Schachmatt
Andis Ellenbogen stupst meine rechte Seite. Ich hebe den Kopf, folge seinem Blick über den kleinen Schulhof zu den Fahrradstellplätzen. Zwischen den Wellblechunterständen sitzt Paul auf einem Waschbetonkübel, beide Hände vor dem Gesicht. Unter der Kapuze seines ausgewaschenen Bundeswehr-Parkas verschwindet der kleine Kopf, die tiefschwarzen Haare; ungeschnitten oder selbst geschnitten, darüber streiten wir lediglich hinter vorgehaltener Hand. Oder machen uns darüber lustig. Seit wir ihn kennen, hat Pauls Frisur Ähnlichkeit mit einer wilden Wiese, die einmal im Jahr mit stumpfer Sense gemäht wird.
»Was ist mit ihm?«, höre ich Andis Frage und kann sie nicht beantworten. Schweige also lieber. Doch Andi stupst mich wieder. »Geh doch mal hin. Ich glaube, mit dir kommt er noch am ehesten zurecht.« Ich schau ihn an und weiß, was er meint, habe aber keine Ahnung, was ich zu Paul sagen soll. Obwohl wir schon fünf Jahre in einer Klasse sitzen, ist er so was wie die Haare auf unser aller Hinterkopf. Wir müssen uns nicht die Mühe machen, sie sehen zu wollen. Sie sind einfach gewohntermaßen an Ort und Stelle. »Letzte Woche hatte er ein Schachbuch dabei und im Unterricht gelesen. Du spielst doch Schach …« Andis Gesicht ist frei vom üblichen Dauergrinsen. Er hebt kurz beide Augenbrauen und nickt in Pauls Richtung. »Na los, geh schon. Auf mich reagiert er gar nicht. Auf dich wird er hören.«
»Wie kommst du da drauf?«
Andi zuckt mit den Schultern. »Das tun wir fast alle.« Er grinst verlegen. »Noch nicht gemerkt?« Ohne zu antworten, lege ich den Asterix in seinen Schoß und stehe auf, ziehe die Jacke straff und schaue mich um. Noch zehn Minuten übrig von der Großen Pause. Danach Mathe. Ich seufze und gehe die wenigen Meter zu Paul. Mit jedem Schritt schält sich die schlaksige Figur mehr aus dem Halbschatten der rostigen Blechhäuschen, die dünnen Beine, knochigen Hände. Kurz davor kann ich das Zittern erkennen, das durch Pauls Körper rollt. Alle paar Sekunden, von oben nach unten, dann umgekehrt. Zwischen seinen Handrücken läuft Rotz. Paul weint. Weitere Schritte … Paul schluchzt. Ich denke an Mutters zusammengefaltete Stofftaschentücher – die ich nie benutze, weil ich es hasse, nasse Klumpen in der Hosentasche zu haben – und ziehe ein sauber gebügeltes hervor, exakt gefaltet. Dann bin ich bei ihm.
»Hier, Paul! Ein Taschentuch. Schenk ich dir. Ich kann es eh nicht leiden.« Seine Unterarme senken sich in den Schoß. Ein Gespinst aus Rotz zieht Fäden zwischen Hände und Gesicht. Ich bin versucht, das Weite zu suchen, falte aber das Tuch auseinander und hebe es vor sein Gesicht. »Komm, lass uns mal in den Waschraum gehen.« Er nickt mit gesenktem Kopf, greift nach dem Taschentuch und wischt sich notdürftig sauber. Dann springt er auf, wie nur Paul es kann. Mit seinen vielleicht 45 oder 50 Kilo macht er jeder Sprungfeder Konkurrenz. Die Schwerkraft hat Mühe, ihn auf dem Planeten zu halten. Vom Sportunterricht ist er befreit, denn alles was Paul kann, ist hüpfen. Einhundert Meter hüpfen, rekordverdächtig. Hochsprung könnte seine Disziplin sein, würden nicht bei jedem Versuch alle Gliedmaßen tentakelgleich nach allen Seiten ausschlagen, sämtliche Latten reißen. Und so hält er eben nur das Klemmbrett der Sportlehrer, federt ihnen hinterher, darf Trillerpfeifen und Stoppuhren tragen. An manchen Tagen suche ich vergeblich die Hundeleine, um das Bild eines devoten Schülers zu vervollständigen.
