Insel 64 | Kapitel 1

Die Menschen am Rand

Traumsequenz, Chatrina Sutter

Die Aluminiumstege vibrierten.
»Du bist schweißgebadet. Jede Wette, du hast wieder mies geträumt. Nicht wahr?« Ich blickte auf den Boden vor meinem Sitz. Gelochte Stege mit Schraubbefestigungen für Materialgurte. Unregelmäßig durchlief ein leichtes Zittern das Metall. Für einen langen Moment schloss ich die Augen und atmete tief ein. »Wenn du so weiter machst, Chatrina, werden sie dir eines Tages auf die Schliche kommen.«
Ich sah auf und nickte. »Das werden sie wohl, Reto. Eines Tages …«
Er hustete heftig und formte aus Fingern einen Kamm, fuhr durch den krausen Berg Haare auf seinem massigen Schädel. Angewidert betrachtete er den glänzenden Fettfilm auf der Hand. »Ich muss mal wieder duschen«, stellte er lakonisch fest.
»Das müssen wir alle.«
Reto wandte sich ab, lehnte den Kopf an das Haltenetz, schloss die Augen. Ich meinte, ihn leise röcheln zu hören, war mir aber nicht sicher. Es ruckelte einige Male kräftig und der gesamte Mannschaftsraum neigte sich auf die Seite, eine Tasse löste sich aus ihrer Halterung, rollte über die Tischplatte und fiel auf den Boden. Seufzend öffnete er die Augen und stellte sie wieder in die Halterung. Ich entdeckte feine rote Äderchen, die sich durch sein Augenweiß zogen. Ein metallisches Klacken, das rechte Schott öffnete sich. Geschäftiger Lärm und hektische Stimmen pressten sich in die Stille. Obmann Takunos Kopf erschien.
»Wir tauchen. Die See wird zu unruhig«, informierte er uns. Ich nickte. Das Schott wurde verriegelt. Die Stille kehrte zurück.
»Es geht nicht nach Hause, oder?« Retos Verdacht verweilte noch einen Moment in meinen Gedanken, bevor ich an die nächsten Tage dachte.
»Nein. Es geht nicht nach Hause. Wir fahren nach Süden.«
Er fixierte mich, verschwitzt, mit müdem Blick. Erschöpft. Wie wir alle. »Was ist denn im Süden?«, setzte er nach.
»Eine Insel ist verschwunden.«
Es blieb still. Reto runzelte die Stirn. »Sie wird abgesoffen sein«, vermutete er dann und zuckte mit den Schultern. »Kommt ja ab und zu vor, wenn die Dinger zu alt sind.«
»Die Insel ist ein Neubau«, klärte ich ihn auf. »Gerade mal ein halbes Jahr alt. Mit größtenteils erfahrener Bevölkerung.«
Er gähnte ausgiebig, blickte auf seine Waffe, dann an die Wand über mir. »Wann wolltest du es uns sagen?«, kam seine Frage unvermittelt.
»Ich habe es selbst erst vor zwei Stunden erfahren und außer dir schlafen alle«, erwiderte ich. Er stand auf, streckte sich.
»Na gut, dann dusche ich eben hier und leg mich in die Koje.«
Mit den Gedanken war ich bei meinem Traum und vermutete, Reto mit einem Nicken verabschiedet zu haben, war mir jedoch nicht mehr sicher. Nur das Verriegeln des linken Schotts, das zu unserem Schlafraum führte, hallte in mir nach. Bei durchgehender Tauchfahrt mindestens drei Tage im Boot, rechnete ich aus. Drei Tage, zwei Nächte. Genug Zeit, um dem Traum zu begegnen. Ich seufzte. Meine Medikamente gingen zur Neige. Mühsam erhob ich mich und trottete in die Mannschaftsunterkunft.


Wir schliefen. Schon seit zwölf Stunden. Der Geruch im Raum erreichte meine persönliche Schmerzgrenze. Die Frischluftzufuhr war kaum in der Lage, Feuchtigkeit und Düfte abzuscheiden. Leises Atmen. Retos Schnarchen hatte tatsächlich einen röchelnden Unterton. Ich stand auf, schlich mich hinaus und meldete fünfzehn Minuten Bedarf für eine Nasszelle an. Das Grün kam für die nächste Stunde. Dann ging ich in die Zentrale. Obmann Takuno entdeckte mich beim Eintreten, hob die Hand, winkte mich zu sich. Das erste Mal, dass ich ihm begegnete. Er war, wie alle Boot-Kommandanten und Boot-Kommandantinnen, auf Ebene vier der Hierarchie. Es wäre an ihm gewesen, zu mir zu kommen. Doch es war sein Boot. Und solange alles nach Protokoll verlief, blieb das auch so. Seine Stellvertreterin rümpfte die Nase als ich an den Kartentisch trat. Takuno hob die linke Augenbraue.
»Obfrau Sutter, verzeihen Sie … durchgeschwitzte Gäste sind wir nicht gewohnt. Haben Sie eine Nasszelle reserviert?«
Ich lächelte ihn an. Takunos Stimme war gedämpft, fast zu leise. Sie passte in diese Zentrale mit ihrem schwach rötlichen Licht, den hochkonzentrierten Menschen vor den Instrumenten. »In einer Stunde kann ich duschen«, bestätigte ich. »Wo sind wir?«
Takuno nickte. Flink packte er die holographische Seekarte und zog sie aus dem Tisch. »Wir fahren in einer Tiefe von 500 Metern. Alle Inselgruppen in diesem Gebiet sind abgetaucht. Zwei sich gegenseitig schwächende Tiefdruckgebiete rotieren momentan über unserem Zielgebiet. Wir können nicht an die Oberfläche. Die Vorhersage gibt Entwarnung für morgen früh. Dann sollten wir einige Tage eine ruhigere Wetterlage bekommen.«
Unser Boot schwebte als grüner Lichtpunkt unter unzähligen Quadraten. Den getauchten Inseln. Dreihundert Meter über uns. Es juckte am Hinterkopf und ich kratze mich spontan, musterte die Fingernägel. Dreck! Takuno grinste und fixierte Sato. »Besorgen Sie Obfrau Sutter bitte eine Tasse Tee und etwas zu essen«, trug er ihr auf, drückte das Hologramm in den Tisch und holte Luft. Ich ahnte seine Fragen.
»Was wissen Sie über Insel 64?«, kam ich ihm zuvor.
Er legte kurz den Kopf auf die Seite und sah mich überrascht an. »Vermutlich weniger als Sie, Obfrau.«
Ich zog das Pad aus der Hemdtasche und zeigte ihm die Nachricht. Takuno las schweigend, ohne dass sich ein Muskel in seinem Gesicht rührte. Als Sato mit dem Tee und einem Teller Seetang-Rollen zurückkam, reichte er mir das Pad zurück und nahm seiner Stellvertreterin Becher und Essen ab. »Danke, Sato. Machen Sie bitte das Grundsonar klar. Fahren Sie einen doppelten Test.« Sie nickte und verschwand. Takuno grinste.
»Redet nicht viel. Ist dafür ungemein zuverlässig. Sie will zu den Mobilen Einheiten. Vielleicht was für Sie, Obfrau?«
Ich nahm ihm den Becher ab und schlürfte langsam vom heißen Tee. Er schmeckte ausgezeichnet. »Ich werde es im Hinterkopf behalten, Takuno. Momentan sind alle Positionen zu meiner vollsten Zufriedenheit besetzt, aber ich werde mich umhören, wenn wir wieder zuhause sind.«
Er steckte sich eine Seetang-Rolle in den Mund, kaute, sah mich für einen Moment an und drehte sich um. »Wir gehen in meine Kabine«, sagte er fast unhörbar. Ich folgte ihm.


»Sie ist größer als bei den älteren Booten«, wunderte ich mich erstaunt. »Ich war noch nie auf einem der neuen Boote. Das ist ja fast luxuriös.«
Takuno reagierte nicht, setzte sich aufs Bett, klappte einen Tisch aus der Wand und stellte die Rollen darauf ab. »Salzig und scharf. Mein Lieblingsgebäck.« Er griff sich eine der grünen Scheiben, biss hinein und deutete auf die mit rotem Vlies bezogene Bank. »Bitte, setzen Sie sich, Obfrau. Die Boote des neuen Typs haben größere Kabinen und Mannschaftsräume. Das wirkt sich positiv auf die Psyche aus«, erklärte er.
»Und negativ auf die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen«, erwiderte ich. Schweigend schob er mir das Gebäck vor die Nase. Ich nahm eine Rolle und steckte sie in den Mund. Salzig und scharf, im Hintergrund das leicht Bittere des Seetangs. Sie schmeckte tatsächlich.
»Sie kommen gerade von einem Ressourcen-Einsatz?«
Ich nickte.
»Es war offenbar nicht sehr angenehm«, ergänzte er.
»Es ist nie angenehm, Takuno. Wir töten Menschen.«
Sein Mund wurde zu einem dünnen Strich. »Das tun wir alle hin und wieder.«
Etwas erfasste das Boot, drückte es spürbar auf die Seite. Instinktiv griff ich nach dem Teebecher und hob ihn vor die Nase, roch daran. Pfefferminz. Ich trank einen Schluck.
»Wir kommen in eine Mischwasserzone. Da ruckelt es ein wenig. Seien Sie …«
»Was ich Ihnen zu lesen gebe, bleibt unter Verschluss«, unterbrach ich ihn. »Verschwiegenheit, Takuno. Sie haben die Anweisung der Gruppe eins gelesen?«
Er nickte.
»Unsere Aufgabe ist es, Insel 64 zu suchen«, fuhr ich fort. »Ein Neubau der Werft in Port-aux-Français. Ebenso wie der Bau ihres Bootes, basiert der Bau von Insel 64 auf inzwischen einhundert Jahren Erfahrung im Inselbau.« Ich trank einen Schluck. Takuno hatte sich entspannt und lehnte an der Kabinenwand. »Kennen Sie die Geschichte des Passagierdampfers Titanic?«
»Aber ja, Obfrau Sutter. Wer kennt diese Geschichte nicht?«
»Nun, bei Insel 64 dachte man wohl auch, sie würde nie sinken.« Er zeichnete mit dem Finger kleine Kreise auf die Tischplatte. Die gummiartige Beschichtung gab nach und für einige Sekunden blieben sie wie eingraviert in der Oberfläche. »Die anderen Inseln der Gruppe 25 besitzen keine der modernen Sensoren, um nach 64 zu suchen, Takuno. Die meisten haben schon drei Jahrzehnte hinter sich. Ihr Boot aber hat diese Sensortechnik. Also liegt es an uns, sie zu finden.«
Er holte tief Luft, hielt sie einen Moment. Dann atmete er durch zusammengezogene Lippen aus und pfiff dabei ganz schwach ein Lied, das ich nicht kannte.
»Und doch habe ich meine Zweifel, Takuno. Wie wahrscheinlich ist es, dass die modernste Insel kollabiert und vierundzwanzig ältere einen schweren Sturm überleben?«
Er klopfte auf die Tischplatte und beugte sich vor. »Nicht wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich, Obfrau. Ein Fehler an entscheidender Stelle in der Konstruktion, und das war’s.«
»Wir werden es herausfinden.«
Er sah mich mit leicht gesenktem Kopf an, grinste und nickte bestätigend.


