Kapitel 19
Die Wohnung sieht noch so aus, wie ich sie verlassen habe. Alexander liegt auf der Couch und schläft. Ein oder zwei Kaffee werden helfen, wieder runterzukommen. Nichts auf dem Anrufbeantworter. Auf dem Kalender ist mein nächster Urlaub angekreuzt. Noch vier Wochen. Es blubbert, zischt, das Aufwachgetränk ist fertig. Alexander kommt in die Küche. Nun ist er es, der nur eine Unterhose an sich hat, den Stuhl zum Fenster schiebt und sich setzt. Narben auf beiden Unter- und Oberarmen, seitlich am Brustkorb, unregelmäßig verheilt, in seltsamen Zickzack-Linien.
»Auch einen Kaffee?«
»Mh.«
»Warum hast du geheiratet, wenn du Männer magst?«
»Sie wurde schwanger.«
»Also du magst Männer und hast mit ihr geschlafen.«
»Manchmal mag ich auch Frauen. Wenn sie ein bisschen wie Männer sind.«
»Aber sie mag nur Männer, die auf Frauen stehen.«
»Ich glaube, das wäre ihr egal. Sie mag aber niemand, der sich bei allem, was er tut, unsicher ist, keine Verantwortung übernehmen will, keine fertige Ausbildung hat und jede Chance darauf durch Dämlichkeit in den Sand setzt.« Ich schenke eine Tasse voll und stelle sie vor Alexander. Der trinkt einfach. Ich erwarte einen Schrei, aber die Temperatur macht ihm wohl nichts aus. »Danke, Heinrich.«
»Gerne.« Mit dem Schneebesen schlage ich Milch schaumig, gieße ihn in eine große Tasse und fülle mit Kaffee auf. »Und was ist jetzt anders?« Langsam einen Löffel Zucker einrühren und genießen. Schmeckt wunderbar. Alexander blickt mich über den Tassenrand hinweg an, überlegt an seiner Antwort. Was ist jetzt anders? Warum ist er hier?
»Ich wäre beinahe gestorben.«
»Wie?« Im Stillen wiederhole ich den Satz. Ich wäre beinahe gestorben. Er stellt die Tasse ab, drückt beide Armgelenke nach außen und hebt sie über den Kopf. »Eine der Rasierklingen war dreckig. Sepsis. Grad noch geschafft.«
»Wärst du gerne gestorben?«
Nur der Blick. Ich erinnere mich an den Blick. Wenn ich ihn besucht habe, nachmittags nach der Schule und wir gerade noch seinem prügelnden Vater entkamen, der alles an seiner Mutter ausließ. Der kleine Bruder klebte zwischen und an uns. So saßen wir auf dem Spielplatz und hofften, die großen Jungs würden nicht kommen, um Schlimmeres mit uns zu tun, als nur nach Lust und Laune zu verprügeln.
»Wäre ich gerne.«
»Was hat dich davon abgehalten?«
»Das Bild von Marc in meinem Kopf. Dann habe ich mich gesehen und Erik, du erinnerst dich an meinen kleinen Bruder?«
»Als wäre es gestern gewesen.«
»Erik lebt nicht mehr.«
Ich frage nicht nach dem Wie und Warum. Alexander weint. Der Kopf wird zu schwer und sinkt auf den Tisch. Ein paar Mal haut er die Stirn aufs Holz. Es war ein Fehler, Köln zu verlassen und wieder herzukommen. In die Finsternis.
Die Flügeltüren des Arbeitsamts schließen sich mit einem vernehmbaren Klicken. Vor uns die Luisenstraße, vierspurig, kein Grün, 50er-Jahre-Bauten, Verkehr bis zum Abwinken. Ein Konto haben wir zuvor angelegt, hundert Mark eingezahlt. Kleine Schritte. Mein Vermieter hat angerufen. Auf dem Rodrücken und in der Nordstadt besitzt er noch Häuser, in der Blücherstraße. Dorthin gehen wir jetzt. Zwei Zimmer, kleines Bad, kleine Küche, knapp 50 Quadratmeter. Nur 270 Mark Miete. Nicht die beste Wohngegend.
