Paul und die Jungs | Kapitel 5

Wenn der Damm bricht

Diese Überschrift klaut all meine Gedanken. ‘Junger Mann tot am Tanzbrunnen entdeckt. Eine Beziehungstat?‘ Warum kann ich nicht weiterblättern? Warum lese ich das immer wieder? Der Kölner Stadtanzeiger ist ziemlich umfangreich heute und allerlei Seltsames geschieht in der Welt, das ich nicht ändern kann. Aber einen jungen Menschen ermorden wegen enttäuschter Gefühle? Was macht das für einen Sinn? Etwas knirscht gleichmäßig und öffnet eine Tür zurück in die Welt um mich herum, dem dunklen Esstisch, einem Physikbuch und Paul, der mit Blei- und Buntstiften die Kräfteverhältnisse eines Autos mit der Masse x und Geschwindigkeit y in einer Kurve ins Heft zeichnet.
»Sag mal, du knirschst ja mit den Zähnen. Ist mir bisher gar nicht aufgefallen.« Er lässt ab von den Kräften auf dem Papier und sieht auf.
»Die Trägheitskraft ist der Beschleunigung entgegengerichtet. Bei Kurvenfahrt wird sie von den Insassen als Zentrifugalkraft, beim Bremsen als Kraft nach vorn wahrgenommen«, sagt er und grinst. »Ja, ich knirsche mit den Zähnen, wenn ich mich stark konzentriere. Krieg ich kaum mit«, setzt er nach. »Ist das schlimm?«
»Tja, keine Ahnung. Es nervt, wenn es still ist«, erwidere ich, falte die Zeitung, lege sie auf Pauls Heft und tippe auf den Artikel. »Schau mal hier. Ich kapier so was nicht.« Mit dem Zeigefinger fährt er die Zeilen nach, legt den Bleistift beiseite und schiebt die Zeitung weg.
»Hast du eigentlich jemals irgendeinem von meiner Sache erzählt?«
»Dass du Jungs magst?« Er nickt.
»Du weißt, dass es für Minderjährige verboten ist«, erklärt er etwas leiser.
»Das weiß ich. Und nein! Ich habe keinem davon erzählt. Warum sollte ich das tun?« Ich denke kurz über meinen Ratschlag nach, den ich ihm gab. »Aber es wird endlich Zeit, deiner Mutter alles zu erzählen. Wenigstens ihr.« Paul greift nach dem Spitzer und bringt alle Buntstifte in Topform. Faber-Castell könnten es ab Werk nicht besser machen. Er prüft jeden einzelnen. Seine neue Frisur hat das Aussehen radikal verändert. Es wird sogar langsam Zeit, wieder einen Friseurbesuch einzuplanen, was ich für den nächsten Samstag ins Auge fasse, denn ich muss ebenfalls unbedingt die Locken stutzen. Mein Gesicht wächst langsam zu und ich schwitze unter der Matte.
Jeans und das dunkelblaue Polo-Shirt stehen Paul gut. Er hat ein paar Kilo zugenommen, ist kein Spargel mehr. Inzwischen hat er Gefallen an den von mir in höchsten Tönen gerühmten Adidas Universal gefunden. Weiß mit schwarzen Streifen unter blauer Jeans. Fast perfekt. Paul ist kurz davor, ein hübscher Junge zu werden, wobei er nächste Woche Geburtstag hat, die Sechzehn schon am Horizont leuchtet.
»Ich gehe zu deiner Mutter«, beende ich sein Schweigen. »Heute ist Montag. Du hast gesagt, dass sie montags erst abends um zehn Uhr arbeiten geht.«
»Warum willst du unbedingt, dass ich ihr erzähle, ich sei schwul?«
»Du bist es, oder? Es ist deine Mutter. Keine Ahnung …« Ich nehme die Zeitung an mich. »Ich schätze, sie wird es dir nicht übel nehmen. Nur so ein Gefühl …«
»Und du traust deinem Gefühl?«
»Schon immer.«
Der Artikel fällt mir wieder ein. Noch einmal lese ich drüber. Der Junge war wohl sechzehn. In unserem Alter. Mehrere Messerstiche. Keine Drogen gefunden, kein Raubmord, noch alles Geld da. Zeugen sagen, ein ebenfalls junger Mann sei auf und davon gerannt und sie hätten sich vorher geküsst. Ein hoher Polizeibeamter wird mit der Forderung zitiert, die Strafen für Unzucht mit Minderjährigen deutlich zu erhöhen und die Korrekturen des § 175 zurückzunehmen. Es brauche mehr Abschreckung …
»Ich verstehe gar nicht, wieso es verboten sein soll, dass Jungs andere Jungs küssen. Oder Mädchen andere Mädchen. Was ist daran schlimm?« Paul lässt meine Frage unbeantwortet, sein Blick wandert unruhig durch unser Esszimmer. Aus einem Impuls heraus lege ich meine Hand auf seine. »Ich gehe heute Abend mit zu dir. Wir erzählen es gemeinsam.« Nach ein paar Minuten Schweigen und unstetem Blick zeichnet er weiter, F2 wird tangential verlängert. Dann nickt er dem Physikheft zu.
