Kataloge³

Kapitel 7

Denken wir alle noch nicht an Weihnachten, weil es draußen schön warm ist und Badewetter herrscht, tun es andere dafür umso intensiver; die Werbeabteilungen. Sie haben viel vor mit uns. All ihre Gedanken kondensieren dann in einem einzigen Katalog. Das Weihnachtsgeschäft beginnt. Ende August. Eine Woche habe ich Silvia nicht gesehen. Seit dem Ausflug ins Kloster ist sie abgetaucht. Ich weiß, sie ist stets pünktlich zum Dienstantritt in der Gruppe, arbeitet zuverlässig, auf dem Plan lese ich Silvia Ketterer, aber es gibt kein Telefon in ihrer Wohnung und die Tür öffnet sie nicht. Nur einmal habe ich auf der Bank vor dem Haus gewartet. Sie hat sich neben mich gesetzt, den Kopf geschüttelt, eine Entschuldigung gemurmelt und etwas von brauche Zeit gesagt, das war es dann. Meine andere Hälfte ist weg. Es bedeutet Musikkeller und das Getränk, von dem sie sagt, es brächte auf Dauer Unglück; womit sie recht hat. Die einzige Schwierigkeit ist es, nicht zu verkatert den 508er in der Kraftpost zu holen, nicht am Abend vorher total zu versumpfen. Ich habe schließlich hoheitliche Aufgaben und es gibt Menschen im Bezirk, die ich mag. Irgendwo dort muss es einen Ankerplatz geben für mich.

Am Mittwochmorgen verlasse ich den Hof der Kraftpoststelle in der Zeppelinstraße, fahre mit offener Schiebetür, rauche und sehe überall gelb. Der 24er ist vor mir, der 14er hinter mir, der 33er will überholen. Wir hupen. Aus einer Seitenstraße kommt ein Kastenboxer, die Jungs mit den VW-Bussen, die Briefkästen anfahren und leeren. Wir hupen und lachen uns an. Ich glaube, ich bin ein Postler geworden. Es fühlt sich an wie in einer Familie. Noch ein paar Prüfungen, die nicht mal sonderlich schwer sind, und ich werde zu dieser Familie gehören. Ein wenig lernen, aber das fällt mir leicht, der Stoff ist einfach; Postleitzahlen, Regeln, Vorschriften, Dienstpflichten und Dienstrecht. Auswendig lernen, fertig. Aber eine Ahnung sagt mir, dass Silvia niemals irgendwo festen Boden unter den Füßen haben wird, nicht mit mir oder sonst wem. Und was werde ich dann in diesem Fall tun? Mich auf festen Boden begeben und sie ziehen lassen? Der erste Mensch, von dem ich glaube, er sei meine zweite Hälfte, und ich denke an Abschied?

Hintereinander fahren wir in den Hof, setzen rückwärts an die Ladestationen, öffnen die Flügeltüren. Zwei Käfige stehen schon an Ort und Stelle, einer nur halbvoll. Kataloge. Ein Raunen geht durch die Halle, Flüche, lautes Rufen, wir alle starren auf das, was uns erwartet. Für den Briefzusteller sind sie viel zu schwer. Im Käfig liegen Kataloge von Quelle, Neckermann, Schwab, Otto, Klingel, Wenz, Bader, Heine, Bauer, Schöpflin … ich hole zuerst einen Espresso, dann bei der Paketverteilung einen dritten Behälter, zu zwei Dritteln mit Paketen gefüllt, zwei Säcke Päckchen von der Maschine, dann sortiere ich zügig alles ein, rolle die Kataloge an den Tritt und merke schnell, dass mir die ganze Papierfracht in der ersten Kurve durch den Innenraum rutschen wird.
»Nimm dir große Briefboxen«, empfiehlt der Kollege vom 27er. »Stell die Kataloge hochkant rein, sortiert nach Familiennamen.«
»Nach Familiennamen?«
Er grinst und zündet eine Marlboro an. »Klar. Gibt Adressen, die lassen sich von jedem Versandhaus einen Katalog kommen. Da haben sie drei Wochen zu lesen. In den Fernseher starren und Kataloge studieren, das ist es, was die Leute tun; außer blähen.«
Ich sehe mir die Bescherung an. Also Briefboxen. Nichts wie hoch in den Briefeingang.

