Wo sind wir

Kapitel 21

Ich lasse die Tasten der Triumph-Adler glühen. Gedicht um Gedicht haue ich aufs Papier. In der Holzgartenstraße habe ich einen Drucker kennengelernt, der mir die Worte zu einem Buch bündeln will. Der Preis ist okay, wenn ich mindestens einhundert abnehme. Dann klingelt das Telefon. Die Melodie hatte ich schon ganz vergessen. Kurz warten, dann hebe ich ab.
»Finanzamt Pforzheim, Vollstreckungsstelle, Apparat Heinrich.«
»Hallo?«
»Möchten Sie vollstreckt werden?«
»Hallo? Heinrich? Ich bin’s, Alexander.«
»Du bist es. Wie ist die Lage?«
»Gut, gut. Hast du frei?«
»Es ist Samstagnachmittag, also, ja, für heute habe ich frei.«
»Ich möchte dich einladen. Wo gehen wir hin?«
»Einladen zu was?«
»Egal. Eis oder Essen oder was trinken oder alles zusammen …«
»Junge! Du bist ja richtig enthusiastisch! Also, dann laufe ich jetzt zum Spanier. Weißt du, wo das ist?«
»In der Westlichen.«
»Du brauchst länger als ich. Treffen wir uns in ner knappen Stunde, okay? Dann kann ich noch duschen.«
»Ist gut, Heinrich. Ich mach mich auf den Weg.« Es klickt in der Leitung. Den Hörer lege ich auf den Tisch und tippe weiter, aber etwas hat mich aus der Strömung getragen. Die Wohnung ist still, das ganze Haus ist still. Meist alte Leute, keine Kinder, nur ich als Jungspund. Mir soll es recht sein. So gibt es keine Probleme. Nichts ist schlimmer als laute Nachbarn. Seufzend stehe ich auf, fülle in der Küche ein Glas mit Southern und trinke es langsam, am Fenster stehend. Fast wolkenlos, keine Hitze. Wind bewegt die Bäume am Enzufer. Ich kippe das Fenster. Das Rauschen der Furt ist augenblicklich um mich und füllt den Raum. Noch ein Glas, dann werde ich in der Duschwanne das Porzellan nicht mehr berühren.

Ich bin zu früh und in eine Wolke aus Lagerfeld eingehüllt. Kaum jemand mag dieses Parfüm. Ich schon. Eine Tasse Milchkaffee steht vor mir, das erste Spiel der spanischen Liga hat bereits begonnen, aber nur wenig Zuschauer sind im Raum. Der Wirt trocknet Gläser, schaut ab und zu auf die Mattscheibe, schüttelt jedoch meist den Kopf. Ich rauche eine Schwarze Hand, schlürfe am Kaffee und denke ans Schreiben. Mehr als zweihundert Gedichte habe ich inzwischen. Und zwei Kurzgeschichten, aber die halte ich noch für zu blass. Was müsste ich tun, um nur noch die Schreibmaschine zu benutzen? Am Ende führt kein Weg vorbei an einem Roman. Wir sind nicht in den Vereinigten Staaten, wo die Kurzgeschichten einen ähnlich hohen Stellenwert innehaben wie die Novelle, der Roman. Ich lebe im Land der Hardcore-Germanisten, den Jüngern Schillers, Goethes und Hölderlins. Ich bin nicht als Teil der Familie Mann aufgewachsen und habe kein Talent, eine Buchseite mit einem einzigen Satz zu füllen. Jedenfalls habe ich so eine Fähigkeit bisher nicht entdeckt an mir. Ich kann nur beschreiben, in welche dunkle Ecke sich meine Seele verkrochen hat.

Die Tür geht auf, Alexander kommt herein. So langsam beginnt er wieder auszusehen, wie ich ihn in Erinnerung habe. Meine Hand hebt sich wie von selbst und er lächelt, geht die paar Meter, setzt sich und atmet tief ein, obwohl die Atemluft hier drin rauchgeschwängert ist.
»Tolle Atmosphäre hier.«
»Ja, bin recht oft hier zum essen. Einfach, gut und nicht teuer.«
Er setzt sich aufrecht und legt beide Hände flach auf den Tisch. Zweimal nickt er. Offenbar gibt es Wichtiges.
»Ich habe eine Arbeit.« Bevor ich etwas sagen kann, hebt er die Hand. »Kann sein, dass es nicht ganz das ist, was du als normal empfindest. Aber ich verdiene gut und ab dem nächsten Monat kann ich mein Leben selbst in die Hand nehmen.« Der Wirt stellt sich an die Stirnseite des Tischs, nickt Alexander zu und lauscht.
»Einen großen Apfel-Schorle, bitte.«
Ich bestelle gleich mit. »Bring bitte eine Flasche vom 85er Rioja, zwei Gläser und für mich eine doppelte Portion gegrillte Scampi, Hirtensalat, extra Zwiebelringe und Knoblauchbaguette.«
»Und für den Herrn?«
»Das klingt gut. Ich nehme das auch. Danke.«