Die Anzeige leuchtete gelb. Noch zwei Minuten warmes Wasser. Ich dachte daran, mich zu befriedigen, aber die Traumbilder stürmten durch meinen Kopf und kamen nicht zur Ruhe. Weder konnte ich sie fassen oder festhalten, noch loswerden. Keine Chance, mich auch nur ansatzweise meiner Sehnsucht nach Streicheleinheiten zu nähern. Also drehte ich das Wasser ab und die Trocknung an. Ein paar Liter gespart für die nächste Person. Die Warmluft aus dem Akkumulatorenraum verdampfte die Feuchtigkeit zügig und ich schlüpfte in eine der Borduniformen. Für einen Augenblick betrachtete ich jene Person im Spiegel, die mir ähnlich sah. In diesem Moment eine Fremde. Fremd, wie die Frau aus meinen Träumen. Ich riss mich los, packte die Tasche und verließ die Nasszelle Richtung Mannschaftsmesse. An einem der länglichen Tische entdeckte ich Sato, ein altes, abgegriffenes Buch vor sich und setzte mich zu ihr. Sie sah nicht auf, war wohl vertieft in die Zeilen, bis ich mich räusperte. »Dienstfrei?«
Langsam hob sie den Kopf. Nicht als Provokation. Es war kontrollierte Bewegung. »Nein, Obfrau. Bereitschaft.« Satos Gesicht war ein stiller See. Gekräuselte Lippen. Dunkle Augen. Ihr Blick wie der Steinwurf in tiefes Wasser, ohne Wellen zu schlagen. Gegen alle Gesetze. Sie bemerkte mein Zögern, meinen Blick und klappte das Buch zu. Ihre Augen musterten mich neugierig.
»Muss ein spannendes Buch sein«, sagte ich, obwohl es mich wenig interessierte.
»20.000 Meilen unter dem Meer. Von Jules Verne«, erklärte sie. »Wir haben nicht viele Bücher an Bord. Bis auf dieses, habe ich alle gelesen. Kennen Sie es?«
»Nein. Wenn ich etwas lese, dann sind es Einsatzbefehle und Einsatzberichte. Für mehr habe ich keine Zeit.«
Sato drehte das Buch und schob es über den Tisch. »Hier, bitte. Wir erreichen in 36 Stunden unser Zielgebiet. Da schaffen Sie die Hälfte des Buches.«
Ich lächelte sie an. »Die andere Hälfte muss ich dann mit nach Hause nehmen?«
Sie zog Jules Verne wieder zu sich.
»Wie ist der Test der Sensoranlage verlaufen?« Mein Themenwechsel brachte sie nicht aus der Ruhe.
»Sie arbeitet präzise und einwandfrei. Egal, was wir suchen, wir werden es finden.«
»Hm, das beruhigt mich.«
»Was suchen wir genau?«, stieß sie nach.
»Sato, wie lange haben Sie jetzt noch Dienst?«
Für eine Sekunde war der stille See irritiert.
»Acht Stunden.«
»Ich bin frisch geduscht und habe keine Lust, mich zu meiner übel riechenden Truppe zu legen. Dürfte ich die nächsten acht Stunden in ihrer Kabine schlafen?«
»Natürlich, Obfrau.« Sie erhob sich. »Folgen Sie mir bitte.«

Traumsequenz, Chatrina Sutter

Ich spürte einen Kuss. Weiche Lippen pressten sich auf meinen Mund. Sanft, rau, fleischig, öffneten sich und die Spitze einer Zunge klopfte an. Ich ließ sie hinein. Kein Traum kann so süß und duftend sein, war mein Gedanke zwischen Wahn und Wirklichkeit. Suchende Finger auf meiner Brust, zur Warze wandernd, sie umschließend, drehend zur steifsten Empfindsamkeit bringend. Nein, kein Traum! Stromschläge und heißes Kribbeln überall, doch vor allem in meinem Unterleib. Dann roch ich einen Menschen und öffnete verwirrt die Augen, immerzu weiter küssend. Mir gegenüber geschlossene Lider, keuchendes Atmen, der Körper so dicht an meinem, dass ich zarte Haut und Formen einer Frau ahnte. Nebelgleich löste sich der Traum auf und wie ein Wunder spürte ich einen Fingerwirbel zwischen meinen Schenkeln. Auf dem Weg zur Hitze. Ich drückte mein Becken diesen sanften, suchenden, kleinen Schlangen entgegen, ließ alles geschehen was kam und gab alles, was ich zu geben imstande war. Aus dem Alptraum in die weiche Zärtlichkeit. Fünfhundert Meter unter der Meeresoberfläche folgte in uns ein Feuer auf das nächste. Als hätten wir nie etwas anderes getan. Bis zur völligen Erschöpfung und einem samtenen Schlaf.

»In der Zärtlichkeit existiert keine Zeit, nicht wahr?« Erst jetzt wurde mir vollends klar, neben wem ich lag, wessen Haut ich von der Schulter bis zu den Füßen berührt und wer mir tiefste Höhepunkte geschenkt hatte und ich ihr nicht minder.
»Sato …«
»Verzeihung, Obfrau. Ich hielt ihre Frage nach meinem Quartier für eine Einladung, mich Ihnen nähern zu dürfen, auf diese …«
Ich legte meine Hand auf ihren Mund. »Habe ich etwa acht Stunden geschlafen? Und Sie haben mich auf diese Art geweckt?« Sie nickte und meine Hand bewegte sich mit. Satos Gesicht war wieder der stille See. Langsam gab ich ihren Mund frei, umschlang ihren Körper und drückte sie fest an mich. Als wäre ich eine Mutter, die ihr Kind auf ewig verlassen wird. Dann weinte ich. Ohne Vorwarnung liefen die Tränen auf Satos Wangen, über ihre Schläfe, rannen die Nase hinab. Mit ihrer Zunge fing sie die salzigen Tropfen auf. Küsste mich. Kraulte meinen Kopf, strich über meinen Rücken. Ich täuschte mich. Sie war die Mutter. Ich in diesem Augenblick nur ein Kind ohne Halt.
»Sie hatten einen furchtbaren Traum, nicht wahr?«
Ich nickte. Schniefte. Sato griff über sich in eine Schublade und zog ein Vlies hervor. Ich schnäuzte hinein. »Ich heiße Chatrina. Hier drin, neben dir, bin ich Chatrina. Nur dort draußen bin ich eine Ebene 3-Obfrau.« Sato lächelte und ich fing mich wieder. »Ja, ich hatte einen furchtbaren Alptraum. Es ist immer derselbe. Dieselben Personen, wechselnde Umgebungen.«
»Darf ich fragen, was du träumst?«
»Darfst du, aber bisher hat es noch niemand erfahren.« Satos dunkle Augen musterten mich, wanderten über mein Gesicht und übten einen massiven Sog auf mich aus. Wie zwei Abläufe in den Nasszellen, in denen Wasser, Seife und Dreck einfach verschwanden. Ich musste diese sinnlichen Lippen einfach küssen. Es war wie verhext. Haltlos tauchten wir erneut hinab in Lust und Zartheit. Sato war wildes Verlangen und sanfte Zuneigung. Noch so viele Stunden bis zu unserem Einsatzgebiet. Wir hatten genug Zeit, die Stellen an unseren Körpern zu suchen, von denen wir gar nicht wussten, wie sehr sie sich nach Berührung sehnten. Bis zu den Feuern und dem Schlaf.


Ich stand auf. Sie war weg. Offenbar zum Dienst. Insgesamt hatte ich mehr als zwanzig Stunden geschlafen. Trotzdem fühlte ich mich matt und wenig erholt. Die Kabine besaß die Aura eines Reinraumes. Sechs Quadratmeter. Persönliche Gegenstände? Keine. Zumindest keine sichtbaren. Kühle Metallwände, Schubladen, Tisch und Bett ohne Kratzer. Der Boden rein wie ein Diamant. Nur das Bett war zerwühlt und duftete nach unseren Körpern. Ein wenig irritiert zog ich die Borduniform an. Warum hatte ich auf eine mir völlig unbekannte Frau in einem der vielen U-Boote der Polizeieinheiten so reagiert? Waren es die nächtlichen Träume, die mich langsam zu einer anderen Person formten? Wurde ich möglicherweise verrückt? Dagegen nahm ich die Medikamente. Zumindest tat der Doktor so, als hätten sie Macht über meine inneren Anomalien.

Ich starrte in Satos Spiegel. Die Haare müssen ab, dachte ich und verließ die Kabine, ging gedankenverloren durch die Gänge des mittleren Decks in Richtung Bordfriseurin. Sie tat, was ich ihr auftrug. Mit der elektrischen Schere ließ sie nicht mehr als drei Millimeter übrig. Zufrieden machte ich mich auf den Weg in die Mannschaftsmesse. Dort saß die Hälfte meiner Truppe. Ich holte einen Smoothie aus dem Kühlschrank und gesellte mich zu ihnen. Schweigend. Ebenso wie sie schwiegen. Ich wusste, was auf mich zukam und fixierte jedes Gesicht, aber alle wichen meinem Blick aus, bis auf Kano Watanabe. Er und ich waren der Kern der Polizeieinheit 12, am längsten dabei. Kano, der ewige Anwärter auf eine Beförderung.
»Wo warst du, Chatrina?«
Ich trank einen großen Schluck von diesem kühlen, hellgrünen Algensaft. Die Verpflegung war um einiges besser geworden in den langen Jahren meiner Dienstzeit. »Hab eine Bekanntschaft gemacht, Kano. Es war leidenschaftlich und ich hatte es wahrlich nötig.«
Kanos rechter Mundwinkel zog sich nach oben. Er war zerknirscht. Links bedeutete ein Lachen, rechts Unmut. »Schön für dich«, bemerkte er leise und lehnte sich zurück.
»Er hat recht, Chatrina«, sprang ihm Aljona bei. »Wir waren zwei Monate im Einsatz und sind alle ziemlich fertig. Wann kommt der versprochene und genehmigte Urlaub? Wo fahren wir hin?« Sie beugte sich vor. Es wirkte wie ein Zeichen für die anderen drei am Tisch. Sie plapperten drauf los, durcheinander, redeten sich ihren Frust von der Seele. Kano und Aljona, die Scharfschützen im Team, sahen mich fragend an. Maximilian unser Techniker, Steven und Kazumi Sanitäter. Bijan und Reto fehlten.

Ich stellte den Becher ab. Lauter als üblich. Vom Algensaft landeten ein paar Tropfen auf dem Tisch. Auf einen Schlag waren alle ruhig. Deutlich hörbar sog ich die Luft ein. »Niemand wird um den verdienten Urlaub geprellt. Die Einsatzorder kam kurzfristig. Ihr habt geschlafen und ich ließ euch schlafen!« Ich wischte den Tisch mit dem Ärmel der Borduniform sauber. »Es ist keine schwere Aufgabe. Eine Insel ist verschwunden, nicht wieder aufgetaucht. Wir suchen sie, befragen Personen, protokollieren. Fertig.«
»Und wenn wir sie nicht finden?«
Ich starrte auf meine linke Hand. Zwei der Finger zuckten unwillkürlich. Ich spürte das Zucken förmlich kommen und konnte doch nichts dagegen tun. Es wiederholte sich einmal, ein zweites Mal.
»Was ist mir dir, Chatrina?« Kanos Hand bedeckte die Zuckungen. Ich fixierte ihn. Dann die anderen. Sie schauten ungläubig auf den Tisch.
»Wenn wir nichts finden, fahren wir nach Hause. Ganz einfach.« Ich stand auf, um mir noch einen Smoothie zu holen und vielleicht ein paar der grünen Pfannkuchen, drehte mich aber noch einmal um. »Wascht eure Uniformen. Besorgt Ersatz aus der Kleiderkammer, falls nötig. Kontrolliert alle Ausrüstung und die Kampfanzüge. Füllt die Fehlbestände und reinigt eure Waffen. Ich will kein Staubkorn sehen! Nirgends!« So ließ ich sie sitzen und entschied mich, die Pfannkuchen zu ignorieren. Stattdessen machte ich mich auf den Weg zur Zentrale.


