Paul und die Jungs | Kapitel 4

Was ist schon normal?

Paul starrt auf das Spielbrett. Wir sitzen am von Mutter in wochenlanger Handarbeit hergestellten Schachbrett meines Vaters. Die gekauften Figuren sind aus Elfenbein und detailliert herausgearbeitete kleine Menschen in mittelalterlichen Gewändern; bis auf Pferde und Türme, aber selbst sie sind an diese Zeit angepasst. Die Rösser mit ritterlichem Behang, beeindruckendem Zaumzeug, der Körper und Kopf schützt. Die Türme wie Bergfriede, zinnenbewehrt und imposant. Ich bin jedes Mal fasziniert. Doch für Paul führt ab jeder weitere Zug ins Verderben. In die unausweichliche Niederlage. Er legt den König um. »Ich verstehe das nicht«, murmelt er. »Ich spiele doch immer so, wie Fischer in seinem Buch, aber irgendwie passt es nicht.«
»Das Problem ist, dass ich nicht so spiele, wie seine Gegner. Es gibt eben keine 1:1 Wiederholung. Wie sollte das auch gehen?« Paul schmatzt mit den Lippen und seufzt.
»Aber wie soll ich dann was lernen? Wieso dann überhaupt das Buch?« Ich weiß auf Anhieb keine befriedigenden Antworten und höre, was Mutter in der Küche anstellt. Einen Kuchenteig rühren? Aber Pauls flehender Blick führt meine Gedanken wieder auf diese wichtigen Fragen zurück. Wie lernen? Wie habe ich bis hierhin gelernt?
»Warum er das Buch geschrieben hat, weiß ich nicht. Er ist der Weltmeister und hat vielleicht gedacht, damit irgendjemandem zu helfen. Aber diese Partien im Buch sind ja schon gespielt. Bestenfalls die Eröffnungen lassen sich kopieren. Doch irgendwann zweigt es ab. Du bist nicht Bobby Fischer und ich nicht seine Gegner.«
»Wie hast du es denn gelernt?«
Aha, sie schlägt zwei Eier auf, lausche ich den Geräuschen, die durch die halb geöffnete Tür dringen. Vielleicht Pfannkuchen? Paul knetet die Finger. Er ist unglücklich, starrt auf das Brett, den gefallenen König.
»Ich war sieben oder so, da hat mein Vater angefangen mit mir zu spielen. Regelmäßig. Die nächsten sechs Jahre hat er immer gewonnen und ich hatte – ehrlich gesagt – die Fresse dick. Eines Tages fiel mir auf, dass ich immer denselben Fehler machte.«
Paul blickt auf, beugt sich ein wenig vor. »Welchen Fehler?«
»Auf das, was er tat, zu reagieren. In seine Fallen zu laufen, mich einzuigeln, abzuwehren. Ich bin seinen Zügen hinterhergerannt.«
»Aha … ja, und was hast du dann gemacht?«
»Ich habe ihn attackiert. Ab Spielbeginn.«
Pauls Brauen kräuseln sich. »Und das hat funktioniert?«
»Anfangs nicht, weil er genug Routine besaß, um das abzuwehren. Aber nach und nach attackierte ich immer anders, bei jedem Spiel. Bis ich merkte, die aggressive Spielweise gefällt mir. Er hat erwartet, dass ich dieses und jenes tue, also habe ich versucht, das Gegenteil zu machen.«
»Aber was hast du anders gemacht?«
»Na, ich hatte immer versucht, meinen König zu schützen, Rochade und so und er hat seine Figuren vorher so platziert, dass er den Riegel vor dem König frühzeitig brechen kann. Also habe ich das mit der Rochade sein lassen und bin mit der Dame losgestürmt. Lange Linien, Läufer und Dame. Man muss ganz anders auf das Feld schauen, und …« Ich mache eine Pause und erinnere mich an Vaters Gesicht, das Zucken kleiner Muskeln, die Überraschung, ein Staunen.
»Und?«
»Eines Tages war da in seinem Gesicht so was wie Unsicherheit, ein Zögern, zur Figur greifen wollen, abwarten, die Hand zurücknehmen. Du weißt, was ich meine.«
»Und dann?«
»Vor einem Jahr war das. Mein erster Sieg. Danach war der Bann gebrochen. Wir haben noch ein paar Wochen gespielt, aber er hatte wohl keinen Bock mehr. Seither spielt er nicht mehr mit mir.« Paul presst die Lippen aufeinander, lässt sich gegen die Lehne fallen, fährt sich durch die Haare, die kaum unordentlicher sein können.