Kaum jemand redet mit Paul. Selbstverständlich unsere Lehrer; aus beruflichen Gründen. Nein, nicht ganz. Pauls Gehirn ist ein Fotoapparat. Ab und zu laufen Wetten, wie viele Bilder er sich merken und in korrekter Reihenfolge wiedergeben kann. Meistens nehmen wir die Fotos aus Playboy oder Hustler und Paul wird rot. Aber er bringt die richtige Frau in der richtigen Position mit Seitennummer. Vierzig dieser Hochglanzseiten schafft er ohne Probleme; solange wir keine Details erfragen, etwa nach der Farbe der Brustwarzen oder ob wer große oder kleine Schamlippen hat. Er sagt dann ‚Seite 32, hochkant, rothaarig oben und unten … linkes Bein auf Stuhl, blickt von unten nach oben, rechts über ihr eine Kuckucksuhr und eine weiße Federboa um die Hüften‘. Wenn wir ihn fragen, ob er sich abends einen runterholt, er müsste ja nur die Fotos abrufen, dann senkt er den Kopf und beginnt an den Nägeln zu kauen. Paul … seit der fünften Klasse bei uns, und doch nur eine Art Tasche, die man mitschleppt.
Im Waschraum platscht die nächste Ladung Wasser auf die elfenbeinfarbigen Fliesen. »Paul! Sag mal, muss das sein?! Der ganze Fußboden ist nass!« Ich schiebe ihn beiseite und zweifle an meinem Verstand, einem Fünfzehnjährigem zeigen zu wollen, dass die Handschale langsam gefüllt und zielgerichtet zum Gesicht geführt wird, man möglichst alles Wasser nutzt, nicht mit Wucht versucht, ein Stückchen Haut zu treffen. Parka, Hosenbein, Schuhe, der Papiertuchhalter, alles ist nass. Einer aus der 9a kommt herein, sieht uns, fängt an zu lachen, schiebt sich amüsiert an uns vorbei. Ich stelle mich ihm in den Weg. Schaue auf ihn herab, einen Kopf unter mir. »Was gibt es da zu lachen?«
»Nix.« Er hustet, den Blick gesenkt. Paul zieht zu viel Papiertücher aus dem Kasten. Die Hälfte fällt auf die nassen Fliesen.
»Meine Güte, Paul!«, rufe ich lauter als gewollt und greife nach seinem Parka-Kragen. Der Kleine vor mir lacht. Sofort ziehe ich das Knie in seinen Schritt. Er sinkt auf den Boden und japst nach Luft. Ich fühle, wie ihm schlecht wird. »Wir gehen, Paul!«
»Okay, Heinrich …«
»Kleiner, denk dran! Du bist ausgerutscht!«, sage ich im Rausgehen zu dem Kerl auf den nassen Fliesen und weiß, er wird es sich merken. Paul hält mir das Taschentuch vor die Nase. »Behalt es, um Gottes willen! Oder schmeiß es weg! Deine Mutter soll dir mal ein paar Taschentücher mitgeben …«
»So was haben wir nicht«, erwidert er und bleibt stehen. Am Eingang zur kleinen Aula, neben den Sitzgruppen. Dann sieht er mich an mit eng zusammenstehenden Augen. Tiefschwarze, kleine Pupillen in einem schmutzigen Weiß. Auf den Wangen alle Zentimeter schwarze Stoppel, die in jede Richtung sprießen. Und das seltsam eingefallene Gesicht, Hohlwangen. Er erinnert mich an Bilder aus einem der Kriege, die wir in Politik durchgenommen haben. Vietnam, vor vier Jahren zuende gegangen oder Biafra. Ein Horror, sich die Fotos anzusehen. In Pauls rechtem Augenwinkel formt sich eine Träne.