Beim Eintreten suchte ich reflexhaft den langgestreckten Raum nach Sato ab. Sie stand neben der Steuerkonsole und konzentrierte sich auf die Instrumente. Irritiert spürte ich Verlangen in meinem Unterleib, versuchte es mehr schlecht als recht zu verdrängen. Alle auf der Brücke waren mehr als konzentriert. Takuno entging nicht mein Eintreten, aber er rührte sich nicht, sondern drehte die holografische Karte hin und her. Mein Eindruck war, dass er etwas suchte. Ich blieb stehen. Es war sein Königreich. Zuerst nahm ich an, es wäre still hier drin, dann hörte ich jedoch Stimmen. Leise. Alle sprachen über die Kehlmikros, lauschten dem Knopf im Ohr. Was nur bei Gefechtsübungen oder realen Gefechten erlaubt war. Ich suchte Takunos Blick, der mich bald traf. Bewusst. Er winkte mich zu sich. Zügig trat ich an den Kartentisch und sah ihn die Gitterstruktur drehen. Nun nach Norden ausgerichtet. Zwei weitere grüne Lichtpunkte leuchteten im halbtransparenten Blau des Hologramms.
»Noch zwei Boote?«
»Ja«, bestätigte Takuno knapp und zog aus einer Lade unter dem Tisch ein Komm-Modul. Ich legte es um, steckte den Knopf ins Ohr und hörte Takunos angenehme Stimme. »Ich habe turnusmäßig eine Komm-Boje an die Oberfläche geschickt. Sehen Sie bitte, was uns übermittelt wird.« Wieder bewegte er das Hologramm. Zu einem Punkt, der, wenn ich die Quadranten richtig mitgezählt hatte, zweihundert bis zweihundertfünfzig Kilometer südlich unserer Position lag, aber um fünfhundert Meter tiefer. Ich runzelte die Stirn. Die roten Inselquadrate verschwanden und einige weiße Zahlen wurden eingeblendet. Sonarbojen.
»Das ist ein Teil des äußeren Überwachungsrings um die Kerguelen … sehen Sie da!« Takuno zog das Hologramm heran. In etwa 1200 Meter Tiefe leuchtete ein gelber Punkt auf, wurde schwächer, wieder intensiver. Ein rhythmisches Pulsieren. Weitere dieser Signale erschienen, je mehr Takuno die Karte Richtung antarktischer Küste verschob. »Wenn ich deren bisherigen Kurs verlängere, führt er mich zu Marion Island«, erklärte er.
»Kann es nicht sein, dass es doch noch Wale gibt? Oder Fischschwärme in großen Tiefen, die uns bisher entgangen sind?«
Er sah mich fast mitleidsvoll an. »Das wäre mal eine gute Nachricht. Aber die Daten der Meeressonden zeigen ein anderes Bild. Ein zu hoher pH-Wert, zu wenig Sauerstoff, zu hohe Temperatur, alles wie gehabt. Nein, keine biologische Ursache.« Er räusperte sich. »Sie sehen ja, was die Reaktion ist. Zwei Boote aus dem Nordatlantik und drei neue Boote von den Kerguelen. Offenbar rechnet niemand mit einem Wunder des Lebens.«
Ich zählte sieben dieser pulsierenden Reflexe. »Warum pulsieren sie?«
Takuno presste die Lippen aufeinander und wiegte den Kopf hin und her. Er war sich unschlüssig. »Thermische Schichten … vielleicht. Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. In dieser Tiefe haben wir keine Bojen, weil keines unserer Boote so tief tauchen kann. Möglicherweise ließen sich aus einer Triangulation bessere Daten ziehen.« Er starrte auf das Hologramm. Fast konnte ich seine Unsicherheit sehen. Wieder drehte er das Gitter, aber es ließen sich keine weiteren Informationen daraus gewinnen.
»Also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Boote, von denen wir keine Ahnung haben«, stellte ich fest. Vielleicht sah er mich an, ich weiß es nicht, denn ich verfolgte die Reflexe. Aber sein Ausatmen war deutlich zu hören. »Und die Antwort von Gruppe eins sind mehr Boote?«
»So ist es. Die beiden aus Norden und drei desselben Typs wie das unsere aus Osten.«
»Hm, eine Reaktion dieser Art bedeutet, dass die Situation sehr ernst genommen wird.« Vergeblich versuchte ich eine Regung an ihm zu erkennen. »Was meinen Sie? Sind die Reflexe wirklich U-Boote?«
»Ja, ich bin mir sicher. Nur … warum sind uns solche tieftauchenden Boote bisher nie aufgefallen?«
»Vielleicht, Obmann Takuno, sollten wir uns eher fragen, warum sie – wer immer das dort ist – offenbar keine Probleme damit haben, von uns entdeckt zu werden?« Mein Blick blieb auf den sieben Signalen haften. Takunos Atmen war nicht mehr zu hören. Er hielt die Luft an. In diesem Moment verschwand das rhythmische Pulsieren. Keine Reflexe mehr. Ein leeres Hologramm.


Es war kurz vor Mitternacht, Mittwoch, der 31. Januar 2148. Takuno hatte Klapptische in unserem Mannschaftsraum aufgestellt und saß neben mir am vorderen, Sato rechts von ihm, mein Trupp uns gegenüber. Ich blickte in angespannte Gesichter. Nur Bijan lächelte und lehnte sich zurück. »Wie alle wieder gut riechen«, sagte er spöttisch. »Hab schon vergessen, wie das ist.«
Ich ignorierte es. »Wir werden jetzt Aufgaben verteilen«, begann ich, »aber zuerst schlage ich vor, dass die Hälfte von uns nicht daran teilnimmt, sondern den Urlaub morgen in der Früh antritt. Um 0800 verlässt ein Boot Insel 56 Richtung Gruppe zwei. Wir können das Los entscheiden lassen.« Ich sah von einer zum anderen. »Oder ich bestimme nach dem üblichen Verfahren, Alter, Familie, ihr kennt das. Obmann Takuno wird kurz umreißen, was uns erwartet. Danach treffen wir die Entscheidung.« Mit einem Nicken gab ich ihm ein Zeichen.
»Morgen früh um 0400 erreichen wir Gruppe 25«, eröffnete er. »Das Wetter klart gerade auf, die See beruhigt sich. Eine halbe Stunde später docken wir an. Der Gruppenrat erwartet uns. Wir bleiben sieben Tage. Die übliche Suchzeit. Danach bringe ich sie zu Gruppe zwei.« Er schwieg, schaute auf sein Pad, dann zu mir.
»Seit wann ist diese Insel verschwunden?«, wollte Reto wissen.
»Ja, seit wann? Und wie alt war das Ding?«, setzte Kano nach.
Takuno überließ das Reden Sato. Ich lehnte mich nach hinten und beobachtete ihre schlanken, langen Finger, den sanft geformten Übergang in die Handgelenke, die muskulösen, sehnigen Unterarme. Sato war ein Magnet.
»Der Notruf der Inselgruppe ging vor fünf Tagen ein. Am Morgen des 27. Januar. Insel 64 ist der dritte Prototyp der neuen Serie, neben den Inseln 2351 und 831. Dieser neue Inseltyp kann tiefer und länger tauchen, hat drei redundante Systeme zur Sauerstoffversorgung und ist dank neuer Akkutechnik wesentlich länger unabhängig von Sonne, Wind oder Strömung …«
»Sicher ein Konstruktionsfehler«, warf Maximilian ein.
»Vielleicht«, beendete Sato ihre Erklärung. »Umso wichtiger ist es, dass wir sie finden, denn der Bau der neuen Serie verzögert sich, bis die Ursache des Verschwindens geklärt ist.«
»Gibt es Trümmerteile? Wurde die Wasseroberfläche abgesucht? Rettungsbojen?«, fragte Reto.
»Nichts davon«, erwiderte Takuno. »Die sich schnell nähernden Tiefdruckgebiete haben die Gruppe wieder zum Abtauchen gezwungen. Erst seit heute Morgen etabliert sich eine stabile Wetterlage.«
Bevor eine Diskussion einsetzte, teilte ich die Aufgaben mit.
»Auf Insel 56 finden sich drei Copter. Also werden drei von uns aus der Luft nach Hinweisen suchen. Takuno und drei weitere Neubau-Boote, die morgen Abend kommen, suchen den Seeboden ab. Ich und noch jemand werden die Inseln abklappern, Fragen stellen, das übliche Protokoll abarbeiten. Obmann Takuno und ich müssen noch ein paar Einzelheiten besprechen.« Ich nickte meinen Leuten zu. »Und ihr müsst nun ein paar Entscheidungen treffen.«
»Wir würfeln«, legte Reto fest. Die anderen sahen ihn erstaunt an.
»Mir egal«, sagte ich und stand auf. Mein Blick wanderte zu Sato. Ihr Gesicht brachte mich fast um den Verstand. Ich erinnerte mich nicht, so eine Verwirrtheit, eine solche Erregung schon einmal erlebt zu haben. Sie begann, die Tische zuzuklappen. Tief Luft holend, ging ich zu Takuno und schob ihn durchs Schott. »Erst mal nichts über die sieben Sonarreflexe. Zu niemand«, flüsterte ich an seinen Hinterkopf. »Gehen wir in ihre Kabine, bitte«, forderte ich ihn auf.

Er schloss die Tür, bot mir einen Platz, aber ich blieb stehen. »Takuno, wenn wir morgen früh andocken, senden Sie bitte eine Anfrage an Gruppe eins. Ich benötige die technischen Spezifikationen des neuen Inseltyps und den aktuellen Bevölkerungsstatus. Dazu von jeder einzelnen Person auf der Insel alles an verfügbaren Daten. Schicken Sie es nach Erhalt an mein Pad.«
»Geht in Ordnung, Obfrau.« Ich musterte ihn eingehend. Ein schwer zu schätzendes Alter. Wie bei Sato, kamen seine Vorfahren aus Japan. Wenn man ihm eines der neuen U-Boote gab, konnte man gewiss sein, dass er zuverlässig und in der Lage war, komplexe Situationen zu meistern.
»Ich vermute, Sie haben bemerkt, dass zwischen Sato und mir etwas in Gang gekommen ist?«
Ohne seine Miene zu ändern, nickte er. »Ja, das habe ich bemerkt. Das freut mich für Sato. Sie ist sehr streng mit sich. Es kann ihr nur gut tun.«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich schätze, Sie sind nicht minder streng zu sich. Nicht wahr?«
»Gut möglich, Obfrau. Das sind wir wohl alle hier.« Ich dachte in diesem Moment an meinen Adoptiv-Vater und entdeckte ihn in Takunos distanziertem Äußeren, seinen Worten, der ganzen Haltung.
»Sie erinnern mich an jemanden …«, entfuhr es mir und verfluchte mich sogleich dafür. Seit dem letzten Einsatz war ich emotional instabil. Takuno schwieg, weil er mir ansah, dass es nicht meine Absicht war, das preiszugeben. »Ich danke Ihnen dafür, dass Sie meinen Einfluss so hoch einschätzen«, fuhr ich fort.
»Beobachtung. Mehr nicht. Sie sind eine erfahrene Frau.«
»Ja, in der Tat, Obmann Takuno.« Ich drehte mich um. »Schlafen Sie gut.«
»Danke. Sie ebenfalls.«
Lag da ein Unterton in seiner Stimme? Nein, entschied ich und verließ seine Kabine.


Inselgruppe 25 auf Süd 44° 54‘ und West 43° 56‘

Ich wartete neben Takuno auf der Brücke das Einlaufmanöver ab. Die See war ruhig, als wir in eines der beiden Docks von Insel 56 fuhren. Sogar ein klarer Morgenhimmel blinzelte durch die wenigen Wolkenlücken. Ruhig und konzentriert manövrierte er das große U-Boot hinein, als gäbe es nichts anderes in seinem Leben. Über der Durchfahrt erkannte ich noch schwach den Buchstaben B, fast unleserlich, vom Rost schon angefressen. Hinter uns schlossen sich die Tore des Docks, Hydraulikstempel erfassten die Ankerbuchsen des Bootes, fixierten es und das Wasser wurde abgepumpt. Alles lief wie am Schnürchen. Warum auch nicht? Und doch war ich beunruhigt.
In den zwanzig Jahren bei den Mobilen Polizeieinheiten war es zu mehreren Vorfällen mit verschwundenen Inseln gekommen, und bis auf ein einziges Mal, standen als Ursachen technische Mängel fest; meist aufgrund des hohen Alters. Immer fanden sich Trümmer, Gegenstände, die sich vom Oberdeck lösten, persönliche Gegenstände der Bewohner. Vor zwölf Jahren konnte ein einziges Mal menschliches Versagen eruiert werden. In allen Fällen trafen die Polizeieinheiten jedoch auf fast komplett rekonstruierte Unfallvorgänge durch die jeweiligen Inselgruppen und protokollierten nur noch das Geschehen. Gemäß der Informationen von Gruppe eins, fanden sich zu Insel 64 keine Hinweise. Ich wusste nicht, wohin mit meiner Unruhe und lauschte Takunos leisen Befehlen. Vielleicht war es auch seine stoische Ausgeglichenheit, die mir zu schaffen machte.
»Ist alles in Ordnung, Takuno?«
Er sah mich verwundert an. »Natürlich. Wie immer. Ein Routinemanöver.«
»Ja … gut, das wollte ich hören.«
Er hustete in seine Faust und setzte das blaue Käppi der Marineeinheiten auf. »Gehen wir von Bord«, forderte er mich auf und stieg durchs Turmluk hinab ins Boot. Vor dem Seitenschott entdeckte ich das Gepäck meiner Leute. Einer von Takunos Mannschaft öffnete die doppelte Schleuse, zog mit einer Stange die Gangway heran und wir verließen das Boot. Nach ein paar Metern blieb ich stehen und drehte mich um. Auf der fast schwarzen Stahlhülle prangte in großen, weißen Lettern die Zahl ‚12651‘.
»Sie sind größer als die alten Boote«, stellte ich fest. »Das Dock ist gerade noch lang genug.«
»Ja, fast einhundert Meter. Mehr als dreißig Meter länger. Die neuen Natrium-Akkus benötigen mehr Platz«, er räusperte sich. »Es ist schön, nicht wahr?«, fuhr er fort. Ich wandte mich ihm zu, blickte in seine Augen. Sie leuchteten. Eine sanfte Regung um die Mundwinkel. Ein richtiger Seefahrer. Mit seinem Boot und dem Wasser verwachsen. »Ich frage mich seit langem schon, warum die Boote nur Nummern bekommen und keine Namen. Was meinen Sie, Obfrau?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Was für Namen sollte man da verwenden? Mir fällt auf Anhieb keiner ein.« Ich deutete seinen Blick als voller Mitleid. »Alle Boote haben Nummern, Takuno. Ebenso wie die Inselgruppen und die Inseln. Das macht alles viel einfacher.« Ich hoffte, meine Erklärung überzeugte ihn davon, dass dies nicht von großem Interesse für mich war. Das Schott vor uns öffnete sich, eine ältere Frau stand unter dem metallenen Rahmen. Obfrau Patronas. Auf einer Generalversammlung der Gruppenräte war ich ihr vor drei oder vier Jahren einmal begegnet und wenig beeindruckt.
»Kommen Sie schon! Ich habe keine Zeit. Alle warten nur auf sie beide!«
»Guten Morgen, Obfrau Patronas, wir danken …« Patronas ignorierte Takunos Begrüßung, drehte sich um und marschierte mit schnellen Schritten davon. »Nun los!«, rief sie und war schon einige Meter entfernt. Takuno und ich sahen uns an.
»Ich weiß, warum ich am liebsten auf meinem Boot bin«, bekannte er grinsend. Ich legte die Hand auf seine Schulter und schob ihn vorwärts.
»Gehen wir. Um den Rest kümmern wir uns später.«


