Im dunklen Tann

Kapitel 9

In diesem Geschenkeladen gibt es wirklich alles. Viel Kleinteiliges in dutzenden Regalen. Bunt, edel, Ramsch. Ich muss aufpassen, dass ich nichts herunterreiße in den schmalen Gängen. Wie soll ich hier das Richtige finden? Ich muss fragen, irgendjemand der einen Plan hat von dem, was es hier alles gibt. Die junge Dame an der Kasse tippt Zahlenkolonnen in das Rechenmaschinchen, überträgt das Ergebnis in ein Journal.
»Entschuldigung, könnten Sie mir helfen?«
»Natürlich.«
Ich hole das Gedicht aus der Hemdtasche. A4, zweimal gefaltet. »Das hier soll in ein Behältnis, das ich verschenken möchte. 89Jährige Dame. Alleinstehend.« Ich sehe an ihrem Gesicht, dass der Gedanke an einen Perversen in der Nähe ist. »Meine Oma natürlich.« Das bringt die Freundlichkeit zurück.
»Darf ich mal sehen?«
»Okay.«
Sie faltet das Blatt auf und liest, sieht mich an, das Gedicht, wieder mich. Schweigend kommt sie hinter der Theke vor, geht in ein Regal und bringt eine rechteckige Schachtel. Den Deckel kann man an der kurzen Seite aufklappen und daraus einen Ständer bauen, indem man ein Stück Karton in einen Falz steckt. Das Ganze ist dunkelblau und strukturiert. Ein bisschen wie Brokat. Sie nimmt eine Schere, stutzt mein Gedicht zusammen, dann schiebt sie es vorsichtig in den Rahmen.
»Passt genau. Aber schade, dass Sie es gefaltet haben. Wäre es glatt und auf einem anderen Papier getippt, käme es mehr zur Geltung.«
»Kein Problem. Das kann ich noch mal neu machen. Zuhause habe ich noch lachsgelben Karton, 120 Gramm. Der geht grad so in die Triumph.«
»Da wird sich Ihre Oma aber freuen.«
»Das hoffe ich doch.«


Das Päckchen ist verpackt und versendet. Aufgegeben beim Postamt 2 in der Schwarzwaldstraße. Der dortige Kollege am Schalter hat mir die Seitentür geöffnet und ich habe Eberlein angerufen, ihm gesagt, dass eventuell ein Martin Berner am Montagmorgen um acht Uhr an der Pforte aufschlägt. Er würde Arbeit suchen und wäre eventuell was für die Paketverteilung oder die Päckchengruppe. Im Übrigen würde ich jetzt in die Vogesen fahren und mich dem Alkohol ergeben. Er hat mir Glück gewünscht. Ich solle ein paar für ihn mittrinken. Dann kam noch die Erinnerung, dass Montagmorgen der Bezirk 1022 auf mich wartet. Ich werde pünktlich sein. Wie immer, versprach ich ihm. Dem Kollegen habe ich als Dank fürs Telefon eine Lucky für die Pause in die Hand gedrückt.

Es ist kurz vor zwei. Silvia hat mich gebeten, sie genau um vierzehn Uhr zu wecken. Ich stehe seit fünf Minuten vor der Tür, beobachte die Enten am Flussufer, dann meine Uhr, wieder die Enten und drücke pünktlich mit dem Minutenzeiger auf der Zwölf die Klingel. Selten genug, dass ich die Armbanduhr anziehe; wenn ich sie denn mal finde. Niemand öffnet. Noch mal. Länger, mehrmals in kurzen Abständen. Wieder nichts. Es ist zum Verrücktwerden. Also wieder auf die Holzbank. Wir kennen uns schon mit Vornamen. Kurz vor drei kommt Silvia über die Goethebrücke. Schon von weitem erkenne ich sie am Gang. Sich ein Telefon anzuschaffen, wäre nicht die schlechteste Idee. Immerhin habe ich einen Anrufbeantworter, der zu nichts nutze ist. Es ruft eh niemand an, aber Silvia könnte es wenigstens. Ihr Schritt erinnert mich an preußische Soldaten. Sie zieht ihn durch bis auf meine Höhe, sieht mich und nimmt neben mir Platz. Einen Stock im Rücken. Steif und kerzengerade. Aus der Parkatasche kramt sie einen Zettel. Ich kenne Form und Farbe. Ein Telegramm. Sehr selten, aber es gibt sie noch. Komm her. Muss mit dir reden! Mehr steht da nicht. Es wurde beim Postamt Alpirsbach aufgegeben. Von einem Herrn Ketterer. Ich gebe es ihr zurück, lege den Arm um ihre Schulter. Sie zuckt, lässt es aber dann geschehen. Langsam lehnt sie sich an mich, als müsste ich erst den Stacheldraht entfernen. Die Enten sind in einen heftigen Streit verwickelt und quaken, was das Zeug hält, dann flattern sie von dannen. Sonderlich warm ist es nicht, windig, aber ich empfinde es als angenehm. Silvia zittert. Es ist das Telegramm, nicht das Wetter. Auf die Uhr zu sehen, traue ich mich nicht. Hier zu sitzen, sie im Arm, ist okay, aber ich weiß, in ihr wütet ein heftiger Sturm.