»Na gut. Heute Abend dann.«


Der Frühling ist in diesem Jahr unerträglich. Ich liebe die Kälte und wünsche mir an jedem Tag über 20 Grad den Winter herbei. Die Außenanzeige eines Optikers teilt uns mit, dass es 24 Grad sind und in der Straßenbahn noch einiges mehr. Die Luft zwischen den Menschen steht. Der Kälte kann ich entfliehen, der Hitze nicht. Paul macht das nichts aus. Keine Schweißperle ist auf ihm zu sehen, er hat sogar den Rollkragen-Pullover übergezogen. Ein echtes Phänomen. Alle um uns herum stöhnen, ächzen, hecheln nach dem bisschen Fahrtwind, der durch die gekippten Scheiben kommt. Der Fahrer könnte ja die vordere Tür aufmachen … aber nein!
»Heute ist wirklich schönes Wetter«, sagt Paul und ich hoffe nicht, dass er mich damit quälen will.
»Wenn es nur nächste Woche Mittwoch nicht so warm ist. Mir graut jetzt schon vor der Hitze.«
»Nächste Woche Mittwoch? Was ist dann?« Seufzend vergebe ich Paul. Es dauert wohl, von absoluter Weltfremdheit in ein Leben voller schöner Dinge zu wechseln. Kino, Konzerte, Partys, Blödsinn machen, das war bisher nicht seine Welt.
»Nächste Woche Mittwoch sind Andi, du und ich bei Frank Zappa in der Sporthalle. Schon vergessen?«
»Ach ja«, kommt es gepresst zurück, fast als würde er es bereuen, dass er zugesagt hat.
»Wie ‚Ach ja‘! Das klingt aber nicht überzeugt. Hast du etwa keinen Bock mehr?«
»Doch, schon, aber was ist, wenn mir das Konzert gar nicht gefällt?« Ich wische mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. ‚Mommsenstraße‘ sagt der Fahrer. Sofort drücke ich den Knopf und stehe auf, stelle mich direkt vor den Ausstieg. Gleich wird es kühler. Pauls Atem ist in meinem Nacken. Mehr als dicht. Warm und viel zu nahe. Es bimmelt beim Überqueren der Kreuzung, dann ruckartiges Bremsen. Die Falttür öffnet sich, kühlere Luft kommt herein. Es ist tatsächlich windig geworden. Eine leichte Brise trägt Regenduft in sich. Suchend blicke ich dorthin, wo ich Westen vermute. Es ist dunkel.
»Sieht aus, als käme ein Gewitter«, stellt Paul fest.
»Ich kann es kaum erwarten.«
Schweigend gehen wir die hundert Meter an der heruntergekommenen Häuserzeile entlang, treten in das Duftgemisch des Hausflurs und stehen in der dunklen Wohnung. Pauls Mutter ist im Bad. Sie pfeift einen Song aus den Sechzigern, den ich kenne, aber der Titel fällt mir nicht ein. In der Küche ist eine ordentliche Menge benutztes Geschirr. Mit einem Messer kratze ich getrockneten Ketchup vom Porzellan. Das muss schon seit Tagen hier stehen.
»Ich weiß«, sagt Paul hinter mir. »Könnte sauberer sein hier.« Er schiebt mich auf Seite, drückt den Verschluss ins Sieb und lässt Heißwasser ins Becken, einen guten Schuss Pril dazu.
»Das muss einweichen«, rate ich. »Stell erst mal alle Teller ins Wasser, dann braucht es auch nicht so viel davon. Lass es eine halbe Stunde drin, dann helfe ich dir spülen.« Paul folgt meinem Rat.
»Die Herren kümmern sich um den Haushalt …«
Ich drehe mich sofort um und spüre den Blitzeinschlag, die Hitze trifft mich in der Brust. Das Atmen fällt schwer. Im Türrahmen steht Pauls Mutter, schwarze Strapse, ein Hauch von Höschen, durchsichtiger BH. Mit zwei Schritten ist sie am Tisch und setzt sich, schlägt die Beine übereinander, legt eine Hand aufs Knie und wippt langsam mit dem Unterschenkel. Faszinierend lange Beine und so wundervolle Füße. Nicht hingucken!, befehle ich mir.