Der Tipp war Gold wert, allerdings kennen alle anderen Zusteller ebenfalls diese Methode und es ist enorm schwer, im Haus A4-Briefboxen aufzutreiben. Am Ende komme ich auf zwölf Stück. Immerhin die Hälfte der Kataloge bringe ich darin unter. Die andere Hälfte sortiere ich in Säcke, binde sie zu mit einer Schließe und mittels einer zweiten an die Lochbleche der Innenwände, damit nicht alles durch die Gegend fliegt.
»He! Das ist aber auch ne gute Idee. Haste die sortiert?« Der 27er hält mir die Marlboro-Packung vor die Brust. Ich entnehme dankend eine, zünde sie an und inhaliere tief. Die Uhr rückt unaufhaltsam vorwärts.
»Drei Häuser in einem Sack. Dann muss ich nicht so viel nachsortieren.«
»Spitze«, sagt er und ist weg. Vermutlich irgendwo Säcke und Schließen klauen. Wer bisher nicht improvisieren konnte in seinem Leben, der lernt es bei der Post. Ich hole einen zweiten Espresso und kontrolliere die Verteilung. Nur noch zwei Pakete, die ich unter den Arm klemmen kann. Ein kurzer Plausch mit einem Hauptdienst, dann geht es los. Es ist schon nach neun Uhr, als ich endlich den Hof verlasse Richtung Steubenstraße.


Schon nach zehn Häusern kann ich hochrechnen, mit was ich für den Rest des Bezirkes rechnen muss; und mit welchem Zeitaufwand. Das kann unmöglich ernst gemeint sein. Die meisten Häuser hier wurden in den 1950ern oder 1960ern gebaut. Kleine Briefkästen mit schmalen Schlitzen für den Umfang der Post zu dieser Zeit. Den meisten Adressen habe ich noch kein Paket zugestellt. Sie bekommen also nur Kataloge und die Vorschrift sagt: Ab in den Briefkasten! Oder persönlich abgeben! Aber dort passen nur vier Standardbriefe hinein. Schon ein DIN A4-Umschlag widersetzt sich, geschweige denn passt ein Katalog oder sieben davon hinein. Ich muss also klingeln und in ein Haus, in vier Wohnungen, zehn Kataloge tragen. Im nächsten mit sieben Wohnungen siebzehn Stück. Eine Art Depression fällt mich an. Rechne ich das hoch, werde ich nicht vor zwanzig Uhr zurück sein. Völlig ausgeschlossen. Das habe ich vergessen den 27er zu fragen.

Das elfte Haus mit zwölf Nachnamen bekommt fast dreißig. Ich gedenke kurz der Bäume, die dafür sterben mussten, lade zwei Kisten auf die Sackkarre und rolle zum Hauseingang. Beide Händen presse ich auf die Klingelbleche. Die Tür summt in einem durch. Ich drücke sie auf und rufe: »Post! Kataloge! Bitte hier unten holen!« Dann kippe ich die Boxen auf die Treppe, etwas sortieren, fertig! Schon bin ich wieder draußen. Das gefällt mir. Ein Blick zurück zu Silvias Haus. Sie hat Frühdienst. Niemand ist daheim. Seufzend ziehe ich weiter und starte den Wagen. Mit dieser Methode reduziere ich die Arbeitszeit erheblich. Ich bin zufrieden mit mir.

In der KF wuchte ich ein großes, schweres Paket aus der Seitentür. Nachnahme, ziemlich teuer. Von Quelle. Ich klingle, schleppe den blauen Karton die Treppe in den zweiten Stock. Name stimmt. Noch mal klingeln. Stimmen hinter der Tür. Eingetragen habe ich schon alles ins Zustellbuch. Die Nachnahmekarte in der Hand, klopfe ich. Wieder Stimmen. Dann geht in einem Atemzug die Tür auf, Hände reißen mir das Paket aus der Hand, die Tür geht zu. Ich starre ein paar Sekunden auf den Türspion. Tief durchatmen. Wieder klopfen. Etwas lauter.