Insel 56 hatte eindeutig das technische Maximalalter erreicht. Noch nach alter dreistöckiger Bauart konstruiert, mit nur einem zentralen Gang, die querliegenden Sicherheitsschotte schon reichlich angerostet, knarzende Verbindungsnähte zu den Hauptsegmenten, die meine Unruhe nur verstärkten. Über die zentrale Freitreppe stiegen wir auf Deck zwei, Patronas immer zwanzig Schritte voraus; und offensichtlich noch recht fit für ihr Alter. Ohne anzuhalten, stürmte sie in den Sitzungsraum des Gruppenrates, warf sich in den Stuhl an der Stirnseite der zu einem U gestellten Tische. Takuno blieb am Eingang stehen, höflich und zurückhaltend, wie er war. Doch Patronas winkte uns ungeduldig in den Raum, deutete auf zwei Stühle in der Ecke und hob die rechte Hand, auf uns deutend.
»Liebe Gruppe, ich darf allen vorstellen: Obmann Takuno von den Marinen Kräften und Obfrau Sutter von der Mobilen Polizeieinheit 12. Danke für Ihr Kommen.«
Ich sah von der Seite, wie Takuno ansetzte, die Begrüßung zu erwidern, stieß ihm aber noch rechtzeitig den Ellenbogen in die Hüfte. Wir nickten gemeinsam und er versuchte, sein Nicken mit einem freundlichen Lächeln zu würzen. Ich zählte lieber die Anwesenden. Vierundzwanzig Inseln, also vierundzwanzig Obleute, dazu Patronas als gewählte Obfrau der Gruppe. Und mehr als ein leises Hallo, ein Heben der Hand oder ein Zunicken erfolgte nicht. Jemand räusperte sich, dann ein schwaches Husten auf der linken Seite, Tee und Wasser wurde getrunken. Patronas ließ ein paar Sekunden vergehen. Stille und gespannte Gesichter. Eine nervöse Unruhe.
»Ich sehe eher Angst als Trauer«, flüsterte Takuno. »Als käme morgen das Ende ihrer Inselgruppe«, setzte er nach. Das bestätigte meinen Eindruck von seiner Auffassungsgabe und was ich selbst beobachtete.
»Wer weiß«, erwiderte ich leise. Er sah mich erstaunt an.
»Eine Insel ist verschwunden«, sagte Patronas laut und stand auf. »Ausgerechnet 64! Es gibt nur drei Inseln diesen Prototyps. Sowohl 2351 als auch 831 funktionieren tadellos. Insel 64 ist die dritte dieser Baureihe. Kaum zu glauben, dass der Grund ihres Verschwindens ein technisches Versagen ist …«, sie sah zu uns herüber, »… oder ein Konstruktionsfehler.« Sie schwieg. Bewusst. Griff nach dem Becher vor ihr, trank einen Schluck und schwang ihn dann kunstvoll vor sich durch den Raum. Ich hob die Hand. Eine Menge Augenpaare blickten mich an, während Patronas offenbar nichts registrierte und fortfuhr. »Alle unsere Inseln in Gruppe 25 haben ihre technische Altersgrenze von dreißig Jahren überschritten. Wir haben Ausfälle, wieder und wieder. Von Monat zu Monat mehr. Pumpen, klemmende Docktore, versagende Gezeitenturbinen, Ärger mit der Entsalzung, die hydroponischen Anlagen sind teilweise undicht …« Seufzend setzte sie sich, stellte den Becher auf den Tisch und schaute an die Decke. »Wir sind die älteste Gruppe im Atlantik. Vielleicht hat man uns ja vergessen. Wir bräuchten dringend die neuen Inseln. Und jetzt noch dieses Unglück. Ich hoffe, man löst uns nicht auf …« Scheinbar irritiert über die mangelnde Aufmerksamkeit, folgte sie den Blicken ihres Gruppenrates und entdeckte meine Hand. »Obfrau Sutter? Sie möchten etwas beitragen?«

»Danke«, sagte ich und erhob mich. »Obfrau Patronas, Sie sagten: ‚Kaum zu glauben, dass der Grund ihres Verschwindens ein technisches Versagen ist‘. Zwischen ist und sein soll oder sein kann besteht ein wesentlicher Unterschied. Nämlich der von Wissen zur Annahme. Stimmen Sie mit mir überein?« Sie starrte mich an. Takuno rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Natürlich stimme ich mit Ihnen überein, Obfrau Sutter. Und natürlich eine falsche Formulierung meinerseits … in der Aufregung wohl. Wir wissen nicht, was passiert ist. Nur dass alle bisher verschwundenen Inseln aufgrund eines technischen Defekts verloren gingen. Insofern …«
»Hypothesen sind Sache der Polizei«, unterbrach ich sie. »In der Öffentlichkeit führen sie nur zu Gerüchten, die man bald nicht mehr unter Kontrolle hat. Ich freue mich, dass Sie uns dahingehend in unserer Arbeit unterstützen. Danke.« Ich nickte dem restlichen Gruppenrat zu und setzte mich wieder. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Takunos Blick. Patronas räusperte sich.
»Ja, nun, wirklich, das war ein Versprecher meinerseits. Dass so etwas ausgerechnet mir, ich meine: uns passieren muss, ist furchtbar und die Sache nimmt mich sehr mit. Wir alle haben Familie und gute Menschen verloren. Obfrau, möchten Sie uns jetzt bitte erklären, wie ihr Vorgehen sein wird?«
Ich überlegte sitzenzubleiben, entschied mich aber dann dagegen. In diesem Raum schwebte förmlich das Unbehagen. Und Patronas abweisendes Verhalten nährte mein Misstrauen, aber als Obfrau der Ebene drei und Polizistin, war es meine Aufgabe, professionell zu sein. Und sollte das Unbehagen auf realen Vorkommnissen beruhen, war Professionalität eine Waffe. Also erhob ich mich und schritt langsam um die Tischgruppe herum, den Frauen und Männern auf ihre Nacken starrend; in der Hoffnung, dass sie sich dadurch unwohl fühlten.

»Darüber gibt es wenig zu berichten, denn wir haben Protokolle dafür. Es wird die übliche Suche. Drei meiner Leute werden mit Coptern den Luftraum nach Trümmern absuchen. Obmann Takuno und die in sieben Stunden eintreffenden drei weiteren Boote werden tauchen. Alle vier sind vom neuen Typ und mit bis auf den Grund reichendem Sonar ausgestattet.« Ich machte eine Pause, rieb meine Nase, ohne dass sie juckte und beobachtete die Anwesenden. Takuno hustete künstlich. Eine gelungene Abwechslung. Patronas seufzte. »Wie Sie sehen«, fuhr ich fort, »ist Gruppe eins die Bedeutung des neuen Inseltyps und die eventuellen Konsequenzen eines technischen Versagens sehr bewusst und wir suchen mit erweiterter Technik und Kapazität, aber …«
»Aber?«, unterbrach mich Patronas mit einem spitzen Unterton.
»Aber es gibt keine Wunder. Wir tun alles, um Insel 64, ihre Familien, Freundinnen, Freunde zu finden. Doch es gibt keine Garantie auf Erfolg. Das wissen Sie ebenso wie ich.« Euch werde ich mir alle vorknöpfen, nahm ich mir insgeheim vor. »Ich selbst werde die entsprechenden Befragungen durchführen, um alle Eventualitäten auszuschließen. Finden wir Insel 64 nicht in sieben Tagen, ist das Suchprotokoll erfüllt. Sie wissen, was das heißt.«
Takuno räusperte sich, stand auf, kam mir entgegen, das erhobene Pad vor sich hertragend. Ich nahm es an mich und las eine neu eingetroffene Nachricht. Eine weitere Überraschung und vielleicht noch ein Grund, der meine Unruhe zu nähren vermochte. »Danke, Takuno«, nickte ich. Er steuerte wieder seinen Stuhl an. Im Raum herrschte Totenstille.
»Liebe Anwesende, Gruppe eins lässt die beiden anderen Prototypen untersuchen. Insel 831 in Port-aux-Français und 2351 auf Hawaii. Uns wurde gerade mitgeteilt, dass beide Inseln auf dem Weg zur Heimatwerft alle erdenklichen Situationen mit einer Technikbesatzung durchführen. Dazu gehören Streckentauchtests, Notfalltauchen, Materialprüfungen und was es sonst noch gibt.« Ich sah in die Runde. »Sie sehen also, es wird alles getan, um die Sicherheit des neuen Typs zu garantieren.«
Einige nickten. »Na, dann ist ja alles bestens«, sagte Patronas und erhob sich mit einem Ruck.
»Wir beginnen um 0800 mit den Maßnahmen«, erklärte ich und sah zu Takuno. Er nickte. »Bis dahin sind die Suchquadrate ausgearbeitet. Ich danke für die Aufmerksamkeit.« Ich hob die Hand. Die beginnende Unruhe legte sich wieder. »Bevor alle gehen noch eine Information … über den Server von Insel 56 können alle, die es wünschen, Kontakt mit mir aufnehmen. Auf direktem Weg. Das Aufrufen meines Namens verbindet jeden Anruf direkt. Scheuen Sie sich nicht, diese Möglichkeit zu nutzen. Danke.«
Ich ging zu Patronas, beobachtete sie auf den wenigen Schritten genau. Sie wendete sich ab. »Obfrau, ich schätze, Sie haben schon einen Platz in ihrer Zentrale für die Aktion reserviert?«
»Aber natürlich«, erwiderte sie mit dem Rücken zu mir. »Wie es das Protokoll vorsieht. Bitte folgen Sie mir.« Als sie an Takuno vorbeimarschierte, fing ich seinen Blick auf. Deutete ich ihn richtig, war sein Misstrauen ebenso geweckt wie meines. Ich lächelte ihn an.


