Kapitel 14
Die Aufsichten gehen durchs ganze Postamt und sprechen jeden an. Weihnachtsnachtdienst. Sie flehen förmlich. Ich sage sofort zu. Am Morgen des 24. Dezember nach Hause gehen ist in Ordnung. Alles muss noch verteilt werden, alles muss raus, damit auch die letzten Kunden im hintersten Eck das Paket von Großeltern oder Versandhaus bekommen. Am 27. Dezember kehrt sich der Wahnsinn dann um. Ein Drittel wird wieder zurückgeschickt. Passt nicht, falsche Farbe, kaputt, gefällt nicht, hab ich gar nicht bestellt … mir ist das egal. Ich mache nicht mit, bekomme aber 125% mehr Stundenlohn. Das lohnt sich. Paketeingang und Schalter, Briefeingang und Briefabgang, alle Bereiche müssen besetzt werden. In meinem Briefbezirk ist inzwischen ein Azubi. Angehender Postschaffner. Es gefällt ihm und er wohnt sogar dort. Ich habe eine Woche Urlaub bekommen, es ist Freitag und gerade massiere ich Silvias Nacken und Rücken. Ich sitze auf ihr, Rapsöl an den Händen. Aus drei Kissen habe ich eine Höhle fürs Gesicht gebaut. Die Haare trägt sie jetzt noch kürzer. Knappe zwei Zentimeter. Ich muss aufpassen, schließlich kann ich links und rechts mit den Fingern Walnüsse knacken. Das soll mir hier nicht passieren.
»Ohjemine«, nuschelt sie in die Kissen. »Genau dort, wo du jetzt bist.«
»Gerne.« Die Daumen drücke ich durch und streife links und rechts des Rückgrats hoch.
»Steht der Termin noch an Silvester?«
»Du meinst die Lesung im Musikkeller?«
»Oh! Oh Mann! Ja, ja, genau das meine ich.« Ich beuge mich vor und küsse das rechte Ohr.
»Der Termin geht klar. Walter hat von der Brauerei wegen kultureller Veranstaltung drei Fässer extra bekommen, dafür muss ich am Beginn ein Dankesgebet sprechen.«
»Werden viele kommen?«
»Es wird voll werden.«
»Brauchst du ein Mikrofon?«
»Nee, meine Stimme ist laut genug.« Sie zuckt zusammen. Da ist ein Knoten am rechten Übergang zum Hals. Langsam streiche ich drüber, von unten nach oben.
»Oh Mann …«
»Falls es dir noch niemand gesagt hat, tu ich es jetzt: Dein Rücken ist wundervoll. Geradezu magisch. Die Haut hat eine seltene Struktur. Ein wenig rau, wie Samt, wenn man gegen den Strich fährt.«
»Ich glaube, das hat schon mal jemand gesagt, aber nicht so poetisch. Er war ein Arschloch. Wird also nicht berücksichtigt in der Wertung.«
Silvia ist schmal, aber muskulös. Vom Vertragsrecht kann das nicht kommen. Ich lege mich neben sie, auf den Ellenbogen gestützt und zeichne mit zwei Fingern Figuren vom Rücken bis zu den Oberschenkeln. Taumelnde Bewegungen, Geraden, mit Druck oder kaum einer Berührung.
»Falls es dir noch niemand gesagt hat, tu ich es jetzt: Du hast magische Finger. Könnte ich mich dran gewöhnen.«
»Das mache ich gerne, dich und mich dran gewöhnen. Es ist das, was ich am liebsten tun würde.«
Sie dreht sich auf die Seite. Ihre festen, kleinen Brüste direkt vor mir, dunkle und große Warzen. Meine Finger wandern auf ihre Hüfte, streichen das Becken hinab. »Darüber will ich schon lange mit dir reden«, sagt sie leise. »Aber irgendwie kriege ich die Kurve nicht.«
»Über die Gewöhnung?«
Sie nickt. »Über die Gewöhnung.«
»Ich weiß.«
»Du weißt? Was denn?«
»Du möchtest mir sagen, dass du niemand für eine Beziehung bist. Nicht jetzt und auch nicht irgendwann. Vielleicht hast du mich auch in den Schwarzwald mitgenommen, um mir das zu zeigen …«
»Was?«
»Was die Menschen in dir angerichtet haben. Und was übrig ist, reicht nicht, um bei jemand zu bleiben. Du musst weiterziehen. Auf der Suche nach dem, was verloren ging, nicht wahr?«
Silvia wird bleich, dann rot, drückt sich an mich. Haut auf Haut. Das Gesicht glüht, die Hände werden eiskalt. »Ich hab nicht geahnt, wie sehr du mich liebst, Heinrich.«
»Ich auch nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass ich dermaßen intensiv einen Menschen lieben kann.«
»Das tue ich auch. Vier Tage lang. Dann bricht alles zusammen. Und ich muss weg. Allein sein. Dann kommt sie wieder, die Liebe, wie ein verschütteter Mensch unter Erdbebentrümmern, liebt dieses Mal sogar eine ganze Woche, dann bricht es wieder weg. Diesen Teil hasse ich an mir.«
»Ich möchte damit leben. Es zumindest versuchen.«
»Auch dafür liebe ich dich, aber ich kann nicht. Es fehlen nur ein paar Zentimeter, aber die fehlen immer.« Was kann ich noch sagen? Was kann ich tun? Nichts. »Schlaf mit mir, Heinrich. Ganz langsam.«
»Du magst es langsam.« Eine Träne entsteht im linken Augenwinkel. Ich küsse sie weg.