»He! Sie müssen das Paket bezahlen! Ich bekomme 280 Mark für die Nachnahme, vier Mark siebzig Nachnahmegebühr und zwei Mark zwanzig Paketgebühr! Verstehen Sie mich?« Leises Tuscheln. Möglicherweise Türkisch, ich vermute es, dem Namen nach könnte es eine türkische Familie sein. Ich klopfe mit der Faust. Von drinnen kommen eindeutige Geräusche. Sie reißen das Paket auf! Metallisches Klappern, laute Stimmen.
»Verdammt! Machen Sie auf oder ich trete die Tür ein!« Tatsächlich wird sie geöffnet, das Paket fliegt an mir vorbei und landet auf dem Treppenhausboden. Tür wieder zu. Eine alte Frau kommt aus der Nachbarwohnung, schaut mich an, dann das zerfledderte Paket. Sie sagt nichts, verzieht keine Miene, aber zwei Finger gehen zum Mund. Ich gebe ihr eine Lucky, zünde sie an. Da steht sie und raucht. Ich mache dasselbe. Eine Zigarette rauchen.
»Arschlöcher«, sage ich und bin sicher, sie stehen lauschend hinter der Tür. »Ich weiß, dass Sie mir zuhören! Wenn wieder ein Paket kommt, schicke ich es mit Annahme verweigert umgehend zurück! So was merke ich mir! Wiedersehen!«
Die Alte nickt und hat ihre Zigarette schon komplett inhaliert. Ich hebe die Hand zum Gruß und schaue ins Paket. Zwei Töpfe, zwei Pfannen, eine Kasserolle.


