Kapitel 18
Niemand geht gerne durch diese Tür. Amtsärztlicher Dienst. Drei Wochen vor Ostern, der Gott der Pakete ist wütend auf uns und ich muss zu diesem Termin. Nur wer stirbt, kommt drumherum. Also ausziehen, auf einem Bein stehen, Linie gehen, Rumpfbeuge, Hände flach auf den Boden, Kniebeugen, hinsetzen, Hammer gegen das Knie. Hinlegen und Niere pressen.
»Tut doch sicher hier weh, oder?«
»Manchmal.«
»Wann ist manchmal?«
»Wenn jemand drauf herumdrückt.«
»Sehr witzig.«
Die andere Niere ist dran. Dann die Leber. Er gräbt sich förmlich in meine Eingeweide. »Wenn Sie auf Erdöl stoßen, geben Sie Bescheid.«
»An Ihnen ist ein Komiker verloren gegangen.«
»Ja, ich weiß. Haben schon meine Lehrer gesagt.«
Darm, Blinddarm, Knie auf die Seite drehen, ein Blick in den Allerwertesten.
»Sie haben Hämorrhoiden. Ziemlich sogar.«
»Weiß ich.«
»Außerdem sind Sie recht gelenkig. Haben Sie Sport getrieben?«
»Leistungssport. Außerdem bin ich Landwirt von Beruf. Das ist wie Leistungssport.«
»Tja«, sagt er und holt ein Papier vom Schreibtisch. »das ist jetzt vorbei. Ihr Leberwert ist über 300.« Er wird still und sieht mich an. Offenbar wartet er auf eine Reaktion. Wenn er das so betont, muss es wichtig sein.
»Gut. Und was bedeutet das?«
»Sie trinken zu viel Alkohol.«
»Und Sie erinnern mich an meinen Vater.« Beide Augenbrauen krümmen sich Richtung Nase. Zwei Atemzüge denkt er drüber nach, aber ihm will kein Zusammenhang einfallen. »Sie kommen nicht drauf, Doc, aber mein Vater hat entweder nach Irisch Moos gerochen oder nach Bommerlunder. Bei Ihnen rieche ich Bommerlunder. Auch die roten und blauen Äderchen auf Nase und Wange haben Sie mit ihm gemeinsam …«
Er weicht zurück, streckt sich. Der Blick wird ungehalten. »Was erlauben Sie sich …«
»Kommen Sie, Doc. Ich mach Ihnen ja keinen Vorwurf. Sie trinken. Aber halten Sie mir keine Predigt. Bin ich diensttauglich oder nicht?«
Er geht zum Schreibtisch, setzt sich, trommelt mit allen fünf Fingern einen sehr rhythmischen Takt auf die Tischplatte, hebt ein Papier hoch, dann das nächste. Er muss offensichtlich über sich nachdenken. Oder über mich. Vielleicht muss ich noch ein Holz nachlegen.
»Wie viele von den Menschen, die zu Ihnen kommen, trinken zu viel Alkohol oder sind Alkoholiker oder mussten in den Entzug? Also ich kenne da einige Kollegen …«
»Ja, schon gut. Vergessen Sie’s. Ziehen Sie sich wieder an.« Ich ziehe mich wieder an. Er füllt einen Wisch aus, drückt einen Stempel samt Unterschrift drauf. Diensttauglich. Keine Bedenken.
»Kann ich gehen?«
»Ja.«
»Danke, Doc. Noch einen schönen Tag.«
Ostern ist das Fest der Päckchen. Von den hiesigen Versandhäusern, derer drei es in Pforzheim gibt, werden massenweise diese Tüten in die Republik versandt. Was ist drin? Einzelne Kleidungsstücke in der Regel. Ein schwarzes Shirt mit weißem, silbernem oder goldenem Glitzer drauf. Oder umgekehrt. Meist sind die Leute zu optimistisch, was die Selbsteinschätzung ihrer Körperfülle angeht. Jogginghosen und Leggins sind der große Renner. Die Empfänger wohnen nicht etwa im abgelegenen Bayrischen Wald, eher in den Städten. Als gäbe es dort keine Klamottenläden. Aber vielleicht trauen sie sich nicht mehr auf die Straße. Nach den Feiertagen führt das zu einer Flut an Rücksendungen. Ins Gleis passen vier reguläre Güterwaggons. Oder zwei Transwaggons, ‚Überlange‘ wie es im Postjargon heißt. Es ist Sonntag, der 26. April 1987 und der Rangierer sagt, wir sollen uns beeilen, denn er hätte noch ein paar Überraschungen. Auf dem Wartegleis stünden noch zwanzig Waggons, davon sechs Überlange. Sein Grinsen ist breit.