»Mama …«, bringt Paul mit krächzender Stimme heraus.
»Hab ich mir neu gekauft«, erwidert sie. »Ich sehe, das hat Wirkung.« Zügig setze ich mich ihr gegenüber. Sie soll nicht mitbekommen, dass mein Unterleib spontan auf diesen Anblick reagiert. Um Gottes willen, wie peinlich könnte das werden …
»Mama … musst du hier so rumlaufen?«
»Stellt euch doch nicht so an. Das ist einfach meine Arbeitskleidung. Bisher hatte ich immer rot oder lila, aber ich finde, schwarz steht mir viel besser.« Sie sieht mir direkt in die Augen. Lodernde Finsternis. Anders kann ich es nicht beschreiben. »Findest du nicht auch, Heinrich?« Paul setzt sich ebenfalls, trinkt einen Schluck aus der Flasche. Gelber Sprudel, sicher schon länger geöffnet, schal.
»Ähm, ich kenne mich da nicht so aus, aber …«
»Na, nun sag schon. Nicht so schüchtern. Gefällt es dir?«
Ich schlucke trocken. Es tut weh. »Gefällt mir.«
Sie nickt und beendet das Wippen, stellt den Fuß runter und rutscht samt Stuhl an die Tischkante. Der seidenglänzende Bauchnabel verschwindet, dafür bin ich näher an den dunklen Warzenhöfen, den beiden Erhebungen, die wie Fingerkuppen den Stoff nach außen drücken.
»Mama, ich muss, nein, ich möchte dir was sagen. Deswegen ist Heinrich mitgekommen, weil ich … weil ich mich, also, weil ich mich nicht traue.« Sie wird augenblicklich ernst und legt die Hand auf Pauls Unterarm.
»Jetzt machst du mir aber Angst … was ist denn?«
Er sieht mich an, aber ich reagiere nicht. Kann gar nicht reagieren. Alles in mir versucht zu vermeiden, Pauls Mutter anzustarren, also lieber nichts tun.
»Heinrich hat gemeint, ich soll es dir unbedingt sagen, du wärst sicher nicht böse oder enttäuscht.« Stirnrunzeln und große Augen. Sorgenfalten, so sehe ich das.
»Mensch, Paul, was hast du angestellt?«
»Nichts«, beeilt er sich zu sagen. »Wirklich, nix …« Jetzt richte ich mich doch auf, strecke mein Kreuz durch und überrage beide. Atme tief ein. ‚Sag es endlich!‘, denke ich und hoffe, er beherrscht Telepathie.
»Ich mag Jungs, Mama.« Da ist es ja. Pauls Mutter lehnt sich zurück. Der Bauchnabel erscheint, glänzt im Licht der Küchenlampe, so flach, kleine Grübchen darin. Zum Anbeißen. »Hab mich schon in den einen oder anderen verliebt …«, schiebt er hinterher, obwohl ich ihrem Gesicht deutlich ansehen kann, dass sie den ersten Satz verstanden hat. Dann sieht sie zu mir. Pauls Blick folgt ihrem.
»… und Heinrich ist dein Freund?« Schnell will ich sagen, dass da ein Mädchen in Bonn wohnt, aber Paul kommt mir zuvor.
»Nein, er ist ein Freund, aber ohne das andere. Heinrich hat ein Mädchen in Bonn.« Ihre Augen sind weiterhin auf mich gerichtet. Ob sie gehört hat, was Paul sagte?
»Schade eigentlich«, meint sie nach einem kurzen Moment.
»Mama?«
Pauls Blick wird unruhig, die Wangen fleckig, fast hellrot, aber im selben Moment steht sie auf, stellt sich vor ihn und zieht den schmalen Körper an den Schultern hoch. Dann umarmt sie ihn fest. Pauls Arme hängen, heben sich in Zeitlupe, zentimeterweise. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
»Du musst dich für nix schämen, Paulemann. Die Menschen dürfen sein, wie sie sind oder was sie sein möchten.« Sie drückt noch einmal zu. Dann endlich auch er. Da stehen sie. Ein Schlacks und eine faszinierende Frau in Strapsen. Mutter und Sohn. Da ist etwas in meinen Augen. Ich stehe auf und gehe vors Fenster, sehe hinaus. Die schwarze Wand ist fast angekommen. Wetterleuchten malt gewaltige Umrisse in die Wolken.
»Ich bin stolz auf dich, Paulemann«, höre ich sie sagen und nach zwei, drei Atemzügen ganz leise Pauls Stimme.