»Das heißt ja, du hast nicht sein Spiel besiegt, sondern ihn.«
»Ich glaube schon. Ich glaube, man muss den Menschen besiegen, um zu gewinnen.«
Er beginnt mit dem Einräumen der Figuren. Nach der Hälfte stoppt er. »So viele Jahre verlieren, das baut nicht auf.« Mutter kommt pfeifend aus der Küche, lächelt und verschwindet im Schlafzimmer.
»Ich hasse es zu verlieren. Also muss ich solange verlieren, bis ich gewinne.« Paul sieht mich überrascht an.
»Du hasst es zu verlieren? Das wüsste ich aber. Du wirst doch nie wütend. Weder beim Skat noch bei Mensch-ärgere-dich-nicht oder sonst einem Spiel. Glaub ich jetzt nicht wirklich.« Ich zucke mit den Schultern. Die Schlafzimmertür geht auf.
»Gleich gibt es Pfannkuchen. Würdet ihr beiden im Edeka noch gekochten Schinken holen?«
»Au ja!«, ruft Paul und springt auf. »Ich liebe Pfannkuchen!«


Mutter hat Paul gestern Abend fünf Pfannkuchen eingepackt, damit er sie heute in der Pause essen kann, aber die Teigfladen haben die ersten beiden Schulstunden nicht überlebt. Es ist kurz nach halb eins, Schulende schon nach der fünften Stunde, und wir sind auf dem Weg zum Comic-Laden in der Ehrenstraße, denn Paul hat vor ein paar Tagen die Welt der gezeichneten Figuren entdeckt. Eine meiner Comic-Kisten stand auf meinem Schreibtisch, zufällig. Es war schwer, ihn von all den Heften wieder loszueisen, um Hausaufgaben zu machen.
Wir sitzen in der Zwölf und zuckeln über den Eifelplatz. Paul ist still, sieht nur aus der Scheibe, aber ich ahne, dass sein Blick durch all die Häuser und Menschen hindurchgeht, einem fernen Punkt entgegen, den nur er kennt. Die Bahn ist voller Schüler. Das Wochenende ruft. Die einen treffen sich auf einer Party, morgen Abend ist ein Konzert in den Sartory-Sälen, die beiden hinter uns wollen ins Kino und ein Mädchen liest in einem Chemiebuch. Warum tut sie das? Es ist Freitag!
»Heinrich?« Mit den Gedanken noch inmitten des Lärms, höre ich meinen Namen, schaffe es aber nicht, zu reagieren. Ich bekomme einen Stups. »He, Heinrich! Hörst du mich?« Es ist Paul.
»Jaja, war wohl kurz vor dem Einnicken, sorry …«
»Ich kann mir ja gar nichts kaufen in dem Laden«, stellt er fest, als würde seine finanzielle Lage erst in diesem Augenblick so klar wie Kloßbrühe. »Ich bekomme ja noch nicht mal richtiges Taschengeld. Ab und zu mal, wenn Mama was übrig hat.« Die letzten Worte versanden in einem Flüstern, kaum zu verstehen. Er sieht sich um, zunehmende Gesichtsröte, aber niemand achtet auf Paul. Ich frage mich, ob ihm das bewusst ist.
»Mach dir mal keine Gedanken. Ich hab mir da schon was überlegt. Wir steigen am Rudolfplatz aus, dann erkläre ich dir alles, okay? Hier sind zu viele Zuhörer.« Wollte ich seinem irrlichterndem Blick folgen, würde ich wohl kirre werden. Seine Pupillen vollführen geradezu irrwitzige Bewegungen. Wie ein Zittern am Körper, nur in den Augen. Aus dem Nichts schnellt seine Hand zum Kopf und strubbelt durch die Haare. »Beruhig dich, Paul. Das kriegen wir schon hin. Nach den Comics gehen wir in den McDonald. Ich lade dich ein.«
Die Augen werden noch größer. »Ehrlich?«
»So wahr ich hier sitze.« Wir legen uns in die Kurve, biegen ein auf die Ringe. Paul starrt auf seine Knöchel, die Finger um die Haltestange gelegt.