Noch zwei Tabletten. Um sicherzugehen, schaute ich erneut in die Schatulle. Und ein drittes Mal. Zwei Tage also. Es klopfte an der Kabinentür. »Herein«, bat ich und steckte schnell die kleine Box in die Uniformtasche. Takuno betrat den Raum. Als er die Tür schließen wollte, klemmte sie am Rahmen und mit der Schulter drückte er sie vollends zu. »Verflixt«, fluchte er. »Hier ist schon einiges an den Hauptträgern verzogen. Ich kann Patronas‘ Unmut nachvollziehen.«
Ich reagierte nicht, weil es mir in diesem Moment völlig egal war, wie es um die Insel stand – oder um irgendwelche Kabinentüren. Takuno musterte mich intensiv. Fast schmerzhaft lange. Und entgegen seiner ansonsten zurückhaltenden und regungsfreien Mimik, entstand eine Falte auf seiner Stirn. »Alles in Ordnung, Obfrau?«
Ich schwieg. Nicht, weil es für mich wichtig war, mein Problem zu verschweigen, nein, weil ich es nach all den Jahren leid war, sprachlos zu sein in solchen Augenblicken. Ausgerechnet jetzt holte mich das ein. Sein Blick nahm mich gefangen, die gleichmäßige Stimme. So etwas, wie offenherzige Unschuld. »Takuno, sollte ich anfangen zu weinen, ist es nicht wegen Ihnen.«
Er zog die Augenbrauen nach oben und deutete mit der Handfläche auf die Sitzbank. »Wollen wir uns setzen?«, fragte er zögerlich. Ich nickte, zog die Schatulle aus der Hosentasche und stellte sie auf den Tisch. Er wartete ab, denn er ahnte, es käme noch mehr. In diesem Augenblick war mir die Grenze egal und überschritt sie. »Hier sind Tabletten drin. Leider nur noch zwei. Sie schützen mich davor, meinen Verstand über Bord zu werfen.« Langsam öffnete ich den Deckel. »Zwei Tabletten, zwei Tage.« Sein Blick haftete an mir, die Finger griffen nach der Schatulle, zogen sie zu sich, dann sah er hinein.
»Zwei Tage? Mit Suche und Rückfahrt sind Sie zehn Tage unterwegs.«
»Ja. Das ist das Problem.«
Er stellte sie wieder auf den Tisch. »Es ist ein Medikament, das Sie nicht auf jeder Insel bekommen, nicht wahr?«
Ich nickte. »Es ist ein Medikament, dessen Einnahme beweist, dass ich nicht diensttauglich bin«, erklärte ich und gab damit mein Geheimnis preis. Takuno atmete schwer ein und aus, lehnte sich zurück, rieb mit beiden Händen den Kopf.
»Wie kommen Sie da überhaupt dran?«
»Ich kenne eine Chemikerin …«
Er kniff das rechte Auge zusammen. »Kennen und/oder lieben?« Ich lächelte. Erleichtert, ihn eingeweiht zu haben. Takuno beugte sich vor und zog das blaue Käppi aus der Gesäßtasche, drehte es hin und her. »Ich habe einen Chemiker an Bord, dem ich vertraue. Haben Sie eine Prozessdatei zur Synthetisierung?«
Aus der Brusttasche zog ich eine Flashkarte und legte sie auf den Tisch. Takuno steckte sie weg, räusperte sich, sah mich dann mit festem Blick an.

»Sind wir uns einig, dass Patronas etwas zu verbergen hat?«, änderte er völlig überraschend das Thema. Dankbar schloss ich für einen Moment die Augen und umarmte ihn in Gedanken.
»Ja, da sind wir uns einig. Und vielleicht nicht nur sie. Jedenfalls ist sie ein Kulminationspunkt, an dem keine guten Emotionen zusammenlaufen. Ich werde das beobachten und meine Nachforschungen auf das Inselnetz ausweiten.«
»Nur folgerichtig«, bestätigte er nickend. »Ich gehe an Bord und arbeite mit Sato das Suchmuster aus. Um 0800 brechen wir auf. Unterwegs werde ich die ankommenden Boote auf das einweisen. Ich schlage vor, dass wir drei Mal am Tag eine virtuelle Besprechung abhalten, und …«, er stockte mit Blick auf die Schatulle, »… wenn die Tabletten synthetisiert sind, komme ich mit dem Copter zu einem Zwischenbericht auf eine Insel Ihrer Wahl. Je nachdem, wo Sie sich gerade aufhalten. In Ordnung?«
»Ja, in Ordnung, Takuno. Ich danke Ihnen …«
»Unter einer Bedingung«, setzte er nach. Ich horchte auf.
»Welche?«
»Eines Tages möchte ich die Geschichte dahinter hören.«
Ich verbarg nicht mein plötzliches Zittern. Er stand auf, ich ebenso. Da war plötzlich ein Runzeln auf seiner Stirn. »Sind Sie größer als ich?«
Ich schmunzelte. Mit zwei Schritten war ich bei ihm, drückte ihn fest an mich, länger als gewollt. Nur schwach spürte ich seine Hände auf dem Rücken, bekam aber eine Ahnung, wie kraftvoll sie sein konnten. Ein angenehmer Duft stieg aus seinem Nacken in meine Nase. Nichts in meiner Erinnerung passte dazu, und doch meinte ich ihn zu kennen. Noch einen tiefen Atemzug, dann ließ ich los. »Viel Glück, Obmann Takuno.«
»Viel Glück, Obfrau Sutter.« Er setzte das Käppi auf und ging hinaus. Seltsamerweise klemmte die Tür dieses Mal nicht. Benommen wartete ich und registrierte erst nach einigen Sekunden die Schatulle. Zwei Tage, schoss es durch meinen Kopf und steckte sie ein. Dann machte ich mich auf den Weg in die Kantine.


Zwei Tage waren wir nun unterwegs. Das Transferboot erreichte die Personenschleuse von Insel 66. Die dritte Insel auf unserer Vernehmungstour. Der Seegang nahm seit dem Mittag wieder zu und Abiola übergab ihr Mittagessen dem dunkelgrünen Südatlantik. Ich klopfte ihren schmalen Rücken, sprach ihr gut zu, während wir uns rhythmisch fast einen Meter auf und ab bewegten, ruckartig gegen die Stahlwand gepresst wurden und wieder von ihr weg. Aus dem Augenwinkel registrierte ich die offene Schleuse und den sich senkenden Steg. »Abiola, komm! Du kannst dich drinnen weiter übergeben.« Es rumste ordentlich und fast wäre ich nach hinten gefallen. Aus ihr kam ein weiterer Schwall. »Ich wusste nicht, dass du so viel gegessen hast …«, wunderte ich mich überrascht und gab Patronas‘ beiden Bootsleuten einen Wink. »Macht das Boot fest und bringt sie auf die Krankenstation.« Ich stieg über die Motorabdeckung, den Steg hinauf in die Schleuse und stand vor einem sehr jungen Mann.
»Guten Tag, Obfrau Sutter«
»Guten Tag, Obmann Eldren.«
Er sah mich überrascht an. »Sie kennen mich?«
»Nein, aber ich bin berufsmäßig informiert.« Das Pad summte. »Einen Moment, Eldren.« Er reagierte nicht, sah nur erstaunt an mir vorbei. Patronas Leute zogen Abiola mit sich. Sie übergab sich erneut und Eldren schnitt eine Grimasse. Ich zog das Pad aus der Seitenhalterung. Ein blaues Dreieck blinkte im Wechsel mit Takunos Kommunikationscode. Endlich! Schnell setzte ich mich etwas ab und nahm den Ruf an.
»Takuno?« Sein Gesicht erschien. Trotz des kleinen Displays war ihm eine Erregung anzusehen, die mir neu war. Seine Ruhe war verschwunden.
»Kann ich reden?«, wollte er wissen. Ich nickte.
»Sie sind wieder da! Die Reflexe! Innerhalb der Sonarreichweite. Dieses Mal verteilt. Sie triangulieren. Ein Muster ist zu erkennen. Der beste Beweis, dass es U-Boote sind. Offenbar sind sie nicht so groß wie unsere Boote, aber wendiger und …« Er stockte und starrte zu einem entfernten Punkt, als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, dass sein Gedanke ungeheuerlich war.
»Und!? Was ist, Takuno!? An was denken Sie?«
»Sie suchen«, sagte er. »Ich verwette mein Boot. Sie suchen genauso wie wir die Insel.«
Ich starrte auf das Display und fühlte, wie sich ein dunkles Loch unter mir auftat. Tief wie der Atlantik an dieser Stelle. Takunos Intuition war korrekt. Dessen war ich mir absolut sicher. »Ich werde Gruppe eins informieren und melde mich umgehend wieder bei Ihnen.«
Er nickte und deaktivierte das Display. Ich drehte mich zu Eldren und fixierte ihn. Ein langer, schlaksiger Kerl, viel zu jung, um Obmann zu sein; meiner Ansicht nach. »Obmann Eldren, ich brauche einen Raum nur für mich. Jetzt.«
»Kommen Sie«, forderte er mich auf und verließ die Schleusenkammer Richtung Inselzentrale. 66 war in einem besseren Zustand als die bisherigen beiden Inseln oder gar 56. Ich entdeckte in den Korridoren ständig Reparaturteams, an vielen Stellen wurde geschweißt, neue Grundierungen aufgetragen und es gab keine einzige ausgefallene LED-Lampe.
»Eine alte Insel, aber Sie tun etwas, um den Zerfall aufzuhalten, Obmann Eldren. Eine löbliche Eigenschaft.« Er verlangsamte den Schritt und ließ mich aufschließen. Das Vorauseilen war eine Unart, die ich nicht mochte, aber hinnahm. Letztendlich war es egal. Meine Zeit auf einer der Inseln war immer an den jeweiligen Auftrag gebunden.
»Danke, Obfrau Sutter. Ich weiß zu schätzen, dass meine Bemühungen registriert werden. Wir wissen nicht, wann unsere Insel ersetzt wird, also müssen wir pfleglich mit ihr umgehen. Es ist unser Zuhause.«
Eldren redete mit dem Boden und fuchtelte dabei andauernd mit der rechten Hand. Ich vermutete einen angeborenen Tic. Wir stiegen die Treppe hoch zum Oberdeck. Ein einziges Mal trafen sich unsere Blicke. »Auf welcher Insel sind Sie zuhause, Obfrau?«
»Auf keiner«, erwiderte ich. »Seit ich denken kann, wohne ich auf Spitzbergen.« Eldren war nicht anzumerken, ob ihn das überraschte. Millionen Menschen wohnten auf hunderten künstlichen Inseln und nur selten traf man jemanden, der auf dem Festland lebte.
»Ich könnte das nicht, auf dem Land wohnen. Das Meer ist doch wunderschön. Haben Sie denn keine Schwierigkeiten, wenn Sie von Insel zu Insel müssen?«
»Nein, Eldren, das ist mein Job. Ist mir egal, wo ich bin, solange ich das tun kann, was ich am liebsten mache.«
Er blieb vor einer Tür stehen und sah mich an. »Aha. Und was ist das?«
»Den Dingen auf den Grund gehen«, sagte ich und nickte zur Tür. »Mein Raum?«
»Äh, ja.« Eldren öffnete und trat beiseite. »Soll ich Ihnen einen Tee kommen lassen?«
»Nein, danke. Ich will nicht gestört werden. Kümmern Sie sich bitte um meine Mitarbeiterin. Wenn Sie wieder auf dem Damm ist, teilen Sie ihr einen Raum zu und übermitteln Sie alle Daten zur Inselbevölkerung. Vielen Dank.«