»Danke, Mama. Und ich auf dich … wirklich.«
Auf den Lippen schmecke ich Salz. Ich atme tief ein. Es könnte kühler sein.


Pauls neue Frisur gefällt mir ausgesprochen gut. Sie passt zu ihm, oder besser: sie formt einen neuen Paul. In ihm ist ein Licht angegangen und leuchtet aus Augen, Worten und Gesten. Seit diesem Montagabend läuft er nicht mehr wie irrlichternd vor, neben oder hinter mir über Bürgersteige und Straßen, wir gehen jetzt Seite an Seite in die Stadt. Und nun stehen wir in Deutz vor dem Eingang der Sporthalle. Irgendwo in dieser Halle wartet Frank Zappa auf seinen Auftritt. Paul sieht sich unentwegt um. Sein erstes Konzert. Immer wieder liest er die Eintrittskarte.
»Und du bist dir sicher, dass mir das gefällt?«
»Beruhig dich, Paul. Wenn nicht, verlangen wir unser Geld zurück.«
Er runzelt die Stirn. »Du willst mich verarschen …«
»Mich würde eher interessieren, wo Andi bleibt?« Paul streckt sich, aber in der Masse um uns völlig zwecklos. Andi ist einen halben Kopf kleiner.
»Egal«, sage ich und folge der sich bewegenden Schlange zur Einlasskontrolle. »Wir haben einen Treffpunkt ausgemacht. Drinnen vor dem Mischpult.« Tatsächlich steht er schon davor. Einen großen Becher Cola in der einen Hand und winkt mit der anderen, brüllt unsere Namen. Paul und ich tragen Apfelsaft-Schorle vor uns her, halb mit Körper und Hand abdeckend. Die Ränge sind fast voll und im Innenraum versuchen alle vor die Bühne zu kommen. Der Bereich um das Mischpult ist noch recht überschaubar.
»Mann! Wo wart ihr denn? Halb sechs am Kaiser Wilhelm, so war doch abgemacht. Oder?«
»Nee, Andi, um achtzehn Uhr. Aber egal. Hauptsache hier. Die Frage ist, ob wir hier bleiben oder uns ins Getümmel stürzen?«
»Ich bin für hier bleiben«, kommt es wie aus der Pistole geschossen von Paul. »Irgendwie bekomme ich nicht so recht Luft zwischen den ganzen Menschen.« Wir sind einverstanden.
»Jeden Moment müsste Michaela auftauchen«, offenbart Andi uns.
»Michaela?«, fragt Paul. »Wer ist das?«
»Die große Blonde aus der ‚e‘, die letztes Jahr hängengeblieben ist«, versucht er zu umschreiben. Wir wissen, wer gemeint ist. Alle kennen die große Blonde aus der ‚e‘. Ich schätze, die Stufen 10 und 11 sind fast in Gänze hinter ihr her.
»Na ja, sie ist ganz nett«, stellt Paul lakonisch fest. Ich pruste los. Schorle schwappt aus dem Becher. Andis Gesicht zu sehen, ist Gold wert. Fassungslos.
»Ganz nett?«, wiederholt er ungläubig. »Sie ist ein Schwert! Hat mich Wochen gekostet, da zu graben.« Seine Brust bläht sich auf. Ich hoffe für ihn, Michaela weiß das zu schätzen und serviert ihn nicht nach drei Monaten ab. Paul kratzt sich den Hinterkopf und schaut zur Bühne. Die meisten Lichter über uns gehen aus. Ein älterer Mann kommt auf die Bühne gespurtet.
»Wer ist das?«, will Paul wissen.
»Rau, heißt er. Der Veranstalter.«
Er kündigt die Band an. Eine große, flammende Rede, die gar nicht nötig ist, denn hier drin sind wir alle Zappa-Fans, von der Haarspitze bis in die Zehen. Das Gegröle und Geschreie macht das deutlich. Bis auf Paul vielleicht, der sich unsicher umsieht und näher an mich heranrückt. Als ich mich umdrehe, hat nicht Andi Michaela in den Armen, sondern umgekehrt. Wie auch immer sie sich angeschlichen hat, Andi ist nun woanders. Doch er hat recht. Sie ist eindeutig strahlender, heller, magischer als viele um uns herum. Ich gebe Paul einen Rippenstoß und nicke hinter mich. Er schaut über seine Schulter, grinst, dann gehen die Lichter aus. Totale Schwärze in der Sporthalle, alle Menschen verstummen. Bis auf ein imaginäres Knistern ist nichts zu hören. Es ist das Knistern der Spannung in und zwischen uns allen. Ich spüre es. Ein Spot leuchtet auf.
»Frank Zappa«, flüstere ich und sehe in Pauls Augen.