»Heinrich? Gestern hast du gesagt, du hasst es, zu verlieren und … und ich habe das noch nie an dir gesehen. Hast du mich angelogen?« Der Lärm verschwindet in einem großen Loch und mit ihm die Menschen. Als träte ich in eine parallele Dimension der Stille, obwohl mein Körper fühlbar diesen roten Sitz unter sich spürt. Ich frage mich in solchen Momenten, wie weit ein Bewusstsein sich ablösen kann und doch an Ort und Stelle klebt. Warum sehen andere nicht, wie ich bin? Weil ich es nicht gestatte. Weil ich mich schäme? Der Kopf auf meinem Hals bewegt sich hin und her. Kopfschütteln.
»Nein, Paul. Ehrlich, ich habe dich nicht angelogen. Das, was du siehst, ist eben nicht immer das, was drin steckt. Was man nicht sieht.« Wie weiß doch Knöchel werden können. »Du zeigst mir bestimmt auch nicht immer den wirklichen Paul, oder?«
»Nein«, murmelt er Richtung seiner Knie. Die Bahn bimmelt. Eine junge Frau rennt mit dem Kinderwagen recht knapp vor uns über die Straße. Der Fahrer flucht, was das Zeug hält und die Hälfte der Fahrgäste schreit auf, lacht oder hält sich vor Schreck die Hand vor den Mund.

Ein paar hundert Meter weiter verschwinden die Gleise im Untergrund, dann sind wir am Rudolfplatz. Eine Menge Schüler steigen aus. Ab in die Stadt, ist die Devise. Paul und ich hechten die Treppe hoch, vorbei an der Currywurstbude neben dem Hahnentor und links in den Friesenwall. Hier ist es wesentlich ruhiger. Paul hüpft, federt, eine einzige Schwungmasse. Entgegenkommenden Menschen weicht er geschickt aus, fast im Flug, stelle ich grinsend fest. Vor einem Teeladen halte ich ihn fest und bleibe stehen. Er ist leicht wie ein kleines Kind, beinahe reiße ich den schlaksigen Körper um.
»Hör mal, Paul … ich habe neulich meinen Vater gefragt, von wegen an zwei Nachmittagen oder samstags arbeiten. Er hat nix dagegen, meinte aber, dass, ähm, ich die ersten paar Mal mitgehen soll …«
»Arbeiten?!«
»Ja, klar. Es gibt eine HNO-Praxis in der Bonner Straße. Da ist drei Mal die Woche putzen angesagt, immer abends. Von 18 Uhr bis 20 Uhr.« Sein Blick wird unstet. Er beißt sich auf die Unterlippe.
»Das ist toll, ich meine, lieb von dir, aber ich weiß gar nicht, ob ich das kann.«
»Red kein Blech, Mann, das ist ganz einfach. Ich gehe eine Woche mit; oder zwei, wenn du willst, danach ist alles palleti. Das ist nicht schwer.« Er sieht an mir vorbei. »Du bekommst vierhundert Mark im Monat für sechs mal vier Stunden. Steuerfrei, weil du Schüler bist …«
»Vierhundert Mark!?«
»Vierhundert Mark, ganz genau. Und mein Vater hat einen Fahrdienst für Angestellte, die nur über Umwege zur Arbeitsstelle kommen. Du hast ja noch nicht mal ein Fahrrad.« Es fehlen noch ein paar Zentimeter zur Entscheidung. Ich sehe es ihm an und klopfe auf Pauls Schulter. »Nicht wenige aus der Schule arbeiten bei uns«, erkläre ich. »Unter der Woche, in den Ferien, gutes Geld für einfache Arbeit. Trau dich, es kann nichts passieren. Woher soll all das Geld für Kino, Eis, Schwimmbad oder Pizza mit der Freundin kommen?«
»Ich hab doch gar keine Freundin.«
»Ja, blöd gelabert, tschuldigung …«
»Und du hilfst mir am Anfang?«
»Natürlich.«
»Also gut«, sagt er dann mit fester Stimme. Wir gehen weiter. Die letzten Meter bis zur Kreuzung Ehrenstraße schweigend, unseren Gedanken folgend. Vorbei an einem türkischen Sportwettenladen, dem Billardsalon, zwei Cafés und jeder Menge Falschparker. Paul entdeckt den Comicladen neben dem Optiker.