»Ich habe heute Morgen eine schöne Schachtel gekauft. Man kann sie aufklappen und eine Art Fotoständer bauen. Da rein habe ich dann das Gedicht gesteckt. Hab’s extra noch mal auf lachsgelbes Papier getippt. Sieht wirklich schön aus. Ich wette, das gefällt Frau Mohr. Wir können nächste Woche mal bei ihr vorbeischauen, wenn du ein bisschen Zeit hast. Mal abwarten, wie ich mit dem neuen Bezirk zurechtkomme. Stehen eine Menge Hochhäuser rum. Aber ich krieg das hin. Hab mich auch für die Prüfungen angemeldet. Ich muss jetzt bis Januar die ersten beiden Zahlen auswendig lernen. Leitzone und Leitraum, Bereichsknoten, Abschnittsknoten, so Zeug. Mal sehen …«
Eine Rotte Tauben fliegt an uns vorbei im Tiefflug. Bei Opas Arbeitgeber brennt überall Licht, Lärm kommt aus offenen Fenstern.
»Da drüben in der Firma hat mein Opa gearbeitet. Er war Goldschmied. Dort haben sie die Medaillen für die Olympischen Spiele angefertigt.«
»Lebt er noch?«
Silvia redet wieder. Wie sehr ich doch ihre Stimme vermisse. »Nein, ist vor ein paar Jahren gestorben.«
»Und deine Oma?«
»Noch mal ein paar Jahre davor.« Jetzt drückt sie sich regelrecht an meine Hüfte, als würde sie in mich hineinkriechen wollen.
»Würdest du mit mir in den Schwarzwald fahren?«
»Jederzeit. Wohin du möchtest.«
»Ich muss noch zwei oder drei Stunden schlafen, dann können wir los.«


Wie soll es anders sein, als dass schlechtes Wetter über dem Schwarzwald aufzieht, wenn man ein paar Tage frei hat. Ich habe vollgetankt, eine Stange Luckys, genug zu trinken und eine Tüte mit Brötchen samt Wurst und Käse gekauft. Erst nach Freudenstadt, hat Silvia gesagt. Wir sind auf der B294 und fahren durch den Neuenbürger Tunnel. In Höfen beginnt es zu regnen. Nur leicht, aber es ist abzusehen, dass da noch mehr kommt. Über dem Dobel ist es schwarz. Silvia sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Sitz, die Arme drum geschlungen, die Stirn auf den Knien. Es sieht aus, als würde sie beten. Ich konzentriere mich auf die Straße, schaue ab und zu nach rechts, zünde eine Zigarette an.
»Auch eine?«
Sie schüttelt den Kopf. Die Haare bewegen sich. Calmbach kommt, ein Wolkenbruch kommt. Die Scheibenwischer stelle ich auf schnelle Stufe. Licht an. Am Abzweig nach Wildbad stehen wir an der roten Ampel, die Tropfen trommeln unablässig aufs Dach, Böen schütteln den Opel. Es gibt Menschen, die würden Silvias Stimmung und das Wetter zu drohendem Unheil verknüpfen. Ich gehöre nicht dazu. Wetter geht vorbei. Bei Silvias Stimmung bin ich mir nicht sicher.
Das kleine Enztal beginnt, die Straße steigt an. Alle Tannen wachsen zu einer schwarzen Masse zusammen. Nur ein Auto hinter uns, das an der Forellenzucht abbiegt. Wir sind allein. Manche der Bäume haben gut und gerne fünfunddreißig oder vierzig Meter, mächtige Stämme, mehr als einen Meter im Durchmesser, dicht an dicht. Kein Licht dringt hindurch. Der schwarze Wald. In einem Ausschnitt über uns gleichfarbige Wolken aus denen nichts als Wasser kommt, kleine Bäche auf der Straße. Dann ein grelles Aufblitzen. Für einen kurzen Moment bin ich geblendet. Der Donner folgt unmittelbar. Ich lege die Hand auf Silvias Nacken und hoffe, sie lebt noch.
»Ich liebe dich, Silvia.«
Greller Blitz, zweimal hintereinander, zwei kurze Schläge folgen. Hagel beginnt. Ich sehe nichts mehr und reduziere die Geschwindigkeit. Ausgangs einer sanften Kurve ist eine kleine Schotterfläche, für zwei oder drei Fahrzeuge bietet sie ausreichend Platz. Dort stelle ich uns ab, schalte den Motor aus. Silvia hebt den Kopf, sieht die Bescherung und greift nach der Zigarettenschachtel.
»Ist das nicht gefährlich? Was ist, wenn der Blitz uns trifft?«
»Faradayscher Käfig. Wenn er allerdings einen Baum trifft oder eine Böe nen altersschwachen umweht, dann wird es gefährlich.«
»Ich will noch nicht sterben«, sagt sie und zündet die Kippe an.
»Wenn, dann nur neben dir«, erwidere ich. Sie schaut mich an. Das Blau der Augen hat sich zurückgezogen und einem tiefen Abgrund Platz gemacht.
»Dort, wo wir hinfahren, bin ich schon einmal gestorben.« Ich kann nicht vermeiden, dass meine Augen feucht werden. »Deswegen möchte ich mit dir fahren. Sonst ist da niemand, dem ich vertraue.«
»Das macht mir Angst, Silvia. Wirklich. Was, um Gottes willen, ist denn dort?«
»Meine Familie.«
Deine Familie will ich wiederholen, lasse es aber bleiben. Ich werde es erfahren und immer dicht neben ihr stehen. Als wären wir eins. Kugelmenschen. Nur Zeus hat es geschafft, sie zu zerteilen.
»Lass uns weiterfahren.«
Ich nicke und starte den Motor. Das Schäfermesser fällt mir ein, direkt vor dem Gemächt des älteren Mannes, der lediglich eine Hausnummer suchte. Wie die Morgendämmerung, schiebt sich eine Ahnung in meinen Horizont. Ein Blick über die Schulter. Alles frei. Es geht weiter. Die nächsten dreißig Kilometer umschlingt uns der Tannenwald. Kein Haus, kein Mensch. Nur Regen, Böen und schwarze Wipfel. Als wäre der Wald ein Abbild unseres Ziels. Eine Vorbereitung auf das, was kommt.