Ich kann nur schwer beschreiben, was ich hier tue. Auf Paul aufpassen? Nein, die Musik genießen und ein wenig auch, mit Paul hier zu sein, Andi neben mir zu wissen. Diese Klänge offenbaren die Verbindungen zwischen uns. Paul hat sich jedenfalls von einem still stehenden Beobachter zu einer wild hüpfenden Stahlfeder gewandelt. Der Inhalt seines Bechers ist schon verteilt. Der Estrich unter uns klebt. Andi und Michaela sind überraschenderweise verschwunden. Sicher in irgendeine einigermaßen ruhige Ecke, nehme ich an. Auf Paul muss ich aufpassen wie ein Luchs. Driftet er im Flug ab, fange ich ihn wieder ein, bevor er auf einem der Menschen um uns landet und es noch Ärger gibt. Eine halbe Stunde, um warm zu werden mit uns allen und der Musik, dann eine Stunde Hüpfen. Er schwitzt wie ich ihn noch nie habe schwitzen sehen. Fünf Jahre verpasster Schulsport in ein Konzert gepresst. Irgendwann grölt die Menge Zugabe! Das Ende naht und Frank dankt allen, sieht sich um, schaut seine Band an, die nicken, dann eine Flasche Wasser für ihn, von hinten durchgereicht. Er sagt, dass es gottseidank kein gelbes Wasser ist und es folgt ‚Don’t Eat The Yellow Snow‘. Zappa pustet den arktischen Wind ins Mikrofon. Aber das kann noch nicht die ganze Zugabe gewesen sein, hoffe ich an dessen Ende. Und tatsächlich nimmt er eine hinter ihm stehende Gitarre zwischen die Beine und verwendet sie als Pferd; nehme ich an. Dann legen Posaune und Saxofon los.
»Montana!«, rufe ich, aber niemanden interessiert es. Paul sieht mich verwundert an, aber schon einen Atemzug später passiert etwas mit uns allen in diesem Oval. Wir sind an einem anderen Ort, jede und jeder für sich. In der Wunschwelt. Im Frieden mit sich und allem. Frei? Die Menge spürt den Duft der Freiheit und ruft: ‚Ich bin frei! Lasst uns nach Montana reiten!‘ Frank schleudert uns das Gitarrensolo entgegen. Die Halle tanzt, dampft, bewegt sich amöbengleich in alle Richtungen. Meine Gedanken wandern, wohin, weiß ich nicht. Wir könnten alle Schwestern und Brüder sein, das Universum aus den Angeln heben. Das könnten wir Menschen ohne Zweifel. Wie ein Traum. Als es endet, packt mich Paul. Tränen im Gesicht, umarmt mich und wiederholt ständig das Wort ‚Entschuldigung‘. Benommen lege ich ebenfalls die Arme um ihn, dann die Hand an seinen Hinterkopf, erst vorsichtig, dann fahre ich auf und ab.
»Schon gut, Paul. Alles in Ordnung. Gibt nichts zu entschuldigen …« Gefangen in dieser Monotonie endet sein Weinen nicht. Was soll ich tun? Mehr als nur über den Kopf streichen? Die Antwort ist eine andere. Ich bekomme einen Stoß von hinten. Schmerzhaft. Paul löst sich und starrt an mir vorbei. Dann ein Zucken in seinem Gesicht und ein Tritt in meinen Hintern, der wohl zwischen meine Beine gehen sollte, aber sie stehen zu eng.
»He! Ihr beiden Schwuchteln! Aber nicht hier bei uns!«
Paul reagiert wie von der Tarantel gebissen, springt aus dem Stand an mir vorbei, bekommt einen Schlag und landet auf dem klebrigen Estrich. Wo ist Andi, wenn man ihn braucht? Zwei Schritte nach vorne, zu Paul, dann schnell umdrehen. Drei sind es. Ausgerechnet der Kleinste schreitet breitarmig auf mich zu. Warum? Was haben wir getan? Paul brüllt. Vor Schmerz oder Wut, keine Ahnung. Sich extra breiter machen, als man ist, verlangsamt alle Bewegungen. Er holt aus. Es ist wie im Handball. Halblinke Position. Lücke in der Mauer, drei Schritte, Sprung und über die gestreckten Hände werfen. Kurze Ecke. Meine Faust trifft seine rechte Schläfe und er fällt. Ebenso langsam. Die beiden anderen zucken zurück, sehen sich um. Schon bin ich beim zweiten und ramme die linke Faust aus der Hüfte in seinen Magen. Der dritte strauchelt rückwärts in einen Pulk aus Jungen und Mädchen, die auseinanderstieben. Paul ruft meinen Namen. Eine Hydra aus Händen reißt mich nach hinten, zerrt an mir. Drei oder vier Ordner. Die ganze Musik ist weg. Die bessere Welt dahinter, alles begraben unter der unheimlichen Glut neben meinem Herzen. »Lasst mich los, ihr Arschlöcher!«, höre ich mich schreien, aber Ordner sind nun mal Ordner. Ihre Aufgabe ist es, für Ordnung zu sorgen. Wir landen im Ausnüchterungsraum, setzen uns, an die Wand gelehnt.

