, den ich nicht deuten kann. »Komm, lass uns irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist.« Ein Nicken. Ich überlege krampfhaft. Kneipe? Zu viel Zigaretten. Eiscafé? Bestimmt jede Menge los. Dann sehe ich zufällig die Spitze vom Münster. Den Arm um ihre Schulter gelegt, machen wir uns auf den Weg. Schweigend gehen wir nebeneinander zum seitlichen Haupteingang der großen Kirche. Ich öffne die schwere Tür und als sie hinter uns zugeht, ist es wie in einer anderen Welt zu sein. Gedämpfte Stille, entferntes Murmeln. Richtung Apsis sind noch Bänke unbesetzt. »Komm, wir gehen nach links. Da haben wir unsere Ruhe.«
»Mh.«
Knochenharte Kirchenbänke. Und weit und breit keine Sitzkissen, aber dafür eine hohe Rückenlehne, die einiges verdeckt und Schutz bietet. Ein Mann aus Fernost, Japan vielleicht, erklärt zwei ihn begleitende Damen etwas, deutet dabei auf die Fresken an Wänden und Decke. In der Tat fühle ich mich in einer so großen Kirche auf eine besondere Weise behütet. Aber auch klein. Katharina fixiert ihre Hände, knetende Finger. Ich nehme sie in den Arm, kraule vorsichtig ihre Schläfe, das Ohr. »Warum sagst du nicht einfach, was dir durch den Kopf geht. Wird schon nicht so schlimm sein …« Wahrscheinlich der dämlichste Halbsatz des Jahrhunderts. Ich könnte mich ohrfeigen.
»Doch!«, begehrt sie auf, wird mit einem Schlag präsent und sieht mich mit aufgerissenen Augen an. »Es ist schlimm. Sogar mehr als schlimm.« Perplex spüre ich die knochenharte Holzbank sehr deutlich, rutsche unruhig hin und her. Ich will nachfragen, bringe aber kein Wort heraus. Jemand schnürt mir die Kehle zu. »Du weißt, dass mein Vater bei Zeiss ist …«
»Ja, das weiß ich.«
»Zeiss hat ihm einen guten Posten angeboten. In Oberkochen. Aber nicht mal eben für ein paar Wochen. Für immer.« Meine Stirn juckt. Ein paar Mal kräftig kratzen. Oberkochen? Ist das noch in Deutschland? Für immer? Heißt das etwa … »Wir werden umziehen, Heinrich. Haus verkaufen. Ab nach Oberkochen …« In Zeitlupe breiten sich die Worte in meinem Kopf aus. Wie bei der Sprengung eines großen Gebäudes laufen die Explosionen durch meinen Körper. Für einen Augenblick ist die Trägheit der Gewinner, dann stürzt die Ruine ein. Nach Oberkochen …
»Dann … dann bist du weg? Und wo, um Gottes willen, ist Oberkochen?« Sie zuckt mit den Schultern und sieht mich an. Ich ahne, dass es in ihr keine Tränen mehr gibt. Alle wurden schon geweint bis zu diesem Augenblick. »Kannst du nicht bei deinem Bruder wohnen?«
»War mein erster Vorschlag.«
»Und?«
»‘Ich lasse doch nicht meine 16jährige Tochter allein in Bonn zurück‘ Vaters Antwort.«
»Und deine Mutter? Sie kann doch mit dir hierbleiben und er kommt einmal im Monat zu Besuch oder öfter. Das kann doch …« Katharina legt ihren Zeigefinger auf meinen Mund.