Er verschwindet, kümmert sich um den Wein, gibt die Essensbestellung in die Küche, dann kommen zwei Gläser und eine rote Flüssigkeit in einer Dekantierkaraffe. Alexander schürzt die Lippen.
»Das macht man, damit der Wein atmen kann, oder?«
»Ja, und er muss Temperatur annehmen. Aber ich bin jetzt wirklich gespannt auf deinen Job.«
»Okay, also … ich habe beim Hauptfriedhof angefangen. Leichen waschen, ankleiden, schminken, was man halt so macht, wenn die Angehörigen einen nett zurechtgemachten Toten sehen wollen.« Das lasse ich mir auf der Zunge zergehen. Leichenwäscher. Noch einmal: L-e-i-c-h-e-n-w-ä-s-c-h-e-r. »Du bist schockiert, stimmt’s?«
»Nein, eher überrascht. Ich habe dich 15 Jahre nicht gesehen, weiß also nicht, ob du so eine Arbeit ohne Probleme erledigen kannst oder nicht. Ich meine, da kommen ja auch mal weniger gut aussehende Leichen. Unfälle mit dem Motorrad, in die Kettensäge gefallen, von der Lokomotive überrollt …«
»Kommt vor.«
»Man darf nicht labil sein, denke ich. Und muss ein gewisses, wie soll ich sagen, intensives Interesse für die bleichen Damen und Herren haben, oder?«
»Also, mein Chef sagt, er prüft Bewerber immer auf Herz und Nieren und schon beim Vorstellungsgespräch sind wir ins Kühlhaus. Er hat mir diverse Exemplare gezeigt. Das war okay.«
»Zeigen und den Schniedel waschen ist aber ein Unterschied.«
»Ich werde es auf jeden Fall versuchen …«
»Und Kinder«, sage ich noch. Alexander schluckt. Aber er will es. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. »Na gut, also, wenn es dir schwerfällt und du loswerden willst, was an Bildern durch deinen Kopf geistert, dann klingelst du durch. Ich bin da.«
Er ruckt vor zur Tischkante. »Danke, Heinrich … wirklich. Ich glaube, es war Karma, dass wir uns begegnet sind.« Ich finde, der Rioja hat genug geatmet und schenke uns beiden ein. Alexander will trinken. Ich schüttle den Kopf, nehme das Glas, schwenke und rieche, zweimal, dann probiere ich einen kleinen Schluck. Im Mund in jede Ecke drücken. Er macht es mir nach.
»Schmeckt fantastisch«, stelle ich fest. »Im Übrigen glaube ich nicht an Karma oder anderen Quatsch.« Die Scampi kommen. »Jetzt drehen wir erst mal diesen niedlichen Tierchen den Kopf ab.«