»Du zitterst ja«, sagt Paul. Mehr als schweigen kann ich nicht. Schweigen und zittern wie Espenlaub. Im Bauch steckt Kälte inmitten eines Magmaklumpens. Adrenalin. Wie der Siegtreffer im Handball, das 21:20 in letzter Minute. Durch die Halle rennen und schreien. Pauls Arm legt sich um meinen Nacken, die Hand an der Schulter, zieht er mich zu sich. Jetzt wird die Polizei kommen. Alle im Ausnüchterungsraum kommen erst mal aufs Revier. Erkennungsdienstliche Behandlung. So eine Scheiße! Aber mir egal. »Danke«, flüstert Paul in mein Ohr. Ich nicke, die Augen geschlossen. Dann kommt ein Kerl, kickt gegen meinen Schuh.
»Der auf dem Mischpult hat gesagt, die anderen hätten angefangen und ihr euch nur gewehrt …«
»Stimmt«, höre ich Pauls Stimme. Eine Zeitlang ist es still. Irgendwo rechts kotzt jemand allen Schnaps raus.
»Na gut, verschwindet, bevor der Grünweiß-Club auftaucht. Beeilt euch!« Paul reagiert hastig, springt auf und versucht mich hochzuziehen. »Komm, Heinrich! Schnell weg! Es ist furchtbar hier drin …« Ja, er hat recht. Es ist furchtbar. »Bitte, Heinrich … Ich will raus hier!«
»Schon gut. Ich steh ja schon auf.«
Wir laufen Richtung Tanzbrunnen, dann auf die Hohenzollernbrücke. Eine Menge Menschen um uns, noch ganz gebannt von der Musik. Joints gehen rum. Mitten auf dem Stahlungetüm bleiben wir stehen und starren auf das Wasser unter uns. Klopfende Dieselmotoren. Die Edam II aus Holland auf dem Weg nach Norden. Paul ist so dicht bei mir, dass ich den Hüftknochen spüre. Sein Profil hebt sich deutlich ab gegen das Licht der Messehallen. Die leicht geknickte Nase. Paul Rosenzweig, denke ich, was mache ich nur mit dir? Er räuspert sich, den Blick in die Ferne, nach Norden, Richtung Zoobrücke.
»Warum hast du dich vorhin entschuldigt?« Statt einer Antwort ballt er die Hände zu Fäusten, öffnet sie wieder, wiederholt es, bis ich die Geduld verliere und eine Hand packe. Er kommt nicht gegen die Kraft an. »Paul …«
Bugwellen klatschen gegen die Brückenpfeiler. Das Schillern der Stadtlichter flackert auf dem Wasser. Licht in der Steuerkabine. Ein Mann am fast mannshohen Steuerrad. Das Grün des Radarschirms ist wie aus einem Kriegsfilm. Dann ist die Edam II endgültig unter uns durch. Kein schlechter Job, denke ich. In die Nacht hinein, dem Fluss folgend. Und Paul schickt einen Seufzer hinterher.
»Das sind meine letzten Wochen in der Schule. Bald sind Sommerferien, dann schmeiße ich hin«, sagt er Richtung Heck des Holländers. Bevor ich die Worte sortieren kann, fährt er fort. »Hab ne Lehrstelle angenommen als Karosseriebauer in Marsdorf. Keinen Bock mehr auf Schule.«
»Aber …«
»Deshalb habe ich mich entschuldigt. Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll. Du hast mir doch so viel geholfen und jetzt gehe ich …« Mit einem Ruck reiße ich ihn herum und mich ebenso. Gesicht vor Gesicht, ein wenig vom Stadtlicht in seinen Augen. Wieder eine Träne, die schillernd die Wange hinabrollt. Paul packt meinen Kopf. Zu schnell, um zu reagieren. Drückt seinen Mund auf meinen. Ich will ihn über das Geländer werfen, dem Fluss übergeben. Es ekelt mich eine sekundenlange Ewigkeit. Aber die Wut tritt beiseite und da sind seine weichen Lippen. Eine suchende Zunge und wir küssen uns. Der Strom zieht bis in meinen Unterleib. Ich bekomme einen Steifen. Was tue ich hier? Warum kann ich mich nicht wehren?

