Regentag

Kapitel 5

Ich weiß gar nicht, ob ich mit Silvia zusammen bin oder wir nur eine Art symbiotische Gemeinschaft bilden. Die Sache mit dem Schäfermesser hat mir zu denken gegeben. Allerdings sind all diese Überlegungen hinfällig bei dem Regen. Immerhin schützt mich der 508er vor dem Nasswerden. Ich stehe vor der Metzgerei, schreibe die Paketnummern ins Büchlein, dann nehme ich alle vier auf den Arm. Hinten kann ich nicht raus, wegen der Mülleimer. Mindestens einen habe ich vorsichtig touchiert beim Rückwärtsfahren, aber der Kerl vor mir muss ja aus der Parklücke kommen. Ich verlasse den Wagen ungern durch die Seitentür, denn diesen Platz nutze ich fürs Sortieren der Pakete. Aber nichts zu machen. Hinten muss zu bleiben. Ich springe aus der Seitentür fast bis zum Eingang und bin schon drin im Geschäft. Es bimmelt dreimal. Die Metzgersfrau kommt und setzt ihr freundlichstes Gesicht auf.
»Ach, Sie sind’s. Haben Sie was für uns?«
»Hab ich. Vier mal unfrei. Macht acht Mark achtzig.« Sie öffnet die Kasse, holt einen Zehner raus. Ich gebe ihr Quittungsbeleg und Rausgeld. »Könnten Sie mir bitte drei Salamibrötchen machen? Mit ordentlich Salami drauf, bitte.«
»Aber ja doch, junger Mann. Sogar für umsonst, wenn Sie mir drei Pakete mitnehmen. Paketkarten habe ich schon ausgefüllt. Gehen unfrei.«
»Klar, nehme ich mit.«
Sie lächelt, beugt sich weit vor in die Auslage und nimmt einen Berg Salami vom Blech. »Die hat mein Mann nach altem Rezept gemacht«, sagt sie stolz. Ich kann kaum erwarten, sie zu probieren. Alle drei Brötchen steckt sie in eine Tüte und winkt mich hinter die Theke. »Die Pakete stehen hier.« Sie sind elend schwer.
»Was ist denn da drin, um Gottes willen?« Eines nach dem anderen stelle ich auf den kleinen Tisch neben dem Eingang. Ich bin nicht sicher, ob sie nicht zu schwer sind.
»Büchsenwurst. Schicken wir immer zu meiner Schwester nach Trier. Dort gibt es ja keinen guten Metzger, sagt sie immer.«
»In Trier gibt es keinen guten Metzger?« Sie zuckt mit den Schultern. »Halten Sie mir bitte die Tür auf?« Das tut sie und ich wuchte die Pakete in den Wagen, neben den Radkasten. Sie hebt die Hand.
»Danke.«
»Gerne. Und meinen Dank für die Brötchen.«
Der Regen trommelt aufs Dach, als plant er es zu durchlöchern. Der Nachteil eines so großen, leeren Fahrzeugs bei Regen: Man hört nicht mehr, was vor sich geht. Ich starte und fahre los. Es scheppert und bollert, vier Mülleimer fliegen und rollen über die Straße in alle Richtungen. Ich weiß nicht, was gerade passiert, denn diese Mülleimer hatte ich vor einer Viertelstunde hinter dem Wagen. Im Rückspiegel bremst ein Mercedes und hupt. Er hupt immer noch, als ich aussteige und im selben Moment rutscht der Stadtbus mit Vollbremsung über den nassen Asphalt und zerquetscht einen Mülleimer unter dem Vorderrad. Die Menschen im Bus drückt es nach vorne und gleich wieder zurück. Er kommt zum Stehen. Die Seitenscheibe geht auf. Der Fahrer sieht wütend aus. Zuerst kommt ein Schrei, dann lautes Fluchen. Bei der Bundespost werden offenbar nur Idioten eingestellt, die den Führerschein bei Neckermann machen. Der Reifen sei sicher kaputt, das würde teuer werden und so weiter. Die Fahrgäste amüsieren sich. Ich nicke fortwährend. Der Mercedes-Fahrer steht neben mir und schaut mich streng an. »Räumen Sie das doch mal weg! Ich muss zur Arbeit!«
Zweihundert Meter weiter vorne steht die Müllabfuhr. Mir geht ein Licht auf. Die Mülleimer wurden geleert, dann vor dem Wagen abgestellt, nicht dahinter. Aus der Tasche nehme ich Visitenkarten. Eine gebe ich dem Busfahrer.
