Woche eins, Tag eins

Kapitel 2

»Das sieht alles ein wenig anders aus, als ich es mir vorgestellt habe.«
»Mach dir keinen Kopf, Silvia. Das kriegen wir schon hin. Ist alles etwas gröber, aber wir sind jederzeit da, um dir zu helfen.« Von linker Seite hört man ein Krächzen, dann ein Rauschen. Abgehackte Stimmen, es rattert und wird lauter. Ein Waggon schiebt sich langsam an uns vorbei. Auf dem rechten Puffer steht ein Rangierer, die Fernsteuerung der Lokomotive vor dem Bauch. Er grüßt durch Nicken. Ein zweiter Waggon, der dritte und am Ende die Nummer vier. Sie werden langsamer, dann kommen alle mit einem kurzen Quietschen zum Stehen, es zischt. Die Druckluftbremsen gehen zu. Der Kollege vom Rangierdienst kommt, erzählt seinem Fahrdienstleiter, dass die Waggons im Gleis sind. Mit Knopfdruck kuppelt er ab. »So, Kollege!« Ein Blick zu Silvia. »Und Kollegin. Macht die Dinger schnell leer. In ner halben Stunde will ich rausziehen, halbe Stunde später kommt auf eins der Eilzug nach Stuttgart. Bis dahin will ich die zweite Fuhre drin haben.«
»Ich ruf dich an«, sage ich. Er geht mit erhobener Hand Richtung Lokomotive. Silvia tippt auf meinen Unterarm.
»Schaffen wir das?«
»Klar, geh mal bitte in die Halle und hol die beiden anderen. Ich mache die Waggons auf.« Sie läuft Richtung großer Halle. Ich durchtrenne die Plomben, entriegle die Türen, schiebe sie auf, lege die Alurampen in die Einhängung. Alle vier sind voll, in jedem 24 Behälter. Stimmen hinter mir. Richard und Klaus umkreisen Silvia. Woher kommst du? Heute angefangen? Und gleich Nachtdienst? Bist du jetzt immer bei uns? Ein Blick auf die Uhr ist angebracht. Die Zeit läuft. »Redet nicht so viel wirres Zeug!«, sage ich so laut, dass sie mich gut verstehen können. »Die Waggons müssen in dreiundzwanzig Minuten leer sein!«
»Jaja, keine Panik«, sagt Richard, zieht an den dehnbaren Hosenträgern der Latzhose und grinst. Ich erkläre Silvia die Behälter im Schnelldurchgang.
»Du musst ganz besonders beim Lösen der Bremse aufpassen!«, betone ich, die Hand an der Bremse. »Diesen Griff immer gut festhalten. Immer. Es kann vorkommen, dass er zurückschlägt und deine Fingernägel entfernt.«
»Ist gut. Ich passe auf.« Wir fangen an. Silvia schaut zu, was wir tun, wie wir es tun. Nach ein paar Augenblicken hat sie es verstanden, und erledigt die Arbeit, als täte sie nie etwas anderes. Manch besonders schwerer Paketbehälter oder einer mit kaputten Rollen widersetzt sich, aber wir ziehen ihn zusammen aus dem Waggon. Die Zeit ist knapp, aber eine Minute vor Ende der Vorgabe sind wir fertig. Wir hängen die Rampen aus und verschließen die Türen.
»Ich hole die Papiere«, verkündet Richard und ist zwischen zwei Waggons verschwunden.
»Was für Papiere?« Silvia streckt sich und sieht mich dabei an.
»Auf der anderen Waggonseite sind Frachtpapiere. Die müssen wir einsammeln. Aber das kann gefährlich werden, wenn gerade ein Zug vorbeifährt. Das erledigt also immer einer der alten Hasen.«
»Nicht auf die andere Seite gehen. Kann ich mir merken«, wiederholt sie. Der Weichenmotor ist deutlich zu hören, das Klacken, wenn die Schiene arretiert.
»Sie kommen«, sagt Klaus.


»Das Neonlicht ist furchtbar«, stellt Silvia fest. »Draußen stockdunkel, hier drin dieses grelle Licht. Da wird man auf Dauer doch blind, oder?« Sie beißt in eine Käsestulle, kaut und sieht uns der Reihe nach an.