»Nein. Meine Mutter will nicht ohne meinen Vater in Bonn leben. Und das kann ich verstehen. Sie wäre einsam, ich in der Schule, nachmittags unterwegs, mein Bruder aus dem Haus … das schafft sie nicht. Sie klebt an meinem Vater. Und umgekehrt.«
»Und ich klebe an dir, Katharina. Was soll ich denn ohne dich machen?« Eine Faust reißt mich von der Bank. Ich muss raus! Katharina lasse ich sitzen. Warum? Ich liebe sie! Es ist nicht ihre Schuld! Schon bin ich auf dem Vorplatz und denke an ein paar Gläser guten Whiskeys in irgendeiner Spelunke. Die schwere Tür wird ein zweites Mal geöffnet. Eine kleine Hand greift nach meiner. »Und wann ist es so weit?«, frage ich Richtung der Menschen auf der anderen Seite.
»Er tritt den neuen Posten am zweiten Januar an. Im Moment ist er in Oberkochen und sucht nach einem Haus oder einer Eigentumswohnung.«
»Und findet er diese Woche was, kann das sehr schnell gehen …«, mutmaße ich und würde am liebsten auf der Stelle nach Hause fahren. Katharina ahnt meine Gedanken. Sie rüttelt an meinen Schultern und stampft mit einem Fuß auf das Pflaster.
»Du bist nicht der Einzige, dem das weh tut, Heinrich! Meinst du, mir geht es besser? Nein! Und das schon seit Tagen, denn ich weiß es länger als du. Du fühlst dich scheiße? Ich auch! Die letzte Woche hab ich jeden Tag geweint, bin mit roten Augen in die Schule! Nicht nur du liebst mich, auch ich liebe dich! Vergiss das nicht!« Sie ist laut geworden und ich immer kleiner. »Mach mich nicht wütend!«, setzt sie nach. Tritt dicht vor mich. »Doch! Mach mich ruhig wütend! Vielleicht wird es dann einfacher!« Ich muss mich setzen und entdecke das Münster-Café in der Häuserzeile gegenüber.
»Komm, essen wir einen Kuchen. Vielleicht gibt es ja noch Plätze.« Sie hakt sich unter.


Im Münster-Café sitzen hunderte von Menschenjahren. Verteilt auf sieben alte Damen an drei zusammengestellten Tischen. Es ist laut wie in einem Kindergarten. »Der Bridge-Club Popelsdorf macht einen Ausflug«, sage ich beim Eintreten, während Katharina freundlich grüßt. Wir setzen uns an die Scheibe, mit Blick aufs Münster und all den begeisterten Touristen da draußen.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
Noch nicht mal den Stuhl herangerückt, schon ist die Bedienung am Tisch. Nicht wirklich jünger als der Bridge-Club. Ich nicke zu Katharina.
»Haben Sie Apfelstrudel mit heißer Vanillesoße?«
»Haben wir.«
»Nehme ich. Und einen Pfefferminztee.«
»Sehr gerne. Und der junge Herr?«
»Käsekuchen mit Rosinen?«
»Ist ausgegangen.«
»Wohin?«, will ich wissen. Sie runzelt die Stirn und schaut irritiert. Katharina tritt mich unterm Tisch.
»Bringen Sie ihm dasselbe wie mir«, sagt sie kurzentschlossen. Die Alte nickt und macht kehrt.
»Apfelstrudel mit Vanillesoße ist nicht so mein Ding.«
»Du wirst nicht davon sterben«, hält sie dagegen.
»Immerhin. Was man von der Tatsache, von einem Tag auf den anderen keine Freundin mehr zu haben, nicht sagen kann.« Sie faltet die Hände, streckt die Daumen ab und legt die Stirn dagegen. Ich weiß, was sie sagen will: Idiot. Und hat recht damit. Keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. In meinem Unterleib fährt gerade eine Stachelwalze und verdichtet den Boden der Müllkippe. Jetzt zeichnet Katharina imaginäre Figuren auf die beigefarbene Tischdecke.