»Ich schreibe alles auf, was du für mich ausgibst, Heinrich.«
»Vergiss es, Alexander. Denk nicht mehr dran.«
»Wie soll ich da nicht dran denken?«
»Na, indem du es einfach vergisst? Du schuldest mir nichts. Ist nur Geld. Mehr nicht.«
In der Jet kaufe ich ein Päckchen Schwarze Hand, Blättchen und ein Feuerzeug, dazu zwei Dosen Cola, gebe eine Alexander. Über die Güterstraße schlendern wir zur Christophallee, an der Bahn entlang. Ich zeige ihm, wo meine Dienststelle ist.
»Siehst du die Rampe und die beiden Hallen da drüben?«
»Seh ich.«
»Da verdiene ich mein Geld.«
»Das gehört der Post?«
»Ja.«
»Meinst du, ich könnte dort unterkommen?«
»Das meine ich, ja. Aber du solltest erst wieder ein bisschen fitter werden, körperlich meine ich. Das ist nicht die einfachste Arbeit. Jede Semesterferien kommen Studenten, die wenigsten bleiben länger als zwei Wochen und suchen sich dann andere Arbeit. Es ist durchaus mal ruhig, aber dann kommen drei oder vier Stunden, da weißt du nicht, wo dir der Kopf steht. Und selbst als Zusteller musst du ziemlich fit sein. Treppe hoch, Treppe runter, schwere Pakete, Kataloge oder kilometerweit laufen mit den Briefen …«
»Schon gut, Heinrich. Hab’s verstanden.«
Ich lege den Arm um Alex‘ Schulter. »Ist vielleicht mein Fehler. Ich seh immer noch den kleinen Alexander neben mir. Tut mir leid. Du wirst das packen bei der Post, aber gib dir noch ein bisschen Zeit, okay?«
»Okay. Aber was dann?«
»Zuerst die Wohnung. Dann paar Möbel. Wir fahren zur Caritas ins Möbellager. Kleider, Kühlschrank, Normalität aufbauen, du weißt, was ich meine?«
»Ich weiß, was du meinst. Aber …«
»Kein ‚Aber’.«
»Aber es kann sein, dass ich mich in dich verliebe …«
Ich seufze unwillkürlich. Daran habe ich auch schon gedacht. Immerhin ist da jemand, der sich in mich verliebt.
»Erinnerst du dich an die erste Ferienwoche nach der zweiten Klasse?«
»Ich glaube nicht.«
»Du warst bei mir und hast gesehen, das wir packen. Dein Gesicht werde ich nicht vergessen. Als würde ein Astronaut da oben im einsamen All zugucken, wie die Erde unter ihm auseinanderbricht. Keine Heimat mehr. Alle Freunde tot.«
»Ja«, er schnieft. »Kann sein, dass ich mich wieder erinnere …«
»Mich hat niemand gefragt, ob ich umziehen will. Ich wollte nicht. Nicht ohne dich. Das habe ich mir nie verziehen, dich zurückgelassen zu haben, zwischen den Fäusten und der sinnlosen Wut deines Vaters. Jahrelang ein schlechtes Gewissen. Selbst heute ab und zu.«
»Und ich war lange wütend auf dich.«
»Jetzt starten wir den zweiten Versuch.«
Der Stadtbus hupt, Linie 9, ein Autofahrer schneidet ihn und der Busfahrer gestikuliert wild. Wir warten an der Ampel Christophallee.
Eine kleine, aber feine Wohnung. Fünfter Stock. Das hält fit. Neue Gasetagenheizung, meinem Vermieter ist nur wichtig, dass alles seinen normalen Gang geht und er keinen Ärger hat. Ich versprach ihm, mich darum zu kümmern. Also den Mietvertrag durchlesen, unterschreiben, die ersten Mieten werde ich überweisen. Anmeldung bei den Stadtwerken übernimmt er. Einwohnermeldeamt und die Meldebescheinigung zum Arbeitsamt tragen, ein Klingelschild, eine Telefonnummer samt Apparat, das werden wir morgen erledigen. Die Übergabe ist gelungen. Alexander formt langsam eine Faust um den Schlüsselbund. Etwas Besonderes. Er lächelt.