»Scheiß auf Mathe, Paul«, sage ich, drücke ihn auf einen der Stühle und setze mich daneben, betrachte seine ganze Kargheit, die dünnen Hände, blasse Haut im Parka. Er schweigt, aber blickt mich unentwegt an als wäre dies sein erster Tag in unserer Klasse und ich eine neue Wesenheit in seinem Leben. »Was ist los?«
»Andi hat gesagt, du spielst Schach.«
Ich bin überrascht. Dass Andi mit Paul redet, ist mir neu. Zwei oder drei der Mädchen lassen sich neuerdings bei Mathe helfen und nutzen Pauls Fotoapparat im Hirn. Ansonsten redet kaum jemand mit ihm. »Schach? Ab und zu, mit ein paar Kumpels. Mehr so zum Spaß.« Mehr fällt mir dazu nicht ein.
»Ich hab mir das Buch von Bobby Fischer gekauft und schon alle Partien durchgespielt«, verkündet er stolz.
»Alle Achtung, Bobby Fischer, das ist beeindruckend …«
»Du kannst heute zu mir kommen und ich zeige dir das Buch. Dann können wir ein paar Partien nachstellen.«
»Ich, äh …«
»Bitte … das würde mich freuen.« Ich sehe zur Decke über Paul. Abgehängte Elemente mit Löchern für die Belüftung, Neonlampen und ein überraschter Ausruf unseres Erdkunde-Lehrers, der vorbeigeht.
»Haben die Herren jetzt keinen Unterricht?«
»Paul ist kotzübel, Herr Burbacher, und ich halte ihm ein bisschen die Hand«, gebe ich über die Schulter blickend zurück.
»Vorbildlich, Herr Konstantin. Soziales Engagement. Wird Ihnen gut tun.«
»Danke«, rufe ich gegen die Decke und Paul wird rot. Mit dem Parka-Ärmel wischt er endlich die Träne weg und nickt mich an. »Ich komme um drei Uhr«, sage ich.
Mit dem Rad benötige ich zwanzig Minuten von Bayenthal in die Mommsenstraße, lehne das Peugeot gegen eine heruntergekommene Hauswand und schaue nach oben. Hochparterre und zwei Stockwerke, graue Ado-Gardinen hinter Fenstern, deren Rahmen sicher mal weiß gewesen sind. Das jetzt farblose Holz ist fahl und rissig. Zwei Alte gehen hinter mir vorbei, reden Belangloses, einer von ihnen zieht aus bronchialen Tiefen einen Klumpen Schleim und platziert ihn neben die Laterne. Mich ekelt es und ich denke daran, den Kopf des Idioten gegen den Laternenpfahl zu schlagen, klingle aber stattdessen bei Paul. Keine Sekunde später öffnet sich über mir quietschend ein Fensterflügel. Fast habe ich den Verdacht, er hat – auf einem Stuhl sitzend – die ganze Zeit auf mich gewartet.
»Heinrich!«, ruft er, nur einen halben Meter über meinem Kopf.