»Du willst aber noch mal Export bei mir kaufen, oder?«, fragt Richard. »Kannst du die nicht auf ein Totgleis schieben?«
»Keine Chance. Ich brauche die Waggons für Kornwestheim.«
Ich rechne. Zwei Überlange stehen im Gleis, 88 Behälter. Sechs Überlange draußen, 264 Behälter, vierzehn reguläre mit je 24 Behältern, macht summa summarum 688 Behälter. Und die höchstwahrscheinlich voller Päckchen, Rückware. Vor die Behälter sind Gummischürzen gespannt, damit die kleinen Dinger nicht rausfallen. Wenn sie zu zwei Drittel gefüllt sind, bis zum Ende der Seitenschalen, dann haben wir tausende von Päckchen vor uns. Von drei Versandhäusern.
»Hat von Karlsruhe oder Mannheim niemand angerufen, wie viele Waggons da kommen?« Richard kratzt sich den Hinterkopf.
»Nein«, sagt der Rangierer. »Hat niemand angerufen.«
»Wir machen Dienst nach Vorschrift. Wir können alle Behälter gar nicht in beiden Hallen und auf der Rampe unterbringen. Wie soll das gehen?«, erklärt Uwe.
Der Rangierer zuckt mit den Schultern. »Heißt das, ihr bekommt die Waggons nicht leer?« Richard nickt. »Genau das heißt es. Zwei Überlange und sechs reguläre. Fertig.«
Der Mann vom Rangierdienst pustet Dreck von seinem Helm, drückt die Sprechtaste und erklärt dem Fahrdienstleiter die Lage. Der ist tiefenentspannt und sagt ihm, er solle die Waggons auf ein Gleis schieben, um das er sich keine Sorgen machen muss. Raus Richtung Industriegebiet Brötzinger Tal. So geschieht es. Wir beginnen den Kampf gegen die Windmühlen.
Am nächsten Morgen kommt Eberlein. Ein mehr als seltener Gast auf der Rampe. Richard hat um kurz nach fünf den Fahrdienstleiter angerufen, dass weitere vier Waggons gebracht werden können, dann der Aufsicht Bescheid gesagt. Das Zeug muss tagsüber verteilt werden, denn heute Abend kommt die nächste Ladung. Das wurde immerhin von Karlsruhe angekündigt. Eberlein bringt den Mann mit, den ich ihm vor einigen Wochen angekündigt habe. An den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber er nickt mir zu.
»Heinrich! Du hast Tag drei, also nachtdienstfrei. Wie wäre es, wenn du heute Abend noch mal kommst? Ich organisiere Rolf-Dieter. Vladimir und vielleicht noch einen Hauptdienst. Wie viele Verteilstellen können wir aufbauen?«
»Sechs«, sagt Richard. »Mehr macht keinen Sinn.«
»Wir müssen das Zeug auch ins Postamt bringen. Also muss ein Fahrer die Nacht über pendeln«, werfe ich ein.
»Treib ich auf«, versichert Eberlein. »Ich schlage vor, heute um 20 Uhr zu beginnen. Dafür trage ich euch einen Tag Sondernachtdienst ein.«
»Also dann, bis heute Abend um acht. Ich muss jetzt schlafen«, sagt Uwe, nickt mir zu und packt zusammen. Wir gehen. Er zu seinem Auto, ich in die Brezelstube.