»Was sagen eigentlich deine Eltern? Ist ihnen das egal, wenn ihre Tochter unglücklich ist? Ich verstehe das nicht …«
»Heinrich …«, unterbricht sie und schaut an ihren gefalteten Händen vorbei. »Wir sind beide verletzt und sollten nicht ungerecht werden. Dein Vater hat eine Firma und ist sein eigener Boss. Meiner tut das, was sein Chef ihm sagt. Aber dazu kommt noch, dass er nicht nur ein Vater ist … er ist auch noch Ingenieur, möchte vielleicht noch etwas erreichen, nicht auf der Stelle treten. Er hat bestimmt Träume. Und meine Mutter, naja, die folgt ihm schon seit sie achtzehn ist. Was erwartest du?«
Da liegt mir schon wieder was auf der Zunge, schlucke es aber hinunter. Sie ist mir über. Jahre voraus, so erwachsen und klug. Also atme ich nur tief ein und aus. Der Pfefferminztee kommt und dampft, dazu ein Schälchen für die Teebeutel. Es bleibt nur eine Frage. »Du weißt nicht genau, wann ihr nach Oberkochen auswandert …«
»Nein, aber Oberkochen ist bei Aalen, östlich von Stuttgart.«
»Also noch zwei Monate maximal, dann geht es ab auf einen anderen Kontinent.« Sie nickt und stellt die entscheidende Frage.
»Was machen wir beide bis dahin?« An Katharinas Blick sehe ich, dass ihre Angst, darauf keine Antwort zu wissen, ebenso mächtig ist, wie in mir.
»Ja, was machen wir in unserer verbleibenden Zeit? Kino? Essen? Miteinander schlafen, zärtlich sein …« Zwei Teller mit Apfelkuchen und dampfender Vanillesoße schwenken vor unsere Augen, landen vorsichtig auf dem Tisch. Die alte Dame sieht mich entgeistert an. »Meine Freundin ist umwerfend schön«, sage ich und sie lässt die Löffel zu früh los. Es klappert, ein gemurmeltes ‚Entschuldigung‘ kommt. Dann macht sie sich davon. Katharina schweigt. »So tun, als wäre nichts?«, setze ich Katharina weiter zu. »Zeitlich begrenztes Glück? Wie sollten wir uns noch unbeschwert lieben, mit so einem Damoklesschwert überm Kopf?« Der Apfelstrudel sieht gut aus. Ein dünner Blätterteig. Vielleicht probiere ich ja doch …
»Keine Ahnung, Heinrich«, kommt es leise von ihr. Sie weiß es nicht. Wie auch? Bis zum zweiten Januar sind wir ein glückliches, junges Paar, danach fällt die Guillotine.
»Das kann ich nicht, Katharina. Wirklich nicht. Das ist Sterben auf Raten. Alle vierundzwanzig Stunden den Griff um unseren Hals eine Nuance fester. Wie sollen wir das überstehen?« Fassungslos sehe ich, wie sie Vanillesoße über den Apfelstrudel gießt, unterbricht jedoch, stellt das Kännchen auf die Seite und schaut mich an. Da sind sie ja, ihre Tränen. Nicht aber meine. Jemand hat sie geklaut. Stattdessen wälzt sich ein Tsunami aus blinder Wut durch meine Eingeweide, reißt mich vom Stuhl. Eine Hand geht in meine Hosentasche, zieht einen Zwanziger raus. Ich sehe mich an der Theke vorbeigehen. »Hier, der Zwanziger sollte genügen! Rest können Sie behalten!« Der Bridge-Club ist ungebrochen heiter, ich bin plötzlich draußen vor der Tür und fange sofort an zu rennen. Geradeaus, dann nach links oder ist es rechts? Rennen und keine Rücksicht nehmen auf die ganzen Menschen.