»He, Jungs! Wenn die Bullen kommen, seid ihr reif wegen Unzucht!«, sagt jemand im Vorbeigehen.
»Lass sie doch, Mann, die ham sich halt lieb. Ist doch schön«, entgegnet eine Frau. Wir haben uns lieb? Ja, das haben wir wohl, aber … doch nicht so … nicht so lieb! Ich drücke Paul weg. Er dreht sich wieder zum Fluss.
»Entschuldigung, Heinrich«, murmelt er. Aus einem Reflex heraus will ich den Handrücken über meine Lippen ziehen, lasse es aber bleiben. Der Ekel ist weg. Es war nicht schlimm. Es war nur Paul. Und natürlich ich. Mein plötzliches Verlangen.
»Du bist in mich verliebt, nicht wahr?«
»Ja«, gesteht er. »Seit langem.«
»Das ist der Grund, warum du uns verlässt.«
Kopfnicken.
»Was für eine Scheiße …«
»Tut mir leid, dass ich mich in dich verliebt habe.«
Ich packe seinen Nacken, drücke leicht zu. »Das meine ich nicht, Paul. Wirklich nicht. Ich meine einfach alles, also, dass ich keine Ahnung habe, was hier passiert, dass ich nicht weiß, was ich tun soll … es gibt keine Antworten …
»Wir kennen ja noch nicht mal die Fragen.«
Welch seltsam weiser Satz. Wie von so einem alten Sioux-Häuptling aus nem modernen Western. Jetzt kommen auch meine Tränen. Ohne Widerstand. Ohne Reue oder Scham. Meine Güte. Wir halten uns und weinen. Keine Ahnung, ob es ein Morgen gibt.


Gott sei dank, ist es nicht so voll. Nur zwei alte Männer aus dem Johanneshaus in der Annostraße. Zumindest erzählen sie lautstark davon, dass es an diesem Morgen dort neue Kleider gab in ihrer Größe und das Frühstück üppig war, weil jemand eine Menge Eier gespendet hatte. Paul und ich sitzen im gegenüberliegenden Eck im Hinterzimmer von Mamas Gyros in der Alteburger Straße. Eine Griechin mittleren Alters und ihre junge Tochter grillen, braten, kochen und managen den besten Gyrosladen in der ganzen Stadt. Und es gibt das Hinterzimmer, acht Tische, einer davon direkt neben der Toilette. Ein Kühlschrank für die ganzen Reissdorf-Flaschen und obendrauf ein Farbfernseher von Telefunken, der immer läuft.
Die Tochter bringt das Essen. Sie ist außerordentlich hübsch, aber niemand traut sich, sie anzusprechen, geschweige denn, ihr schöne Augen zu machen, denn Mama, ihre Mutter, strahlt die Autorität einer schwer bewaffneten Spezialeinheit aus. In ihren Augen kämpfen Trojaner gegen Griechen, Hector gegen Achill. Ein loderndes Feuer. Ihre Stimme ist die Waffe. Im Laden herrscht Disziplin. Egal wer durch die Tür tritt. Glatzen, Punks, Drogensüchtige, Besoffene, alle stehen hier stramm und empfangen demütig einen Riesenteller Fleisch, Pommes oder Reis, Zwiebelringe, fette Oliven und herrliche Tomaten. Mamas Gyros ist der Ort des Waffenstillstands, die neutrale Zone. Ich weiß, dass alle dankbar sind, hier sein zu dürfen, denn es ist Heimat. So auch Paul und ich. Im Halbdunkel des Hinterzimmers, uns gegenübersitzend. Schweigend.
Wir haben Hunger. Gyros mit allem. Ein Schluck vom kühlen Getränk, dann stochern im Teller, langsames essen. Etwas ist zerbrochen, denke ich, nein, spüre ich. Es ist zuende gegangen, ohne dass ich genau weiß, was dies sein könnte. Gabel um Gabel verschwindet zwischen unseren Lippen. Ich mag Reis wesentlich lieber als Pommes. Sind wir auf dem Weg, Erwachsene zu werden? Fühlt es sich so an? Paul legt die Gabel auf Seite, nimmt die Serviette, tupft den Mund, faltet das Stück Papier und legt es halb unter den Teller. Er ist wirklich erwachsener geworden, fällt mir in diesem Moment auf. Der hüpfende Schlaks ist schon so weit weg, in ferner Vergangenheit.