Ich ging hinein und schloss die Tür hinter mir. Der Boden zitterte leicht. Die Trimmung versuchte den Seegang auszugleichen. Zügig griff ich nach dem Pad und kontaktierte Gruppe eins. Das Rufsymbol leuchtete, dann die Bestätigung. Den Sensor auf der Rückseite hielt ich an das Sicherheits-Implantat im Unterarm und aktivierte es. Meine Zugriffsstufe wurde bestätigt. Ein hellhäutiges Gesicht lächelte mir entgegen. Sommersprossen, rote Haare.
»Kein bisschen älter«, eröffnete ich das Gespräch. Jonna Andersen ging etwas näher an die Kamera.
»Oh, Chatrina, kurze Haare? Ist es so schlimm? Wie geht es?«
Ich wiegte den Kopf hin und her, spürte einen Knoten in meinem Hals. Was sollte ich sagen? »Mir geht es gut, Jonna. Aber die Sache hier entwickelt sich zu etwas völlig Neuem.«
»Ich habe die Sonardaten und Takunos Bericht bekommen. Allerdings sind wir uns unschlüssig, was davon zu halten ist. Wo sollten auf einmal sieben uns nicht bekannte U-Boote herkommen? Vom kläglichen Rest Festlandbewohner?« Jonna lachte und es klang ein wenig verzweifelt. »Die sind ja nicht mal in der Lage, sich länger als einen halben Tag nicht gegenseitig umzubringen«, ätzte sie.
»Jonna … Takuno sagt, und ich verlasse mich zu einhundert Prozent auf seine Intuition, dass diese sieben U-Boote ebenfalls die Insel suchen. Niemand außer Gruppe 25 und wir als Polizei wissen von ihrem Verschwinden. Ist dir bewusst, was das bedeutet?«
Sie rieb beide Augen, ballte eine Hand zur Faust und schlug auf den nicht sichtbaren Tisch vor ihr. Es klang scheppernd und das Bild wackelte kurz. »Ja«, erwiderte sie leise. »Ich weiß. Es gibt eine Person unter uns, entweder auf der Inselgruppe oder in der Administration, die Informationen preisgibt. Und diese Person weiß, wer dort unten taucht! Ich komme mir vor, wie gerade erst aufgewacht.«
Ich nickte. »Oder unsere Übertragungen werden abgehört«, führte ich ihren Gedanken fort. Jonna hob den Kopf.
»Die sind verschlüsselt«, sagte sie barsch.
»Meinst du nicht, dass für Menschen, die in der Lage sind, sich einen nicht bekannten Zeitraum vor uns zu verstecken und offenbar bessere U-Boote besitzen als wir, eine Verschlüsselung nur ein kleines Hindernis ist?«
Sie schwieg.
»Versenken wir die unbekannten U-Boote«, schlug ich vor. »Wir befinden uns hier mitten über dem Argentinischen Becken, fünftausend Meter Wasser unter uns. Wenn Takuno Erfolg hat, holen wir uns so ein Boot mit der Rettungsglocke. Dann erfahren wir vielleicht, was dahinter steckt.« Ich beobachtete ihr Gesicht. Die Augen blitzten mich an. Ein zuckender Wangenmuskel. Sie setzte die Brille auf und beugte sich nach rechts, murmelte Unverständliches zu einer Person oder einem anderen Pad. Dann richtete Jonna sich auf.
»Okay, Chatrina. So werden wir es tun. Du hast freie Hand.«
»Danke. Und Jonna …«
»Chatrina?«
»Wenn ich nicht weiß, ob ich abgehört werde oder jemand etwas verrät, macht mich das ziemlich nervös. Dieses Problem muss gelöst werden. Egal wie.«
Ich hörte sie laut ein- und ausatmen. »Ist gut, Chatrina. Wir lassen uns was einfallen. Noch etwas?« Meine Gedanken tauchten hinab zu einer Vermutung, die mir nicht behagte. Das Bild vor meinen Augen verschwamm, so sehr driftete ich ab mit dem, was ich da zu fassen versuchte. Ich spürte plötzlich mein Herz klopfen. Wohl eine Art Schock. »Chatrina?«
Mit den Augen blinzeln. Nur schnell auftauchen aus diesem Strudel. Wie aus meinen Träumen. Ich fokussierte das Pad und sah Jonnas besorgtes Gesicht. »Wir können, glaube ich, fest davon ausgehen, dass, wenn es da eine Person gibt, die Informationen verrät, sie nicht die einzige ist. Nicht die einzige Person sein kann …«, ich nahm das Pad näher an mich heran. »Gehen wir einfach davon aus, dass wir es hier mit etwas Größerem zu tun haben. Gut organisiert und inzwischen so mutig, dass es ihnen egal ist, ob wir sie entdecken.«
Sie hob die Hand und machte mit den Fingern ein Zeichen. Es war mindestens eine weitere Person im Raum. Ich fragte mich, wer das sein könnte?
»Ja«, bestätigte Jonna. »Wir gehen davon aus. Ich wünsche dir viel Glück.« Ihre winkende Hand beendete das Gespräch und ich starrte noch ein paar Sekunden auf das Display, deaktivierte das Implantat und strich über die kurzen Haarstoppel. Ein angenehmes Gefühl. Beruhigend fast.


»Eine Verbindung zu Obmann Takuno«, diktierte ich dem Pad. Einen Atemzug später schaute ich in sein Gesicht und erschrak über die finstere Miene, die mir entgegenblickte. »Was ist los?« Er sah auf die Seite, vielleicht zu Sato, nickte und seufzte deutlich.
»Wir schaffen es nicht, den Sonarkontakt zu stabilisieren. Diese Boote sind nicht unter einer thermischen Grenzschicht verborgen. Sie besitzen eine Art Tarntechnik. Etwas, das wir seit einhundert Jahren nicht mehr benötigen, weil es keine Gegner mehr gibt, vor denen man sich tarnen müsste.« Er stockte, rollte mit den Augen. Mir wurde klar, vor was für einem Problem wir plötzlich standen. Ein ernstzunehmender Gegner, der schon lange vergessene Technik einsetzte, die wir als unnötig erachteten. Marine Polizei und Mobile Einheiten wurden so ausgebildet, dass sie mit den Resten der Menschheit in den Küstengebieten zurechtkamen, und das war nicht besonders schwierig.
»Was könnte das sein?«
»Eine Art Beschichtung, die Schallwellen in alle Richtungen bricht.«
»Takuno! Ich habe die Freigabe zum Torpedoeinsatz. Mein Gedanke war, mindestens eines der Boote zu versenken, um es mit der Rettungsglocke zu bergen und so an Informationen zu kommen. Allerdings sollte gesichert sein, dass die Torpedos auch treffen. Werden sie das?« Er zögerte mit seiner Einschätzung. Was mir schon Antwort genug war.
»Torpedos haben ebenso ein Problem wie unsere Boote. Wir erreichen mit dem neuen Typ achthundert Meter. Unsere Torpedos sind getestet für neunhundert Meter. Da fehlen also noch dreihundert bis zu unseren Freunden da unten. Allerdings bin ich mir sicher, dass ihre Torpedos – falls sie welche besitzen – schadlos den Weg zu uns herauf überstehen.«
Ich schloss die Augen und stellte mir die sieben gelben Lichtpunkte im Hologramm vor. Uns überlegen in Tauchtiefe und Entdeckbarkeit. Eine Werft, wo auch immer, die solche U-Boote zu bauen in der Lage ist, musste aufzufinden sein! Das Material für eine solche Technik kam sicher nicht von einem anderen Planeten. Möglicherweise war Standard-Polizeiarbeit effektiver. Die üblichen Ressourcenhändler unter die Lupe zu nehmen, könnte mehr Erfolg bringen.
»Ihre Argumentation ist nachvollziehbar. Dann bleiben wir also friedlich, solange uns keine ausreichenden Informationen zur Verfügung stehen. Ich bin ab jetzt auf Insel 66.«
»Verstanden. Ich werde gegen 1500 auftauchen und mit dem Copter eine halbe Stunde später bei Ihnen sein.«
»Ist Sato der Situation gewachsen?«
»Sie müssen sich keine Gedanken machen, Obfrau Sutter. Sato ist bestens vorbereitet. Egal was passiert. Außerdem ist mein Freund, Obmann Rodriguez von Boot 12813 während meiner Abwesenheit Befehlshaber der Gruppe. Ich habe ihn instruiert. Er ist absolut zuverlässig.« Das Display wurde dunkel. Ich mochte Takuno, stellte ich fest. Sehr sogar. Und schätzte seine ruhige Art. Zügig diktierte ich alle Informationen und meine Überlegungen in eine verschlüsselte Sprachdatei, sandte sie an Jonna Andersen und begab mich dann zu Abiola, um mit der Arbeit zu beginnen.


»Tut mir leid, Chatrina. Du weißt, zu viel Seegang ist nichts für mich. Die Sanitäterin hat mir ein Medikament gegeben. Dauert noch ein Weilchen.« Abiolas schwarzem Gesicht sah man nicht an, wie es um ihren Kreislauf stand, aber so angelehnt an der Kantinenwand, die Augen zur Decke gerichtet, machte sie keinen besonders stabilen Eindruck. Der Seegang wurde nicht besser und die Trimmung kämpfte unermüdlich gegen zu starke Schwankungen an.
»Mach dir nichts draus, Abiola.« Ich setzte mich neben sie und beobachtete fasziniert ihre Nasenflügel. Sie bebten leicht, dehnten und entspannten sich.
»Ruh dich noch ein wenig aus«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Ich hole mir erst was zu essen und fange dann an, die Daten zu sichten. Wenn du wieder fit bist, kommst du einfach rüber.« Sie reagierte nicht, aber das war auch nicht nötig.

Die Kantine war so gut wie leer. Zügig ging ich zur Theke und bat die Frau dahinter, mir Tagesessen und einen Tee zu geben. Damit setzte ich mich in die entfernteste Ecke und musterte misstrauisch den Teller. Das Essen auf den Inseln war sehr unterschiedlich. Zu den grundlegenden Nahrungsmitteln aus dem Proteindrucker, versuchte sich manche Kantine in eigens entworfenen Spezialitäten aus Algen und dem was die hydroponischen Anlagen hergaben. Drei runde, dunkelgrüne Scheiben, zwei Proteinriegel und ein Tomatensalat. Damit begann ich und stellte überrascht fest, dass mich der Geschmack der Tomaten beeindruckte. Den Rest verdrückte ich, weil es nahrhaft war. Den letzten Bissen spülte ich mit Tee runter und sah aufs Pad. Noch drei Stunden bis zu Takunos Eintreffen. Abiolas schwarze Hand legte sich auf den Tisch. Ich hatte sie nicht kommen hören.
»Es bestätigt sich doch immer wieder, dass du die richtige Wahl bist, wenn es um lautlose Infiltration geht«, sagte ich und grinste sie an.
»Schwarz wie die Nacht und leise wie der Tod«, erwiderte sie und setzte sich mir gegenüber. Schwarz wie die Nacht und leise wie der Tod, wiederholte ich in Gedanken. Abiolas Ruf entsprach durchaus diesem Bild.
»Geht es dir wieder gut?« Den Blick auf dem leeren Teller, strich sie mit einer Hand durch ihre Haare.
»Essen werde ich nichts. Das Medikament wirkt auf jeden Fall. Ich sollte mir einen Vorrat davon zulegen.«
Beim Wort Medikament zuckte ich innerlich zusammen. Takuno, mein Retter … ich reichte Abiola mein Pad. »Das ist kein normaler Fall. Weder das Verschwinden der Insel noch all die anderen Vorkommnisse …«
»Was meinst du?«
»Lies alles durch. Darüber Bescheid wissen Takuno, ich, Jonna Andersen und natürlich einige ihres Stabes. Ich werde es euch aber nicht vorenthalten, denn wir haben zusammen einiges vor.«
Sie nahm das Pad und begann zu lesen. Interessiert musterte ich Abiolas scharf gezogene Gesichtszüge. Ich ertappte mich immer wieder dabei, sie fasziniert zu beobachten. Aus jedem Stück ihres Gesichts strahlte eine freundliche Unnahbarkeit. Sich ihr nähern zu dürfen, bedurfte einiger Anstrengung und am Ende gewährte sie vielleicht eine gnädige Audienz. Einige Male in den letzten Jahren war mir der Versuch gelungen; dann war es, als läge ich in einem Palast voller Zartheiten und dunkler Geheimnisse. Ich schüttelte diesen beginnenden Tagtraum schweren Herzens ab und versuchte, mich auf die vielen Fragen zu konzentrieren.
Wie schaffte man es, eine sicher nicht kleine Gruppe von Menschen ausfindig zu machen, die mindestens eine Werft unterhielt und sich über einen längeren Zeitraum große Mengen Ressourcen beschafften? Es musste Verbindungen zu wenigstens einem wichtigen Handelspunkt geben. Ohne jeden Zweifel.
Aus der Ventilation strömte kühle Luft heran. Ein salziger Geruch drang in meine Nase. Ich schloss die Augen und sog den Duft des Meeres in mich hinein.
»Chatrina?« Das Pad klapperte auf dem Tisch. »Denkst du, es haben sich Inselbewohner abgesondert? Oder könnten diese U-Boote von Festlandmenschen gebaut worden sein?«
Ich öffnete die Augen und war froh, dass es hier drin nicht allzu hell war. Abiolas verwunderter Blick suchte Kontakt zu mir. Die Fingerkuppen ihrer rechten Hand hatte sie abgewinkelt, klopfte leise einen Takt auf den Tisch. Zwei der vielen Fragen, denen wir uns stellen mussten, dachte ich und drückte den Rücken durch, die Schultern nach hinten. Irgendeinen Schmerz gab es da seit geraumer Zeit. Abiola wartete auf meine Antwort.
»Die Werften auf Spitzbergen benötigen ein halbes Jahr für ein U-Boot des neuen Typs. Wir wissen nicht, ob die unbekannten Boote eine identische Größe haben. Setzen wir mal eine Bauzeit von vielleicht vier oder fünf Monaten voraus, mal sieben Boote, hm … oder doch mehrere Werften?« Erschrocken darüber, wie viele Fragen sich aus all dem Unwissen ergaben, schwieg ich.
»Wir brauchen dringend Antworten, irgendwelche Hinweise«, stellte Abiola fest. »Alles andere ist nur Zeitverschwendung.«
Ich nickte. »Ja, wir brauchen Antworten. Und die Suche nach den Antworten werden wir so gestalten, dass alle es mitbekommen.«
Sie fixierte mich und beendete ihr kleines Musikstück. »Du hast notiert, dass es womöglich ein Informationsleck gibt. Wäre es da nicht besser, so verdeckt wie möglich vorzugehen?«
»Das liegt nahe und entspricht meinem ursprünglichen Gedanken, aber ich denke, wenn wir sie aufscheuchen, werden ihnen zwangsweise Fehler unterlaufen, denn … halten wir mal fest: Sie wissen, dass wir es wissen. Sie müssen also logischerweise davon ausgehen, dass wir ein Leck bei uns vermuten …«
»Das genau meine ich, Chatrina. Wäre es da nicht besser …«
»Nein«, unterbrach ich sie. »Ich hoffe, dass sie genau das annehmen, nämlich dass wir still und leise nach dem Verräter oder der Verräterin suchen, nur um sie nicht wissen zu lassen, wie weit unsere Ermittlungen sind. Aber wir werden das Gegenteil tun: so viel Lärm wie möglich.«
Sie runzelte die Stirn.
»Aber in deiner Mitteilung an Jonna Andersen steht doch etwas von stillem Vorgehen. Woher der Sinneswandel?«
Ich grinste sie an. »Glaubst du mir, wenn ich sage, dass mir die Idee kam, als du dich an mich angeschlichen hast?«
Sie schaute verdutzt. »Nein, das glaube ich dir nicht.«
Ich zuckte mit den Schultern und nahm das Pad. In einer Mitteilung der Inselzentrale war der Link zu den Personendaten der hiesigen Bevölkerung abgelegt. »Ich hätte gerne, dass du das bisherige Vernehmungsprotokoll abänderst und mit zwei neuen Prämissen versiehst: Erstens wollen wir wissen, ob es hier, sagen wir … Abtrünnige gibt, und zweitens, ob auf den Inseln Unzufriedene sind, also Menschen, die Veränderungen wollen, Menschen die wütend sind, verärgert, enttäuscht.«
Sie nickte.
»Und wir sollten dabei das Verhältnis von Patronas zu den Inseln abklopfen …«, ich hielt kurz inne. »Am besten beginnen wir mit: ‚Wie Sie ja vielleicht wissen, haben wir es seit geraumer Zeit mit einer abtrünnigen Gruppe zu tun‘ … und so weiter. Wir zeichnen die Reaktionen aus verschiedenen Winkeln auf. Dann werden wir sehen, ob jemand etwas verheimlicht.«
»Geht in Ordnung, Chatrina.«
»Gut. Ich besorge mir jetzt eine Flasche Wasser und gehe in die Inselzentrale. Für Jonna muss ich mir noch was überlegen.« Abiola sah mich weiterhin an, als wolle sie noch etwas Wichtiges loswerden, wusste aber nicht wie. »Raus mit der Sprache«, forderte ich sie auf.
»Ja, hat vielleicht nichts zu bedeuten. Du wirst es nicht so oft hören. Aber wir …«
»Was?«
»Reto hustet in den letzten Wochen auffällig viel. Und nachts röchelt er mitunter, als bekäme er kaum noch Luft.«
Ich sah an ihr vorbei, die letzten Tage und Wochen vor meinem Auge. Retos Husten … Abiola hatte recht. Natürlich war es mir aufgefallen. Die Festlandeinsätze waren anstrengend, der Atemschutz, in den Kampfanzügen steckend … »Okay, Abiola. Du hast recht. Ich werde seine Unterlagen durchsehen. Mal sehen, wann die letzte Untersuchung war. Danke dir.«
Sie nickte und lächelte etwas gequält.