»Du weißt, warum … oder?«
Mehr als nicken geht nicht, kann es mir zwar denken, will aber nicht. Ich muss die Bilder aus meinem Kopf verbannen.
Natürlich hat sich Silvia zum Nachtdienst im Briefabgang gemeldet. Nacht- und Überstundenzuschlag sind zwei gute Argumente. Außerdem wäre sie bei sich oder mir allein und ich hier. So sind wir beide am nächsten Tag zur selben Zeit wieder fit und können Heiligabend wie geplant im Musikkeller verbringen. Der Nachtdienst ist organisiert. Zwei studentische Aushilfen, die beiden Hauptdienste Walze und Fisch, und ich. Walze bringt eine nicht näher bestimmte Anzahl an Wiener Würstchen mit, Fisch schleppt die Zutaten für den Glühwein heran und ich Baguette und das ganze Geschirr. Die Studenten müssen ihren Anteil dazugeben, wenn sie mitessen möchten. Zudem liegen drei einfolierte Kartendecks bereit, um das berühmteste aller Kartenspiele zu zocken: Rififi. Punkt 19 Uhr fangen wir an, hetzen, schwitzen, quälen uns bis kurz vor Mitternacht. Das komplette Pensum der ganzen Nacht ist bis auf das letzte Paket abgearbeitet. Die beiden Studenten sind erledigt und legen sich in mit Säcken ausstaffierte Behälter. Für Walze, Fisch und mich beginnt jetzt Weihnachten. Wir sitzen in der Hauptdienstkammer, ich habe vierzig Wiener gezählt, der Glühwein hat weniger Wein als Whisky und glüht, das Baguette habe ich so geschnitten, dass jeweils zwei Wiener der Länge nach hineinpassen. Walze schafft so einen Hotdog nach Postart auf drei Bisse. Sein Spitzname ist Programm. Eine Eigenart von Spitznamen ist, dass sie meist passgenau sind. Bei Fisch war ich mir erst nicht sicher, aber neben ihm zu sitzen, macht schnell klar, woher er rührt.
»Wenn sie oben fertig sind, kommt Thomy. Dann haben wir noch einen mehr zum Spielen«, erklärt Walze. Ich habe den Namen noch nie gehört.
»Wer ist Thomy?«
»Thomas, Briefzusteller. Schon mal von den Briefen im Fahrstuhlschacht gehört?«
»Hab ich.«
»Ist jetzt strafversetzt. Briefeingang«, sagt Fisch.
»Okay. Thomy klingt komisch, so nach …«
»Mayonnaise?«, fällt mir Walze ins Wort. »Das liegt daran, dass er seine Würstchen immer mit Mayo futtert. Ordentlich Mayo.« Die beiden lachen, Fisch gießt eine Kelle Glühwein in seinen Becher, füllt meinen auch gleich.
»Danke, Fisch.« Ich nehme ihm den vollen Becher ab, puste ein paar Mal und trinke einen kräftigen Schluck. Warmer Whisky mit Rotwein, Zucker und allem, was ein Glühwein braucht, davon werde ich nicht viele Becher schaffen, Walze rülpst, mischt die Karten und teilt aus.
»Im Moment macht er nur Laufdienste, wegen seines Arms«, sagt er und Fisch sieht ihn an.
»Ist der noch im Gips?«
»Nee, nur noch Verband, er darf schon wieder arbeiten, aber nur leichte Tätigkeiten und nur halbtags.«
»Hatte er einen Unfall?« Sie sehen mich an, dann einander und brechen wieder in heftiges Lachen aus. Die Tränen laufen, ich beiße in meinen Postdog. Den Senf drückt es links und rechts heraus.