»Hier, rufen Sie die Nummer an. Ist die Schadenregulierung.« Die Metzgersfrau kommt auf die Straße und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
»Unsere Mülleimer! Um Gottes willen! Und jetzt?« Hinter dem Bus wächst der Stau. Ich ziehe den flachen Mülleimer unter dem Rahmen hervor und lege ihn auf den Bürgersteig.
»Die Mülleimer gehören der Stadt. Rufen Sie einfach an und sagen, ein paar sind kaputt. Kriegen Sie bestimmt neue.« Sie starrt mich an und der Regen hört nicht auf.


In der Gustav-Rau-Straße widme ich mich den Salami-Brötchen, trinke vom pappsüßen Kakao aus der Kantine und rauche eine Lucky. Die Mülleimer tauchen aus der Versenkung auf, ein Lachanfall ist die Folge. Tränen und Husten. Ich hoffe, Eberlein kann ich Bericht erstatten, bevor die Stadtwerke anrufen. Bis jetzt habe ich die Hälfte der heutigen Ladung zugestellt. Den Rest werde ich noch schaffen. Motiviert starte ich den Wagen, schalte den Scheibenwischer an. Er bewegt sich genau einmal, dann kracht es unter der Motorhaube. Der Wischermotor läuft, aber die Wischer selbst bleiben einfach stehen. Seufzen, tief ein- und ausatmen. Wischer abschalten, aussteigen, Motorhaube entriegeln, öffnen und da ist schon das Problem: das Gestänge ist gebrochen. Völlig verrostet. Ich starre drauf und überlege, ob ich das irgendwie selbst reparieren kann. Nach kurzer Zeit bemerke ich einen Schatten neben mir und drehe den Kopf.
»Kaputt, was?«, sagt ein älterer Mann. Dick eingepackt in einen Parka samt Mütze und Regenschirm.
»Sieht so aus. Haben Sie nicht zufällig Draht dabei?«
Er stutzt. »Nee, Draht … wieso Draht? Das ist ein starres Gestänge, was wollen Sie da mit Draht?«
»So fest verzwirbeln, dass es irgendwie weitergeht.«
»Ts, nehmen Sie lieber eine halbe, rohe Kartoffel. Mit der können Sie die Scheibe einreiben, dann fließt das Regenwasser einfach ab.«
»Ihr Ernst?«
»Natürlich. Haben wir in Russland immer so gemacht.«
»Russland ist schon ein paar Jahre her.«
»Das tut der Methode ja keinen Abbruch.«
»Leider habe ich ausgerechnet heute den Sack mit den Kartoffeln vergessen.« Er zieht eine Schnute.
»Ja, dann haben Sie wohl Pech gehabt.« Sagt es und geht weiter. Das Wasser läuft meinen Nacken hinab. Mit Wucht haue ich die Motorhaube zu, schließe den 508er ab und gehe die Staffel runter zur ARAL-Tankstelle. Im Kassenhäuschen erwartet mich dichter Nebel. Der Mann hinter der Kasse lebt von Zigaretten.
»Tag. Haben Sie Kartoffeln?«
»Wie?!«
»Kartoffeln. Ob Sie Kartoffeln haben?«
»Ich verkaufe Benzin, Diesel und Zigaretten.«
»Kann ich mal telefonieren? Das ist ein hoheitliches Gespräch.« Ich zeige ihm den Dienstausweis.
»Klar. Nur zu.«


Silvia hat mir zugesichert, im Musikkeller zu warten. Der Regen wird heute nicht mehr aufhören. Möglicherweise der Beginn einer neuen Sintflut, nachdem die letzte kläglich versagt hat. Der Tausch des Fahrzeugs hat mich insgesamt zwei Stunden gekostet. Aber der Job ist erledigt und die paar kaputten Mülleimer … wen juckt’s? Fluchend und hoffend erreiche ich endlich die Tür zum Kellerabgang, gehe langsam hinunter und hoffe inständig, dass sie nicht vor lauter Ungeduld das Weite gesucht hat. Aber ich habe Glück. Sie sitzt an der Theke und unterhält sich prächtig mit Walter.
»Ah! Dein Kollege kommt!«, ruft er und füllt ein Glas mit Southern und Cola. »Endlich!« Zwinkern beherrscht er nur unzulänglich. Es sieht aus, als würde sein Lid abfallen. Silvia hebt die Hand.