Nach knapp fünfzig Kilometer sind wir in Freudenstadt. Ich entdecke einen REWE samt Parkplatz und fahre drauf, stelle uns im Eck ab.
»Was jetzt?«
»Da gibt es eine Bäckerei mit Kaffee. Soll ich dir einen mitbringen?«
»Gerne. Schwarz.«
»Klar. Mach du doch solange ein paar Brötchen. Käse und Wurst sind in der weißen Tüte.« Silvia nickt. Ich gehe hinein. Es ist kaum was los. Bei dem Wetter jagt man keinen Hund vor die Tür. Die Menschen schweigen oder flüstern maximal. Hier oben ist die Welt eine andere. Stiller, abweisender. Mit dem Motorrad bin ich schon oft hier gewesen, aber nach kurzer Pause gleich weitergefahren. Immer war es ein Gefühl von Fremdsein.
Ich kaufe zwei Becher vom guten Gebräu, zwei Schneckennudeln und gehe zurück. Der Regen macht eine Pause. Gleich einem Hirtenhund, treibt der Wind die Wolken vor sich her, hinüber nach Horb, Richtung Neckartal und Schwäbische Alb. Silvia hat die Tür geöffnet, beide Beine nach außen gedreht und halbiert Brötchen mit dem Schäfermesser. Ich lehne mich gegen den Kotflügel und beobachte sie. Wurst, Käse, zuklappen, das Nächste.
»Ich schätze, es ist nicht mehr weit. Vielleicht ist es sinnvoll, wenn du mir ungefähr sagst, was auf mich zukommt, damit ich im entsprechenden Moment richtig reagieren kann.« Wurst, Käse, zuklappen, das nächste Brötchen.
»Das wäre sinnvoll, ja.« Wurst, Käse, zuklappen, das letzte Brötchen ist dran. »Gab es drin Kaffee?«
»Klar, hier.«
»Danke.« Sie legt das Messer auf die Ablage, gibt mir ein Brötchen und nimmt dafür den Becher. Ich beiße herzhaft hinein, schlürfe Kaffee dazu. Die Luft ist frisch, kühl, im Osten Wetterleuchten. Der Ausblick phänomenal.
»Es wird um Hof und Sägewerk der Eltern gehen. Gepachtet hat den Hof mein älterer Bruder. Von mir. Das Sägewerk gehört anteilig meinem Onkel und mir. Mein Onkel will meinen Anteil übernehmen und mein Bruder den Hof.«
Das erste Brötchen ist gegessen. Sie gibt mir ein zweites. Der Kaffee könnte besser sein. »Hm, das klingt erst mal nach einer verhandelbaren Sache auf die man sich einigen kann. Dir liegt nichts am Hof oder am Sägewerk? Immerhin wären das Einnahmequellen. Vor allem das Sägewerk.«
»Ich wollte noch nie etwas davon. Seit Vater tot ist, will ich weg.« Da ist er, der Vater. Ich denke an meinen. Das ist so eine Sache mit den Vätern …
»Wann ist er denn gestorben?«
»Als ich acht wurde.«
»Als du acht wurdest? Also …«
»An meinem Geburtstag, ja.«
»Das sind …« Mir fällt auf, dass ich nicht weiß, wie alt Silvia ist. Das Blau ist nur schwach zu sehen. Kann Farbe aus den Augen verschwinden? Vielleicht eine besondere Form des Lichts hier oben zwischen den Tannen. Da ist nach wie vor tiefer Abgrund. Vielleicht umso tiefer, je näher wir dem Ziel kommen.
»Vor einundzwanzig Jahren«, sagt Silvia. Ich muss kurz nachrechnen. Gestorben vor einundzwanzig Jahren, sie war acht, ist jetzt also kurz vor dreißig. Vier Jahre älter als ich. Mit acht Jahren den Vater verloren …
»An was ist er gestorben?«
»Gram. Ich glaube, er hat sich zutiefst gegrämt und hat am Ende aufgegeben.«
»Wegen was hat er sich gegrämt?«
»Keinen Widerstand mehr leisten zu können.«
»Widerstand?«
»Du wirst es sehen. Lass uns weiterfahren. Wir müssen Richtung Wolfachtal, Rippoldsau. Kennst du den Weg?«
»Ja, kenne ich. Vom Motorradfahren.«
Silvia trinkt den Becher leer, geht zum Mülleimer am Laternenpfahl und wirft ihn hinein, presst die Hände in die Hüfte und dehnt den Rücken, schaut sich um, kreist einmal um die eigene Achse und bleibt mit dem Blick an mir hängen. Ich gehe auf sie zu, schließe die Arme um den schmalen Oberkörper, kraule auf und ab. Wir küssen uns.