»Das ist er, oder?«
Ich nicke. »Ja, aber Paul, tu mir einen Gefallen … drinnen nicht hüpfen. Da steht alles so eng …«
»Klar. Nicht hüpfen.«

Wir überqueren die Straße und gehen hinein. Die Türglocke, einmal bimmeln, zweimal, dann sind wir in der Stille und riechen den Duft von bedrucktem Papier und Karton. Ich bin Alice in meinem Wunderland. Paul erstarrt und sieht sich um. Der Besitzer ist ein junger Kerl, Studium der Soziologie abgebrochen, weil er laut seiner Aussage die meiste Zeit Comics gelesen hat, also nahm er sich vor, sie zu verkaufen, statt in den Seminaren Bildergeschichten zu verschlingen. Der Erfolg ist nicht sintflutartig über ihn hereingebrochen, aber er kann seit zwei Jahren davon leben. Als er mich sieht, hebt er den Arm.
»Heinrich!«
»Jürgen!«
Leichtfüßig bewegt er sich auf uns zu, wuselt durch die schmalen Gänge, links und rechts Hefte über Hefte, nach Verlagen sortiert. Ehapa, Marvel, DC, Carlsen, alles, was das Herz begehrt. Er nickt Paul zu als er vor mir steht und andeutungsweise in den Bauch boxt. »Wen haste denn da mitgebracht?«
»Das ist Paul, wir sind in einer Klasse. Er hat bei mir ein paar Blueberry und Rex Danny gesehen und war gleich Feuer und Flamme.«
»Blueberry habe ich gestern zwei neue Ausgaben reinbekommen. Danny sind nur noch zwei oder drei vorrätig. Hab schon nachbestellt …« Paul steht da wie Lots Frau. Er starrt Jürgen mit großen Augen an.
»Äh, Paul? Komm, Blueberry ist da vorne rechts an der Wand.« Ich will ihn mitziehen.
»Bisschen schüchtern, dein Freund, was?«, stellt Jürgen fest. »Ich gehe weiter auspacken. Komm nachher mal nach hinten. Hab da was für dich«, sagt er und verschwindet. Jetzt rührt sich Paul wieder.
»Können wir gehen?«
»Was? Wie … warum willst du gehen? Du konntest es doch gar nicht abwarten, diesen Laden zu durchstöbern.«
»Ich fühl mich nicht so gut.«
Mehr kommt nicht aus ihm raus. Ein kurzer Schwung, zwei dünne Arme streifen die Regale, dürren Zweigen im Wind ähnlich, dann geht er Richtung Tür. »He! Paul! Geh nach links, da ist ein Döner. Warte da auf mich!« Mit dem Bimmeln der Türglocke bin ich alleine im Laden. Mutters Spruch fällt mir ein. Wie Pik sieben, bestellt und nicht abgeholt. Also mache ich mich auf zu Jürgen. Er wollte mir etwas zeigen. Hinter der Verkaufstheke ist ein schwerer Brokatvorhang in abgenutztem Olivgrün. Ich trete hindurch. Jürgen packt Comics aus einer Kiste, hakt sie auf einem Blatt Papier ab.
»Ah! Heinrich …«
»Du wolltest mir was zeigen.« Er holt aus einem zweiten Karton mehrere dicke Bücher. U-Comix!
»Frisch aus New York. Robert Crumb. Ich muss noch nach dem Umrechnungskurs sehen plus Marge, und ich habe auch nur noch drei übrig, die anderen sind aus ner Bestellung.« Er gibt sie mir. Ich rieche dran. Frisch aus der Druckmaschine. Robert Crumb … seine Geschichten ziehen mich magisch an. Dabei weiß ich nicht mal, was genau mich dabei fast hypnotisiert. Verwahrloste, desillusionierte Gestalten, korrupte Polizisten, die obszönen Fantasien, ein durch und durch kaputtes Leben in New York … nicht umsonst handelt Jürgen damit hinter dem Vorhang.
»Kauf ich. Alle drei.« Er grinst.
»Wusste ich’s doch.«
»Pack mir noch die beiden neuen Blueberry ein und wenn es einen neuen Gaston gibt, dann auch den.«
»Sehr gerne.«
Jürgen drückt sich an mir vorbei, nimmt die Bücher mit. Es raschelt hinter dem Vorhang. Eine Papiertüte. Dann ein Tippen auf der Rechenmaschine, das Telefon. Er ruft die Bank an und fragt nach dem jetzigen Wechselkurs zum Dollar. Dann tippt er wieder. Ich gehe durch den Vorhang, lehne an die Theke.