Langes Wochenende. Dienstbeginn erst wieder am Montagabend zur Nacht. Für einen Kasten Export haben Uwe und Klaus mir geholfen, Kühlschrank und andere Möbel in den fünften Stock zu tragen. Alexanders eingefallene Wangen verschwinden jeden Tag ein Stück mehr. Er legt an Gewicht zu. Kurz habe ich überlegt, ihn einzupacken, denn ich sitze im Opel, es ist Freitagnachmittag und mein Ziel steht fest: Friedrichshafen. Ich muss dort hin. Komme was wolle. Weil ich jedoch mit allem rechne, lasse ich Alexander lieber in Ruhe. Übers Wochenende besuche ich jemand, am Montagmorgen bin ich wieder zurück, so habe ich es erklärt. Es hatte den Anschein, als käme er gut allein zurecht. Zudem hat er von einem Job angefangen zu reden, sich aber noch zurückgehalten. Ein guter Job, nicht schwer und das Geld würde mehr als stimmen. Krisensicher. Wir haben uns umarmt, fester als mir lieb war.
Ohne Pause geht es durch nach Süden. Mit jedem Kilometer wächst die Unruhe. Mal könnte ich heulen, mal himmelhochjauchzend Schlangenlinien fahren. Ich bin wie die Wolken am Himmel, die ab und zu die Sonne verdecken, mal schwer und grau, dann watteweiß, doch wieder und wieder räumen sie den Weg fürs Licht der Sonne und ich bin voller Zuversicht. Der Opel ist nicht der Schnellste, aber ich wette, für die Strecke habe ich mit dieser Wagenklasse eine Rekordzeit aufgestellt. Silvia muss mir unbedingt ihre Telefonnummer geben. Heute Abend werden wir Essen gehen. Chinesisch, das fände ich gut. Oder einen Spanier, falls es das in Friedrichshafen gibt. Es gilt, wachsam zu sein, die Kontrolle zu behalten, denn Vorfreude kann durchaus meine Fahrfähigkeiten beeinflussen. Zu schnell, zu leichtsinnig … doch dann stehe ich vor dem Haus. Motor aus und beobachten. Was ich immer tue. Erst einmal alles in Ruhe sondieren. Geht jemand raus oder rein, brennt Licht? Bewegung hinter den Scheiben? Nach einer Zigarette steige ich aus, quere die Straße und bin überrascht, immer noch kein Klingelschild vorzufinden, drücke aber. Eine weitere Zigarette. Ein zweites Mal klingeln. Wesentlich länger. Nichts.
Sie ist einkaufen, muss länger arbeiten vielleicht? Wenn es eine große Firma ist und sie Vertragsrecht unter sich hat, kann es durchaus nötig sein, einen Kunden zu besuchen. Egal, zur Not warte ich bis Sonntag. Also wieder zum Auto, Lehne nach hinten und Musik hören. Hin und wieder hebe ich den Kopf und beobachte genau die beiden Fenster. Nichts. Bald kommen die Menschen nach Hause, freuen sich aufs Wochenende, gehen noch schnell einkaufen, machen sich bereit für Kino oder Restaurant. Ich döse ein, so gegen halbsieben. Die Musik ist aus. Batteriestrom sparen.
Es klopft. Ich schrecke hoch. Bald halbzehn zeigt die Uhr. Vor dem Glas eine älterer Mann, Leine in der Hand. Ich schraube die Lehne hoch, kurbel die Scheibe runter.
»Junger Mann, hab ich sie geweckt?«
»Egal.«
»Seit heute Nachmittag sehe ich Sie hier stehen. Sie haben bei dem jungen Fräulein geklingelt, nicht wahr?«
»Ja, Frau Ketterer.«
Er zieht an der Leine. Eine Dackel wird sichtbar, der unbedingt weiterlaufen will.
»Die wohnt seit drei Wochen nicht mehr hier. Ist ausgezogen.«
»Ausgezogen?«
»Ja, aber fragen Sie mich nicht, wohin. Das weiß ich nicht. Aber sie hat ihre frischen Lebensmittel mir überlassen. Ein freundliches Ding.«
»Ja, das ist sie. Sehr freundlich. Wissen Sie, in welcher Firma sie gearbeitet hat?«
»Also, das weiß ich beim besten Willen nicht. Aber das Fräulein war immer fein angezogen. Vielleicht bei Dornier oder der ZF, aber das ist nur geraten.«
»Na gut, vielen Dank.«
Er hebt die Hand an die Stirn und dackelt weiter mit dem Hund, dreht sich noch einmal um, dann verschwindet er um die Hecke. Das ist fatal. Einfach weg. Eine andere Wohnung gefunden vielleicht? Größer, schöner? Wie soll ich sie denn jetzt finden? Dornier oder ZF? Das klingt durchaus nach ihren Fähigkeiten. Guten Tag, arbeitet eine Silvia Ketterer bei Ihnen? Moment, ich schau nach. Ah ja, hier. Soll ich sie rufen? Das ist lächerlich. Ich mache mich lächerlich. Und werde wütend. Bin ich nichts? Seufzend starte ich den Motor und fahre zu Norma auf den Parkplatz, steige aus und gehe direkt in die Kneipe Zum Seeblick. Schon beim Öffnen der Tür ist klar, dass es kaum Platz geben wird. Alles Strandgut hat sich bereits eingefunden und ich manövriere durch die Gestalten. Sara steht an der Zapfanlage und schwitzt, entdeckt mich. Ein Strahlen entsteht in ihrem Gesicht. Endlich mal jemand, der sich freut und nicht umgezogen ist. Sie greift an den Hosenbund, gibt mir den Schlüssel.