Nach dem zweiten Espresso ist die Müdigkeit weg. Menschen die aus Kneipen kommen, treffen Menschen, die jetzt zur Arbeit gehen. Oder in dem Fall Menschen wie ich, die gerade Nachtdienst hinter sich haben. Eine zweite Butterbrezel mit Frischkäse und einen Milchkaffee noch, dann werde ich nach Hause gehen. Seit der zweiten Tasse beobachtet mich ein Kerl vom rechten Stehtisch am Fenster. Und ich ihn. Taxiert er mich, um zu sehen, ob da was zu holen ist? Geld? Schmuck? Nichts von alledem habe ich bei mir. Meist steckt ein Zwanziger in der Hose, wenn ich Dienst habe. Für Notfälle. Schmuck befindet sich nicht in meinem Besitz. Es lohnt sich also nicht mich auszurauben. Als ich die Brezel zur Hälfte aufgegessen habe, drückt er sich vom Tisch weg und kommt. Den Blick immer an mich geheftet. Er müsste bewaffnet sein oder sonst wie trainiert, um mir gefährlich werden zu können. Seine ein Meter siebzig und sicher noch nicht mal 60 Kilo gegen meine ein Meter neunzig und 90 Kilo. Doch er stellt sich nur schweigend mir gegenüber vor den Tisch, überfliegt kurz, was drauf liegt, dann starrt er mich wieder an. Die Wangen sind kleinen Dellen gleich nach innen geformt. Eventuell hat er noch Hunger. Warum der Blick? Aus einem Wust an Bildern taucht genau dieser Blick auf. Oder besser: diese Augen. Die schwarzen, grundlosen Augen.
»Heinrich?« Wieso kennt der Kerl meinen Namen? »Du bist es doch, oder?«
»Das ist mein Name, ja. Aber ob ich es bin, den du meinst, das weiß ich nicht.«
»Erkennst du mich?«
Ich muss tief einatmen, die Nase kratzen. Also das Bild in meinem Kopf ist schon sehr alt. »Hilf mir auf die Sprünge. Sollte ich dich kennen?«
»Solltest du, ja. Wir waren mal … ja, was waren wir denn mal …« Die Stimme hilft, den Nebel zu lichten und seinem Gesicht eine Bedeutung zu geben.
»Alexander?«
»Also doch noch erkannt.«
Eine Bilderflut bricht hervor. Der Damm bricht. »Scheiße … Alexander …« Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll, denn der Mann vor mir hat mit dem Alexander von früher nichts zu tun. Eingefallene Wangen, leichte Ringe unter den Augen, die Haare verfilzt, Fingernägel völlig zerkaut. Aber er lächelt. »Möchtest du einen Kaffee? Eine Brezel?«
»Gerne.« Das war prompt. Besser, ich hole drei Laugenbrötchen mit Käse und Lyoner drauf.
»Bin gleich wieder da.« Der Bäcker belegt eine neue Ladung und die ersten drei noch sehr warmen Stücke bekomme ich. Der Käse wird weich zwischen den Hälften, was immer besonders gut schmeckt. Ich stelle alles vor Alexander auf den Tisch.
»Kaffee ist schwarz. Sorry, ich hätte dich fragen sollen. Aber hier sind Kondensmilch und Zucker. Und die Brötchen.« Alexanders Blick ist der eines Kindes, das nach dem Klingeln der Glocke ins Wohnzimmer geht, um zu sehen, was der Weihnachtsmann gebracht hat. Ein mächtiger Biss und die Hälfte des ersten Brötchens ist weg. Kauend sagt er was, das ich erst nicht verstehe.
»Wie?«
»Kann ich bei dir schlafen?«
Die Zeitschaltuhr aktiviert Verstärker und Radio. SWF3 Nachmittagsprogramm. Auf dem zweiten Kissen sehe ich Silvias Kopf liegen, dann kommt ABBA und das Bild verblasst. Ich beuge mich rüber und rieche daran. Den Bezug werde ich nicht mehr waschen, das steht fest. Ein Räuspern, ich drehe den Kopf, muss zweimal hinsehen. Tatsächlich, Alexander steht im Türrahmen und mir dämmert, was heute Morgen alles gelaufen ist. Mit acht Jahren habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Die ersten beiden Schuljahre haben wir nebeneinander gebüffelt, geschwiegen und gelacht, dann bin ich weg. Damals war er ein kräftiges Kerlchen, jetzt ein Schatten in dünnem Körper.
»Hallo Heinrich, soll ich dir einen Kaffee machen?«
»Mach mal, ich komme gleich.«
Er lächelt ein Honigkuchenpferdlächeln und entschwindet in die Küche. Idiotische Frage, aber warum habe ich ihn mit zu mir genommen? Klar, hat er ja dann gesagt. Dass er wieder nach Pforzheim gekommen ist, aber noch keine Wohnung hat, keine Arbeit, er sich hier um den Sohn kümmern möchte, seine Ex ihn aber gar nicht sehen will. Ich stehe auf und gehe duschen. Unterm warmen Wasserstrahl flitzen Namen, Gesichter und Situationen durch meinen Kopf. Silvia und Sara und Alexander, Silvias Onkel, der trottelige Bruder … und Missbrauch. Nichts bekomme ich wirklich zu fassen. Wäre ich Esoteriker, würde ich sagen, eines meiner Chakren hatte einen schweren Unfall, die Karten liegen schlecht oder Jupiter hat seine Bahn verlassen. Deswegen rasiere ich mich lieber nicht. In Unterhose gehe ich in die Küche. Alexander versucht sich noch an der Kaffeemaschine. Er dreht kurz den Kopf und wird rot.