»Pass auf, ich muss mindestens zwanzig Prozent draufschlagen, zusammen mit Blueberry und Gaston macht das 120 Mark glatt. Okay?«
»Kein Problem.« Aus dem Lederbeutel nehme ich einen blauen und einen grünen Schein. »Bitte.« Jürgen nickt, tippt den Bon und legt das Geld in die Kasse. Dann sieht er mich an. Es ist nicht sein üblicher ‚Danke-für-den-Kauf-Blick‘.
»Dein Freund da … kennst du ihn gut? Oder nur oberflächlich?« Für einen Augenblick bin ich überrascht. Ohne Antwort, muss erst mal nach den Worten suchen. Was meint er?
»Keine Ahnung, was du unter ‚gut‘ verstehst. Ich glaube, niemand kennt ihn wirklich gut. Warum fragst du?« Jürgen zieht seine Brieftasche aus der Hosentasche, klappt sie auf und zeigt mir das Foto eines ausgesprochen hübschen jungen Mannes. Ich denke an einen Filmstar, wie Alain Delon oder Helmut Berger.
»Mein Freund, also meine große Liebe.«
Ich werde auf der Stelle rot und schäme mich im selben Moment für das Rotwerden.
»Sorry, Heinrich, hast du nicht gewusst? Ich dachte, du hättest was geahnt, gehört oder ich mal erwähnt. Egal, jedenfalls sag ich dir jetzt, dass dein Freund da auf derselben Seite des Flusses lebt wie ich.«
»Ähm«, mehr bringe ich nicht heraus. Noch ein Räuspern hinterher.
»Du bist ein hübscher Kerl, Heinrich. Pass auf ihn auf, fahr nicht mit der Dampfwalze über seine Gefühle, falls er sich outet. Verstehst du?« Ich will sagen, dass ich eine Freundin habe in Bonn, die ich zwar nur selten sehe, aber nicht zu knapp in sie verliebt bin und an Jungs noch nie dachte. Aber sofort fallen diese Worte in sich zusammen, denn das zu sagen, wäre völliger Blödsinn. Was soll ich also antworten? Trotz Jürgens Ruhe und Entspanntheit glühe ich und bin sprachlos wie selten. Ein Nicken schaffe ich noch.
»Ich pass auf«, kommt über meine Lippen, weiß jedoch nicht, woher ich den Mut dazu genommen habe. Jürgen klopft mir auf die Schulter und ich schleiche mich aus dem Laden, Richtung Döner, trete fast in einen Hundehaufen. Jemand kichert, ein Porsche Targa röhrt an mir vorbei. Deutlich schneller als erlaubt.

Endlich vor dem Izmir. An einem Stehtisch hängt Paul wie ein luftleerer Ballon und stiert auf den Aschenbecher. Meine gute Freitagnachmittag-Stimmung ist verschwunden und ich weiß nicht, wohin. Zügig trete ich ein, kurzer Gruß. Den fragenden Blick beantworte ich mit einem ‚Lahmaçun, große Portion und ne Cola‘. Paul steht direkt neben dem Rotomat, der seine Lichter- und Melodieabfolgen in den Raum schickt.
»He, Paul, such dir was aus. Wenn wir schon hier sind, können wir auch was essen. Schmeckt eh besser als bei McDonald.« Keine Antwort. Nicht mal ein Zucken. Nur das ‚Tüdelüt‘ der Maschine und der schnauzbärtige Mann hinter der Glastheke summt ein Lied. An der Schaufensterscheibe ist eine breite Ablage mit verdorrten Pflanzen. Dort stelle ich die Tüte ab, hole beide Blueberry raus und lege sie auf den Tisch. »Hier. Sind die beiden neuesten Ausgaben. Noch nicht mal ich hab die, und das will was heißen.«
»Lahmaçun, Cola!« Mit einem Blick auf Pauls Gesicht gehe ich das Essen holen. »Macht acht Mark«, sagt der Schnauzer. Auf der Karte entdecke ich einen Grillteller mit Pommes für zehn Mark, lege einen grünen Zwanziger neben die Zahnstocher.
»Mach bitte noch einen Grillteller und ne Cola. Danke.«
»Is klar, Jung«, kommt die Antwort. Als ich wieder am Stehtisch bin und kräftig in meine Teigrolle beiße, packt Paul die beiden Hefte in den Schulranzen, murmelt ein ‚Danke‘ und richtet sich kerzengerade auf. Er ist fast so groß wie ich.