»Kann man so sagen«, schafft Fisch es gerade so mit dem Reden. Ich warte, bis sie sich beruhigt haben. »Ist beim Aussteigen aus dem Zug auf der falschen Seite raus, blöd wie er ist. Playboy in der Hand, auf die Milchfabriken geglotzt. Der Gegenzug ist grad vorbeigefahren, er fällt und rutscht beinahe ins Gleis. Leicht touchiert, will ich mal sagen.« Das Lachen der beiden geht in ein Brüllen über. An Kartenspielen ist nicht zu denken. In ein Baguette lege ich zwei Wiener, streiche Senf und Meerrettich drauf und gebe es Walze. Der nickt.
»Danke. Guter Mann. Sag mal, wohin willste eigentlich, wenn die Prüfungen gut laufen?«
»Paketzustellung wäre mir recht.«
»Das könnte klappen. Nächstes Jahr hören zwei auf. Der Ruhestand ruft.«
Fisch nickt, trinkt und beißt ins Brot. »Der 16er und der 21er, die werden frei. Sind momentan nur Ersatzleute drauf.«
»Hör mir auf«, sagt Walze und winkt ab. »Gunter wird früher gehen müssen. Den ham sie jetzt in den Entzug. Nachdem er den 508er in die Baugrube gefahren hat.«
Ich horche auf. »Wie?!«
»Vor der Baugrube geparkt. Fernwärme. Hat sich vor ihn einer gestellt. Fährt er also rückwärts und ab ins Loch …« Sie lachen wieder. Beinahe rollen sie unter den Tisch. Es klingelt. Nicht nur einmal sondern in einem durch. »So klingelt nur einer. Mach mal bitte auf, Heinrich.«
Vor dem Kontrollfenster sehe ich ein völlig asymmetrisches Gesicht, eine wilde, verfilzte Mähne auf dem Kopf. Ich drücke den Knopf und die beiden Sicherheitstüren verschwinden in der Wand. Die Mähne drängt sich herein.
»Männer! Ich will zocken!« Das muss der besagte Thomy sein. Der linke Arm steckt in einem Verband. Meinen Stuhl hat er schon belegt, trinkt den Becher leer und beißt in das Baguette. »Nachher will ich noch in den Schalter. Da ist Party. Buffet und Bowle. Geht ihr mit?«
»Red nicht! Nimm die Karten!«, weist ihn Walze zurecht und zwinkert Fisch zu.
»Haste überhaupt Geld?«, will der wissen.
»Klar, hab ich Geld!« Thomy legt einen Zwanziger auf den Tisch. Der 508er in einer Baugrube kommt mir in den Sinn. Die Vorderachse noch oben. Wie steigt man da aus? Und wie kann man auf der falschen Seite des Zuges aussteigen? Grübelnd fülle ich einen frischen Becher, setze mich neben die anderen und schaue zu, wie Thomy Runde für Runde ärmer wird.
Kurz nach drei steht er auf und wirft das Handtuch. Vor allem, weil er kein Geld mehr hat.
»Ihr bescheißt! Jede Wette!«
Walze holt mit der Zange zwei Wiener aus dem Topf, drückt einen Streifen Senf von vorne bis hinten auf beide und futtert sie in kürzester Zeit. »Wie soll man denn bei diesem Spiel bescheißen? Geht doch gar nicht!«, stellt Fisch fest. »Noch nicht mal beim Mischen kann man bescheißen.«
Thomy füllt seinen Becher nach, drückt den Knopf der Türsteuerung, legt die Sperre ein und geht hinaus, wir hören ihn fluchen. Vierzig Mark hat er verloren. Nach einer halben Minute hastet er wieder in die Kammer, außer sich, bringt kaum ein klares Wort raus.
»Schnell! Kommt! Schnell, da … im Hänger! Die machen es da!« Wir sehen uns an, stehen auf und gehen hinaus zur großen Lastbühne. Davor steht der Anhänger, und darin ein Berg Säcke. Es ist kalt. Aber im Hänger liegen zwei und haben Weihnachtssex auf den staubigen Jutesäcken der Bundespost.
»Wär mir zu kalt«, sagt Walze und kratzt sich den Nacken.
»Man sieht nicht, wer das ist. Viel zu dunkel«, stellt Fisch fest. Thomy will auf die Bühne, aber Walze zieht ihn am rechten Ohr zurück.
»He! Ich will da mitmachen!«
»Vergiss es! Du brichst dir bloß den anderen Arm.« Er reißt sich los.