»Frag mich«, sagt Richard. »Ich mach das jede Nacht. Schon seit zwei Jahren.« Silvia hebt die Augenbrauen.
»Seit zwei Jahren Nachtdienst? Hier drin?«
»Freiwillig«, ergänzt Klaus.
»Depp!«, erwidert Richard. »Wer macht schon freiwillig zwei Jahre Nachtdienst hier?« Silvia fängt meinen Blick auf.
»Er braucht das Geld«, sage ich. »Viele Kinder, Haus gebaut, das würde man nicht hinbekommen als normaler Posthauptschaffner.«
»So ist es«, bestätigt Richard.
»Wie viele Kinder hast du denn?«, hakt sie nach.
»Zu viele …«, wirft Klaus ein.
»Sieben Kinder, zwei Hunde und eine Frau.«
»In dieser Reihenfolge«, ergänze ich.
»Und einen Schwager mit Getränkehandel«, sagt Klaus. »Deswegen sind unsere Bestände immer gut gefüllt.«
»Welche Bestände?« Silvia steckt sich den Rest der Käsestulle in den Mund, kaut und lehnt sich zurück. Klaus grinst und Richard öffnet ein weiteres Export.
»Na, die Bierbestände!«, kommt es von beiden gleichzeitig. Silvia zündet eine Lucky an und inhaliert tief.
»Aha. Ich habe mal gelesen, dass Alkohol verboten ist bei der Bundespost«, sagt sie und schaut uns an. Wir müssen lachen. Herzlich und ausgiebig.
»Der war gut«, stellt Richard fest und Silvia grinst. Dann zwinkert sie mir zu. Wäre ich nicht gerade still, würde ich es jetzt werden.
»Wie lange ist noch Pause?«, will sie wissen, zieht an der Lucky und nimmt sich ebenfalls ein Export, legt zwei Mark auf den Tisch. Mit dem Feuerzeug hebelt sie den Kronkorken ab.
»Bis die Aufsicht kommt«, sagt Klaus. »Also eine Viertelstunde vorher fangen wir wieder an. Manchmal kommt sie auch nicht, ruft nur an und will wissen, ob alles in Ordnung ist und wie viele Pakete kommen werden.«
»Und wann kommt die Aufsicht?«
Richard schaut auf die Uhr. »So gegen 4:30 Uhr. Gegen 5:00 Uhr werden noch mal Waggons ins Gleis geschoben, falls noch welche da sind oder der Nachtzug ein paar gebracht hat. Um 5:30 kommen dann die Kollegen. Meist gehen wir dann nach Hause.« Jetzt schaut Silvia ebenfalls auf die Uhr.
»Das heißt, wir haben jetzt frei?«
Ich nicke. »Jeder von uns muss dreißig Behälter in der Nacht verteilen. Je nach Inhalt und unserem Zustand, schaffen wir die bis Mitternacht. Soll erfüllt. Du läufst noch außerhalb der Reihe.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Also ich leg mich aufs Ohr«, sagt Richard. Klaus nickt und trinkt seine Flasche leer. »Ich auch. Muss noch Schlaf nachholen vom Wochenende.«
»Und du?« Silvia sieht mich an. Aus dem Rucksack nehme ich ein Buch.
»Ich setze mich raus auf die Rampe und lese ein Buch. Ein zweites habe ich immer dabei, falls du was lesen möchtest?« Silvia seufzt und schaut wieder auf die Uhr.


Einen der Paketbehälter, die wir nach dem Leeren zusammengeklappt und auf Seite gestellt haben, ziehe ich auf die Rampe, bis vor an das Einhängeprofil, direkt ans Gleis, klappe ihn auf, lege den Bremshebel um. Boden und Rückwand polstere ich mit Dutzenden von Postsäcken aus. Eine Art rudimentärer Sessel, aber sehr bequem. Da hinein setze ich mich, strecke die Beine aus und trinke einen Schluck vom Export. Aus dem Hosenbund ziehe ich einen Bukowski-Roman, den ich vor einigen Tagen gekauft habe, Das Liebesleben der Hyäne. Im Westen eine Kette roter Lichtsignale, der Bahnhof. Im Osten die beiden Gleise Richtung Mühlacker. Ein Signal zeigt Fahrt. Im Neonlicht fällt das Lesen leicht. Nach kurzer Zeit kommt Silvia, steht vor mir und mustert das Möbelkonstrukt.