»Hast du nicht so eine italienische Kaffeekanne?«
»Doch. Im Schrank über dir.«
»Ah …«
Er schafft es nicht, die obere Hälfte aufzudrehen. Ich nehme ihm die Kanne ab, öffne und fülle Wasser in den Boden. Alexander zittert. Nur die Hände.
»Setz dich, Alex. Du bist mein Gast. Lass mich das machen. Hinter dir im Regal ist Toastbrot. Ich muss was essen.«
»Kann ich von dir eine Zigarette haben?«
»Null Problemo. Guck mal im Brotkasten. Da sind Luckys. Nimm dir ne Schachtel.«
»Super, vielen Dank.« Einer Sprungfeder ähnlich, tut er einen gewaltigen Schritt auf den Fenstersims zu, öffnet den Brotkorb und fingert eine Schachtel aus der Packung. Im Nu hat er die Folie weggerissen, geöffnet und eine brennende Kippe im Mund. Heftig zieht er daran. Dann wird er ruhiger und sieht mich an. Ab und zu drehe ich den Kopf, lächle, stelle Butter auf den Tisch, Marmelade, Honig.
»Heinrich? Würde es dir etwas ausmachen, Hose und T-Shirt anzuziehen?«
Die Frage lässt mich ratlos sein Gesicht mustern. Die Kippe glüht, er pustet den Rauch seitwärts, die eingefallenen Wangen wirken dunkler als heute Morgen. Dann geht mir ein Licht auf. »Okay, mach ich.«
Hose, T-Shirt, dazu Socken, Turnschuhe, Deo und Davidoff am Körper, streiche ich Butter aufs Toastbrot, schmiere Marmelade drauf und schlürfe einen Schluck Espresso. Alexander raucht. Es muss die dritte Zigarette sein. »Wenn du duschen willst, tu dir keinen Zwang an. Allerdings hast du keine Kleider. Sehe ich das richtig?«
»Sind noch im Bahnhof. Schließfach 143. Ich wusste ja nicht, wo unterkommen. Hab schon alte Kumpels angerufen, aber na ja …«
Ich lege das Marmeladentoast auf sein Brettchen. »Iss was. Ohne geht nicht.«
»Klar …«
Auf das zweite Toast lege ich Käse und Schinken, beiße ab und schüttle den Kopf während ich kaue. Etwas läuft schief in meinem Leben.
»Du brauchst eine Wohnung. Ohne Adresse kein Arbeitsamt, keine Sozialhilfe. Kein Geld.« Er nickt. Ich ahne, dass er ohne zu überlegen an einen Abgrund getreten ist.
»Du sagst, deine Frau und dein Sohn. Wann hast du geheiratet?«
»Vor fünf Jahren.«
»Vor fünf Jahren? Mann, Alex, wir sind erst 25! Wie alt ist deine Frau?«
»Zwei Jahre jünger.«
»Und dein Sohn?«
»Ist jetzt drei.« Sein Blick wird unstet, wandert durch die Küche, bleibt an mir hängen. »Du kannst mich alles Fragen. Ich vertraue dir. Hab ich schon immer.«
»Danke. Aber wir haben uns bisschen über fünfzehn Jahre nicht gesehen. Ich war in Köln. Und du? Was hast du gemacht?«
»Ein Kind.«
»Okay … wie heißt er denn, dein Sohn?«
»Marc.«
»Marc … gefällt mir.«
Alex bringt ein schmales Lächeln zuwege. Sein Zittern wird intensiver. Was tun? Ich lehne mich weit zurück. Das Holz drückt ins Kreuz. Es tut weh. Dann stehe ich auf und gehe in den Flur. Mein blaues Telefon, Silvia ruft nicht an. Niemand ruft an. Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich wähle die Nummer des Vermieters, erkläre die Lage. Maximal acht Wochen, bis eine Wohnung und Arbeit gefunden ist, klar, doppelte Miete. Die kann ich übernehmen, kein Problem. Er ist einverstanden und ich lege auf. Alexander weint. Leise, damit ich es im Flur nicht höre. Ich sollte im Schließfach seine Kleider holen.