»Heinrich .. ich muss dir was sagen.«
Mehr als nicken kann ich nicht. Der Mund ist zu voll. Pauls Zeigefinger malt Kreise auf die verkratzte Tischplatte, stößt an die Plastikblume, kribbelt Ecken von Bierdeckeln. Jetzt ist mein Mund leer und ich will gleich noch mal reinbeißen. Soll ich ihm davon erzählen, was Jürgen sagte? Oder mich dumm stellen? Lieber harmlose Fragen? Der Schnauzer kommt mit einem großen Teller, der Cola und Besteck.
»So, schmecke lasse, Jung!«
»Danke«, sage ich und schiebe den Teller zu Paul. »Hier, Essen und ne Cola.«
»Warum tust du das alles?« Ich bin perplex und beiße kein weiteres Stück ab. Dabei riecht es verlockend.
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst, Paul. Was tue ich denn alles?«
»Kümmerst dich um einen Job, kaufst Blueberry, das Essen …« Ich seufze innerlich. Warum kann es nicht mal unkompliziert sein?
»Mensch, Paul, was stellst du für Fragen? Wir sind jetzt fünf Jahre in einer Klasse. Okay, in der letzten Zeit hat sich mehr getan als früher. Aber wir sind ja auch älter geworden. Früher war ich mehr mit Michael zusammen, heute mit Andi und dir. Warum machst du dir so viele Gedanken?«
»Vielleicht bemitleidest du mich auch.«
»Bemitleiden?« Ich lege den Lahmaçun auf den Tisch, das angebissene Ende auf Pauls Pommes.
»Klar, heruntergekommene Wohnung, mein Vater ist weg, Mama arbeitet im Rotlichtviertel, kein Taschengeld und ich habe einen an der Waffel, kann kaum ruhig sitzen, hüpfen, hüpfen, noch nicht mal im Sport mache ich mit …« Seine Stimme versagt. Zwei heftige Schluchzer brechen aus ihm heraus, dann landet seine Stirn auf dem Tisch. Unwillkürlich schaue ich zum Schnauzer.
»Iss Liebe kaputt?«, fragt der.
»Ja, ich denke schon. Die Mädels …«
»Ah, immer Liebe! Mache alles schön, dann alles kaputt«, resümiert er, winkt ab und verschwindet anstandshalber im hinteren Raum. Mit beiden Händen fahre ich mehrmals durch mein Gesicht und denke an ein Handbuch für die ganzen Probleme, das es geben müsste. Hab aber noch keines gefunden. In keinem Buchladen. Stattdessen lege ich den Arm um Pauls Schultern.
»Ich, ähm, ich will ehrlich sein, Paul. Das mit dem Mitleid hab ich schon mal gefühlt, aber das ist doch scheißenormal, oder? Was sollte man denn gegen Mitleid tun, das man spürt? Kann man doch nicht rausschneiden … ich meine, ich hab Andi und Michael en Job besorgt, hab beide schon ins Kino eingeladen, zum Essen und Andi mich schon ins Schwimmbad oder in den dänischen Eisladen … das ist doch völlig normal.«
Pauls Kopf ruckt nach oben. »Was ist schon normal?«, fragt er und schnäuzt in seine Serviette. Ich hole noch zwei von der Theke. »Magst du mich, Heinrich?«, will er wissen, als ich wieder neben ihm stehe.
»Ja, natürlich mag ich dich, sonst würde ich nicht hier stehen.«
»Ich meine, mehr als normal.« Ich ahne, dass ich ein dummes Gesicht mache, denn auf einmal grinst er. Dann geht mir ein Licht auf. Jürgens Erklärung kriecht durch meinen Kopf.
»Du meinst, ähm …«
»Ja, genau, das meine ich, Heinrich.«
Er ist wie ausgewechselt. Wieso so plötzlich? Steht kerzengerade und starrt mich an. In den letzten Wochen musste ich Worte finden, um Dinge zu erklären, die mir zuvor völlig egal waren oder die ich belächelt habe.
»Als Kumpel, klar, aber verliebt und so, also schwul, nee, das nicht.« Dem letzten Wort schicke ich einen unsicheren Lacher hinterher, aber Paul bleibt ernst.
»Dann bin ich froh. Ich dachte, du bist vielleicht in mich verliebt … und ja, ich … ich mag Jungs lieber, das wollte ich dir sagen …«
»Pfuh, na dann …«
»Aber ich hab mich grad in deinen Kumpel Jürgen verliebt. Hals über Kopf.«
Ich starre Paul an. Dann gehe ich zur Theke. »Ich nehme mal zwei Chantré raus! Hier liegen zehn Mark!«, rufe ich in den Durchgang.