»Das sieht sehr professionell aus«, stellt sie fest. »Ist da noch Platz für mich?«
»Jederzeit.« Ich rutsche ein Stück nach rechts, sie setzt sich, streckt die Beine lang, bietet mir eine Camel an, die ich dankend nehme.
»Was liest du?«
»Bukowski, Das Liebesleben der Hyäne
»Ist das gut?«
»Aus dem prallen Leben. Lustig, traurig, fatalistisch, pragmatisch, voller Alkohol, Gefluche und unmöglicher Situationen.«
Sie lacht und zündet unsere Kippen an. »Also hat er ein Buch über mein Leben geschrieben?«
»Ich weiß nicht, wie dein Leben ist. Es gibt aber viele Parallelen zur Post. Ich lese dir mal eine Stelle vor. Pass auf …«
Silvia trinkt, inhaliert und schaut mich von der Seite an. Ich blättere zurück zur Stelle mit dem Korbstuhl, dem Monster, wie Bukowski schreibt. Seine Freundin hat ihn verlassen und er will endlich alle Möbel von ihr aus der Wohnung haben. Weil sie das nicht schafft, lädt er seinen Käfer voll Klamotten, Kisten und am Ende den monströsen Korbstuhl aus Weiden geflochten. Der aber passt nicht mehr in den Käfer. Bukowski will das nicht einsehen, schiebt, drückt, wird wütend, mit aller Kraft presst er und zwei Beine des Stuhls fressen sich knirschend durch die Windschutzscheibe. Auch egal, denkt er und fährt durch halb Los Angeles mit den Stuhlbeinen aus der Scheibe ragend. Natürlich lachen ihn alle Menschen aus, die das sehen. Und Geld für eine neue Scheibe hat er nicht. Als er ankommt, sagt seine Freundin, dass sie wieder einzieht und er fährt alles wieder zurück in die Wohnung. Ein paar Tage später ist sie wieder weg, aber dieses Mal wirft er den ganzen Plunder einfach aus dem Fenster im zweiten Stock. Auf den Rasen. Die Nachbarschaft kommt und bedient sich.
Ich schweige und trinke ein Viertel vom Export. Vorlesen macht durstig. Silvia lacht. So ein Lachen, in das man sich gerne hineinlegt. Als sie sich beruhigt hat, schüttelt sie den Kopf. »Und das ist Literatur?«
»Eine Frage, die sich nicht stellt, aus meiner Sicht. Es ist das Leben. So wie es jeden Tag passiert. Ich mag solche Geschichten. Da ist immer was tragikomisches drin.«
»Und dein zweites Buch?«
»Steinbeck, Die Perle. Hab ich vorgestern gekauft.«
»Steinbeck, ja, kenne ich. Jenseits von Eden und Von Menschen und Mäusen
»Genau. Straße der Ölsardinen …«
»Okay, gib mal her, das Buch. Dann lese ich auch eine Runde. Kann ja nicht schaden.«
Silvia bekommt Steinbeck. Von Westen kommt ein Dreispitzlicht. Es wird lauter. Ein Güterzug. Kesselwagen, vierachsig, mindestens vierzig. Keine zwanzig Meter entfernt. »Junge, Junge«, sagt Silvia. »Da bekommt man ja Angst. Stell dir mal vor, so ein Waggon entgleist, die Oberleitung entzündet, was da drin ist, dann steht hier vielleicht kein Stein mehr auf dem anderen.«
»Und wir sind vaporisiert«, sage ich. Sie nickt.
»Schönes Wort, vaporisiert, das gefällt mir. Auf dem Grabstein steht dann: Hier ruht Silvia Ketterer. Sie wurde vaporisiert.«
»Die Friedhofsbesucher werden nach Hause gehen und im Brockhaus nachschlagen, was das heißt. So könnten sie noch was lernen«, sage ich und schaue nach Osten. Ein Zug ist in der Ferne zu sehen.
»Sag mal, Heinrich, wie alt bist du?«
»Fünfundzwanzig.«
»Fünfundzwanzig … also könnte ein Viertel deines Lebens vorbei sein.«
»Oder ein Drittel.« Ich denke an die nächsten fünfzig Jahre. »Ich weiß nicht, ob ich das so lange durchhalten will.« Silvia nickt, schnippt die Camel aufs Gleis und trinkt leer. Sie lehnt sich an mich.