Nebeniusstraße, Jugendstilhäuser, drei und vier Stockwerke, roter oder heller Sandstein. Die fallenden Bomben haben diesen Teil verfehlt, warum auch immer. Vermutlich war ihnen der Schwarzwald im Weg. Es ist schön hier und in den alten Häusern wohnen alte Menschen. Ich klingle, ein älterer Mann, der mit einem ebenso alten Dackel spazieren gehen möchte, öffnet die Haustür.
»Zu wem möchten Sie denn?«
»Anslinger.«
»Die ist bei ihrer Tochter. Die ganze Woche. Aber an der Tür hängt ein Zettel, Post soll gegenüber abgegeben werden. Klingeln Sie bei Mohr.«
»Ist gut. Danke.«
Hochparterre, schmiedeeisernes Geländer, ausgetretene Waschzementstufen mit kleinen Kieseln drin. Ein wahres Schmuckstück. Das Treppenhaus breit und mit viel Licht. Große Fenster mit Windkreuzen, der Lack blättert an vielen Stellen ab. Ein baumwollummanteltes Stromkabel an der Decke führt in eine Bakelitleuchte. Das hier ist 1928. Links die Wohnung von Mohr. Eine Messing-Drehklingel, die angenehm schrillt. Die Tür ist überbreit, obere Hälfte Milchglas mit weißen Gardinen auf der Innenseite. Öffnen tut eine wirklich alte, sehr kleine Frau.
»Ja?«
»Bundespost, Guten Morgen. Ihr Nachbar sagte, Sie nehmen Post für Anslinger?«
»Kommen Sie rein, junger Mann.«
Ich hatte gehofft, einfach das Paket abgeben zu können, um dem Feierabend entgegenzustürmen, aber warum nicht die Einladung annehmen. Ich schließe die Tür und folge ihr sehr langsam in die Küche. Sie schwankt bei jedem Schritt. Sicher die Hüftgelenke und das Alter.
»Nehmen Sie Platz, junger Mann.«
»Danke.«
Ich atme ein paar Mal tief ein. So muss es hier schon vor vierzig Jahren gerochen haben. In diversen Gelbtönen verfärbte Raufasertapete, Fliesenspiegel über der Küchenzeile im Orange der 60er-Jahre, ein mindestens ebenso alter Elektroherd und ein altes, zweigeteiltes Spülbecken aus Porzellan. Die Anrichte ist sicher aus den Zwanzigern, Tisch, Stühle und Eckbank mit Resopal beklebt.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Sehr gerne.«
»Ich habe einen selbst gemachten Brombeersaft.«
»Das klingt gut.«
Sie streckt sich zu den Gläsern in der Anrichte. Ich springe auf. »Lassen Sie mich das machen.«
»Das ist lieb. Ja, ich bin stark geschrumpft. Wenn ich noch älter werde, kann ich bald in der Streichholzschachtel schlafen.«
Ich lache und gebe ihr das Glas. Sie holt eine etikettlose Flasche aus dem Kühlschrank, nimmt eine alte Gummimanschette vom Hals und schenkt zu einem Drittel voll. »Der ist so intensiv, da gießen wir mit Wasser auf, sonst zieht es Ihnen die Schuhe aus.«
»Ich mache das schon.«
An der Spüle fülle ich mit kaltem Wasser auf und setze mich wieder. Auf dem Tisch steht eine halb volle Tasse Kaffee und ein Teller mit einem halben weißen Brötchen. Nichts drauf. Sie setzt sich. »Für mich haben Sie nie ein Päckchen«, sagt sie.
»Stimmt. Aber heute ist sowieso das erste Mal, dass ich dieses Haus betrete. Haben Sie denn niemand, der Ihnen eines schicken könnte?«
»Niemand da.«
»Aber Briefe bekommen Sie doch?«
»Rechnungen und Werbung. Und die Rente.«
Ich nicke und trinke vom Brombeersaft. Er schmeckt umwerfend gut. »Machen Sie den selbst? Der ist ja fantastisch.«
»Jetzt nicht mehr. Sie haben die Hecken entfernt. Da werden jetzt Häuser gebaut. Und viel weiter als bis dort kann ich nicht mehr laufen.«
»Wie alt sind Sie denn, wenn ich fragen darf?«
Sie lächelt. »Natürlich dürfen Sie fragen. Ich bin 89 geworden vor drei Monaten.« An der Fensterwand hängen unzählige Fotos. Die Rahmen abgenutzt. Auf einem sehe ich zuerst ihre Augen, die sich deutlich abheben.
»Stolzes Alter.«
»Stolz bin ich nicht drauf.«
»Ich werde sicher nicht so alt.«
»Junger Mann, alle die sagten, sie werden nicht so alt, werden sogar noch älter. Das kann ich Ihnen flüstern.«
Ich trinke, genieße die Säure und den süßen Nachgeschmack. »Das heißt, die Menschen, die von sich behaupten, steinalt zu werden, sterben früh?«
»Genau. Hochmut bringt frühen Tod.«
Ich lehne mich vorsichtig zurück. Die Lehne knarrt. »Das sind Sie auf dem Foto, nicht wahr?« Ich zeige mit dem Finger auf die Schwarzweiß-Aufnahme. Das Gesicht bis knapp unter den Hals vor einem Wald.
»Ja, bin ich. Da war ich 25 und habe geheiratet.«
»Sie sind ja beeindruckend schön.«
Sie kichert und kneift die Augen dabei zusammen. »Und Sie ein Schmeichler.«
»Nur ehrlich. Was ist denn mit Ihrem Mann?«
»Liegt noch irgendwo in Russland.«
Ich fange ihren Blick auf, schaue zum Foto. Dieselben Augen. Noch heute. Alles hat sich verändert. Sie selbst, die ganze Stadt, aber die Augen sind noch die gleichen.
»Das tut mir leid. Haben Sie denn nicht noch einmal geheiratet?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Das kam mir nie in den Sinn. Ich habe meinen Mann geliebt und tue es noch heute. Einen besseren hätte ich nie gefunden. Er war es.«
Schnell trinken. Einen tiefen Schluck. Da kommen Tränen und ich will es nicht. Sie beißt in das Brötchen, kaut langsam, trinkt dazu einen kleinen Schluck Kaffee und lächelt dann. Sie hat mich durchschaut.
»Lassen Sie nicht Ihr Herz schwer werden, junger Mann. In Ihrem Alter sollte es durch die Gegend fliegen und einem Mädchen folgen.«
»Das tut es. Aber das Herz des Mädchens ist unter einem Berg Geröll vergraben.«
»Dann graben Sie es frei. Das ist Ihre Aufgabe.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Sie winkt ab. Die Fingergelenke sind dick, drei Kuppen schon ein wenig gekrümmt.
»Wie wollen Sie erfahren, ob Sie es können, wenn Sie es nicht versuchen?« Ich trinke das Glas leer. »Wie heißt Sie denn?«
»Silvia.«
»Silvia … ein schöner Name. Und Sie lieben Silvia?«
Einen Atemzug lang lausche ich in mich hinein. Keine Zweifel sind zu finden. »Ja, ich liebe sie.«
»Und das haben Sie Silvia gesagt?«
Die alte Frau Mohr ist gnadenlos direkt. Genau das, was die Augen auf dem alten Foto sagen. Das war es, was ihr Mann geliebt hat, und bestimmt sein letzter Gedanke, bevor das Leben ihn irgendwo in Russland verließ.
»Nein. Noch nicht so direkt. Ich war wohl zu feige.« Ich stehe auf und lege das Päckchen auf den Tisch. »Danke für den guten Brombeersaft.«
»Gerne, junger Mann. Kommen Sie mal wieder vorbei. Wenn Frau Anslinger wieder zurück ist, backen wir einen Apfelkuchen. Hinten im Hof steht ein Baum mit Brettacher Äpfeln. Die besten für einen Kuchen. Der wird Ihnen schmecken.«
»Versprochen«, sage ich.