Ich trotte durch Straßen, die mir völlig unbekannt sind und das sicherlich für den Rest meines Lebens auch bleiben. Häuser, Autos, Alte, Junge, Kinder, Geschiebe, Gedränge, leere Gassen, völlig egal. Ich stapfe durch einen Tunnel. Wohin er führt, ist unbekannt. Meinetwegen direkt zur Anlegestelle des Charon. Einen Obolus habe ich immer in der Hosentasche. Sogar das Licht wird weniger. An irgendeinem Zeitpunkt des beginnenden Abends sitze ich in der Linie Sechzehn und verlasse Bonn, fahre mit anderen Menschen nach Köln. Sie, um ins Kino zu gehen oder ein Restaurant zu besuchen und was ich tun werde, ist ungewiss. Aus dem Nichts wirft mir jemand eine große Kreuzung vor die Füße, ohne Richtungsschilder. Straßenkarten gibt es keine. Präsent ist nur der stetig schwelende Kratergrund in meinem Unterleib. Schweflige Ausstöße, Wasserdampf, Überdruck, hier und da eine Magmablase. Glühend heiß. Ich denke daran, mir etwas anzutun und steige kurz vor zwanzig Uhr am Chlodwig-Platz aus, nehme den direkten Weg ins Opernhaus. Einer Kneipe, die keinen Zweifel an meiner Volljährigkeit hat. Southern-Comfort mit Cola und Zitronensaft, das ist es, was die Magma im Zaum halten kann. Ständig flattert ein Gedanke durch meinen Schädel. Dass Katharina bei uns anrufen und sich nach mir erkundigen könnte, mein plötzliches Verschwinden durchgeben. Ich spüre förmlich, wie Mutter durchdreht, Vater mit einem Suchauftrag aus der Wohnung jagt. Das sitzt mir im Nacken. Kurz vor zweiundzwanzig Uhr zahle ich und gehe.

Wieder verfalle ich in einen Laufschritt, quere den Ubier-Ring in die Alteburger Straße, Meter um Meter, als könnte ich so den Dämonen entkommen, die einen schwarzen Umhang über mir ausbreiten wollen. Völlig außer Atem öffne ich die Tür, schleiche hinein, direkt in mein Zimmer. Sechzehn Quadratmeter mit grasgrünem Teppich, Fußbodenheizung, das hellbraune Jugendbett. Alles sauber und gepflegt. Das Licht bleibt aus. Nur die Straßenlaterne schafft es, ein wenig Helligkeit durchs Fenster zu schicken. Ich sitze kaum auf dem Drehstuhl, schon klopft es. Warum sollte ich reagieren? Noch einmal. Dann geht die Tür auf und Paul schiebt eine Hälfte seines Kopfes durch. Paul! Den hatte ich ganz vergessen.
»Kann ich reinkommen?« Mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande. »Du warst aber lange weg. Ich soll dir von deinen Eltern sagen, sie seien kurzfristig zu jemandem namens Tietmeyer gegangen. Eine Spontaneinladung.«
»Wann sind sie weg?«
Paul versucht auf seine Uhr zu blicken, aber die Dunkelheit verhindert es. »So gegen fünf Uhr, denke ich.«
»Hat jemand angerufen?«
»Nicht seit ich hier bin.« Also hat Katharina doch nicht nachgefragt. Wie konnte ich sie da nur sitzen lassen? Ich Idiot. Aber bin ich das wirklich? »Ich sehe, dass etwas passiert ist«, flüstert Paul. Warum redet er so leise? Ist doch niemand da außer uns. Und, wie zum Teufel, will er in diesem Zwielicht etwas erkennen?