»Alexander, ich muss zum Dienst. Morgen früh gegen sieben bin ich wieder zurück.«
»Ist gut.«
»Kann ich dich allein lassen, ohne dass du ins Wasser gehst?«
»Ich schlafe einfach, leg mich hin. Fernseher hast du keinen, nicht wahr?«
»Nein, du kannst dir 600 Schallplatten anhören, aber Fernseher ist mir egal.« Mir kommt ein Gedanke. »Warte …« Aus der Schreibtischschublade nehme ich einen Stapel Blätter und lege sie auf den Couchtisch. »Hier! Gedichte. Lies sie oder schau mein Bücherregal durch. Eine Menge Zeug.«
»Wow! Du schreibst Gedichte?«
»Ich muss jetzt. Fackel mir nicht die Bude ab.«
Schmales Lächeln. Ich nicke und gehe. Dieses Mal fahre ich mit dem Opel. Bin ich schneller wieder zuhause, falls die Feuerwehr sich meldet oder der Notarzt. Mit dem Schließen der Fahrertür wird es still. Unheimlich. Die Welt mit allem Lärm verschwindet. Nur die vier unsichtbaren Ochsen haben sie wieder an Arme und Beine gekettet und versuchen mich zu vierteilen. Silvia aus mir herauszureißen. Aber ich will sie nicht hergeben. Um Gottes willen, ich muss unbedingt noch Southern Comfort kaufen …
Es dauert nur eine knappe Stunde, dann schmerzen beide Augen. Kleinen Krämpfen nicht unähnlich. Als sie die nächsten Waggons bringen, baue ich eine Verteilstation im Freien auf. Zwar ist es recht kühl, aber dauernde Bewegung und schnelles Arbeiten lassen mich im Nu schwitzen. Richard und Vladimir verteilen in der kleinen Halle, Uwe und Rodi in der großen, ich stehe auf der Rampe. Hoffentlich macht Alexander keinen Blödsinn … und es ist gut möglich, dass Silvia schon eine andere Beziehung hat … aber wieso Beziehung? Hatten wir überhaupt eine Beziehung? Oder war ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort … bis sie den Ort wieder wechselte. Uwe pfeift. Ich sehe auf die Uhr. Kurz vor zwölf. Aus der Hosentasche ziehe ich die Laufzettel. Zwanzig Stück. Zu wenig.
»Was ist, Uwe?«
»Komm mal, bitte!«
Okay, Zeit für eine Zigarette. In der Halle setze ich mich mit dem Gesicht zur Wand. Bloß nicht ins Neonlicht schauen. Eine grelle Welt. Uwe kommt hinter den Behältern hervor, blickt sich um.
»Rodi ist weg.«
»Wohin weg?«
»Keine Ahnung. Er hat vielleicht eine der Seitentüren genommen. Krieg ich ja nicht mit im Verteilwahn.«
»Gesagt hat er nix?«
»Nee, ist klammheimlich abgerückt.«
»Ich geh mal rüber zu Richard«, sage ich und stehe auf. »Lass uns Pause machen. Hab eh keinen Bock mehr.« Uwe nickt, holt eine Tupperdose aus seiner Adidas-Sporttasche. Ich mache mich auf den Weg.
Richard singt einen Schlager. Schöne Frauen auf Rhodos. »Kollege kann nicht singen«, merkt Vladimir an.
»Aber Kollege interessiert das nicht«, erwidert Richard.
»Rodi ist weg. War er bei euch?«
Richard stemmt beide Fäuste in die Hüften. »Bei uns nicht, nein.«
»Vielleicht haste es nicht gemerkt? Oder er ist durch die Seitentür und ab in den Keller, ne Runde schlafen.«
»Mann, Heinrich, meinste vielleicht, ich bin doof?«
»Schau ich nach«, erklärt Vladimir, steigt die Treppe runter, ruft Rodis Namen, dann kommt er wieder hoch. »Niemand. Dusche leer, Toilette leer.«
Richard zuckt mit den Schultern. »Dann ist er zu seiner Klara. Die krault seine Eier.«
»Eier sind Eier, Arbeit ist Arbeit«, weiß Vladimir. Kopfschüttelnd drehe ich mich um.
