Zur besonderen Verwendung

Kapitel 3

Silvia hat man in der Gruppe gelassen. Ihr Bild klebt an der Innenseite meines Schädels und rutscht nicht in die Tiefe des Vergessens. Ich werde nervös. Zu oft denke ich an sie. Ihr Dienstplan hängt am Schwarzen Brett, ich weiß, wo sie wohnt, die vierhundert Meter von meiner Wohnung zu ihr sind schnell überwunden. Stattdessen sitze ich im Musikkeller, Walter fragt genau einmal nach meiner Kollegin. Hat Dienst, sage ich und schaue ins Glas, um zu kontrollieren, ob die Zitronenscheibe schwimmt oder untergegangen ist. Aus dem Rucksack nehme ich den kleinen Block, einen Kuli und lege beides vor mich.
»Mal wieder schreiben?«
»Muss sein«, sage ich. Walter nickt mit zusammengepressten Lippen. Vier Gäste sind noch im Lokal, kurz nach vierzehn Uhr.
»Haste heute Dienst gehabt?«
»Ja, bis vor einer Stunde. Bin jetzt bei den Paketzustellern. Seit Mittwoch. Fehlen mal wieder Leute.«
»Ist ja wie überall«, meint er. Ich weiß nicht, wie es überall so ist, aber bei der Post fehlen ständig Leute. »Wo fährste denn Pakete aus?«
»Bezirk 1026. Steubenstraße, KF, Rodrücken, Gustav-Rau hoch, Werner-Siemens-Allee, links Oechslestraße bis Morsestraße.«
»Ziemlich viel, oder?«
»Geht, viele alte Leute, kleine Schmuckfirmen, Steuerberater, Rechtsanwälte. KF ist scheiße. Jede Menge Treppen, schwere Pakete und Kataloge. Deswegen ist der Stammzusteller wohl weg.«
»Weg? Wohin weg?«
»Krankenhaus. Ist wohl für länger. Vielleicht Kreislauf. Danach kommt dann noch Reha und Rekonvaleszenz. Gefunden hat ihn die Frau von der Metzgerei.«
»Ja«, sagt Walter und hält das Whiskyglas gegen das Licht. »Wir haben alle körperliche Grenze. Einmal drüber, wird es nie wieder wie zuvor.«
»Wohl wahr. Na, jedenfalls habe ich jetzt den Bezirk auf unbestimmte Zeit. Mach mir bitte noch einen Southern mit Cola und Zitronensaft.«
»Kommt.«
Das Blatt vor mir ist immer noch weiß. Ein unbeschriebenes Blatt. Ich muss lächeln und an Silvia denken. Mit Sicherheit kein unbeschriebenes Blatt mehr. »Sag mal, Walter … warst du schon mal verliebt und wolltest es nicht wahrhaben?«
Er setzt den Southern ab und schaut her. »Die Kollegin?«
»Die Kollegin.«
»Ein paar Mal. Hab’s immer für mich behalten. Knabber ich heute noch dran rum.« Die Cola folgt. Zwei Drittel. Dann ein Schnapsglas Zitronensaft.
»Es kann in beide Richtungen in die Hose gehen«, sage ich zum Flaschenregal. »Tue ich nichts, könnte ich ein bisschen Glück verpassen. Tue ich was und es klappt, in mein Verderben laufen.«
Walter stellt das 0,4-Glas vor mich auf einen Bierdeckel, zieht einen Strich mit dem Bleistift. Dann hebt er es wieder an. »Schau hier. Davon trinkst du genug und läufst jeden Tag in Richtung Verderben. Also red nicht so ein Blech. Immer ran an die Bulette.«
Die Bulette … Silvia. Denke ich an sie, denke ich an die Seefahrer, die am Horizont den Rand der Welt vermuteten. Dann kann ich endlich die Worte hören, die ich schreiben will.