»In einer Stunde kommt meine Cousine. Kannst du warten? Mach es dir gemütlich.«
»Kein Problem.«
Ich steige die Treppe hoch zur Dachgeschosswohnung. Kein Nebel heute. Der Bodensee schillert in den Lichtern der Promenade. Alles in der Wohnung ist so, wie ich es in Erinnerung habe.
Diese Stunde verbringe ich liegend auf der Couch. Saras Decke ist faszinierend. Einfach weiß. Raufaser mit Farbe. Struktur, ein Lampenanschluss, an dem eine Art IKEA-Kronleuchter hängt. Fünf Fassungen, aber nur drei Birnen. Auf dem Beistelltisch steht das Telefon. Ich rufe Alexander an, der sofort abhebt.
»Servus, Alexander, alles klar bei dir?«
»Heinrich! Ja, alles klar. Hab gerade Spiegelei gemacht. Ziemlich spät, ich weiß, aber ich wollte am eigenen Herd in meiner Pfanne Spiegelei braten.«
»Sind sie gelungen?«
»Oben ja, finde ich. Unten knusprig dunkelbraun.«
»Zu viel Temperatur. Bring die Pfanne auf Temperatur, ohne dass das Öl raucht, dann dreh zurück auf anderthalb. Dann die Eier rein.«
»Was du alles weißt …«
»Ausprobieren.«
»Bist du bei diesem Jemand?«
»Ja, wir trinken gleich ein Bierchen.«
»Junge oder Mädchen?«
»Junge. Alter Zivikumpel. Wollte ich mal wiedersehen, ist schon alles so lange her.«
»Okay, danke für deinen Anruf. Das bedeutet mir viel. Wir sehen uns am Montag.«
»Kopf oben halten, Alexander.«
»Du auch.«
Wir legen auf. Kopf oben halten. Wo immer auch oben ist. Vom Anlügen wird meine Laune jedenfalls nicht besser. Wie komme ich darauf, dass ein Mädchen Alexander einen Stich versetzen würde? Das müsste bei einem Jungen noch viel schlimmer sein … ich bin verwirrt und möchte mit der bloßen Faust Silvias Bild aus meinem Kopf reißen. Wohin mit der Sehnsucht? Träge stehe ich auf und suche in den Schränken nach einer Flasche und finde Mescal, nehme ein passendes Glas und trinke das erste leer, fülle wieder auf. Zurück auf die Couch. Es klopft. Mit dem Glas in der Hand öffne ich. Sara entdeckt es, nimmt es mir aus der Hand, stellt es auf der Garderobe ab und springt mich an. Sie klammert mit Händen und Beinen. Mehr als 50 Kilo wiegt sie nicht. Wir drehen uns ins Wohnzimmer.
»Du hast mich nicht vergessen. Und ich dich auch nicht. Dass du hier bist, heißt aber, etwas ist schiefgegangen und ich bin nicht sicher, ob ich das glattbügeln kann.«
»Kannst du auch nicht.«
»Dann bin ich nur für die Lücke in deinem Herzen da?«
»Ich habe auf nichts eine Antwort, Sara. Wenn es für dich besser ist, dann gehe ich.«
»Nein, nein, geh nicht. Du bist für meine Lücke im Herzen da. Wie lange kannst du bleiben?«
»Bis Sonntag.« Sie legt den Kopf gegen meinen Hals und reibt die Nase an meinem Nacken, küsst die Schulter.
»Das ist wunderbar. Wir kleben uns zwei Tage Pflaster auf alle möglichen Wunden.«