»Schon gut. Bin nicht taub! Sag mal, kann ich mein Fahrrad woanders hinstellen? Ich schätze, hier draußen werden bald zwei stehen.«
Paul grinst und schließt den Flügel. Sekunden später ist er an der Tür, winkt mich und mein Rad hinein. Fünf Stufen zum Hochparterre, er ist oben, stoppt und dreht sich zu mir. Sofort bemerkt er mein Zögern. Noch stehe ich an der Schwelle der zerkratzten Holztür mit ihren abgegriffenen Messingbeschlägen, verharzten Scharnieren. Steinfliesen auf dem Boden, über Jahrzehnte ausgetreten vom Kommen und Gehen der Menschen. Aus dem offenen Rechteck der Eingangstür strömt ein besonderer Geruch, der sicher seit dem Krieg hier drin wohnt und noch das Aroma der im Haus Verstorbenen enthält. Süßlich, alt, mit verkochtem Gemüse und zu heiß gewordenem Frittieröl. Dazwischen Waschpulver und nasse Wäsche. »Heinrich?«
Ich nicke ihm zu, halte den Atem an und steige die Stufen hoch, kurz einen Blick auf vier zerstörte Briefkästen von insgesamt sechs. Zwei Kinderwägen im Abgang zum Innenhof, neben etwas, das mal ein Regal gewesen ist. Paul folgt jedem meiner Blicke, heftet sich an das, was ich sehe. Er wird rot. »Ist nicht so toll hier, was?« Ich winke ab und er nimmt das Fahrrad, geht damit in die Wohnung. Ich bin erstaunt, haste hinterher. Der Türgriff ist fettig. Also kicke ich die Tür mit dem Fuß zu. Eine schwache Lampe mit nikotingelbem Pergamentschirm leuchtet den Flur nur ungenügend aus. Allerlei Gerümpel ist an der rechten Wand abgestellt. Geschirrstapel, Gläser, Besteckkästen und davor Schuhkartons, Blumenerde samt großen und kleinen Tontöpfen, Pflanzwerkzeug. Dazwischen navigiert Paul mit dem Fahrrad hindurch und biegt in ein Zimmer auf der rechten Seite ein. Es klappert, dann lugt er wieder heraus und winkt mich zu sich. Alle Türen sind zum größten Teil aus gelbem Milchglas. Hinter jeder ist tiefe Nacht. »Sag mal, Paul, warum ist es hier so dunkel? Draußen ist heller Tag!«
»Meine Mutter hat Migräne«, erklärt er mit gepresster Stimme. »Deswegen müssen wir bisschen leise sein. Sie arbeitet nachts drüben beim Großmarkt.« Ich nicke und presse die Lippen zusammen, schleiche übervorsichtig am Gerümpel vorbei, hinein in Pauls Zimmer und trete in eine andere Welt. Bett, Schreibtisch, drei Stühle, ein Regal, ein Kleiderschrank. Alles laienhaft weiß gestrichen, die getrockneten Pinselstriche kreuz und quer. Der Boden sauber, fast wie geleckt. Auf der Fensterbank ein Kaktus, handgroß.
»Setz dich, Heinrich. Willst du was trinken?«
»Hm, was gibt es denn?«
»Gelben Sprudel.« Auf gelben Sprudel habe ich keine Lust.
»Okay, dann gelben Sprudel.«
Paul verschwindet leise und kehrt nach kurzer Zeit zurück. Keinen Laut habe ich gehört, weder die Kühlschranktür noch klirrende Gläser. Seine Mutter wird es ihm danken, dass er so lautlos sein kann. Ebenso sanft stellt er Flasche und zwei Gläser auf den Tisch, dreht sich zum Regal, sucht in den Büchern. Ich hebe mein Glas gegen die Deckenlampe, entdecke keinen Dreck, schenke beide Gläser voll und lehne mich an, während Paul mit zwei Fingern durch die Buchreihen flippt.
»Du hast ganz schön viele Bücher.«
»Hätteste mir gar nicht zugetraut, was, Heinrich?«
»Nein. Ich kenne dich nicht so gut. Du erzählst nix, wir fragen dich nix.«
»Du fragst mich nichts«, unterbricht er mich. Ich stutze.
»Ist es für dich wichtig, was ich tue?«
Offenbar ist das Buch nicht im Regal zu finden und Paul bückt sich unter das Bett, gibt einen Jauchzer von sich, kommt federnd hoch, einem Flummi ähnlich, legt Bobby Fischer auf den Tisch und setzt sich. Er grinst breit. Kein Haar in seinem schwarzen Schopf ist gleich lang dem nächsten, geschweige denn zeigen sie in die gleiche Richtung. Ich trinke einen Schluck. Dieser gelbe Sprudel schmeckt besonders mies. Meine Frage bleibt unbeantwortet, stattdessen greift Paul in eine Kiste, holt ein klappbares Schachbrett heraus, öffnet es, entnimmt jeweils einen weißen und schwarzen Bauern, bringt die Hände hinter seinen Rücken und tauscht die Bauern aus. Er will jetzt Schach spielen. An allen vier Wänden sehe ich weiße Tapete, ohne ein Foto, kein Poster, nicht mal das kleine Loch einer Reißzwecke. Auch keine Musik. Nur Bücher und die paar Möbel. Pauls Fäuste schnellen vor. »Welche Hand?« Ich tippe auf seine linke Faust. Weiß. »Weiß beginnt, schwarz gewinnt«, sagt er und nickt in einem fort, während ich die Figuren aufstelle.