»Is gut! Hilft gegen Liebe kaputt!«

Der Chantré beruhigt uns; und kämpft mit dem wohlschmeckenden Lahmaçun um die Oberhand in meiner Mundhöhle. Paul hat mir gerade aufgelistet, wer in der Schule noch alles Jungs mag. Gar nicht mal so wenig. Eine Welt in meiner Welt tut sich auf. Teilweise bin ich geschockt, denn mit einigen stehe ich wöchentlich nackt unter der Dusche in der Turnhalle oder dem Hallenbad. Ich erinnere mich an die Blicke oder meine mich plötzlich an Blicke zu erinnern, die genau jetzt eine völlig andere Bedeutung bekommen haben – oder auch nicht.
»Ich habe keine Ahnung mehr, was ich denken soll und was nicht, Paul. Ich bin total verwirrt. Tut mir leid … ich meine, was ist in der Dusche nach dem Sport? Mit einigen bin ich in der Schwimmstaffel, der Leichtathletik-Mannschaft. Die sehen zu, wie ich mir den Sack wasche und nen Steifen dabei bekomme. Oho! sagen dann alle, Jungs-Gelaber und wir lachen dabei. Werde ich beim nächsten Mal dann rot? Oder gehe besser nach ihnen unter die Brause? Wie soll ich mich verhalten?« Paul sagt nichts, geht an die Theke und greift zwei kleine Bommerlunder, legt zehn Mark auf den Tisch und kommt wieder.
»Meine letzten und einzigen zehn Mark für diese Woche«, teilt er mit, öffnet den Schraubverschluss und kippt den Inhalt in sich hinein. Ich tue es ihm nach. »Der dürfte uns gar nix von dem Zeug verkaufen«, stellt er fest. »Aber, naja, wen interessiert es?«
»Eben«, bestätige ich, habe aber immer noch keine Antwort auf mein Problem. »Lass uns gehen«, schlage ich vor. Paul stellt Teller und Besteck auf den Edelstahltisch. Niemand ist zu sehen. Tschö!, rufen wir und sind draußen.

»Und jetzt?«, fragt er mich, hängt die Schultasche über die Schulter. »Ist jetzt etwas anders zwischen uns?«
Diese Frage treibt mir fast Tränen in die Augen. Gegenüber lädt ein Abschleppwagen einen dunkelgrünen Mercedes auf, der eine Toreinfahrt halb verdeckt. Ein Hüne von Kerl zieht an Hebeln und quietschend schiebt sich die Plattform auf das Heck. Scheiße, nein! Natürlich hat sich nichts geändert! Ich bin in eine neue Welt getreten und komme mir vor wie ein kleiner Kerl, der zum ersten Mal durch die Kindergartentür geht. Hilflos?
»Was soll sich geändert haben, Paul? Nichts. Ich bin ja wohl das Problem gerade, weil ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll.« Geknickt laufe ich los.
»Wohin gehen wir?«
»Weiß nicht, Paul. Bin halt einfach losgelaufen. Wohin sollen wir denn gehen?« Schnell ist er neben mir. Hüpft nicht, federt nicht, die Arme hängen ruhig nach unten.
»Bist du mir böse?«, kommt es mit unsicherer Stimme.
»Quatsch, nein, ich bin einfach …« Mein Blick ist auf den Bürgersteig gerichtet. Ich habe Angst, in Hundekacke zu treten. Oder Paul in die Augen zu sehen.
»Ja?«
»… unsicher, Paul. Ich bin unsicher!«
»Ich auch«, gibt er zu. Reflexartig atme ich tief ein und aus, zucke mit der rechten Hand, dann lege ich den Arm um seine Schulter. Die Menschen werden denken: Sieh an, zwei gute Freunde. Sie werden nicht das wissen, was wir beide wissen. Schon gibt es zwei unterschiedliche Wahrheiten.
»Sag mal, hattest du schon mal einen, wie soll ich sagen, einen Geliebten?«
»Nein. Ist nicht einfach. Bin ja eher ein Spargel und kein Adonis.« Wer ist schon ein Adonis oder eine Aphrodite? Ich denke an meine Freundin. Ich stehe voll auf sie, aber ob andere das auch täten?