»Dann gehen wir in den Schalter! Da ist Party!«
»Okay«, sagt Fisch. »Schauen wir mal, was es da zu trinken gibt.«
Die Party im Schalter ist gelungen. Von wegen Wiener und Baguette, hier gibt es die feinen Leckereien. Forelle mit Sahnemeerrettich, Schinken um Bohnen gerollt, Chili, Toast Hawaii, das kann sich sehen lassen. Ein Kollege sieht und winkt mich zur Bowle-Schüssel. »Darf ich dir ein Glas von unserem Spezialgetränk geben? Schmeckt vorzüglich.« Ich sage nicht nein, nehme dankend an und sehe mich um, wer noch anwesend ist. Thomy leert das Buffet, Walze und Fisch trinken bereits. Ich probiere und muss umgehend husten. Fast meine ich, das ganze Essen kommt wieder hoch, atmen fällt schwer, sofort trete ich hinüber in einen tranceartigen Zustand. Mit Mühe bringe ich die wenigen Meter zum Kollegen hinter mich.
»Sag mal, was ist denn da alles drin in der Bowle?«
»Alles«, sagt er. »Schmeckt super, oder?«
Ich nicke und ziehe mich zur Yucca-Insel zurück, kippe das Zeug hinein und proste der Pflanze zu. Das ist der Augenblick, an dem sich alle Kolleginnen und Kollegen in einer Reihe aufstellen. Die Männer fassen den Damen an die Brüste und die Damen den Männern ans Gemächt. Jemand hat einen tragbaren Kassettenrecorder. Sie spielen die Polonäse und verlassen den Schalter. Wie ein Lindwurm ziehen sie durch die unteren Flure Richtung Lastenaufzug zwei, in Schlangenlinien, brüllen und lachen. Walze und Fisch mittendrin. Thomy liegt vor dem Buffet. Sicher die Bowle. Ich gehe in die Hauptdienstkammer, löse die Arretierung, beide Türen schließen sich und es wird still. Noch genug Glühwein im Topf.
Kurz nach fünf Uhr kommen Aufsicht und Frühdienst samt Eberlein. Er dankt uns für die tolle Arbeit. Wir können uns kaum auf den Beinen halten. Das Postamt riecht wie eine Destillerie. Aber es ist sauber, die Platte ist geputzt, wie Walze stolz anmerkt. Ich hebe die Hand, wünsche Frohe Weihnachten und fahre hoch zum Briefabgang. Silvia sitzt auf zwei Briefboxen, sieht mich kommen, steht auf und lehnt sich an. Sie friert.
»Wo ist deine Jacke?« Sie nickt zum Spindraum. Ich hole sie. »Komm, gehen wir. Wenn du magst, lade ich dich zu Brezel und Kaffee ein.« Wieder nur ein Nicken. Silvia ist fertig. Im Fahrstuhl rümpft sie die Nase.
»Hast du bei den Irren mitgefeiert? Die mit der Polonäse?«
»Hab mal kurz reingeschaut, aber die Bowle war wie Spiritus und eine Polonäse wäre das Allerletzte, was ich mitmachen würde. Nee, hab mich in die Kammer gesetzt und Postleitzahlen gelernt.«
»Und nicht wenig Alkohol getrunken, oder?«
»Bisschen.«
Sie gähnt, reibt übers Gesicht und drückt sich an mich. Ich lege die offene Jacke um sie. Dann sind wir unten, trotten über den Hof, durch die Pforte in die Stadt. Bis zur Brezelstube ist es nicht weit, doch wir schweigen. Ihr Arm um meine Hüfte, meiner auf Silvias Schulter. Es können die letzten Stunden sein, die letzten Tage, die letzten Wochen, alles ist ungewiss und so langsam kriechen Zweifel heran, ob das mit den Prüfungen und der Post so eine gute Idee ist.
»Ist dir bewusst, dass ich dich nie nach deiner Vergangenheit gefragt habe?«, sagt sie kurz vor der ARAL.
»Ja, ist mir mehr als bewusst.«
»Findest du das schlimm?«
»Nein. Wir leben jetzt. Was war, kann man nicht mehr ungeschehen machen, nicht schönreden, nicht vergessen. Ich will mit dir zusammensein, ich will dich nicht verlieren, aber …« Silvia dreht sich vor mich, springt hoch, legt Füße und Arme um mich, die Lippen kommen. Sagen kann ich nichts mehr. Ein Taxi fährt an uns vorbei und hupt. Es ist der 24. Dezember 1986 und ich liebe.