»Arbeitet dein Vater auch in der Nacht?«, frage ich beiläufig, um überhaupt irgendwas zu sagen. Die Bewegungen seiner Hände frieren ein. Das rechte Pferd fällt aufs Brett und stößt einen Bauern um. Statt mich anzusehen, legt er den Kopf schräg. Eine ganze Zeit lang. Meine Figuren stehen. Seine nur zur Hälfte. »Paul? Alles in Ordnung?«
Mit einem Seufzer baut er weiter auf, der Kopf geht in die Höhe, sein Rücken wird gerade, fast steif. Ein Besenstiel auf einem Stuhl, fällt mir ein. Oder ein Brett. »Der ist tot«, sagt er dann und der letzte Bauer rückt auf seinen Platz. Pauls Hände vibrieren und formen mehrmals eine Faust, entspannen sich wieder. Was hat er gerade gesagt?
»Tot? Wann ist das passiert?«
»Ist schon paar Jahre her«, verkündet er tonlos, als wäre das eine Nachricht im Lokalteil des Eifelboten von vor zehn Jahren. »Du fängst an«, fordert er mich auf. Also gut. Dann fange ich an. Bauer e2 auf e4. Er antwortet spiegelbildlich. Ich ziehe Springer g1 auf f3. Paul zieht wieder ebenso nach. Als ich den weißen Läufer von f1 auf b5 setze, klatscht er in die Hände, hüpft aus dem Sitzen sicherlich zehn Zentimeter nach oben, stößt mit den Beinen unter die Tischplatte und unser Spiel löst sich in kullernde Figuren auf.
»Oh Mann, Paul …«
»Spanische Eröffnung!«, ruft er laut. »Du kennst die Spanische Eröffnung!« Ich muss lachen.
»Sag mal, hast du nicht gesagt, deine Mutter schläft?« Paul schlägt die flache Hand vor den Mund und sieht mich entsetzt an. Keine zehn Sekunden später geht die Tür auf.
Mit nichts als einer weißen Unterhose und einem Schiesser Doppelripp-Unterhemd am Körper, tritt Pauls Mutter ins Zimmer. Langsam, auf jeden Schritt achtend, die Augen auf den Boden vor sich gerichtet. Sie ist fast so groß wie ich, schlank, eher drahtig. Von Muskeln geformte Berge und Täler an Beinen, Armen, hinauf zur Schulter, Bizeps und Trizeps, alles reichlich vorhanden. Sie ist durchtrainiert wie eine Leichtathletin. Ich denke an einen Jaguar, der konzentriert und mit allen geöffneten Sinnen um seine Beute kreist. Mit ihr kommt die Dunkelheit in Pauls weißes Zimmer. Sie folgt diesem Wesen auf den Fuß. Eine lange Schleppe aus Schwärze. Pauls Mutter ist die Braut der Finsternis. Das gefällt mir. Dieselben tiefschwarzen Augen, die auch Paul so unnahbar machen. Dieselben – allen Versuchen der Zähmung widerstehenden – Haare. Schwarz und hochgesteckt, ausgefranst oder wie angeheftet. Es fällt kein Wort. Erst als sie am freien Stuhl steht, ihn nach hinten zieht und sich setzt, ziehe ich die schlechte Luft tief in mich. Ein Reflex. Das Atmen hatte ich völlig vergessen. Paul zittert. Unmerklich, aber ich kann es sehen. Schließlich sitze ich seit fünf Jahren hinter ihm und kenne seine Bewegungen.
»Wer ist das, Paul?« Als ich die Stimme höre, werde ich rot. Ich fühle mich, wie gerade erst wach geworden, um sogleich festzustellen, dass die Mutter eines Klassenkollegen – lediglich mit Unterwäsche bekleidet – neben mir sitzt, den Tisch anstarrt, während ich verzweifelt versuche, von dieser Erscheinung, ihren Formen, dem Dunklen in ihr nicht fasziniert zu sein, nicht ein Kribbeln zu spüren.