Stille
Ich ahne / Liebe
Brennende Sonne
in Finsternis / Flammenzungen
lautlos aus / dem Glutkörper
in mein Nichts
Vergehen im Lichtrausch
der uns umgibt

Heinrich, 1986

Sonntag ist es und ich bin ebenso früh aufgewacht wie jeden Tag. Das macht der Frühdienst. Hat man sich daran gewöhnt, ist die innere Uhr unversehens umprogrammiert. Selbst am Sonntag. Ich dusche, ziehe mich an und gehe vors Haus, wechsle die Straßenseite und stehe auf der Brücke. Das Rauschen der Enz an der Fallstufe hat an Kraft verloren. Der Sommer hat bisher nicht viel Regen gebracht, aus dem Schwarzwald kommt weniger Wasser. Fische sind keine zu sehen. Wie auch? Kleine Schauminseln treiben an den Ufern, ein Roller, zwei Fahrräder, ein Einkaufswagen, das sind die gröberen Dinge, die ich von hier oben sehen kann. Abgesehen vom trüben Wasser. Wie weit flussaufwärts müsste ich fahren, um sauberes Wasser zu finden? Bis zur Quelle?

Es ist sieben Uhr. Langsam schlendere ich die Steubenstraße entlang, meist die Enz im Blick, ab und zu hocken Enten im Gras. Bald erreiche ich Silvias Adresse, lasse sie und den Turnplatz hinter mir, laufe über die Goethebrücke in die Zerrennerstraße zur Brezelstube. Die Betrunkenen haben sich schon in ihre Betten verzogen, bis auf einen. Eingekeilt zwischen Wand und festgeschraubtem Stehtisch, döst er vor sich hin. Ich bestelle einen Milchkaffee samt Butterbrezel und nehme die Samstagausgabe der Zeitung mit zum Tisch. Stühle gibt es nicht. Nur diese Stehtische. Es muss unbequem bleiben. Niemand soll auf die Idee kommen, sich hier häuslich einzurichten. Dafür ist der Kaffee sehr gut, die Brezeln frisch und das alles zu sehr moderaten Preisen. Die Geschäfte laufen gut. Zwischen vier Uhr und neun Uhr kommen die meisten Nachtschwärmer hier her. Doch alles ablenken hilft nicht. Die Zeitung ist langweilig, das Rätsel schon gelöst.

Silvia hat das Wochenende frei. Wahrscheinlich ist sie daheim. Hat möglicherweise einen Freund, der sich in diesem Moment noch mal umdreht. Oder ich Trottel mache mir zu viele Gedanken. Also bringe ich Tasse und Teller zurück, kaufe drei Brezeln, drei Laugenbrötchen, dann trete ich den Rückweg an. Wieder Steubenstraße. Neben der Schmuckfirma, in der mein Opa als Goldschmied gearbeitet hat, setze ich mich auf die Bank und warte. Am gegenüberliegenden Ufer fährt ein Mann pfeifend auf seinem Fahrrad, eine alte Dame mit Hund quält sich von Baum zu Baum. Ich habe Zeit und zünde die erste Lucky an. Seltsam, dass ich Paketzusteller des Bezirkes bin, in dem Silvia und ich. Sechs Parteien gibt es im Haus, zwanzig Meter weiter. Ketterer steht auf der oberen, rechten Klingel. Gleich am ersten Tag als Paketzusteller habe ich das ausgekundschaftet.

Vier Kippen später verlässt sie das Haus, geht auf die andere Straßenseite, kommt auf mich zu und bleibt wie angewurzelt stehen. Ihr Blick fixiert mich. Sie wird sich überlegen, ob das, was sie sieht, die Wirklichkeit ist.
»Heinrich … warum sitzt du hier an einem Sonntagmorgen auf der Bank vor meiner Wohnung?«
»Ich wache immer früh auf und sonntags gehe ich meist in die Brezelstube, trinke Kaffee und lese die Zeitung vom Samstag.« Silvia setzt sich neben mich.
»Das wollte ich auch gerade machen. Also irgendwo Brötchen kaufen. Keine Ahnung, wo es Brötchen gibt.« Ich hebe die Tüte hoch.
»Drei Brezeln, drei Laugenbrötchen.« Sie kratzt ihren Hinterkopf und schüttelt die Haare.
»Als Frau könnte ich auf die Idee kommen, dass du mir auflauerst, mich mit frischer Backware in die Wohnung locken willst, um mich dann genüsslich auszuweiden. Die Welt ist voller Perverser.«
»Das ist eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit ist, dass ich immer noch deinen Kopf an meinem Oberarm spüre und bei frischer Backware in deine Augen sehen möchte. Und zwar ganz friedlich.« Silvia schnalzt mit der Zunge, greift in die rechte Hosentasche und hat dann einen Holzgriff in der Hand, drückt auf einen unsichtbaren Mechanismus. Aus dem Griff löst sich eine Klinge und arretiert.
»Mein korsisches Schäfermesser. Hab ich immer in der Tasche. Für die Perversen.«
Ich hebe die Tüte wieder hoch. »Und für die Brötchen.« Silvia lacht und entriegelt die Klinge. Es klickt im Holzgriff.