Ins Wolfachtal hinunter wird es wieder dunkler. Nicht nur über uns, nicht nur auf dieser engen, verschlungenen, gewundenen Straße, auch hier drin. Kurve folgt auf Kurve, Kehre auf Kehre, bemooste Felsen, Tannen, Farne dazwischen, zerklüfteter Waldboden. Ich habe das Fenster einen Spalt offen, schneller als sechzig kann man nicht fahren. Der Duft des Waldes ist so intensiv, voller Harzgeruch, dass ich meine, bald in Trance zu verfallen. Es ist berauschend.
»Es dauert nicht mehr lang. Wenn wir auf dem Hof sind, steig bitte gleich mit aus, stell dich neben mich, halt einfach meine Hand.«
»Gerne.«
»Ich habe angerufen und gesagt, wann wir kommen.«
»Das hört sich an wie ein militärisches Briefing.«
Silvia zündet eine Zigarette an, lässt mich ziehen und steckt sie dann in ihren Mund. Bei diesen Kurven werde ich nicht rauchen. »Genau das ist es. Wenn du merkst, dass ich ein wenig die Geduld verliere, kannst du ja dazwischen gehen. Und wenn die beiden mir blöd kommen, gehen wir einfach. Sie wollen was von mir. Nicht ich von ihnen.«
»Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, wirklich. Das ist wie im Kino.« Sie wirft mir einen undefinierbaren Blick zu, raucht still weiter. Ein Gedanke ist da in meinem Hinterkopf. »Sehe ich das richtig, dass dein Vater, bevor er gestorben ist, Hof und das Sägewerk anteilig seiner achtjährigen Tochter überschrieben hat?«
»Das siehst du richtig. Mutter hat er als Verwalterin eingesetzt bis zu ihrem Tod.«
»Und was ist mit deiner Mutter?«
»Ist letztens gestorben.«
Ausgangs der Kurve kann ich mir einen kurzen Blick zu Silvia erlauben. Sie starrt geradeaus durch die Scheibe. Knapper könnte die Antwort nicht ausfallen.
»Hm, ich schätze, dein Onkel ist der Bruder deiner Mutter. Sie hat in Hof und Sägewerk eingeheiratet. Dein Onkel hat wegen der vielen Arbeit einen Anteil am Sägewerk bekommen und dein Bruder ist ein Totalversager. Deine Mutter und dein Onkel waren auf derselben Seite des Spielbretts. Und es hat ihnen 21 Jahre nicht gepasst, was dein Vater in weiser Voraussicht getan hat.«
»Du bist ein schlaues Kerlchen, Heinrich. Das mag ich an dir. Sag, wie gestaltet man das Leben eines achtjährigen Kindes, wenn man sich selbst hasst und fuchsteufelswild ist, weil alle Träume platzen und man nichts hat?« Sie schaut her, den Blick kann ich spüren. Also drehe ich den Kopf. Da ist Finsternis.