»Ich möchte dir danken, Heinrich. Das war wirklich super, das Konzert und … naja, dass du dich für mich geprügelt hast.«
Diese Idioten hatte ich schon fast wieder vergessen, aber die Musik …
»Hm, vor allem der letzte Song hat mich schon manches Mal gerettet.« Er lehnt sich zurück. Seine rechte Hand nähert sich meiner. Ich reagiere nicht, bin gespannt, was passieren wird. Ob etwas passieren wird. Nur seine Frage kommt.
»Gerettet? Wie meinst du das?«
»Wir sind innen drin nicht immer das, was man außen sieht. Weißt du noch?« Er nickt und zieht sich zurück, greift zur Gabel. Wir essen weiter.
»Was verdient man als Karosseriebauer?«
»Im ersten Lehrjahr 400 Mark. Weiter weiß ich noch nicht. Aber ist ja auch egal. Ich muss einfach raus aus allem. Was Neues sehen.«
Was Neues sehen … das kommt mir auf einmal auch sehr verlockend vor.
»Was macht man als Karosseriebauer?«
Paul schürzt die Lippen.
»Aufbauten für Spezialfahrzeuge, Rettungswagen, Krankenwagen, Fahrzeuge für das THW und so …« Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
»Das klingt interessant. Echt. Wird bestimmt nicht langweilig.«
»Schätze ich auch.«

Wieder ein paar Gabeln Reis, Pommes, krustiges Fleisch und Zwiebeln. Paul steht auf, nimmt zwei Reissdorf aus dem Kühlschrank, zeigt sie im Vorraum und setzt sich wieder. Mit dem Griff der Gabel öffnen wir sie und stoßen vorsichtig an. Ein tiefes Klacken.
»Prost, Heinrich.«
»Prost, Paul.«
Nach einem tiefen Schluck setzen wir ab, rülpsen so leise es geht.
»Vielleicht hätte deine Mutter damals den Job annehmen sollen, den mein Vater ihr angeboten hat, um sich mehr um dich kümmern zu können.«
»Ich habe sie gefragt, aber sie sagte nur, sie hätte Verpflichtungen, die sie nicht so einfach hinter sich lassen könne.«
»Verpflichtungen … das heißt?« Paul zuckt mit den Schultern.
»Wir reden nicht viel über ihre Arbeit. Sie bringt das Geld heim. Viel mehr muss ich nicht wissen …«
»Sagt sie«, beende ich den Satz.
»Sagt sie, ja. Und wenn sie nicht in Strapsen vor meinen Freunden herumläuft, geht mir das weitgehend am Arsch vorbei.« Mir kommt ein Gedanke. Ich grinse.
»Kann es sein, dass dir ihre Strapse nicht nur peinlich sind, sondern du auch eifersüchtig bist, wenn andere sie so sehen?« Er sieht mich von unten her an. Den Blick halb auf dem Teller. Wir kommen beide nicht drumherum. Am Ende müssen wir drüber reden, sonst können wir uns niemals wieder in die Augen sehen. »Ich will dir keine dämlichen Fragen stellen, Paul.«
»Ja, ich weiß ja …«
»Dein Herz klopft jetzt gerade.«
»Und wie …«, sagt er tonlos. Ich warte, trinke einen Schluck vom Kölsch. Egal, ob Mädchen oder Junge, es ist so schwer, ehrlich zu sein. Aber der Gedanke an ein Mädchen kommt mir vertraut vor, bekannt, aber Paul … wie kann ich nur reagieren?
»Heinrich?«
»Hm?«
»Würdest du Jungs mögen, könntest du dich dann in mich verlieben?« Da ist er, der unstete Blick. Ich begreife sofort, dass er seinen Hals bietet, alle Rüstung abgelegt hat, ohne Schutz vor mir sitzt. Jeden Krümel Mut zusammengenommen. Paul ist wehrlos. Genau jetzt.
»Ja, das würde ich. Bestimmt sogar.« Es braucht lange, bis er nickt. Dann steht er auf, kommt um den Tisch herum, stellt sich neben meinen Stuhl. Als ich mich ebenfalls erhebe, drückt er einen schnellen Kuss auf meinen Mund, presst sich an mich und verschwindet blitzartig aus dem Hinterzimmer. Die zwei Alten haben nichts mitbekommen. Sie reden über einen Mann namens Groschen-Peppi. Mein Blick fällt auf die Teller. Zur Hälfte voll. Samt Besteck trage ich beide zu den Alten.
»Hier, wir sind satt. Sind schon bezahlt. Lasst es euch schmecken. Und nehmt euch noch ein Kölsch aus dem Kühlschrank. Ich zahl vorne.« Das tue ich und trete ins Freie. Es ist angenehm warm und die Südstadt so lebendig wie ein Ameisenhaufen.

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