Spartanisch ist das richtige Adjektiv für die Einrichtung. Bloß nicht zu viel Luxus, man verweichlicht. Eine Zweizimmer-Dachgeschosswohnung, die Wände kann man kaum nutzen, wegen des Kniestocks. Nur an den beiden Giebelwänden stehen Regale. Im Schlafzimmer eine sehr große Matratze auf vier Paletten, rundherum ist nur noch ein Fußbreit Platz für eine Lampe und wenige Bücher. Die kleine Küche gefällt mir. Man sitzt zu zweit direkt unterm Dachfenster, dessen Scheibe mit Taubenkacke zugekleistert ist. Aufmachen bedeutet, die Viecher verdrecken die Wohnung. Und das Badezimmer ist eine Herausforderung. Selbst für Zirkusartisten. Vom Klo kann man direkt in die kleine Duschwanne kippen.
In einer italienischen Espressokanne hat Silvia starken Kaffee gemacht, Butter und Erdbeermarmelade sind auf dem kleinen Tisch, nebst zwei Brettchen, zwei Kerzen und zwei Tassen. Damit ist die Fläche ausgenutzt.
»Waschmaschine steht im Keller?«
»Nee, ich schlepp die Wäsche in die Weiherstraße in die Reinigung. Kostet nicht viel und ich hab auch nicht viel.«
»Ich habe eine Waschmaschine. Du darfst sie nutzen. Ich nehme deine Wäsche auf dem Nachhauseweg mit. Ein Angebot.« Silvia streicht ein Stück Butter auf die Brezel, beißt ab, zieht die Beine auf die Sitzfläche des Stuhls und kreuzt sie. Ich rühre einen Teelöffel Zucker in den tiefschwarzen Kaffee, probiere vorsichtig. Er schmeckt köstlich, aber weckt alle noch schlafenden Zellen auf.
»Warum solltest du das tun?«
»Was? Deine Wäsche waschen? Du kannst meine Waschmaschine gerne selbst bedienen, sie steht da und wartet, hat kaum was zu tun. Ich koche Essen, du wäschst, dann essen wir was und rauchen eine Zigarette.«
»Wie so ein altes Ehepaar, was?«
»Mein Vater hat nicht gekocht. Ich schon.«
»… hat nicht gekocht?«
»Ist gestorben«, sage ich. »Im Frühjahr.« Sie sagt nichts, nickt nicht, hält nur die Brezel und schaut mich an. Als würden meine Worte sie an etwas erinnern. Dann, nachdem ich in das Laugenbrötchen gebissen habe, legt sie die Hand auf meinen Unterarm.
»Tut mir wirklich leid. Darf ich dich fragen, warum er gestorben ist?«
»Ja, natürlich.« Ich nicke zu der Flasche Rotwein auf dem Bord über der Spüle. »Deswegen.« Silvias Hand liegt immer noch auf meinem Unterarm. Was für eine Hitze sie ausstrahlt … dann steht sie auf, nimmt mir das Laugenbrötchen aus der Hand und setzt sich auf meinen Schoss, drückt sich an mich, Arme hinter dem Hals gefaltet, die zerzausten Haare auf meiner Schulter. Ich weiß nicht, was geschieht. Es ist nur ein Sonntag. Ich bin früh aufgestanden. Jetzt sitze ich hier, denke an meinen Vater und weiß nicht, was ich sagen möchte.