»Darf ich? Bin auf einmal ziemlich müde.«
»Ja, kein Problem.«
Sie zieht einen der Säcke von der Seite, deckt sich zu und schließt die Augen. Ihr Kopf wärmt meinen Oberarm. Bukowski lernt eine neue Frau kennen, eine Rothaarige, die besser und ausgiebiger flucht, als die nächsten zehn Rohrspatzen. Ein Rumpeln von rechts. Zwei Lokomotiven schälen sich mit Getöse aus dem Dunkeln, auf den Waggons Panzer, amerikanische M60. Silvia schläft schon tief und fest. Friedlich. Es wird keinen Krieg geben.


Das Schönste am Nachtdienst ist der anbrechende Morgen, die Stille vor dem Erwachen des Lebens, wenn der heller werdende Horizont Vögel weckt, hinter Fenstern Licht angeschaltet wird, müde Menschen sich auf die Arbeit freuen oder nicht wissen, wie sie ihr entkommen können. Der Frühdienst ist pünktlich, alle sitzen in der Halle, trinken ein letztes oder erstes Export. Ich entferne die Frachtpapiere von den neuen Waggons, aktualisiere die Statistik im Hauptdienstbüro. Der Anruf von drüben kommt. Informationen austauschen. Vier LKW haben wir vollgemacht, alle sind da, niemand krank. Noch drei Waggons in der Abstellung, werden gegen neun Uhr gebracht. Die Neue hat sich sehr gut gemacht. Zu hundert Prozent für den Job geeignet. Ein Gute Nacht, dann lege ich auf. Sie werden Silvia in die Gruppe stecken. Zumindest für die nächsten zwei Wochen, da bin ich sicher. Mit der Kippe im Mund schlendere ich zur großen Halle, die Stadt erwacht. Mehr und mehr Fahrzeuge, Kehrmaschine auf der Nordstadtbrücke, Linienbusse und von Westen kommt der nächste Güterzug.

Die Kollegen rätseln, ob unsere drei Spanienurlauber nun wirklich mit einem Magen-Darm-Virus im Krankenhaus sind, oder das eine clevere Maßnahme zur Urlaubsverlängerung ist. Silvia hängt wie betrunken auf dem Stuhl. Ich tippe auf ihre Schulter. Sie schaut hoch.
»Komm, ich fahre dich nach Hause.« Ein Kopfnicken, zusammenpacken. »Bis heute Abend. Grillen wir?«
»Können wir machen«, sagt Richard. »Wer ist dein zweiter Mann heute Abend?«
»Uwe hat Tag eins. Ruf du ihn an. Ich bringe Baguette, Salat und ne Flasche Jim Beam mit. Fleisch kann Uwe von seinem Bruder besorgen. Holzkohle ist noch im Keller.« Richard nickt zu Silvia. »Ist sie heute Abend wieder mit dabei?«
»Schätze schon. Die nächsten Tage soll sie bei mir mitlaufen, laut Eberlein.« Ich hebe die Hand und mache mich auf den Weg. Silvia trottet mir nach. Die Nacht hat sie erledigt. Zwischendurch zwei Stunden schlafen bringt bei manchen Menschen das System mehr durcheinander, als wach zu bleiben. Im Opel schraubt sie umgehend die Lehne nach hinten.
»Wohin soll ich dich bringen?«
»Steubenstraße, gleich das zweite Haus nach der Schmuckfirma.«
»Steubenstraße? Ist ja nicht weit von mir.«
»Wo wohnst du?«
»Benckiserstraße 22, das Haus nach der Brücke.« Das hört sie nicht mehr. Ihre Augen schließen sich. Ich hoffe, sie fällt nicht in den Tiefschlaf und ich bekomme sie noch aus dem Auto. Silvias Kopf an meiner Schulter kommt mir in den Sinn. Eine angenehme Erinnerung. Vertraut und doch schon wieder weit weg. Nachtdienst hat die seltsame Angewohnheit, Erinnerungen fern in die Vergangenheit zu schieben. Man lebt in einer parallelen Zeitlinie. Kommt die Sonne, wechselt man wieder ins gewohnte Leben. Silvias Hand rutscht von ihrem Schoss auf die Handbremse. Vorsichtig lege ich sie zurück und fahre los.