»Das ist Heinrich. Aus meiner Klasse. Hab dir ein paar Mal erzählt von ihm …«
»Das ist einer, der dich ausnahmsweise nicht dauernd ärgert, oder?«, fährt sie ihm ins Wort. Paul nickt mit zusammengepressten Lippen und seine Mutter sieht mich an. »Und warum isser jetzt hier?«
»Hab ihn eingeladen. Schach spielen. Weil er mir heute das gegeben hat …« Paul zieht das Taschentuch aus der Hose und legt es auf den Tisch.
»Ein vollgerotztes Taschentuch?«
»Nein, Mama. Meine Nase, also, die ist gelaufen wie nix, wegen …« Paul sieht mich an. Wie ein ertappter Hund auf der Suche nach einer guten Ausrede. Aber da bin nur ich und sage nichts. »Du weißt, wegen Papa. Weil …«
»Weil ich ihn rausgeworfen habe?« Er nickt. Sie zieht langsam und tief die Luft ein, dehnt sich, überstreckt den Oberkörper, drückt die Brust raus und ich versuche ein paar Bücherrücken im Regal zu erkennen. Den wohlgeformten Busen unter dem dünnen Doppelripp will ich nicht anstarren. Um Gottes willen! Was tue ich hier? »Du hast geflennt und er hat dir sein Taschentuch gegeben … verstehe.« Mit der rechten Zeigefingerspitze stupst sie den nassen Tuchklumpen mal nach links, dann nach rechts. Dann sieht sie mich an.
»Hier, bitte. Dein Taschentuch, Heinrich. Kannst es wiederhaben.« Beim Aussprechen meines Namens legt sich ein Teil dieser Dunkelheit um mich, wie ein Batman-Cape, nimmt mich in den Schwitzkasten. Was kann ich sagen? Nichts. Also nur nicken und das tun, was sie fordert. Sie beugt sich zu Paul. »Wieso trauerst du deinem Erzeuger hinterher?«, fährt sie ihn an, schiebt den Zeigefinger weiter über den Tisch und drückt ein paar Mal auf Pauls dünnen Unterarm. Dann hebt sie mühelos ein Bein, ohne dass der Oberkörper sich bewegt, winkelt es an und stupst mit dem Fuß in Pauls Hüfte. Mit jedem Mal etwas heftiger. »Sag, Paul, was hat er schon geleistet? Außer dich zu zeugen? Hat er mit dir gespielt? Hausaufgaben gemacht? In den Kindergarten gebracht? Sich ums Essen gekümmert?«
Ich will was sagen, muss unbedingt etwas sagen, bewege den Oberkörper ein Stück näher an den Tisch. Sie reagiert sofort, sieht mich an. Friert mich mit dem Blick ein und Pauls Tränen laufen. Da unten, zwischen Bauchnabel und meinen Eiern, spüre ich Wut wachsen. So schnell wie eine explodierende Sonne. Was kann ich tun? Dann wird mir klar, dass ich auf mich wütend bin. Fünf Jahre neben, hinter und mit Paul. In dieser Zeit vielleicht hundert Sätze gewechselt. Zweihundert Hallo? Lachen über seinen Sprungfedergang. Jetzt, hier, zwanzig Minuten von daheim und dreißig Minuten von der Schule entfernt, bin ich völlig ratlos.
»Nein, Mama«, sagt Paul endlich. »Hat er nicht.«
Ich habe den Eindruck, dass er ganz ruhig wird. Vielleicht, weil ich hier sitze und mit ihm zusammen das anhören muss? Dass endlich noch jemand vom Schwarz und Weiß seiner Welt erfährt? Paul sieht mich an. Kein Blick, den ich aus diesen fünf Jahren kenne.