Kurz vor Mitternacht sitzen wir hinter der Feuerwehr an der Enz. Ganz fit bin ich nicht mehr. Zwei Flaschen Rioja, vier Osborne und zwei Jacky-Cola ist zu viel durcheinander. Alexander hat sich zurückgehalten. Immerhin hat er sich einverstanden erklärt, dass ich die Getränke übernehme, denn die Rechnung hätte sein Budget gesprengt. In einem Atemzug küsst er meine Wange und legt den Arm um mich.
»Du hast gesagt, du glaubst nicht an Karma. Aber wir haben uns doch getroffen, nicht wahr?«
»Haben wir. Zufall. Da du wieder in Pforzheim bist, wären wir uns früher oder später über den Weg gelaufen. Ist ja ein Dorf.« Er wirft ein Stück Holz Richtung Wasser. Es verschwindet im Dunkeln.
»Aber uns verbindet etwas«, nimmt er den Faden wieder auf. Ich lehne mich an, strecke die Beine aus und atme tief ein. Das Essen war mal wieder herausragend. Ich weiß jetzt, wie Alexanders Ex aussieht, der kleine Marc, Bilder von der Geburt, alles lacht und ist froh.
»Da hast du verdammt recht. Das tut es. Es hat uns zusammengeschweißt. Vermutlich ewig.«
»… vermutlich ewig«, wiederholt er. »Wenn mein Alter nicht im Suff gestorben wäre, hätte ich ihn umgebracht. Mein Plan stand fest. Weißt du das?«
»Nein, wie sollte ich das wissen. Über so was haben wir nicht geredet. Hätte ich aber mitgemacht. Deinen Bruder und dich in Sicherheit bringen, das haben wir getan. So viel haben wir schon kapiert.«
»Ja, Erik … er hat dir meist die Tür geöffnet. Weiß ich noch. Ich hab mich im Bad verkrochen.«
»Was ist eigentlich mit deiner Mutter?«
»Hat wieder geheiratet. Vier oder fünf Jahre später. Einen Nichtsnutz.«
»Lebt also noch?«
»Schon, aber wir haben keinen Kontakt mehr, seit sie weiß, dass ich … na, du weißt schon.«
»Dass du schwul bist.«
»Ja. Ich dachte immer, das kommt, weil … also … keine Ahnung, Heinrich. Ich krieg die Bilder nicht aus dem Kopf. Du etwa?«
»Ich bearbeite sie. Zeile für Zeile. Wort für Wort. Jeden Buchstaben habe ich mir gemerkt.«
»Weiß das jemand?«
»Du, ich und diejenigen, die uns das angetan haben.«
»Ja, deswegen habe ich gedacht, ich bin so, weil sie uns das angetan haben. Und, ob du es glaubst oder nicht, aber bisher hat mich noch keiner da hinten berührt. Vorne, ja, aber hinten … es tut schon weh, wenn ich auch nur dran denke.«
»Das glaube ich dir aufs Wort, Alexander. Ich habe Hämorrhoiden. Blutet immer wieder. Nur ich darf mich eincremen. Also, es verbindet uns. Bis wir nicht mehr sind.« Er drückt mich an sich. So war es vor fünfzehn Jahren. Ich erinnere mich. Auf dem Spielplatz, auf dem Schulhof, wir waren eins. Er hatte den Arm um mich gelegt, ich meinen um ihn. Gelacht haben wir zusammen. Und geweint. Jetzt tue ich das auch, den Arm um ihn legen und fest an mich pressen.
»Oh je«, sagt er. »Du hast ganz schön Kraft. Ein bisschen weniger stark wäre mir lieber. Krieg ich Panik sonst.«
»Entschuldigung. Kein Problem, Alexander.«
»Erik fehlt«, sagt er leise.
»Fünfzehn Jahre fehlen«, sage ich.


Ich stelle Kaffee auf.
»Du verträgst einiges, kann das sein?«
»Ach, das darf man nicht überbewerten. Ist unterschiedlich bei den Menschen, weißte doch. Mal mehr, mal weniger.«
»Kann ich bei dir schlafen?« Ich schau ihn an. Bald ist er es wieder, der Alexander mit der ungezähmten Lockenmähne. Wahrscheinlich wird er eine Haube tragen müssen, wenn er Leichen zurechtmacht.
»Warum nicht? Bist du müde? Ich hole Kissen und eine dünne Decke. Ist ja warm. Es sei denn, du frierst schnell, dann gebe ich dir lieber einen Schlafsack …«
»Nein, nein. Dünne Decke genügt.«
»Gut. Du weißt ja, wo und wie, an der Couch hat sich nichts geändert. Ich trinke noch in Ruhe einen Kaffee.«
»Jetzt noch Kaffee? Ich würde die ganze Nacht durch die Wohnung laufen und mit den Fingern schnippen oder den Zähnen knirschen.«
Fast muss ich lachen, aber es wird nur ein Rauspressen der Luft. Er steht auf, hält kurz inne, dann geht er ins Wohnzimmer. Wo sind eigentlich die Tränen, wenn man sie braucht? Es blubbert, gurgelt, dann ein letztes Zischen. Der Espresso duftet. Ich gieße eine kleine Tasse voll, rühre Zucker ein und greife nach dem Schreibblock auf dem Regal. Auf dem Tisch liegt der Füller.

Toller Abend
Kneipe / Kumpels / Freunde
Freundinnen / Lachen / Witze
Fassade vorher
geduscht und gebürstet
Toll Super Astrein
Arbeit Urlaub / Fernseher neu
Politik scheiße / Trinken
auf Schultern klopfen
Nach Hause gehen / Allein
Nichts geschieht / Nur Tränen
hinten im Bus

Heinrich, 1987

Es ist die Stunde des Schreibens. Die Stille der Worte. Ich weiß gar nicht, wann all die Buchstaben begonnen haben aus mir herauszufließen. Ich kann mich gut erinnern. Volksschule Dillweißenstein. Wenn es hieß, schreibt etwas, dann habe ich geschrieben, geschrieben und immer weiter geschrieben; was natürlich entsprechend negativ kommentiert wurde. Die blühende Fantasie des Jungen, nett. Aber das wird ihm später im Beruf auf die Füße fallen. Zügeln, fokussieren. Konzentration. Ich bin konzentriert. Ich kann acht Stunden schreiben und verliere keine Sekunde die Konzentration. Aber sie hatten recht. Das mit dem Leben gibt nix.