Silvia hat sich nach dem Frühstück auf die kleine Couch gelegt, das Gesicht zur Lehne, ist bald darauf eingeschlafen. Ich sitze in der Küche, habe das Geschirr gespült, Tisch und Spüle abgewischt und in ihren Büchern nach gutem Lesestoff gesucht. Auf einem der Stapel fand ich Bonjour Tristesse. Jetzt ist es schon Nachmittag und ich lese immer noch. In den Seiten taumeln die französischen Protagonistinnen und Protagonisten einem Endpunkt entgegen, dem Unfall von Anne. Am Ende sind sie über Bande gespielte Billardkugeln in einem Pool aus Tradition, Konvention und dem Erschnuppern von Freiheit. Allerdings haben sie das Prinzip von Freiheit nicht ganz verstanden, meine ich und lege das Buch auf den Tisch. Mein Blick geht zur Rotweinflasche, mein Denken in den Musikkeller, zu Southern Comfort mit Cola. Ich spüre einen regelrechten Durst danach.
Silvia hustet, die Couch knarrt. Sie steht auf und erscheint im Türrahmen, Abdrücke vom Kissen im Gesicht.
»Du bist noch hier?«
»Ja, hab noch gespült, Küche etwas sauber gemacht und Sagan gelesen. Hätte ich gehen sollen?«
»Nein, schon gut«, sagt sie, gähnt ausgiebig und geht ins Bad. Erst die Toilettenspülung, dann läuft der Wasserhahn. Sie kommt zurück und setzt sich auf meinen Schoss. »Normal bleiben Männer nicht, wenn es nicht gleich zur Sache geht. Geduld ist nicht ihre Stärke. Dann wird es schnell langweilig.«
Ich bin unruhig, habe keine Ahnung, was passiert. Musikkeller und zwei oder drei Gläser Southern, das würde mich jetzt beruhigen. Sie weiß nicht, wo es hier sonntags Brötchen zu kaufen gibt, hat sie gesagt. Solcherlei Mist fällt mir jetzt ein. »Darf ich dich was fragen?«
Sie nickt. »Alles.«
»Du bist nicht von hier, sonst wüsstest du, wo es am Sonntag Brötchen gibt. Richtig?«
»Stimmt.«
»Dein Dialekt ist ziemlich knackig. Aber ich kann ihn nicht zuordnen. Wo kommst du her?«
»Kommen tue ich aus Göteborg. Hab da in der Handelskammer gearbeitet. Bin vor vier Wochen zurückgekommen.«
»Göteborg? Ui …« Sie sagt etwas auf Schwedisch. Ich nehme an, es war Schwedisch. Sicher bin ich nicht. Der schwedische Koch aus der Muppet-Show fällt mir ein.
»Aber geboren bin ich im Schwarzwald. Zwischen Freudenstadt und Wolfach. Ein kleines Kaff. Beerental. Niemand kennt Beerental.«
»Beerental … zwischen Freudenstadt und Wolfach … ist das bei Alpirsbach?«
Sie schüttelt den Kopf. »Anderes Tal. Nicht der Rede wert. Muss man mich auch nicht dran erinnern. Vor zehn Jahren bin ich weg, das war’s.«
»Tut mir leid, wenn ich frage. Es interessiert mich immer, wo die Menschen herkommen und was ihre Geschichte ist.«
Silvias Augenbrauen wandern in die Stirn. »Es gibt aber viele langweilige Geschichten. Das hörst du dir immer alles an?«
»Ich glaube nicht, dass deine Geschichte langweilig ist. Viel eher denke ich, dass es tief nach unten geht und es gibt wenig Licht.«
Silvia schiebt beiseite, was ich gesagt habe. Stattdessen lächelt sie und drückt ihre Nasenspitze gegen meine. »Lassen wir das Thema. Ich würde jetzt gerne mit dir schlafen, Heinrich.« »Ich auch mit dir, aber ich werde es nicht tun.« Sie kneift die Augen zusammen.
»Warum nicht? Was spricht dagegen?«
»Ich muss erst mehr Vertrauen fassen. Sonst bin ich zugeschlossen, und das wäre weder für mich noch für dich besonders toll, nur mechanisch.«
Eine Zeit lang sieht sie mich an und nickt am Ende. »Das kann ich akzeptieren. Bist du in einer Beziehung?«
»Nein.«
»Okay, dann gehen wir etwas Vertrauen aufbauen. Wie wäre es mit einem Spaziergang im Nagoldtal? Am Bahnhof in Weißenstein ist heute Familienfest mit Eis, Kuchen und Grillfleisch. Ist für einen guten Zweck, habe ich gelesen. Wir können mit dem Bus fahren.« Silvias Augen leuchten. Das Blau überbietet sich selbst. Wie kann ich da ablehnen?