»Dachte schon, du hättest mich wegen einer anderen verlassen.« Walter kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen. Ich habe sie noch nie geküsst, denke ich. Wegen des Vertrauens. Dabei hat sie den sinnlichsten Mund zwischen hier und irgendwo. Langsam erzähle ich den Grund meiner Verspätung und ich schätze, damit habe ich Walters gesamte Arbeitswoche gerettet. Er lacht bei jedem Gang zum Kühlschrank, wenn er Sprudel aus der Küche holt, die schlanken Gläser spült und die Maschine befüllt. Er redet mit sich selbst und wiederholt einzelne meiner Worte. So was wie ‚Haben Sie Kartoffeln?‘ oder ‚Um Gottes willen! Meine Mülleimer!‘
Silvia und ich sitzen am Ecktisch. Ihr Zeigefinger zeichnet Figuren auf meinen Handrücken. Es ist das Zärtlichste, das ich seit langem erleben darf. Es braucht gar nicht mehr. Keine Bewegung gleicht der anderen. Hin und wieder überwindet sie die Grenze zum Unterarm, fährt ein Stück hinauf und an der Seite zurück. Gänsehaut bildet sich auf meinem Rücken. Ich schließe die Augen. Nirgendwo bin ich lieber als hier und jetzt. Im Hier und Jetzt.
»Kennst du einen Asbach-Hannes?« Mit geschlossenen Augen hat Silvias Stimme Ähnlichkeit mit der telefonischen Zeitansage. Eine Stimme, die man sich die ganze Nacht anhören kann. ‚Beim nächsten Ton ist es drei Uhr, vierzehn Minuten und dreißig Sekunden‘.
»Klar. Hauptdienst eins drüben am Paketeingang. Warum? Hast du ihn kennengelernt?« Ich öffne die Augen.
»Ja, gestern Abend hat Eberlein gesagt, ich solle heute in die Paketverteilung. Und als ich da heute Morgen auftauche, kommt dieser schmale Kerl mit der dicken Hornbrille und drückt mir dreißig Mark in die Hand.«
»Ah, du sollst Frühstück holen, nicht wahr?«
Silvia zieht die Brauen hoch. »Sieh an, hat sich das herumgesprochen?«
»Und? Hast du Frühstück geholt?«
»Ja. In einem Kiosk, der ‚Bomber-Dietz‘ heißt. Gegenüber der Sparkasse. Vier Salamibrötchen.«
»Und dann gab es Ärger.«
Sie stutzt. »Woher weißt du das?«
»Weil so ziemlich alle durch diesen Ärger müssen. Er scheißt dich zusammen und fragt, ob du noch alle Tassen im Schrank hättest, schließlich solltest du doch ‚Frühstück‘ bringen.«
»Das hat er gesagt«, bestätigt Silvia.
»Aber sein Frühstück besteht aus einer Flasche Asbach und zwei Flaschen Cola. Und beim ‚Bomber-Dietz‘ grinsen sie sich einen, als du wieder auftauchst, stimmt’s?«
»Stimmt«, sagt Silvia. »Also warst du auch schon Frühstück holen?« Ich nicke. »Immerhin kam ich so zu vier Salamibrötchen. Er hat sie mir geschenkt. Aber warum heißt der Kerl Bomber-Dietz
»Er hat nach dem Krieg für die Alliierten Blindgänger entschärft und dabei ein Bein verloren.« Silvia schüttelt den Kopf. Ich denke an meine Brötchen. »Ja, die Salamibrötchen hatten heute ihren großen Tag.« Silvias Zeigefinger legt sich auf meinen Mund.
»Heinrich?«
»Hm?«
»Gehen wir zu mir und schlafen miteinander?«
»Ich bin einverstanden.«


Silvias Kippe glüht auf im Dunkel. Ich kann sie ausatmen hören. »Du bist ein seltsamer Mensch«, höre ich ihre Stimme neben mir, dicht an meinem Ohr.
»Warum?«
»Gegen alle Beschleunigung. Gegen alles Schnelle und Stürmische. Fast wie ein Pathologe, der genau plant was er vorhat und jedes Stück unter die Lupe nimmt.«
»Ist das schlimm?«
»Nein. Im Gegenteil. Das ist sehr spannend, aber ungewohnt.«
»Es gibt ja auch viel zu erkunden. Ein ganzer Körper. Jeder ist anders. Wie soll ich wissen, was du magst, wenn ich mir nicht die Zeit nehme, es herauszufinden?«
»Und? Hast du es herausgefunden?«
»Bestimmt nicht alles. Aber wir haben ja noch einiges an Zeit, hoffe ich doch.« Sie bleibt still. Ich muss schlucken, etwas greift nach meinem Herz und presst es. Haben wir wirklich noch Zeit? Ich weiß nichts.