Dich
Mich wehren / dagegen stemmen
Verdrängen und / weit weg schieben
In Southern Comfort ertränken
aber ich kann dich
nicht vergessen / Ich muss
an dich denken / Hab Angst
vor der Zeit wenn du aus
meinem Kopf
verschwunden bist
mein Herz verlassen hast
es dich nicht mehr gibt
Ein erloschenes Feuer
im Frühnebel

Heinrich, 1987

Ich lausche. Von Alexander ist nichts zu hören. In einem Zug kippe ich den Espresso, schalte das Licht aus, putze die Zähne und gehe ins Bett.


Das Fenster ist offen, die Furt rauscht. Was sonst ein bewährtes Einschlafmittel ist, treibt mich gerade in den Wahnsinn. Der Alkoholnebel lichtet sich mehr und mehr. Ich bin gefangen zwischen den Bildern. Sequenzen und mitten drin ich. Eine infernalische Wut reißt mich entzwei. Es ist die Wut. Sie ist es, die mich treibt. An nichts kann ich mich so kristallklar erinnern, wie an die Wut. Eines Tages beschloss sie, zu bleiben. Sich häuslich einzurichten in einem Teil meines Herzens. Ich kann nicht atmen und richte mich auf. Im Türrahmen steht ein Schatten.
»Heinrich … was ist denn los? Du hast nach jemand gerufen.«
»Alexander, Mann! Du hast mich erschreckt! Ich hab noch gar nicht geschlafen. Dass ich gerufen hätte, wüsste ich aber …«
»Nach einer Silvia …«
»Echt?«
»Mh.«
Wir sagen nichts mehr. Er im Türrahmen, ich angelehnt an das Rückenteil. Ein schwacher Luftzug kommt durchs gekippte Fenster.
»Kann ich mich zu dir legen?«
»Gerne.«
Alexander kommt. Nackt. Wie ich es bin. Ich muss ihn in den Arm nehmen. Und er mich. Wir sind wieder acht.
»Ich möchte nichts von dir, Heinrich. Nur halten.«
»Ich weiß, nur halten.« Ich rutsche neben ihn, Kopf an Kopf. Die rauen Narben sind überall. Ich will sie nicht spüren, denn sie bedeuten Gewalt.
»Ich verstehe wirklich nicht, warum du so bist, wie du bist. Wie du so sein kannst?«
»Wie bin ich denn?«
»Bist bei der Post, gehst jeden Tag arbeiten, hast eine Wohnung, im Kühlschrank ist was drin, Rechnungen bezahlt …« Er schweigt für einen Atemzug. »Na gut, du schreibst Gedichte. Ich habe ein paar gelesen, aber den Rest habe ich nicht geschafft. Die gehen mir zu nah.«
»Und du?«
»Und ich?« Er lacht kurz. Ich kann es mir nicht verkneifen. Mit dem Zeigefinger beginne ich an einer Narbe, fahre sie nach, wechsle zur nächsten, eine nach der anderen, es hört gar nicht auf.
»Und du bist zärtlich«, sagt er, statt einer Antwort auf meine Frage. »Hast du von diesen Jungs mal wieder welche gesehen?«
Ich nicke im Dunkeln. »Hab ich. Zwei. Von einem weiß ich genau, dass er mich erkannt hat, oder besser: nie vergessen.«
»Würdest du ihnen etwas antun?«
»Nein. Täte ich das, wäre ich in diesem Augenblick nur eine Kopie dieser Kerle.«
»Aber …« Alexanders Stimme ist weg, hat einfach versagt.
»Sage ich: Denk nicht mehr drüber nach, wäre das ein dämlicher Rat, denn das wirst du. Du wirst bald gutes Geld verdienen. Musst du nicht Unterhalt zahlen? Konzentrier dich darauf. Konzentrier dich auf deinen Sohn. Du bist nicht so wie dein Alter, nicht so wie diese Kerle. Dein Sohn braucht dich, nicht diese Idioten. Genau das ist anders. Wir sind anders, Alexander.« Doch er wird sich die Gedanken machen. Ebenso wie ich. Wir beide werden das tun. Dieses gemeinsame Band ist in uns. Alexander weint nicht. Er ist wohl einfach leer. Ich bin es ebenfalls.