»Bist du dir sicher, dass einen ‚Freund haben‘ unbedingt was mit dem Aussehen zu tun hat? Also denk mal an Michael und Petra. Offenbar stehen ja alle auf unterschiedliches Aussehen, Geschmackssache halt.«
»Es gibt tolle Jungs, normale Jungs und dann gibt es noch mich …«
Ich muss lachen. Fast hätte ich ihn umgeworfen, so sehr schüttelt es mich. Eine Frau mit Hund drückt sich an uns vorbei. Ich äuge hinterher, um zu sehen, ob er auf den Bürgersteig kackt. Eine echte Phobie.
»Also, Paul, wenn das so ist, dann müssen wir was an deinem Erscheinungsbild ändern. Meinst du nicht?«
»Vielleicht, aber wie?«
»Warst du schon mal beim Friseur?«
»Kann mich nicht erinnern. Das macht meine Mama, wenn sie Zeit und Lust hat.«
»Hm, also Haare schneiden kann sie auf jeden Fall nicht, das steht fest.« Er seufzt. »Hör mal, Paul, ein Vorschlag: Du machst den Job ab nächste Woche. Und jetzt gehen wir zum Friseur, ich bezahle. Danach in nen Klamottenladen, eine ordentliche Jeans kaufen, einen guten Rollkragenpullover. Ich strecke dir die Kohle vor und du gibst es mir zurück. Haben wir einen Vertrag?«
Er dreht sich nach beiden Seiten, lehnt an einen Käfer und starrt für einige Zeit in den Himmel. Manches Haus in der Ehrenstraße hat den Krieg überlebt, aber nicht an der Stelle hier. Es ist hässlich. »Ich bin einverstanden, Heinrich.« Paul sieht mich an. Sein Blick ist fest. Ich vermute, eine halbe Tonne Geröll ist ihm vom Herzen gefallen, als er endlich sein Geheimnis loswurde. Wir gehen weiter Richtung Breite Straße. Dort werden wir alles finden, was nötig ist.
»Weiß eigentlich deine Mutter von all dem?«, platzt es an der Ecke Apostelnstraße aus mir heraus. Das brannte förmlich auf meiner Zunge.
»Nein.«
»Also, ich denke, du solltest es ihr sagen. Sie arbeitet als Stripperin und naja, du weißt, als was noch … ich schätze, gerade sie versteht so einiges von den Eigenarten der Menschen, meinst du nicht?«
»Ich hätte gerne so eine Mutter wie deine«, entgegnet er. »Bei uns war immer Streit. Meist hat mein Vater angefangen. ‚Das ist doch nicht normal!‘, hat er Mama angeschrien, wenn sie zum Club ist …«
»Und was hat sie gesagt?«
»Nicht viel. Meistens nur: ‚Was ist schon normal?‘ Und wenn sie schlecht drauf war, hat sie ihm ein ‚Du bist es jedenfalls nicht!‘ an den Kopf geworfen.
»Hm, ich glaube, deine Mutter wird ganz anders reagieren, als du es dir jetzt vorstellst. Sie ist vielleicht einfach so hart, weil sie tut, was sie tun muss, um Geld zu verdienen.«
»Sie kann woanders arbeiten«, wendet Paul sofort ein und es klingt schneidend, missbilligend. Als wollte er das unbedingt noch loswerden. Wir sind in der Breite Straße, links ist ein türkischer Barbier, aber den braucht Paul nicht. Sie kann woanders arbeiten, hat er gesagt. Ob sie das will?
»Pass auf, ich frag mal meinen Vater. Hat sie einen Führerschein?«
»Ja, hat sie.«
»Wir brauchen immer Leute mit Führerschein. Ich kann nix versprechen, aber die Chance ist groß, dass es klappt.« Jürgen fällt mir ein und das Foto seines wirklich gut aussehenden Freundes. »Und Paul, also das mit Jürgen … der hat nen Freund. Das weiß ich zufällig. Die sind bestimmt ein glückliches Paar.«
»Im Moment verliebe ich mich jede Woche einmal neu, ganz schlimm zurzeit. Ich hab halt niemanden, mit dem ich reden kann …«
»Klar hast du. Er geht grad mit dir zum Friseur.« Paul sieht mich von der Seite an und ich entdecke einen passabel aussehenden Friseursalon etwas weiter vorne. Er legt einen Arm um meine Schulter und drückt mich. Es fühlt sich normal an, nein, besser als normal. Ich fühle mich gut.

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