»Na also, Paul. Er ist weg! Und du sollst nicht so werden wie dieser Versager! Vergiss deinen Vater! Lässt er sich noch mal hier blicken, haue ich ihm dermaßen in die Fresse, dass er die Engel im Dom singen hört. Da drauf kannste Gift nehmen.«
Ich spüre meinen Puls. Deutlich erhöht. Und stelle fest, dass ich vor dieser Frau Angst bekomme. Paul spielt mit seinem König. Stellt ihn auf, flippt ihn um, stellt ihn wieder auf. Durch meinen Kopf wandern Bilder. Vom schlaksigen Paul, unserem Klassengelächter, diesem ominösen Vater, dem weißen, so schmerzhaft sauberen Raum, der so gar nicht wie ein Kinderzimmer aussieht – und wieder unser Gelächter, Kichern. Das der Mädchen, wenn er mit einem viel zu großen Unterhemd, Trillerpfeife und Klemmbrett den Träger gibt. Spargel-Paul im Schwimmunterricht, Paul hüpft durch den Klassenraum. Die Hitze bringt mich zum Kochen. Mein Kopf muss rot sein wie eine Tomate. Mühsam stapfe ich durch tiefe Scham und räuspere mich. Die Figuren auf dem Tisch, Pauls Finger versuchen sie zu erfassen.
»Frau Müller«, fange ich vorsichtig an. Sie dreht ruckartig den Kopf, aber wartet ab. »Paul hat gesagt, dass Sie nachts im Großmarkt arbeiten und tagsüber schlafen. Vielleicht darf Paul nach der Schule zu mir kommen. Er kann bei uns essen, wir machen Hausaufgaben, und gegen späten Nachmittag, wenn Sie wach sind, kann er nach Hause.«
Ihr Kopf neigt sich Richtung Tisch. »Großmarkt? Was für en Großmarkt …«
»Also …«
»Paul? Was erzählst du für ne Scheiße? Du musst dich nicht für mich schämen! Das tu ich schon selbst zur Genüge.« Ich verstehe nicht, was sie meint, blicke zwischen ihr und Paul hin und her. Er verschränkt die Arme auf dem Tisch und legt den Kopf drauf. Nur noch wildes Haargeäst nach allen Seiten. »Ich bin Tänzerin«, sagt sie frei raus, fixiert mich mit den schwarzen Pupillen. »Ich würde sagen, meine Figur kann sich sehen lassen. Dafür trainiere ich auch ordentlich.« Als ich schweige und sie nur anstarre, grinst sie kurz. »Nackttänzerin, also Klamotten runter und so, auf dem Tableau, weißte? Na, und manchmal will auch einer bisschen mehr«, setzt sie dann nach. Ich schlucke trocken. Mehr als Nicken ist nicht. Etwas ist passiert – oder geschieht gerade. Paul richtet sich auf, seine Mutter drückt den Rücken durch. Beide sehen mich an.
»Also, ähm …« Nur Stottern aus meinem Mund.
»Ihr seid jetzt fünf Jahre in einer Klasse, jeden Tag. Und noch nie ist von euch Waschlappen einer auf die Idee gekommen, Paul zu besuchen, ihn einzuladen, sich für ihn zu interessieren, stimmt‘s?«
Ich kann nur nicken.
»Und warum jetzt?«, will sie wissen. »Was ist heute passiert?«
»Ich weiß es nicht, Frau …«
»War dein Angebot ernst gemeint?«
»Ja, das war ernst gemeint.«
Sie überlegt, sieht zu Paul, dann auf das Schachbrett. »Was macht dich sicher, dass deine Mutter nicht nen Anfall bekommt? Jeden Tag Paul, das ist nicht einfach.« Ich suche vergeblich nach Regungen in seinem Gesicht. Warum redet sie so über ihn?
»Meine Mutter kann das«, versichere ich. »Da habe ich keinen Zweifel. Sie ist …«
»Weitaus besser als du?«, vollendet sie und streckt sich, nagelt mich auf dem Stuhl fest mit Blicken und Worten. Pauls Augen beginnen zu leuchten. Seine hohlen Wangen glühen förmlich. Er grinst mich an. Ich bin schachmatt gesetzt.