Ich packte meine Thesen und die Fakten in eine Sprachnachricht und teilte Gruppe eins mit, dass wir unsere Befragungen unter anderen Zielen durchführen werden. Wir wollten erreichen, dass die andere Seite Fehler machte, eventuell Panik bekam. Deshalb wollte ich ein wenig flunkern. Statt eines Anrufes bekam ich nach einer halben Stunde lediglich ein ‚OK‘. Das genügte mir.
Kano, Kazumi und Bijan meldeten stündlich ihre Koordinaten. Die Rapporte waren durchweg negativ. Keinerlei Hinweise auf Insel 64. Weder Trümmer noch sonstige Gegenstände. Da draußen war nichts. Weder auf dem Radar noch im infraroten Bereich. Nur Wasser. Auch Takuno und die anderen Boote würden nichts finden. Da war ich mir inzwischen sicher. Insel 64 war einfach weg. Aber etwas viel Beunruhigenderes passierte: nicht nur wir suchten nach diesem schwimmenden Stück Stahl.
Ich stellte die Wasserflasche auf dem Kartentisch der Zentrale ab. Jemand hinter mir hustete ein paar Mal gekünstelt. Ich drehte mich und entdeckte Eldren.
»Offenbar schafft es inzwischen jeder, sich an mich anzuschleichen«, begrüßte ich ihn etwas schroff. Er sah mich verwundert an.
»Aber nein, das war nicht meine …«
Ich packte seinen Arm und zog ihn an den Tisch. »Was war denn ihre Absicht?« Er rückte etwas von mir ab und strich die Falten aus der Uniform.
»Es ist verboten, ein Getränk auf den Kartentisch zu stellen.«
Tatsächlich! Ich steckte die Flasche an meinen Gürtel. »Hab ich ganz vergessen.«
»Obmann Takunos Copter ist gerade gelandet«, fuhr er fort.
»Danke. Er weiß, wo ich bin?«
»Ich habe ihn informiert.«
Ich nickte und dachte an das Medikament. Ob Takuno wohl Erfolg mit der Synthetisierung hatte? Nicht auszudenken …
»Obfrau Sutter?«
»Eldren! Was gibt es noch?«, fuhr ich ihn an. Er zögerte und war sichtlich nervös. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an das eines Kindes, dabei ertappt, etwas Verbotenes getan zu haben. Es war mein Fehler. Ich legte die Hand auf seine Schulter. »Tut mir leid, Eldren. Ich bin vielleicht ein wenig gereizt. Die Situation ist unübersichtlich. Also?«
Er streckte die rechte Hand aus, drehte sie hin und her, spreizte die Finger und beobachtete offenbar genau, was er da tat. Als wäre dieser Körperteil ein fremdes Wesen. »Ich fürchte, wir müssen nach unten. Von der Gruppe kam die Anweisung, mit der Tauchsequenz zu beginnen.«
»Tauchen!?« Ich drückte die Finger etwas stärker in seine Schulter. Er verzog leicht das Gesicht und sah mir endlich in die Augen. »Warum tauchen?«
»Der Seegang und damit die mechanische Belastungen nehmen zu«, hörte ich ihn sagen, ignorierte es jedoch.
»Eldren, in den letzten zwanzig Jahren war ich auf wesentlich älteren Inseln, die trotz erheblichen Seegangs nicht tauchten. Liegt die Wellendynamik momentan innerhalb der Spezifikationen?«
Er atmete schwer. »Ja«, presste er heraus.
»Na also! Ich habe noch drei Leute da draußen! Wo sollen die bitteschön landen?!«, hakte ich nach. Eldrens Blick wanderte durch den Raum. Er bekam Panik. Gefangen zwischen seiner Position und einer Ebene drei-Obfrau der Mobilen Polizeieinheiten, die vor ihm stand. Ich musste ihm die Entscheidung abnehmen. »Ihre Insel ist zwar alt, aber in einem guten Zustand, oder?«
Er richtete sich auf. »Natürlich, aber könnten nicht die Boote die Copter …«
»Sagen Sie Patronas, dass die Gruppe abtauchen kann. Bis auf Insel 66. Ich pfeife jetzt meine Leute zurück, und wenn sie heil gelandet sind, können Sie von mir aus tauchen.«
Er senkte den Blick. »Ich werde Ärger bekommen …«


Für einen Augenblick war ich verblüfft und mir fielen spontan die Bilder aus dem Besprechungsraum der Gruppe 25 ein, die vierundzwanzig Obfrauen und Obmänner, darunter Eldren, davor sitzend Patronas … ich hatte das Gefühl, als füge sich hier ein Puzzleteil in ein Gesamtbild, von dessen Aussehen ich noch keine Ahnung hatte. Eldrens gequälter Gesichtsausdruck konnte nützlich sein, ein Ansatz … »Ich hoffe, Ihnen nicht die Hierarchie erklären zu müssen, Obmann Eldren.« Er nickte mehrmals, hörte gar nicht mehr auf damit.
»Nein, natürlich nicht … da gibt es kein …«
»Tun Sie etwas Sinnvolles! Bereiten Sie die Landung der drei Copter vor. Danach machen Sie die Insel tauchfertig.«
Er schwieg, starrte mich einen Moment an, drehte sich dann um und zog davon. Deutete ich seinen Blick richtig, stand die Angst ihm bis zur Schädeldecke. Ich grinste und sah Takuno zum Schott hereinkommen, das blaue Käppi tief ins Gesicht gezogen.
»Obfrau Sutter …«
»Ich bin froh, Sie zu sehen, Takuno«, begrüßte ich ihn. Ohne zu antworten, zog ich ihn in den Besprechungsraum. »Es sind verwirrende Zeiten, Takuno«, stellte ich fest und schloss die Tür hinter uns.
»In der Tat.« Er setzte sich an den Tisch, nahm das Käppi ab und griff hinein. Was er daraus hervorzog und in der Hand hielt, konnte ich nicht sehen. Meine Gedanken galten den Coptern. Ich zog das Pad hervor, aktivierte den Rundruf und wartete die Freimeldung ab. Keine Sekunde später leuchteten drei grüne Felder auf.
»Kano, Kazumi, Bijan, kommt sofort zurück. Die Gruppe taucht. Ich bin auf Insel 66 und erwarte euch so schnell als möglich hier.« Die Gegenstellen bestätigten und ich legte das Pad auf den Tisch, sah in Takunos überraschtes Gesicht.
»Wir tauchen? Aus welchem Grund?«
»Patronas hat das angeordnet. Angeblich wegen des stärker werdenden Seegangs, eine Zunahme der mechanischen Belastung, alte Inseln und so …«
»Hm…«, er kratzte sein Kinn. »Diese Insel hier ist aber noch ganz gut in Schuss für ihr Alter. Mechanische Belastungen hört und spürt man deutlich. Ich höre und spüre nichts. Ich sollte Patronas mal in mein Boot mitnehmen und runter auf 800 Meter gehen …«
Ich mochte seinen Pragmatismus. Er schob die Faust über den Tisch und öffnete sie. Eine blaue Schale lag darin. »Ich habe zwanzig Tabletten synthetisieren lassen.« In Takunos dunklen Augen erkannte ich keine Regung. Dafür konnte er sicher in meinem Blick eine Menge herauslesen. Erleichtert griff ich die Schachtel und steckte sie ein.
»Danke, Takuno. Ich …«
Er winkte ab. »Bringen Sie mich einfach auf den neuesten Stand. Der Befehl zum Abtauchen einer Inselgruppe, obwohl klar ist, dass dort draußen noch Menschen auf der Suche sind, ist – gelinde gesagt – eine Zuwiderhandlung gegen unsere Regeln.« Langsam beugte er sich über den Tisch. »Ich fühle mich neuerdings ein wenig unsicher, Sutter. Oder nennen wir es beobachtet.«
»Chatrina, bitte«, bot ich ihm an. Einen langen Atemzug sahen wir uns in die Augen.
»Kenzaburo.«
Kenzaburo. Was für ein interessanter Name. Und er hatte recht. Es war nicht schwer, sich auf dieser Inselgruppe unwohl zu fühlen. Ich gab ihm einen kurzen Bericht, wobei mich die Reglosigkeit in seinem Gesicht doch ein wenig aus der Fassung brachte. Er setzte das Käppi auf und schob es ein paar Mal hin und her, als würde er sich damit kratzen.
»Kenzaburo, du hast deine Nervosität dem blauen Käppi da übertragen, nicht wahr?«
Er grinste. »Gut erkannt. Wenn ich mich damit ins Bett lege, ist es als kritisch zu betrachten.« Ich stutzte. Dann platzte das Lachen aus mir heraus. Es dauerte einige Minuten, bis ich mich wieder im Griff hatte. Er musterte mich neugierig.
»Du kannst ja richtig lachen, Chatrina. Das habe ich nicht für möglich gehalten.« Es klopfte. Ich räusperte mich einige Male. Takuno öffnete die Tür. Abiola trat ein, grüßte durch ein kurzes Nicken und setzte sich neben mich. Das Pad summte, Eldrens Gesicht erschien auf dem Display.
»Was gibt es?«, antwortete ich und blieb dabei außerhalb der optischen Erfassung.
»Ich habe drei der Oberdecklager räumen lassen«, erklärte er eifrig. »Dort können wir die Copter unterbringen.«
»Danke, Eldren. Meine Leute sind in einer halben Stunde hier.« Das Display wurde dunkel. Ich legte die Schachtel auf den Tisch, öffnete sie und nahm eine der Tabletten raus. Abiola gab mir einen Fußtritt. Ich sah auf und folgte ihren Augen, die zu Takuno wanderten.
»Er weiß Bescheid, Abiola. Ich vertraue ihm.«
Sie verzog den Mund. »Dann werde ich ihm ebenso vertrauen«, erklärte sie, »aber trotzdem finde ich es nicht gut, wenn zu viele Personen davon wissen.« Takuno hörte uns schweigend zu. Er setzte das Käppi auf und lehnte sich zurück.
»Wir werden jetzt Eldren verhören«, verkündete ich, ohne auf ihren Einwand einzugehen. »Wir drei. Bau bitte vier Kameras auf, Abiola. Eine direkt vor Eldren auf dem Boden. Setz ihn ganz an die gegenüberliegende Wand, so dass die größtmögliche Distanz zwischen uns ist. Er soll sich klein fühlen. Takuno sitzt neben mir und du wirst deinen Stuhl so stellen, dass Eldren dich nur im äußersten Augenwinkel erkennen kann. Bewege dich ab und zu. Tu so, als würdest du etwas in dein Pad tippen. Unsicherheit verstärken.« Abiola nickte, stand auf und bereitete den Raum vor.
»Von Ihnen möchte ich nicht verhört werden«, sagte Takuno. »Soll ich irgendetwas dabei tun? Außer zuhören?«
»Nehmen Sie kurz Verbindung auf zu Sato. Ich möchte einen aktuellen Lagebericht.« Er nickte und stellte sich abseits. Vor mich legte ich das Pad, aktivierte unser Verhörprotokoll, dann lehnte ich mich an und versuchte zu überblicken, ob ich etwas übersehen hatte. Abiola stellte die letzte Kamera auf und kniete sich dann neben meinen Stuhl.
»Ich habe über unser Gespräch und die letzten beiden Tage auf 68 und 67 nachgedacht. Unsere Befragungen dort haben nichts ergeben. Gar nichts. Noch nicht mal Trauer …« Ich sah auf ihr Gesicht runter, die schlanke Nase, Abiolas seltsam glänzende Haut, fast wie Samt. Noch nicht mal Trauer? Was waren Patronas Worte? ‚Wir alle haben Menschen verloren‘.
»Du hast recht, Abiola. Ein weiterer Grund unsere Strategie zu ändern. Denkst du an etwas Spezielles?«
»Wenn wir bisher Vernehmungen und Befragungen dieser Art durchführten, war es klar, dass innerhalb der Gruppen die Bewohner Verwandte auf allen Inseln hatten. Das ist gewollt und stärkt den Zusammenhalt einer Inselgruppe; einen Onkel hier, eine Tante auf der Nachbarinsel. Ein Teil unserer Arbeit ist auch Trost spenden durch die Aufklärung des Geschehens. Es sind Familien, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Genau«, sagte Abiola mit Nachdruck. »Ich habe vorhin die Datenbank von 66 geprüft: keine Verwandten auf 64. Das fand ich komisch und hab das für 67 und 68 wiederholt. Keine Verwandten.« Sie schwieg und das Weiß ihrer Augen war in diesem Moment fast unheimlich anzusehen. Ich legte die Hand auf Abiolas Schulter und drückte sanft zu, nickte dabei.
»Gute Arbeit, Abiola«, flüsterte ich. »Bohr da ein bisschen herum.« Sie erhob sich, nahm an der Seitenwand Platz und aktivierte die Kameras. Ich rief Eldren.