»Woran?«
»Es springt dir ja förmlich aus dem Gesicht.« Es springt mir aus dem Gesicht … wiederhole ich im Stillen. Hoffentlich normalisiert sich das wieder bis meine Mutter zurückkommt. Ansonsten drohen unangenehme Fragen. Dass ich meine Freundin habe sitzen lassen, würde ihr nicht gefallen. »Vielleicht kann ich jetzt dir mal zuhören und nicht immer umgekehrt«, schlägt Paul vor. Ein Schatten löst sich von ihm. Seine Hand, die auf meiner Schulter landet. »Ich war zuhause und habe Kleider geholt. Meine Mutter lässt dich grüßen und bedankt sich tausend Mal oder so ähnlich. Jedenfalls ziemlich oft. Ich glaube, sie hält sehr viel von dir …« Paul stockt, drückt meine Schulter. »Ebenso wie ich. Und deine Eltern … schon übermorgen kann ich wieder arbeiten. Vollzeit. Ich fahre mit deinem Vater nach Meschede, irgendeinen riesigen Supermarkt aufmessen für eine Unterhaltsreinigung. Und morgen kündige ich in Marsdorf. Dein Vater hat versprochen, mich zu begleiten …« Paul plappert viel. Zu viel.
»Paul …«
»Ja?«
»Ich habe keine Freundin mehr.« Für einen Moment ist er still, setzt sich dann aufs Bett, rutscht ganz an die Wand und kreuzt die Beine.
»Das verstehe ich nicht. Ich dachte wirklich, das wäre was bombenfestes mit … wie hieß sie noch?«
»Katharina.«
»Hast du Schluss gemacht?« Habe ich Schluss gemacht? Eine gute Frage. Wohl eher nicht. Höchstens einen Schlussstrich für mich gezogen, um dem Unausweichlichen zuvorzukommen.
»Nee, ich war das nicht. Es war Montezuma, Manitou, Gott oder Allah, irgendeiner von diesen Schergen. Höhere Gewalt oder wie das heißt.«
»Was?« Pauls schwarze Pupillen sind in diesem Zwielicht wie zwei tiefe Brunnen. Ich nehme Streichhölzer aus der kleinen Schublade unterm Tisch und zünde die beiden Kerzen auf dem Fenstersims an. Die Schatten beginnen zu tanzen auf der Raufasertapete. Mit einem Satz bin ich neben Paul, lehne an der Wand und erzähle alles von A bis Z.


Montag. Ich war ungerecht und bin es immer noch. Andi hat mich heute in der Schule verflucht, ebenso wie Michael und der Rest der Klasse. Alle haben es zu spüren bekommen. Glücklicherweise habe ich gestern meine Eltern nicht mehr gesehen und heute Morgen nur kurz. Dass mein Vater mit Paul in Marsdorf war, um das Rechtliche zu regeln, sollte mich freuen. Ebenso dass er nun bei uns arbeitet und sicher bald eine neue Lehre beginnt.
»Heinrich?«
Auch dass mit Jürgen und einer Wohnung könnte ich heute Nachmittag erledigen. Aber nichts von dem erreicht mich. Alles ist wie ein am Horizont entlang fahrendes Schiff. Masten und Takelage sind gerade noch zu erkennen, aber es kommt nicht näher. Ob ich ein Feuer entzünden soll, um gerettet zu werden? Blödsinn! Es gibt keine Rettung …
»Heinrich!«
»Hm?«
»Träumst du?«
»Was ist denn?«
»Ich habe dich gebeten, den Tisch zu decken.« Ich nicke und erledige den Auftrag, stelle Hackfleisch, Spaghetti samt Chicorée-Salat auf den Tisch, eine Flasche Spezi und Wasser.
»Wie war es gestern bei Katharina? Wann bist du nach Hause gekommen?« Sie nimmt sich Spaghetti aus dem Topf, einen Schöpfer Hackfleischsoße, schickt ein kurzes Gebet gen Himmel und fängt an zu essen. Warum tut sie das heute? Dass sie vor dem Essen betet, ist ein seltenes Ereignis. »Willst du nichts, Heinrich?« Ich lehne mich an, starre aufs weiße Porzellan, das leere Glas. »Was ist denn los?«, bohrt sie weiter. Es macht keinen Sinn, ihr alles zu verschweigen. Irgendwann rede ich doch und vor ihr kann man eh nichts verstecken. Also erzähle ich dieselbe Geschichte noch mal, von A-Z, wie gestern Abend. Mutter hört auf zu essen. Die Hackfleischsoße sickert langsam in den Spaghettiberg. Sie trinkt einen Schluck und starrt mich an. Es arbeitet kräftig in ihr, denn sie kaut auf der Unterlippe, dreht mit der Gabel ein Nudelknäuel nach dem anderen. Ich habe keine Ahnung, ob meine Worte sie wirklich erreicht haben. Langsam gieße ich das Glas voll Spezi und trinke es halbleer. Den Rülpser unterdrücke ich nicht, aber selbst das lässt sie nicht reagieren. Dann legt sie die Gabel auf den Teller und sieht mich nickend an.