»Silvia?«
»Hm?«
»Du hast gesagt, deine Vergangenheit ist nicht so wichtig. Aber in meinem Kopf dreht sich inzwischen fast alles um dich. Wer du bist, woher du kommst, was du getan hast, welchen Weg du gegangen bist. Das interessiert mich, und ich kann nichts dagegen tun.«
Ihr Finger sucht meine Lippen, landet erst auf dem Kinn, streicht höher und fährt dann um den Mund, mit dem Nagel im weichen Lippenfleisch. Das kitzelt ungemein und ich muss mich zusammenreißen.
»Du musstest erst Vertrauen fassen, um mit mir schlafen zu können. Jetzt ist es umgekehrt. Ich muss erst Vertrauen fassen, um dich in meine Mitte zu lassen. Ist das in Ordnung?«
»Ja, das ist in Ordnung. Ist nur fair.«
»Danke. Aber ich mache dir den Vorschlag, es umgekehrt zu machen. Du erzählst mir von dir. Von der Rotweinflasche.«
»Okay, also von der Rotweinflasche …«
»Nur wenn du mir wirklich vertraust«, fügt sie an und ich muss durchatmen. Sie hat recht. Es ist schwer etwas zu erzählen, das man vielleicht selbst nicht verstanden hat.
»Ich versuche es. Aber noch stecke ich im Labyrinth und habe keine Ahnung, wie ich rauskommen soll. Also unterbrich mich, wenn ich Blödsinn rede und frag lieber nach.« Silvias Finger wandern auf meine rechte Brustwarze und zupfen an ihr. Kleine Blitzschläge zucken durch mein Inneres.
»Du bist wirklich sehr empfindlich dort«, stellt sie fest und wechselt zur anderen. Mehr als genießen möchte ich nicht. Wäre da nicht der Rotwein. »Du trinkst recht viel, kann das sein?«
»Vielleicht, keine Ahnung. Was ist viel?«
»Es vergeht doch kein Tag ohne dieses Zeug, stimmt’s? Southern Comfort mit Cola und Zitronensaft. Das nenne ich viel.« Ich bin froh, dass es stockdunkel ist im Zimmer, wir uns nicht sehen, nur hören, nur unsere Hände auf der Haut spüren. »Wie lange geht das schon so?«
»Weiß nicht. Seit ich bei der Post bin, so in etwa.«
»Also schon mehr als ein Jahr.«
»Ungefähr.«
»Das ist viel, Heinrich.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Sie schweigt. Ich schweige. Noch eine Kippe muss her. Mit der Hand taste ich nach der Jeans, die rechte Tasche, fische aber nur die Zettel mit Gedichten raus und verfluche mich. Schon wieder in der Hosentasche vergessen. Es raschelt.
»Was hast du da?«
»Gedichte.«
»Gedichte? Du schreibst Gedichte?«
»Mh, schon seit vielen Jahren.«
»Warte.« Gleich darauf wird es hell. Die kleine Lampe blendet mich, ich drehe den Kopf weg und sehe Silvia. So nackt, schutzlos. Ich will wegsehen, dabei ist es doch genau das, was ich mir in meinen Gedanken vorgestellt habe. »Darf ich lesen?« Ich reiche ihr die Zettel. Unsortiert, zusammengeknüllt. »Wie lange schreibst du schon?«
»Mit dreizehn habe ich angefangen.«
»Ich mit zwölf.« Ich halte die Luft an. Silvia schreibt?
»Auch Gedichte?«
»Manchmal. Eher Tagebuch und dann mitten drin so was wie ein Gedicht, aber das ist nicht der Rede wert.« Ich bin kurz davor, mit der Tür ins Haus zu fallen, sie nach den Tagebüchern zu fragen, ihr zu gestehen, dass ich sie unbedingt lesen möchte, um alles von ihr zu erfahren, aber …
»Hast du das hier über mich geschrieben?« Sie hält drei Zettel vor meine Nase.
»Alle drehen sich um dich.« Silvias Hand sinkt auf meine Brust, meine Worte rutschen aus ihren Fingern. Zügig bekommt sie feuchte Augen. Gar nicht gut für mich. Sofort passiert mir das gleiche.
»Du hast so intensive Gefühle für mich?«
»Die habe ich.«
Da sind zu viele Tränen in ihren Augen, sie werden zu schwer und rollen ein kurzes Stück, bevor sie auf meine Brust fallen. Dann legt Silvia den Kopf unter mein Kinn. Ich rieche sie, kraule die Haare, spüre ihre Brust auf meiner. »Ich wusste, du empfindest etwas für mich. Aber nicht, dass es so tief geht.«
»Es geht sehr tief.«
»Dann ist es wie bei mir. Ich empfinde sehr tief für dich, und das macht mir Angst. Ich will dir nichts vormachen, Heinrich … es ist kompliziert.«
»Ich weiß.«