Er schwitzte. Trotz des kühlenden Luftstroms aus der Umwälzanlage. Abiolas Pad musste glühen, so intensiv bearbeitete sie es mit den Fingern. Ich lauschte, was Takuno mir flüsterte; dass bei Sato alles in Ordnung war und unsere sieben Freunde offenbar entspannt den Meeresgrund absuchten. Dann richtete ich mich auf und gab Abiola ein Zeichen. Eldren wurde immer kleiner; er zerfiel förmlich zu einem Häufchen Elend. Ich entschloss mich, ihn nun lange genug gequält zu haben und räusperte mich.
»Obmann Eldren, Sie bekommen eine Nachricht, wenn die Copter gelandet sind?«, eröffnete ich mit einer Frage. Er nickte. »Gut. Danach können Sie die Tauchsequenz starten.«
»Natürlich.«
»Schön, dann beginne ich mit der Befragung Nummer eins. Gruppe 25, Insel 66. Es ist Samstag, 3. Februar 2148, 16 Uhr und 32 Minuten. Anwesend sind Aden Eldren, der für Insel 66 gewählte Ebene-5-Obmann. Von den Marinen Polizeikräften der Ebene-4-Obmann Kenzaburo Takuno. Von den Mobilen Polizeieinheiten Abiola Igbinedion, Anwärterin und Ebene-3-Obfrau Chatrina Sutter.« Eldren rutschte an die Stuhlkante. Er war eindeutig zu groß.
»Obmann Eldren, die Zuständigkeit der Polizeieinheiten deckt auch das Verschwinden von Inseln ab, was dankenswerterweise nicht sehr oft vorkommt. Meine Einheit hat bisher zehn solcher Vorfälle untersucht. In allen Fällen wurden die Inseln bzw. die Überreste recht schnell gefunden. Insel 64 jedoch gibt uns Rätsel auf. Keine Trümmer, nicht mal der kleinste Gegenstand treibt auf der Oberfläche. Und …«, ich sah zu Takuno, »Obmann Takuno wird bestätigen, dass unter Einberechnung der Strömungsverhältnisse auch nichts auf dem Meeresgrund zu finden ist. Nicht wahr?«
Takuno nickte mit ernstem Gesicht. »In der Tat. Das Argentinische Becken ist in weiten Teilen eine fast plane Fläche. Runde 5.000 Meter Meerestiefe, im südwestlichen Bereich bis zu 6.000 Meter. Grundsonar und magnetische Erfassung brachten kein Wrack zum Vorschein. Dort unten ist nichts.«
Ich klopfte ein paar Mal mit der Handfläche auf den Tisch. »Danke, Takuno. Eine Frage … das Argentinische Becken, wie genau ist das beschaffen?«
Er schürzte die Lippen und überlegte. »Hm, stellen Sie sich einen See vor. Zwei Drittel zu einem Drittel. Die zwei Drittel mit einer Art Höhenzug, das eine Drittel ist durchzogen mit scharf begrenzten Senken.«
»Und Sie sind sich sicher, dort eine Insel finden zu können?«
»Absolut. Vor allem die Suche über lokale Veränderungen der Magnetfeldlinien ist sehr effizient. Eine solch stählerne Masse ist nicht zu übersehen … und sie driftet auch nicht kilometerweit ab.«
»Danke.«
Er beugte sich an mein Ohr und wisperte Unverständliches. Es kitzelte ein wenig und ich musste ein Grinsen verkneifen. Dafür nickte ich bedeutungsschwer.
»Obmann Eldren, was denken Sie, was mit Insel 64 geschehen ist? Laut Protokoll verlief die Tauchsequenz absolut vorbildlich; auf allen Inseln.«
»Ich habe keine Ahnung, wirklich. Das kann ich beim besten Willen nicht erklären …«
Abiola beugte sich etwas vor und hob die Hand. »Ja, bitte, sprechen Sie, Anwärterin.«
»Danke.« Sie sah einen Moment auf ihr Pad. »Ich habe festgestellt, dass keine der Inseln von Gruppe 25 Verwandte auf Insel 64 hatte. Zumindest sagt mir das die Datenbank. Das entspricht nicht den Regularien, ist entgegen der Normalität auf allen Gruppen. Können Sie uns sagen, ob das besondere Gründe hat?«
Eldren schaute überrascht. »Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht, ob das bei uns so ist …«
»Aber Sie kennen die Regularien der Bevölkerungsverteilung, oder?«
»Natürlich«, bestätigte er.
»Haben Sie Verwandte?«, setzte Abiola nach und schaute auf ihr Pad.
»Äh, ja, natürlich … meine Eltern. Sie leben hier auf 66 …«
»… und Sie hatten eine Schwester, die aber wohl bei der Geburt verstorben ist.« Eldren senkte den Blick. Trauer? Vielleicht. Ich kontrollierte Abiolas Daten auf meinem Pad. Er war laut der Infos zwei Jahre alt, als das Mädchen drei Wochen nach der Geburt verstarb.
»Das tut mir sehr leid, Eldren«, sagte ich in die Stille.
»Danke, Obfrau Sutter.«
Takuno beugte sich im richtigen Moment zu mir und murmelte ein paar Wortfetzen. Ich bestätigte und sog vernehmlich die Luft ein. Eldrens Blick flackerte wie eine erlöschende LED-Lampe.
»Obmann Eldren«, fuhr ich fort, »haben Sie schon mal etwas von einer abtrünnigen Gruppe Menschen gehört, die offenbar das bestehende System der Inseln, äh, ich will mal sagen … ablehnt?« Er wurde kreidebleich und sackte noch mehr in sich zusammen. Das könnte unser Moment sein, dachte ich und … Takunos Pad gab einen schrillen Dauerton von sich. Abiola und Eldren starrten entsetzt herüber.

»Takuno!«, rief ich. Er hielt das Pad vor sich, beendete den hohen Ton durch Annahme des Rufes. Satos Stimme war laut und deutlich zu vernehmen.
»Torpedos im Wasser! Zehn … nein … vierzehn Torpedos! Hohe Geschwindigkeit! Laufrichtung, Moment … eindeutig die Inselgruppe! Sie haben zwei Minuten!«
Takuno schnellte hoch. »Ich gebe Evakuierungsalarm!«, schrie er und war schon durch die Tür. Abiola folgte ihm. Ich griff Eldren am Kragen und zog ihn hinter mir her.
»Abiola! Ruf die Copter! Sie sollen uns auf der Plattform des Komm-Turmes abholen!« Ihre Hand ging nach oben. Der Alarm heulte auf, was bedeutete, dass die Automatikschotte verriegelt wurden und die Ballasttanks sich leerten. Die Insel stieg so weit aus dem Wasser wie möglich. Die Wohnquartiere der Inseln waren ihre eigenen Notkapseln. Ich hoffte, dass alles reibungslos funktionierte und so viele Menschen wie möglich von ihr entkommen konnten. Wir waren an der Treppe zum Oberdeck angekommen.
»Sato!«, hörte ich Takuno rufen. »Welche Inseln erwischt es?« Sie gab Antwort, ich verstand es jedoch nicht. Eldren riss sich los und rannte die Treppe zum Unterdeck hinab.
»Eldren! Verflucht noch eins!« Der Korridor füllte sich. Ich überlegte, ihm nachzurennen, da packte mich eine Faust und riss mich nach oben, die Treppe hinauf. Abiola!
»Vierzehn weitere Torpedos!«, hörte ich Takunos Stimme vor uns. Er öffnete die Notfall-Luke zum Oberdeck und stieg hindurch. Wir folgten, krochen hindurch und rannten zum zentralen Aufbau des Komm-Turmes. Das Pfeifen der Rotoren näherte sich und eine dumpfe Erschütterung brachte die ganze Insel zum Vibrieren. Weit vor uns wölbte sich eine massive Blase aus dem Wasser, fiel in sich zusammen, dann schoss weiße Gischt in die Höhe. Links ab folgte die nächste Blase, rechts hinter uns eine weitere. Panik kroch meinen Hals empor.
»Mein Güte …«, sagte Takuno. Er war bleich. Wir rannten die Treppe zum Turm hoch. Querab tauchten die ersten Rettungsglocken auf. Wieder eine Erschütterung. Oben auf der Plattform entdeckte ich die Notfallgurte eines Copters. Abiola rannte an mir vorbei und legte einen davon um meinen Brustkorb, zog dann kräftig am Seil. Es ging aufwärts. Takuno unter mir folgte. Endlich packte Abiola den letzten Gurt, schlupfte durch die Öffnung, dann erhielt Insel 66 zwei aufeinanderfolgende Treffer. Segment A bäumte sich auf und riss entzwei, Stahlteile schwirrten an mir vorbei. Ein unmenschlicher Schrei von irgendwo. Mit einem Ruck wurde ich nach hinten gezogen. Ich begriff, dass es der Copter war, nicht die Wucht der Explosion. Unter mir brach Segment B auseinander. Rettungsglocken wurden zerstört. Menschen versuchten aus ihnen zu entkommen. Takuno schwebte an meiner Seite, deutete nach vorne, rief etwas, aber ich hörte ihn nicht. Der Richtung seines Fingers folgend erkannte ich Abiola und erstarrte. Nur noch ihr Oberkörper hing im Gurt.

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