»Jetzt gehst du ans Telefon, rufst Katharina an, lässt dir ihre Mutter geben und schlägst ihr vor, dass wir Katharina bei uns aufnehmen bis zum Abitur, ihr ein eigenes Zimmer geben, wir uns um sie kümmern. Sie müsste nur die Schule wechseln, etwa an deine Schule. Sie könnte ja jederzeit ihre Eltern besuchen. Und wenn sie das Abitur hat, ist die Welt eh eine andere. Dann geht das Studium los, und ihr beiden könnt irgendwo zusammen studieren.«

Noch kein Bündel Sätze hat länger gebraucht in meinem jungen Leben, um in meine Hirnwindungen einzusickern. Die Wirkung breitet sich aus wie zähflüssiger Honig an einem kalten Wintermorgen. Ebenso langsam richte ich mich auf, klärt sich mein Blick.
»Ist das dein Ernst?«
»Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht, wie ihr zusammenbleiben könnt. Eine Fernbeziehung«, sie zuckt mit den Schultern, »das funktioniert in den wenigsten Fällen. Eines Tages schläft sie ein und keiner weiß genau, warum.« Ich nicke, fast abwesend. Fernbeziehung … wo ist eigentlich Oberkochen? Mit diesem Wort Oberkochen, das so furchtbar weit weg klingt, stehe ich auf und gehe in den Flur, nehme den Hörer von der Gabel und wähle … 0228 … und den Rest der Nummer. Es ist Katharinas Mutter, die abnimmt. Ohne zu stottern, fehlerfrei, gebe ich wieder, was Mutter vorgeschlagen hat. Auf der anderen Seite ist nur leises Atmen zu hören, dann ein Räuspern. Sie wird es ihrem Mann vorschlagen, sagt sie, bedankt sich und legt auf. »Das war’s?«, frage ich den Spiegel über der Vitrine.
»Was hat sie gesagt?«, ruft Mutter.
»Sie will es ihrem Mann vorschlagen.« Ihr Schatten fällt in den Flur, stellt sich neben mich, nimmt mir den Hörer aus der Hand und legt auf.
»Dann müssen wir nur noch warten.«
»Und wenn ihre Eltern das Okay geben? Was machen wir dann mit Paul?«
»Tja, dann muss Katharina wohl mit dir in deinem Zimmer schlafen. Muss ja niemand erfahren; und Paul bleibt im Gästezimmer, bis sich da eine andere Lösung ergibt.«
Was hat sie gesagt? Ein unkontrolliertes Zucken reißt mich aus der Lethargie. Wie ein Stromstoß in Arme und Beine. Nimm sie in den Arm, denke ich. Sie kommt mir zuvor, nimmt mich in den Arm. Ich kann auf ihren Kopf runtersehen und denke an den kleinen Heinrich, der es nicht bis hierher geschafft hätte ohne sie. Und sie vielleicht nicht ohne mich.


Das verdammte Telefon klingelt nicht. Ich bin bei Paul im Zimmer. Schon kurz vor zweiundzwanzig Uhr.
»Hast du die Modelle selbst zusammengeklebt?«
Warum will er das ausgerechnet jetzt wissen? Mit dem Drehstuhl bewegt er sich nach rechts, stößt an das Tischbein und es geht in die umgekehrte Richtung. Wieder und wieder.