»Machen wir Pause. Die Behälter gehen uns nicht aus.« Es wird laut, als ich wieder draußen bin. Ein Kesselwagenzug Richtung Westen. Zwei Lokomotiven. Und aus Karlsruhe rollende Landstraße, Lastwagen auf Tiefladewaggons, am Ende ein Personenwagen für die Fahrer. Richtung Brenner oder Tauern. Richard stellt sich neben mich, die Tasche über der Schulter.
»Was ist? Philosophieren?«
»Philosophieren hilft nicht bei der Post.«
»Hast recht. Komm.«
In der großen Halle sitzt lediglich Uwe. Ich lege einen Sack über meinen Kopf, die Augen verschattet. Kein Neonlicht. Ein Glas Southern vertreibt die wilden Gedanken und klären den Kopf wie ein Sieb die Gemüsebrühe. Alexander bringe ich niemals hier unter. Nicht in dem Zustand. Und wo ist Rodi hin verschwunden? Er wird keinen Fuß auf den Boden bekommen hier.
»Hast du schon in der Umkleide nachgesehen?« Uwe kaut, Richard stupst ihn an.
»Was?«
»Warst du in der Umkleide?«
»Nee, da sind wir nie. Da unten funktioniert doch kein Licht, habe ich gedacht.«
»Ich geh mal runter«, sage ich und stehe auf. »Gib mal bitte deine Taschenlampe, Richard.« Er zieht die Maglite aus der Tasche. »Bin gleich wieder da.«
Zwischen den Behältern hindurch, ans Ende der Halle. Linker Hand ist der Abgang in den Keller. Unten gibt es Duschen, Spindräume, Toiletten, ein Aufenthaltsraum, aber in meiner Zeit ist nie jemand hier runter, weil dauernd die Birnen durchbrennen. Das ist der Grund, warum alles recht neu aussieht. Nur der Staub liegt überall. Und frische Fußspuren sind zu sehen. Ich leuchte in die Herrentoilette. Der Gestank treibt mich zurück. Egal, jemand ist da drin. Aus einer Kabine ragen Beine, vom Knie abwärts. Etwas verrenkt.
»Rodi?« Nichts. »Rolf-Dieter?« Keine Antwort. Langsam nähere ich mich der hinteren WC-Kabine, luge ums Eck der Trennwand. Da liegt er. Eine Hand im Inhalt der Schüssel, der aus Erbrochenem besteht. Mit der rechten Hand hat er den Papierhalter abgerissen, er blutet am Kopf und eine Flasche Wodka liegt unter dem Spülkasten. Leer. Auf seine Körperteile achtend, bücke ich mich über ihn, lege zwei Finger an den Hals. Er lebt immerhin. Allerdings ist der Strom an Blut hellrot, also läuft es noch. Den Strahl der Maglite richte ich auf Rodis geschlossene Augen. Sie zucken. Ich hole die Kollegen.
Es ist nicht leicht, Rodi mit Uwe zusammen in den dritten Stock zu hieven. Er hat die Körperspannung eines nassen Sacks. Immerhin hat er sich nicht noch einmal übergeben, vor allem nicht im Opel. Das hätte mir noch gefehlt.
»Legen wir ihn auf die Couch. Ins Bett kotzen ist irgendwie ekelhaft«, schlägt Uwe vor.
»Hervorragende Idee.«
Rodi liegt. Seitenlage. Wenn er sich übergibt, platscht es auf den Teppich. Die Wohnung hat er sicher möbliert gemietet. Gelsenkirchener Barock überall. Vom Teppich bis zur Tapete. Hier würde ich eingehen wie eine Primel in der Wüste. Auf der Anrichte vier Fotos. Unscharf, schlecht belichtet, aber eindeutig Rodi mit Klara im Arm, Klara auf Rodis Schultern, Klaras Zunge an Rodis Wange und mit einer Hand in seinem Schritt. Ich tippe Uwe auf die Schulter und nicke zur Anrichte.
»Das könnte der Grund für das Fiasko sein.«
»Würde ich auch sagen. Was sagen wir der Aufsicht?«
Ich überlege, suche ein Stück Papier und schreibe drauf: ‚Rodi, guten Morgen. Wir sagen, du bist mit Fieber nach Hause. Geh zum Doc und hol dir einen Krankenschein für drei Tage. Gruß Heinrich und Uwe.‘
»Lass uns gehen«, sagt Uwe. »Hier krieg ich nur Depressionen.«