»Paul! Kannst du mal ruhig sitzen? Das nervt …«
»Tschuldigung, wollte dich nur ablenken.«
Es klopft.
»Ja?« Vater schaut zur Tür herein.
»Wir fahren morgen früh um sechs Uhr nach Meschede. Ist ziemlich früh. Ich wecke dich um halbsechs. Frühstücken tun wir unterwegs. Besser du schläfst jetzt, Paul«, sagt er, nickt still und ist wieder weg.
»Okay, danke«, erwidert Paul gegen die Tür, steht auf und setzt sich neben mich aufs Bett. Wir lehnen an der Wand, starren auf Phantom F4, Messerschmitt Bf109, einen Flugzeugträger, HMS Nelson, Gorch Fock und anderen Kram. Sinnloses Zeug. »Ich hätte niemals die Geduld, die winzigen Teile zu einem Modell zusammenzusetzen. Wie machst du das?«
»Verschiedene Pinzetten, Modellbauscheren, eine Standlupe. Ein paar missglückte Versuche und es klappt.« Ob ihn das wirklich interessiert?
»Es fühlt sich alles seltsam an, Heinrich«, sagt er nach einer kurzen Pause.
»Inwiefern?«
»Mein Leben.« Pauls Hand löst sich von seinem Bein, schwebt in Zeitlupe über meinen Oberschenkel. Dann stoppt die Bewegung. »Darf ich?« Ich nicke kurz, achte auf die Hand, wie sie aufsetzt und ihre Wärme sich ausbreitet. »Du liebst Katharina, ich liebe dich. Das gehört verboten. Wer soll denn da noch durchblicken? Deine Liebe zu ihr ist erlaubt, meine Liebe zu dir unter Strafe gestellt. Bei allem, was meine Gefühle wollen, muss ich mich drei Mal umdrehen, ob es auch niemand mitbekommt. Ich will nicht mehr im Schatten leben …« Paul reißt meine Wände ein. Mit ein paar Sätzen. Was Mutter und Vater ihm geben können, sind ein Bett, Arbeit, so eine Art zweites Zuhause, aber niemals die Freiheit, der zu sein, der er sein will. Sein Kopf sinkt an meine Schulter. Ohne zu überlegen, lege ich den Arm um ihn. Ich weine. Vielleicht wegen Katharina oder Paul oder was weiß ich.
»Warum weinst du?«
»Weil alles so verfahren ist. Nein, weil wir am Ende ohnmächtig sind. So viel steht gegen uns … vor allem gegen dich und Jürgen, seinen Freund Dieter und all die anderen. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich könnte morgen die Schule schmeißen und mich absetzen, irgendwohin, auf ein Schiff vielleicht …«
»Und mich alleine lassen?« Pauls Zeigefinger nimmt eine Träne auf, eine zweite. Eine einzige, sanfte Bewegung. Er ist so zärtlich. Wie passt das zusammen? Natürlich, Heinrich! Du Idiot. Du bist doch selbst zärtlich bei Katharina! Wie kommst du darauf, dass Jungs das nicht können? Oder dürfen?
»Ich könnte dich jetzt küssen, Paul, aber ich darf es nicht. Verstehst du?«
»Nein«, gesteht er.
»Ich denke die ganze Zeit an Katharina.«
»Du hättest das Gefühl, mich auszunutzen.«
»So würde ich mich fühlen, ja.«
Seine Hand auf meinem Oberschenkel drückt ein paar Mal zu. »Ich gehe ins Bett, werde an dich denken und wichsen. Ist das okay?« Das bringt mich zum lachen. Zumindest für einen Moment.
»Morgen Nachmittag gehe ich zu Jürgen, wegen einer Wohnung fragen.«
Er drückt mir die Lippen auf die Wange.

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